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Seit kurzem versuchen Hirnforscher, Verhaltenspsychologen und Soziologen gemeinsam neue Antworten auf eine uralte Frage zu finden: Warum tun wir eigentlich, was wir tun? Was genau prägt unsere Gewohnheiten? Anhand zahlreicher Beispiele aus der Forschung wie dem Alltag erzählt Charles Duhigg von der Macht der Routine und kommt dem Mechanismus, aber auch den dunklen Seiten der Gewohnheit auf die Spur. Er erklärt, warum einige Menschen es schaffen, über Nacht mit dem Rauchen aufzuhören (und andere nicht), weshalb das Geheimnis sportlicher Höchstleistung in antrainierten Automatismen liegt und wie sich die Anonymen Alkoholiker die Macht der Gewohnheit zunutze machen. Nicht zuletzt schildert er, wie Konzerne Millionen ausgeben, um unsere Angewohnheiten für ihre Zwecke zu manipulieren. Am Ende wird eines klar: Die Macht von Gewohnheiten prägt unser Leben weit mehr, als wir es ahnen.
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Für Oliver, John Harry, John und Doris, und, unaufhörlich, für Liz
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2012
ISBN 978-3-8270-7074-6
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel „The Power of Habit“ bei Random House, New York
Deutschsprachige Ausgabe:
© 2012 Bloomsbury Verlag GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln
VORWORT
Gewohnheiten als Therapie
Sie war für die Wissenschaftler die ideale Testperson. Laut Akte war Lisa Allen 34 Jahre alt, sie hatte mit sechzehn zu rauchen und zu trinken angefangen und die meiste Zeit ihres Lebens Probleme mit Übergewicht gehabt. Als sie Mitte zwanzig war, hatte sie über 10000 Dollar Schulden und bekam Besuch von diversen Inkassobüros. Ein alter Lebenslauf verriet, dass ihr längstes Arbeitsverhältnis kaum ein Jahr gedauert hatte.
Die Frau, die den Forschern heute gegenübersaß, war aber schlank und quirlig, mit den durchtrainierten Beinen einer Läuferin. Sie sah zehn Jahre jünger aus als auf den Fotos in ihren Unterlagen, und sie wirkte sportlicher als jeder andere im Raum. Laut dem jüngsten Bericht in ihrer Akte hatte Lisa keine Schulden, sie trank nicht mehr und arbeitete seit 39 Monaten in einem Büro für Grafikdesign.
»Wann haben Sie zuletzt geraucht?« war die erste einer ganzen Reihe von Fragen, die Lisa jedes Mal beantworten musste, wenn sie dieses Labor außerhalb von Bethesda, Maryland, aufsuchte.
»Vor fast vier Jahren«, antwortete sie dem zuständigen Arzt, »und ich habe seitdem dreißig Kilo abgenommen und bin einen Marathon gelaufen.« Sie hatte mittlerweile mit dem Studium angefangen und ein Haus gekauft. Es war viel passiert in der Zwischenzeit.
Unter den anwesenden Forschern waren Neurologen, Psychologen, Genetiker und ein Soziologe. In den vergangenen drei Jahren hatten sie, finanziert durch Gelder der National Institutes of Health, Lisa und über zwei Dutzend andere ehemalige Raucher, Esssüchtige, Alkoholiker, Kaufsüchtige und Menschen mit anderen destruktiven Angewohnheiten auf Herz und Nieren untersucht. Die Studienteilnehmer hatten eines gemeinsam: Sie hatten ihr Leben in relativ kurzer Zeit von Grund auf umgekrempelt. Die Forscher wollten verstehen, wie ihnen das gelungen war. Daher kontrollierten sie die Vitalparameter ihrer Probanden, sie installierten Videokameras in ihren Häusern, um ihren Tagesablauf zu beobachten, sie sequenzierten bestimmte Abschnitte ihrer DNA und erfassten mit Hilfe von Geräten, die die Vorgänge im Gehirn in Echtzeit abbilden, den Blutfluss und die elektrische Aktivität im zentralen Nervensystem, während die Probanden der Versuchung von Zigarettenrauch oder üppigen Mahlzeiten ausgesetzt waren.1 Die Forscher wollten herausfinden, wie Gewohnheiten auf neurologischer Ebene funktionieren – und wie man sie verändern kann.
»Ichweiß,dassSiedieseGeschichteschoneinDutzendMalerzählthaben«,sagtederArztzuLisa,»abereinigemeinerKollegenkennensienurauszweiterHand.WürdeesIhnenetwasausmachen,nocheinmalzuschildern,wieSievondenZigarettenlosgekommensind?«
»Gern«,sagteLisa.»EsbeganninKairo.«DerUrlaubseieineetwasüberstürzteEntscheidunggewesen,fuhrsiefort.EinpaarMonatezuvorwarihrMannvonderArbeitnachHausegekommenundhatteverkündet,dassersiewegeneineranderenFrauverlassenwerde.LisabrauchteeineWeile,umdieNachrichtzuverarbeitenundsichmitderTatsacheabzufinden,dassersichscheidenlassenwollte.SiedurchlebteeinePhasederTrauer,danneineZeit,indersieihnzwanghaftausspionierte,seinerneuenFreundininderganzenStadtnachstellte,sienachMitternachtanriefundeinfachauflegte.DannkamderAbend,andemLisabetrunkenimHausseinerFreundinaufkreuzte,andieTürschlugundschrie,siewerdedieWohnungabfackeln.
»Mir ging es damals ziemlich schlecht«, sagte Lisa. »Ich wollte schon immer mal die Pyramiden sehen, und ich hatte den Dispo meiner Kreditkarten noch nicht ausgeschöpft, also …« An ihrem ersten Tag in Kairo wachte Lisa im Morgengrauen vom Gebetsruf auf, der von einer nahegelegenen Moschee herüberschallte. In ihrem Hotelzimmer war es stockfinster. Halb blind und ermattet vom Jetlag, griff sie nach einer Zigarette.
Sie war so desorientiert, dass sie zunächst – bis sie den Geruch von versengtem Plastik wahrnahm – nicht bemerkte, dass sie einen Kugelschreiber anzünden wollte. In den letzten vier Monaten hatte sie nur geweint, immer wieder Fressanfälle gehabt, unter Schlaflosigkeit gelitten, sich geschämt, sich hilflos und niedergeschlagen gefühlt und zugleich eine heftige Wut verspürt. Nun, im Hotelbett in Kairo, erlitt sie einen Nervenzusammenbruch. »Mir war, als würde ich von einer Trauerflut hinweggespült«, sagte sie. »Ich hatte das Gefühl, dass alles, was ich mir je gewünscht hatte, zerbrochen war. Ich konnte nicht mal mehr richtig rauchen. Und dann begann ich über meinen Exmann nachzudenken, und wie schwer es sein würde, nach meiner Rückkehr einen neuen Job zu finden, und wie sehr ich das hassen würde und wie ungesund ich mich die ganze Zeit über fühlte. Ich stand auf und warf einen Wasserkrug um, der auf dem Boden zersplitterte, und da weinte ich noch heftiger. Ich spürte diese Verzweiflung, als müsste ich was verändern, ich musste wenigstens irgendetwas finden, das ich kontrollieren konnte.«
Sie nahm eine Dusche und verließ das Hotel. Als sie in einem Taxi über die holprigen Straßen Kairos ruckelte und dann über die Pisten, die zur Sphinx, den Pyramiden von Gizeh und der endlos weiten Wüste drum herum führten, fiel ihr Selbstmitleid für einen kurzen Moment von ihr ab. Sie brauchte ein Ziel in ihrem Leben, dachte sie. Etwas, worauf sie hinarbeiten konnte. Also beschloss sie, im Taxi sitzend, bald nach Ägypten zurückzukehren und eine Wanderung durch die Wüste zu unternehmen.
Lisa wusste, dass es eine verrückte Idee war. Sie war nicht in Form, hatte Übergewicht und kein Geld auf der Bank. Sie kannte nicht einmal den Namen der Wüste, die sich vor ihr erstreckte, und sie wusste auch nicht, ob eine solche Wanderung überhaupt möglich war. Aber all dies spielte keine Rolle. Sie brauchte etwas, worauf sie sich konzentrieren konnte. Lisa beschloss, dass sie sich ein Jahr lang vorbereiten würde. Und um eine solche Expedition zu überleben, würde sie Opfer bringen müssen – davon war sie überzeugt. Vor allem das Rauchen aufgeben.
Als Lisa schließlich elf Monate später – auf einer klimatisierten Tour mit einem halben Dutzend anderer Leute wohlgemerkt – durch die Wüste trekkte, führte die Karawane so viel Wasser, Nahrungsmittel, Zelte, Karten, GPS-Apparate und Funkgeräte mit sich, dass eine Stange Zigaretten auch nicht viel ausgemacht hätte.
Aber damals im Taxi wusste Lisa das noch nicht. Und für die Wissenschaftler im Labor waren die Details ihrer Reise nicht weiter von Belang. Aus Gründen, die sie gerade erst zu verstehen begannen, hatte die geringfügige Veränderung von Lisas Wahrnehmung an jenem Tag – die Überzeugung, dass sie das Rauchen aufgeben musste, um ihr Ziel zu erreichen – eine ganze Reihe von Veränderungen ausgelöst, die letztlich auf alle Aspekte ihres Lebens ausstrahlen würden. Im Verlauf der nächsten sechs Monate ersetzte sie das Rauchen durch Joggen, und diese Verhaltensänderung veränderte ihrerseits die Art und Weise, wie sie sich ernährte, arbeitete, schlief, Geld sparte, ihre Arbeitstage und ihre Zukunft plante und so weiter. Sie begann, Halbmarathons zu laufen, absolvierte dann einen Marathon, drückte wieder die Schulbank, kaufte ein Haus und verlobte sich.
Schließlich nahm sie an der besagten wissenschaftlichen Studie teil, und als die Forscher CT-Aufnahmen von Lisas Gehirn untersuchten, stießen sie auf etwas Bemerkenswertes: Bestimmte neurologische Muster – ihre alten Gewohnheiten – waren von neuen Mustern überschrieben worden. Sie konnten noch immer die neuronalen Aktivitätsmuster ihrer alten Verhaltensweisen erkennen, aber diese Impulse wurden von neuen Antrieben verdrängt. In dem Maße, wie sich Lisas Gewohnheiten veränderten, hatte sich auch ihr Gehirn verändert.
Es war nicht die Reise nach Kairo oder die Scheidung oder die Wüstentour, die nach Überzeugung der Wissenschaftler die Veränderung ausgelöst hatte. Entscheidend war vielmehr, dass Lisa sich darauf konzentriert hatte, zunächst nur eine Gewohnheit – das Rauchen – zu ändern. Jeder Proband hatte einen ähnlichen Prozess durchlaufen. Durch Fokussierung auf ein Muster – eine sogenannte Schlüsselgewohnheit (keystone habit) – hatte sich Lisa selbst beigebracht, wie sie die anderen automatischen Verhaltensroutinen in ihrem Leben umgestalten konnte.
Nicht nur Individuen sind zu solchen Veränderungen imstande. Wenn sich Unternehmen zum Beispiel darauf fokussieren, Gewohnheiten zu verändern, kann sich eine komplette Organisation neu erfinden. Firmen wie Procter & Gamble, Starbucks, Alcoa und Target haben sich diese Erkenntnis zunutze gemacht, um die Arbeitsabläufe, das Kommunikationsverhalten von Mitarbeitern und – ohne dass diese es bemerkt hätten – die Einkaufsgewohnheiten von Konsumenten gezielt zu beeinflussen.
»IchmöchteIhneneinenIhrerletztenGehirn-Scanszeigen«,sagteeinForscherzuLisaamEndederUntersuchung.ErvergrößerteeinBildaufeinemComputerbildschirm,derAufnahmenausdemInnerenihresKopfeszeigte.»WennSieNahrungsmittelsehen,sinddieseAreale« –erdeuteteaufeineStelleinderNähedesGehirnzentrums –,»diemitGierundHungerassoziiertsind,nachwievoraktiv.IhrGehirnerzeugtnochimmerdasVerlangen,dasSieveranlasst,zuvielzuessen.AberindiesemAreal« –erdeuteteaufdieRegiondirekthinterihrerStirn –,»vondemnachunsererAuffassungVerhaltenshemmungundSelbstkontrolleausgehen,zeigtsicheineneueAktivität.DieseAktivitätwurdejedesMal,wennwirSiehieruntersuchthaben,stärker.«DeshalbwarLisadiebeliebtesteStudienteilnehmerinderWissenschaftler:weilihreGehirn-Scanssoanschaulichundklarwaren,unddeshalbsonützlichbeiderErstellungjenerKartederHirnareale,indenenVerhaltensmuster –Gewohnheiten –verortetsind.»Siehelfenunsdabei,zuverstehen,wieeineEntscheidungzueinem automatischen Verhalten wird«, erklärte ihr der Arzt.
Die Anwesenden hatten das Gefühl, dass man kurz vor einer wichtigen Entdeckung stand. Und so war es tatsächlich.
***
AlsSieheuteMorgenaufgewachtsind,washabenSiedaalsErstesgetan?SindSieunterdieDuschegehüpft,habenSieIhreE-Mailsdurchgesehen,habenSieeinenKeksvonderKüchenanrichtegenommen?HabenSieZähnegeputzt,bevorSiesichabgetrocknethaben,oderdanach?HabenSiezuerstdenlinkenoderdenrechtenSchuhgebunden?WashabenSiezuIhrenKinderngesagt,alssiezurSchulegingen?WelchenWegsindSiezurArbeitgefahren?HabenSie,alsSieanIhrenSchreibtischkamen,zuerstdieE-Mailsgecheckt,miteinemKollegengeplaudertodereineSMSgeschrieben?SalatoderHamburgerzumMittagessen?HabenSie,alsSienachHausekamen,IhreLaufschuheangezogenundeineRundegedreht,oderhabenSieeinenDrinkgenommenundvordemFernseherzuAbendgegessen?
»UnserganzesLebensetztsich,soweiteseinebestimmteFormhat,auseinerAnzahlvonGewohnheitenzusammen«,schriebWilliamJames1892.2DiemeistenEntscheidungen,diewirjedenTagtreffen,mögensichwiedasResultatsorgfältigerAbwägungsprozesseanfühlen,aberdassindsienicht.SiesindGewohnheiten.UndobwohljedeGewohnheitfürsichgenommenrelativwenigbedeutet,habendieSpeisen,diewirbestellen,das,waswirallabendlichunserenKindernerzählen,obwirsparenoderGeldausgeben,wieoftwirSporttreiben,unddieArtundWeise,wiewirunsereGedankenundArbeitsabläufeorganisieren,enormeAuswirkungenaufunsereGesundheit,unsereProduktivität,unserefinanzielleSituationundunserWohlbefinden.EinForscherderDukeUniversityfand2006heraus,dassüber40 ProzentunserertäglichenHandlungennichtaufbewusstenEntscheidungenberuhen,sondernGewohnheitensind.3
William James hat – wie viele andere Menschen von Aristoteles bis Oprah Winfrey – einen Großteil seines Lebens damit verbracht, zu begreifen, warum Gewohnheiten existieren. Aber erst in den letzten zwanzig Jahren haben Neurologen, Psychologen, Soziologen und Marketingfachleute wirklich angefangen zu verstehen, wie Gewohnheiten funktionieren – und, was noch wichtiger ist, wie sie sich verändern.
Dieses Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil konzentriert sich auf die Frage, wie sich Gewohnheiten in unserem Leben bilden. Er befasst sich mit den neuronalen Grundlagen der Entstehung von Gewohnheiten, mit der Frage, wie man sich neue Gewohnheiten aneignet und bestehende verändert, und mit den Methoden, mit denen zum Beispiel ein Werbefachmann dazu beitrug, dass das Zähneputzen von einer obskuren Praxis zu einer nationalen Obsession wurde. Er zeigt, wie Procter & Gamble ein Spray namens Febreze zu einem milliardenschweren Verkaufsschlager machte, indem sich das Unternehmen eines natürlichen Dranges der Konsumenten bediente; wie die Anonymen Alkoholiker Gewohnheiten attackieren, die für die Sucht verantwortlich sind, und wie der Footballcoach Tony Dungy die schlechteste Mannschaft der Liga auf Vordermann brachte, indem er sich den automatischen Reaktionen seiner Spieler auf subtile Auslöse- bzw. Hinweisreize (cues) während des Spiels widmete.
Im zweiten Teil beschäftigen wir uns mit den Gewohnheiten erfolgreicher Unternehmen und Organisationen. Dort wird ausführlich beschrieben, wie ein Topmanager namens Paul O’Neill – bevor er US-Finanzminister wurde – einen schwer angeschlagenen Aluminium-Hersteller zu einem der ertragsstärksten Titel im Dow Jones machte, indem er sich auf eine Schlüsselgewohnheit konzentrierte, und wie Starbucks einen Schulabbrecher zu einem Topmanager machte, indem es ihm Gewohnheiten beibrachte, die seine Willenskraft stärkten. Er beschreibt, weshalb sogar die fähigsten Chirurgen fatale Fehler machen können, wenn die Organisationsstrukturen in einem Krankenhaus mangelhaft sind.
Im dritten Teil betrachten wir die Gewohnheiten von Gesellschaften. Dort wird geschildert, wie Martin Luther King Jr. und die Bürgerrechtsbewegung auch deshalb so erfolgreich waren, weil sie die tief verwurzelten sozialen Gewohnheiten der schwarzen Community von Montgomery, Alabama, umkrempelten – und weshalb ein ähnlicher Ansatz einem jungen Pastor namens Rick Warren half, die größte Kirche des Landes im kalifornischen Saddleback Valley zu etablieren. Schließlich erörtern wir heikle ethische Fragen – etwa die, ob ein Mörder in Großbritannien freigesprochen werden sollte, wenn er glaubwürdig darlegen kann, dass er unter dem Zwang seiner Gewohnheiten mordete.
Jedes Kapitel kreist um ein zentrale These: Gewohnheiten lassen sich ändern, wenn wir verstehen, wie sie funktionieren. Dieses Buch stützt sich auf Hunderte von wissenschaftlichen Studien, auf Interviews mit über dreihundert Wissenschaftlern und Führungskräften, und auf Forschungen, die von Dutzenden Unternehmen durchgeführt wurden. (Für ein Verzeichnis der Informationsquellen vgl. die Anmerkungen und http://www.thepowerofhabit.com). Es konzentriert sich auf die Gewohnheiten, so wie sie wissenschaftlich definiert werden: die Entscheidungen, die wir alle irgendwann einmal mit Bedacht treffen und über die wir dann nicht länger nachdenken, sie aber weiterhin ausführen, oftmals tagtäglich. Irgendwann einmal haben wir uns alle bewusst entschieden, wie viel wir essen wollen und worauf wir uns konzentrieren, wenn wir ins Büro kommen, wie oft wir Alkohol trinken oder wann wir joggen gehen wollen. Dann haben wir aufgehört, bewusste Entscheidungen zu treffen, und unser Verhalten wurde automatisiert. Dies ist eine natürliche Folge unserer grundlegenden neuronalen Funktionsmechanismen. Und wenn wir verstehen, wie dies geschieht, können wir diese Muster auf beliebige Weise erneuern.
***
Die wissenschaftliche Erforschung von Gewohnheiten weckte erstmals vor acht Jahren mein Interesse, damals war ich Zeitungsreporter in Bagdad. Als ich das US-Militär im Einsatz sah, kam mir der Gedanke, dass dies eines der größten Experimente in Gewohnheitsbildung war, das je stattgefunden hat.4 In der Grundausbildung versucht man den Soldaten systematisch Gewohnheiten anzutrainieren, damit sie im Gefecht ohne lange Überlegung wissen, wie sie am effektivsten schießen, denken und kommunizieren können. Auf dem Schlachtfeld stützt sich jeder Befehl auf Verhaltensweisen, die bis zur Automatisierung eingeübt wurden. Die gesamte Organisation basiert auf endlos trainierten Routinen: für den Bau von Stützpunkten, für die Festlegung strategischer Prioritäten und für die Entscheidungen darüber, wie man sich gegen Angriffe verteidigt.
In jener Anfangsphase des Irakkrieges, als sich der Aufstand ausweitete und die Zahl der Todesopfer anstieg, überlegten die Befehlshaber, wie sie es schaffen könnten, den eigenen Soldaten und den Irakern bestimmte Gewohnheiten zu vermitteln, die einen dauerhaften Frieden möglich machen würden. Ich war erst seit etwa zwei Monaten im Irak, als ich von einem Offizier hörte, der in Kufa, einer Kleinstadt rund 150 Kilometer südlich der Hauptstadt, ein Programm zur Modifizierung von Gewohnheiten startete. Dieser Major hatte Videoaufnahmen der jüngsten Ausschreitungen analysiert und ein Muster entdeckt: Jeweils vor den Gewaltausbrüchen versammelte sich eine Menschenmenge auf einem Platz oder einer anderen öffentlichen Freifläche, und diese Menge wurde im Verlauf mehrerer Stunden ständig größer. Essensverkäufer tauchten auf, ebenso Schaulustige. Dann warf jemand einen Stein oder eine Flasche, und die Hölle brach los.
Als sich der Major mit dem Bürgermeister von Kufa traf, bat er diesen um einen ungewöhnlichen Gefallen: Ob er die Betreiber der Imbissstände von den Plätzen fernhalten könne? Kein Problem, sagte der Bürgermeister. Ein paar Wochen später versammelte sich eine kleine Menge in der Nähe der Masjid al-Kufa, der Großen Moschee von Kufa. Am Nachmittag bekam sie immer mehr Zulauf. Einige Demonstranten skandierten wütende Parolen. Die irakische Polizei, die Böses ahnte, funkte die US-Basis an und bat US-Truppen, sich bereitzuhalten. In der Abenddämmerung begann die Menge nervös und hungrig zu werden. Menschen hielten nach den Kebab-Verkäufern Ausschau, die normalerweise auf den Platz strömten, aber es waren keine da. Die Menge zerstreute sich. Die grölenden Demonstranten zogen ab. Um 20 Uhr war der Platz leer. Bei meinem Besuch auf dem Stützpunkt in der Nähe von Kufa sprach ich mit dem Major. Normalerweise würde man die Dynamik einer Menschenmenge nicht unbedingt auf der Grundlage von Gewohnheiten analysieren, erklärte er mir. Aber seine gesamte Laufbahn hindurch war er in der Psychologie der Gewohnheitsbildung geschult worden.
Im Armee-Ausbildungslager hatte er sich bestimmte Gewohnheiten angeeignet: für das Laden seiner Waffe, das Einschlafen in einem Kriegsgebiet, um im Chaos der Schlacht geistig konzentriert zu bleiben oder trotz Erschöpfung und Überlastung Entscheidungen treffen zu können. Er hatte Lehrgänge besucht, auf denen man ihm beibrachte, Gewohnheiten für den Umgang mit Geld, für tägliches Sporttreiben und die Kommunikation mit Zimmergenossen zu entwickeln. Als er befördert wurde, lernte er, wie wichtig organisatorische Routinen sind, um sicherzustellen, dass Untergebene Entscheidungen treffen konnten, ohne ständig um Erlaubnis zu fragen, und wie bestimmte Routinen den Umgang mit Menschen erleichterten, die er normalerweise nicht ausstehen konnte.
Und jetzt konnte er beobachten, wie Menschenmengen, ja sogar unterschiedliche Kulturen den gleichen Mustern folgten. In gewissem Sinne sei eine Gemeinschaft wie eine riesige Ansammlung von Gewohnheiten, denen Tausende von Menschen folgten, die sich, je nach Einfluss, entweder gewalttätig oder friedlich verhielten. Neben dem Verbot von Imbissständen hatte er in Kufa Dutzende weitere Experimente durchgeführt, um das Verhalten der Menschen zu beeinflussen. Seit seiner Ankunft war es zu keinen weiteren Ausschreitungen gekommen.
»Gewohnheiten zu verstehen ist das Wichtigste, was ich in der Armee gelernt habe«, erklärte er. »Es hat meine Sichtweise der Welt von Grund auf verändert. Sie wollen schnell einschlafen und mit einem guten Gefühl aufwachen? Achten Sie auf Ihr nächtliches Schlafverhalten und das, was Sie automatisch tun, wenn Sie aufwachen. Wollen Sie sich das Joggen erleichtern? Erfinden Sie Auslöser, um es zur Routine werden zu lassen. Ich bläue dies meinen Kindern ein. Meine Frau und ich entwerfen Gewohnheitspläne für unsere Ehe. Im Führungsstab sprechen wir fast ausschließlich über das Management von Gewohnheiten. Niemand in Kufa hätte geglaubt, dass wir Menschenansammlungen dadurch steuern können, dass wir Kebab-Stände entfernen, aber sobald man dies alles als ein Bündel von Gewohnheiten betrachtet, ist es so, als würde dir jemand eine Taschenlampe und ein Stemmeisen geben, damit du dich an die Arbeit machen kannst.«
Der Major war ein kleiner Mann aus Georgia. Er spuckte unentwegt Sonnenblumenkerne oder Kautabak in eine Tasse. Er erzählte mir, dass er es vor seinem Eintritt in die Armee höchstens zum Telekommunikationstechniker oder zum Drogenhändler hätte bringen können – wie einige seiner Schulkameraden. Jetzt war er für achthundert Menschen in einer der komplexesten Organisationen der Welt verantwortlich. »Wenn ein Hinterwäldler wie ich dieses Zeug lernen kann, dann kann es jeder. Ich sage meinen Soldaten immer, dass es nichts gibt, was sie nicht erreichen können, wenn sie die richtigen Gewohnheiten einüben.«
In den letzten zehn Jahren haben sich unsere Erkenntnisse über die neurologischen und psychologischen Grundlagen von Gewohnheiten und die Art und Weise, wie Muster in unserem täglichen Leben, in verschiedenen Gesellschaften und Organisationen wirken, in einem Maße erweitert, wie es sich vor fünfzig Jahren niemand hätte vorstellen können. Wir wissen jetzt, warum Gewohnheiten entstehen, wie sie sich ändern, und wir können ihre Funktionsmechanismen wissenschaftlich beschreiben. Wir wissen, wie wir sie in Einzelteile zerlegen und gemäß unseren Vorgaben neu zusammensetzen. Wir wissen, wie wir Menschen dazu bringen, weniger zu essen, mehr Sport zu treiben, effizienter zu arbeiten und ein gesünderes Leben zu führen. Gewohnheiten lassen sich nicht unbedingt leicht oder schnell ändern. Aber wir wissen jetzt, wie wir es schaffen können.
ERSTER TEIL - DIE GEWOHNHEITEN VON INDIVIDUEN
1. DIE GEWOHNHEITSSCHLEIFE
Wie Gewohnheiten funktionieren
I.
Im Herbst 1993 spazierte ein Mann, der einen Großteil unseres Wissens über Gewohnheiten auf den Kopf stellen sollte, in ein Forschungslabor in San Diego, wo er einen Termin hatte. Er war betagt, kaum über eins achtzig und adrett gekleidet mit seinem blauen Button-down-Hemd.1 Sein dichtes weißes Haar hätte auf jedem fünfzigjährigen Highschool-Jubiläum Neid erregt. Wegen seiner Arthritis humpelte er leicht, als er die Flure des Forschungsinstituts durchmaß, und während er behutsam einen Fuß vor den anderen setzte, hielt er die Hand seiner Frau.
Etwa ein Jahr zuvor war Eugene Pauly oder »E.P.«, wie er in der medizinischen Fachliteratur bald nur noch genannt werden sollte, zu Hause in Playa del Rey und bereitete sich gerade auf das Abendessen vor, als seine Frau Beverly sagte, dass ihr Sohn Michael vorbeikommen werde.
»Wer ist Michael?«, fragte Eugene.2
»Dein Sohn«, sagte Beverly. »Wir haben ihn doch hier großgezogen, weißt du?«
Eugene sah sie verblüfft an. »Wer ist das?«, fragte er.
Am nächsten Tag begann Eugene zu erbrechen und sich in Magenkrämpfen zu winden. Innerhalb von 24 Stunden war er so stark dehydriert, dass seine in Panik geratene Frau ihn in die Notaufnahme fuhr. Seine Temperatur stieg auf 40,5° Celsius, während sich ein gelber Schweißring in den Kliniklaken abzeichnete. Er fiel in einen Fieberwahn, wurde gewalttätig, schrie und schubste die Schwestern weg, wenn sie versuchten, ihm eine Infusion zu legen. Erst nach Sedierung konnte ein Arzt eine lange Nadel zwischen zwei Rückenwirbeln einführen und einige Tropfen Rückenmarksflüssigkeit entnehmen.
DerArzt,derdenEingriffdurchführte,ahntesofort,dassetwasnichtstimmte.DieFlüssigkeit,diedasGehirnunddieSpinalnervenumgibt,bietetSchutzgegenKrankheitserregerundmechanischeVerletzungen.BeiGesundenistsieklarunddünnflüssig,undsieströmtmiteinembeinaheseidigenRauschendurcheineNadel.DieProbeausEugenesWirbelsäulewartrübundzähflüssig,wiemitmikroskopischerGrützeangereichert.3AlsdieLaborbefundevorlagen,wusstendieÄrzte,wasdieUrsachefürEugenesSymptomewar:ErlittaneinerviralenEnzephalitis,einerrelativweitverbreitetenKrankheit,dieFieberbläschenundmildeHautinfektionenverursacht.InseltenenFällengelangtdasVirusallerdingsinsGehirn,woesverheerendeSchädenanrichtet,währendessichdurchdiefeinenGewebefaltenhindurchfrisst,indenenunsereGedanken,Träume –und, wie manche glauben, auch unsere Seele – ihren Sitz haben.
Eugenes Ärzte erklärten Beverly, die bereits vorhandenen Schädigungen seien irreversibel, aber antivirale Medikamente in hoher Dosierung könnten eine weitere Ausbreitung des Erregers verhindern. Eugene fiel ins Koma und war zehn Tage lang dem Tod nahe. Doch durch die Medikamente ging sein Fieber allmählich zurück und das Virus verschwand. Als er schließlich das Bewusstsein wiedererlangte, war er geschwächt und desorientiert und konnte nicht richtig schlucken. Er konnte keine vollständigen Sätze bilden und rang manchmal nach Luft, als hätte er vorübergehend vergessen, wie man atmet. Aber er hatte überlebt.
Schließlich hatte sich Eugene so weit erholt, dass man ihn einer Reihe von Tests unterziehen konnte. Mit Erstaunen stellten die Ärzte fest, dass sein Körper – einschließlich seines Nervensystems – weitgehend unversehrt zu sein schien. Er konnte seine Gliedmaßen bewegen und reagierte auf Geräusche und Licht. Doch Scanbilder seines Gehirns zeigten bedrohliche Schatten in der Nähe des Gehirnzentrums. Das Virus hatte ein ovales Gewebeareal unweit der Stelle zerstört, wo Schädel und Wirbelsäule zusammentrafen. »Er wird vielleicht nicht mehr der Mensch sein, der Ihnen vertraut ist«, warnte ein Arzt Beverly. »Machen Sie sich auf das Schlimmste gefasst.«
Eugene wurde in einen anderen Kliniktrakt verlegt. Schon nach einer Woche konnte er problemlos schlucken. Nach einer weiteren begann er, normal zu sprechen, nach Jell-O und Salz zu verlangen, durch die Fernsehkanäle zu zappen und sich über öde Seifenopern zu beklagen. Als Eugene fünf Wochen später in eine Rehabilitationsklinik verlegt wurde, schlurfte er durch die Gänge und erteilte Pflegerinnen unerbetene Ratschläge zu ihren Wochenendplänen.
»Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Patienten gesehen zu haben, der sich so gut erholt hat«, sagte ein Arzt zu Beverly. »Ich will Ihnen keine Hoffnung machen, aber das ist erstaunlich.« Doch Beverly blieb besorgt. In der Rehaklinik zeigte sich, dass die Krankheit ihren Ehemann auf beunruhigende Weise verändert hatte. Eugene konnte sich zum Beispiel nicht mehr daran erinnern, was für ein Wochentag gerade war, oder etwa an die Namen seiner Ärzte und Pflegekräfte, egal, wie oft sie sich vorgestellt hatten. »Warum stellen die mir ständig all diese Fragen?«, wollte er eines Tages von Beverly wissen, nachdem der Arzt das Zimmer verlassen hatte. Als er schließlich nach Hause zurückkehrte, wurde sein Verhalten noch sonderbarer. Eugene schien sich nicht mehr an seine Freunde zu erinnern. Es fiel ihm schwer, Gesprächen zu folgen. Manchmal stand er morgens auf, ging in die Küche, machte sich Eier mit Schinkenspeck, legte sich wieder hin und schaltete das Radio ein. Vierzig Minuten später tat er noch mal das Gleiche: Er stand auf, machte sich Eier mit Schinkenspeck, kletterte zurück ins Bett und spielte am Radio herum. Dann begann alles von vorn.
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