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Beschreibung

Mit der Idee eines grundlegenden »Rechts auf Rechtfertigung« hat Rainer Forst eine kraftvolle Denkfigur entwickelt, deren Fruchtbarkeit für das konkrete Geschäft einer kritischen Analyse des Sozialen immer deutlicher wird. Sein Werk hat tiefe Spuren in der Philosophie und Sozialtheorie, aber auch in der politischen Diskussion der Gegenwart hinterlassen und umfasst pointierte Stellungnahmen zu Fragen der Moral und Gerechtigkeit, zu Macht, Toleranz und Freiheit. Der Band versammelt Beiträge namhafter internationaler Denker:innen, die sich mit den vielfältigen Aspekten von Forsts Werk auseinandersetzen und damit zugleich einen Einblick in die neuesten Entwicklungen innerhalb der Kritischen Theorie geben.

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Cover

Titel

3Die Macht der Rechtfertigung

Perspektiven einer kritischen Theorie der Gerechtigkeit

Herausgegeben von Mahmoud Bassiouni, Eva Buddeberg, Mattias Iser, Anja Karnein und Martin Saar

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2472

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77932-3

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Mahmoud Bassiouni, Eva Buddeberg, Mattias Iser, Anja Karnein und Martin Saar

:

Einleitung

I

. Rechtfertigung

Charles Larmore

:

Was heißt Rechtfertigung?

Marcus Willaschek

:

Welche Gründe zählen? Zur Rechtfertigung des Rechts auf Rechtfertigung

R. Jay Wallace

:

Die relationale Struktur des Moralischen und die Idee eines Rechts auf Rechtfertigung

Thomas M. Schmidt

:

Recht und Gnade. Kants Deduktion der Idee der Rechtfertigung

Christoph Möllers

:

Lassen sich Diskursregeln aus der praktischen Philosophie in juristische und politische Verfahren übersetzen?

II

. Moral und Freiheit

Jürgen Habermas

:

Zum Modus der Sollgeltung moralischer Aussagen. Zwei Varianten der Detranszendentalisierung

Klaus Günther

:

Das (Un-)Recht der ethischen Freiheit und seine Verzeihung. Eine Marginalie zum Motivationsproblem in der Moral

Christoph Menke

:

Moral und Freiheit, Gesetz oder Gebot

Arthur Ripstein

:

Selbstgesetzgebung und Beherrschung

Peter Niesen

:

Die Normativität negativer Freiheit

Matthias Lutz-Bachmann

:

Zur philosophischen Aktualität von Kants Vernunftidee einer »allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«

III

. Toleranz, Demokratie und Recht

Thomas M. Scanlon

:

Teilbare Gründe und die Grundlagen der Toleranz

Nicole Deitelhoff

:

Demokratischer Zusammenhalt im Konflikt

Jean L. Cohen

:

Demokratie und Entdemokratisierung mit und jenseits von Forst denken

Stefan Gosepath und Michael Zürn

:

Anfechtungen und Selbsttransformation des liberalen Skripts

Armin von Bogdandy

:

Kritische Spiegelungen: Die europäische Gesellschaft und Forsts Republik

IV

. Transnationale Gerechtigkeit

Seyla Benhabib

:

Die normativen Ordnungen des Völkerrechts

Darrel Moellendorf

:

Was kann eine kritische Theorie transnationaler Gerechtigkeit kritisieren?

Ayelet Shachar

:

Verriegelte Staatsbürgerschaft

Chandran Kukathas

:

Gerechtigkeit und der Einwanderer

Sanjay G. Reddy

:

Der Lohn der Rechtfertigung

Regina Kreide

:

Kann Wohnen ungerecht sein?

V

. Macht und Beherrschung

Amy Allen

:

Thesen zur Kritik der Macht

Henry S. Richardson

:

Noumenale Macht und darüber hinaus

Cécile Laborde

:

Beherrschung und die Psychologie der Unfreiheit

Philip Pettit

:

Über Rainer Forsts kantischen Republikanismus

Lea Ypi

:

Über beherrschte Beherrscher

VI

. Kritische Theorie

Nancy Fraser

:

Zwischen System und Norm

Axel Honneth

:

»Entfremdung«. Versuch einer Begriffsklärung

Maeve Cooke

:

Ethische Orientierung statt ethischer Enthaltsamkeit. Zur Repolitisierung der demokratischen Willensbildung

Martin Seel

:

Formen des Denkens. Stilfragen Kritischer Theorie

Über die Autorinnen und Autoren

Fußnoten

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Mahmoud Bassiouni, Eva Buddeberg, Mattias Iser, Anja Karnein und Martin Saar

Einleitung

Die Frage, welche Grundbegriffe und Ansatzpunkte zur Gesellschaftskritik nötig sind, begleitet die Kritische Theorie seit Marx und Horkheimer. In den letzten drei Jahrzehnten hat Rainer Forst einen eigenständigen Vorschlag innerhalb dieser Tradition in Form einer Gerechtigkeitstheorie ausgearbeitet, in dessen Zentrum der Begriff der Rechtfertigung steht. Er versteht die Forderung nach Gerechtigkeit als die nach einem zwischenmenschlichen Verhältnis, in dem Beteiligte verpflichtet sind, einander gute Gründe zu geben, wenn sie allgemein verbindliche Normen und Institutionen etablieren wollen. Auch deskriptiv begreift Forst soziale und politische Ordnungen als institutionalisierte Rechtfertigungsordnungen, insofern ihre geltenden Normen und Institutionen faktisch immer schon von bestimmten Rechtfertigungen getragen und mit dem zumindest impliziten Anspruch auf Rechtfertigbarkeit aufrechterhalten werden. Dabei vermag eine kritische Analyse solcher Rechtfertigungsordnungen und der hierin herrschenden sozialen und politischen Verhältnisse aufzudecken, dass sie oftmals gerade nicht auf guten, sondern auf konventionellen, instrumentellen oder ideologischen Rechtfertigungen beruhen, die existierende Beherrschungsverhältnisse – seien sie politischer, ökonomischer, kultureller oder religiöser Art – lediglich kaschieren.

Das kritische Anliegen, solche Verhältnisse aufzudecken und als nicht rechtfertigbar auszuweisen, erfordert also zum einen eine gesellschaftstheoretische Rahmung, die die empirische Macht existierender Rechtfertigungen samt all ihren Strukturen und (Re-)Produktionsmechanismen in den Mittelpunkt rückt. Zum anderen verlangt es, auf normativer Ebene zu bestimmen, was aus welchen Gründen und in welchen Kontexten als gute Rechtfertigung gelten kann. Für beide Untersuchungen ist somit der Begriff der Rechtfertigung zentral, den Forst explizit als »Vermittlungsbegriff« bezeichnet. Er soll es erlauben, »politische Ordnungen und ihre Dynamiken deskriptiv zu analysieren und zugleich normative 10Überlegungen entlang derselben konzeptuellen Bahnen anzustellen, wie sie der empirischen Arbeit zugrunde liegen«.[1] 

Sein gesellschaftskritisches Potential gewinnt der Rechtfertigungsbegriff dabei aus der Spannung, die sich zwischen dem faktisch Gerechtfertigten und dem normativ Rechtfertigbaren auftut. Ganz in der Tradition der Frankfurter Schule schreibt Forst seiner eigenen Theorie dabei ein dezidiert emanzipatorisches Interesse zu.[2]  Dieses auf gleiche Rechtfertigungsmacht zielende Interesse kann das wichtigste normative Motiv sozialer und politischer Kämpfe freilegen: Unabhängig von ihren konkreten Zielsetzungen entstehen soziale Bewegungen Forst zufolge genau dort, wo sich Menschen, die sich als »Rechtfertigungswesen« begreifen lassen, über Verhältnisse oder Regeln empören, die sie als willkürlich erfahren und gegenüber denen sie ein »Vetorecht« einklagen – das Recht, »Nein« zu sagen.[3] 

Es ist diese in spezifischen sozialen und politischen Kämpfen zum Ausdruck kommende normative Grammatik der Gerechtigkeit und des gleichen Respekts, die Forst theoretisch beschreiben und erläutern will.[4]  Dies ist nicht nur ein Beitrag dazu, Emanzipa11tions- und Widerstandsbewegungen über sich selbst aufzuklären, sondern auch dazu, einen Gesichtspunkt zur Geltung zu bringen, der im zeitgenössischen Diskurs über Gerechtigkeit oftmals aus dem Blick gerät. Dieser wird nämlich bisweilen von einem wirkmächtigen Bild »gefangen« gehalten, das Gerechtigkeit primär als Frage der Verteilung von und Versorgung mit bestimmten Gütern versteht.[5]  Obwohl Forst die Relevanz dieser Frage keineswegs bestreitet, kritisiert er an dieser güter- und verteilungszentrierten Sichtweise, dass sie die vorgelagerte und daher grundlegendere Frage ausblendet, in welchen Macht- und Herrschaftsverhältnissen die betreffenden Güter überhaupt erst produziert und zur Verteilung bereitgestellt werden und in welchen Abhängigkeitsbeziehungen die Produzent:innen und Empfänger:innen zueinander stehen. Genau diese Frage steht im Mittelpunkt eines alternativen, kritischen Bilds von Gerechtigkeit, das sich in sozialen Widerstandskämpfen immer wieder zeigt: Forderungen nach Gerechtigkeit sind hier nicht primär vom Wunsch getragen, mehr von etwas zu haben, sondern in erster Linie vom Anspruch bestimmt, als jemand zu gelten, über den man nicht wie über eine »Sache« verfügen, den man nicht einfach ignorieren oder übergehen kann, sondern dem man Gehör und gute Gründe schuldet, wenn darüber entschieden wird, wem was zusteht und wer was zu tun berechtigt ist. Forsts kritische Theorie der Gerechtigkeit untersucht also in erster Linie die asymmetrischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die einige Personen in ihrer Beziehung zu anderen als unterschiedlich wertvoll und zur sozialen Teilhabe und politischen Mitbestimmung berechtigt ausweisen. Damit verletzen sie den Anspruch mancher Personen, als Gleichgestellte und Gleichberechtigte zu gelten, denen man auf Augenhöhe begegnen muss. Den Fluchtpunkt emanzipatorischer Kämpfe und Konflikte bildet somit die Forderung, dass jede und jeder als ebenbürtige normative Autorität mit einem fundamentalen Recht auf Rechtfertigung respektiert wird.

Personen als sozial konstituierte und situierte Wesen leben und handeln in verschiedenen Kontexten, in denen das Recht auf Rechtfertigung unterschiedliche Formen annimmt. So unterscheidet Forst bereits in seiner ersten, aus seiner Dissertation hervorgegangenen Monographie zwischen vier Kontexten der Gerechtig12keit beziehungsweise der wechselseitigen Rechtfertigung, nämlich der Moral, der Ethik, dem Recht und der Politik, deren jeweilige Rechtfertigungsanforderungen »rekursiv« daraus folgen, was Menschen in diesen spezifischen Kontexten wechselseitig tatsächlich an Ansprüchen erheben.[6] 

Weil moralische Ge- und Verbote kategorisch für alle Vernunftwesen gelten, besteht im moralischen Kontext die Rechtfertigungspflicht gegenüber allen anderen. Aus diesem Anspruch moralischer Normen lassen sich zwei generelle Kriterien rekonstruieren, nämlich das der Reziprozität und das der Allgemeinheit. Mit Blick auf das erste Kriterium unterscheidet Forst nochmals zwischen der Reziprozität der Inhalte und der Reziprozität der Gründe. Die Reziprozität der Inhalte besagt, dass niemand für sich in Anspruch nehmen darf, was anderen verweigert wird, etwa wenn jemand für sich selbst das Recht beansprucht, eine selbstgewählte Religion zu praktizieren, dieses Recht aber einer anderen Person abspricht. Die Reziprozität der Gründe verlangt dagegen, dass niemand die eigenen, stets perspektivischen Gründe ohne Prüfung, ob diese Gründe von anderen geteilt werden können, für andere verbindlich machen darf. Das Kriterium der Allgemeinheit fordert schließlich, die Interessen und Einwände aller betroffenen Personen einzubeziehen, wobei »die Gründe, die eine Norm legitimieren sollen, von allen Personen geteilt werden können müssen«.[7] 

In der Akzeptanz eines solchen »Rechts auf Rechtfertigung« des konkreten Gegenübers, dem eine »unbedingte Pflicht zur Rechtfertigung« korrespondiert, manifestiert sich nach Forst die »praktisch[e] Einsicht zweiter Ordnung« in eine »ursprüngliche Verantwortung«, die Menschen anderen gegenüber »schlechterdings« 13haben.[8]  Diese fundamentale Einsicht ist, anders als die spezifischen Normen, zu denen sie in der dialogischen Auseinandersetzung mit anderen führt, nicht konstruiert, sondern rekonstruiert, weil sie jeder zwischenmenschlichen Praxis als moralische Tiefengrammatik eingeschrieben ist. Die Frage »Warum moralisch sein?« lässt sich also nicht mit außermoralischen Gründen, etwa dem Bezug auf das gute oder gelingende Leben, beantworten; solche Bezüge verfehlen sogar die eigentliche Pointe und Autonomie der Moral. Der Grund der Moral liegt vielmehr, strikt deontologisch gedacht, in der Art und Weise, in der sich moralische Subjekte begegnen, nämlich als einander wechselseitig Respekt und Rechtfertigung schuldende Wesen.[9] 

Im Anschluss insbesondere an die Habermas’sche Diskursethik unterscheidet Forst hierbei die moralische von der ethischen Ebene. Ethisch verständigen sich Personen als Einzelne (oder auch in Gruppen) darüber, was für sie individuell (oder kollektiv) gut ist.[10]  Vorstellungen vom gelingenden Leben unterscheiden sich in modernen Gesellschaften nicht nur zufälliger-, sondern notwendigerweise. Die Meinungsverschiedenheiten resultieren – hier folgt Forst John Rawls – aus der Vernunft selbst, sodass von einem unvermeidbaren Pluralismus von vernünftigen, aber nicht notwendig teilbaren Lebensentwürfen auszugehen ist.[11]  Ethische Fragen sind also solche, die sich nur vor dem spezifischen Hintergrund einer partikularen Auffassung des guten Lebens beantworten lassen.[12]  Aber auch hierbei spielen Rechtfertigungen eine Rolle. Mitglieder ein und derselben ethischen Gemeinschaft, etwa einer Religions14gemeinschaft, fragen sich, was das für sie oder an sich Gute ist, und rechtfertigen diese Vorstellungen in Bezug auf ihre spezifische Weltauffassung. Auch geben ethische Beziehungen Anlass zu partikularen Verpflichtungen, etwa in Freundschaften und Solidargemeinschaften.[13]  Aber dem entspricht kein kategorisches Recht auf Rechtfertigung allen anderen gegenüber. Wer sich mit seiner ethischen Gemeinschaft nicht mehr identifizieren kann, obgleich keine Verletzung moralischer Ge- oder Verbote vorliegt, der kann jenseits des Hinweises auf Defizite in der Interpretation der geteilten Werte nur die gemeinsame Praxis selbst aufkündigen.

Diese Möglichkeit des Austritts muss der Staat, der sich ethisch oder weltanschaulich neutral zu verhalten hat, in Form subjektiver Rechte gewährleisten. Aber Rechte sichern nicht nur die Austrittsmöglichkeit, sondern stellen für Forst primär eine »Schutzhülle« für Individuen und deren ethische Überzeugungen und Praktiken dar.[14]  Zudem darf das Recht die Bürger:innen nicht nur als Adressat:innen »unterwerfen« – es muss sie auch dazu befähigen, sich selbst an diese Gesetze als demokratische Autor:innen zu binden.[15]  Dieser rechtliche und der damit verbundene politische Kontext der Gerechtigkeit bezieht sich nun jedoch – anders als die Moral – lediglich auf eine spezifische Gemeinschaft, einen Teilbereich der Menschheit, etwa auf eine in einem Nationalstaat organisierte politische Gemeinschaft. Allen, die in einer solchen institutionalisierten Rechtfertigungsordnung leben, muss die Grundstruktur dieser Ordnung gleichen Einfluss auf ihre Gestaltung gewähren. Diese beiden Kontexte, das Recht und insbesondere die demokratische Politik, basieren immer noch auf dem einen fundamentalen Recht auf Rechtfertigung, gestalten und aktualisieren es aber auf eine bestimmte Weise. So wird der moralische Konstruktivismus, der aufgrund seiner Einbeziehung aller möglicherweise Betroffenen niemals ohne hypothetische Elemente auskommen kann, im politischen Konstruktivismus in realen diskursiven Verfahren überprüft und spezifiziert. Moralphilosophie und Politische Theorie berühren sich also in einem geteilten moralischen Grundprinzip, beziehen sich aber auf unterschiedliche Geltungsbereiche.

15In Bezug auf diese rechtlich-politische Ebene unterscheidet Forst analytisch zwei Anforderungsdimensionen an eine gerechte Grundstruktur, die er als »fundamentale« und »maximale« Gerechtigkeit kennzeichnet.[16]  Auf der ersten, fundamentalen Ebene gilt: Wann immer Menschen sich wechselseitig Normen auferlegen, muss dies so geschehen, dass alle betroffenen Personen über die Möglichkeit verfügen, ihre Stimmen als gleichgestellte normative Autoritäten einzubringen.[17]  Daher erfordert fundamentale Gerechtigkeit demokratische Prozesse, die nicht nur der Mehrheitsmeinung als dem angeblichen »Volkswillen« Ausdruck verleihen, sondern jeder Person die gleiche Chance eröffnen, sich als Autor:in der resultierenden Gesetze und Politiken zu verstehen. Eine ungerechte Gesellschaft zeichnet sich entsprechend dadurch aus, dass Einzelnen oder Gruppen Normen willkürlich aufgezwungen werden. Als größte Verletzung menschlicher Würde – und fundamentale Ungerechtigkeit – gilt es demnach, gar nicht erst als Rechtfertigungssubjekt zu zählen.

Weil diese fundamentale Ebene der Gerechtigkeit Forst zufolge materiale Vorbedingungen hat, die gleiche Teilnahme faktisch ermöglichen, ist diese Ebene aber nicht bloß formal.[18]  Vielmehr erfordert sie bereits substantielle Garantien, etwa sozialstaatliche Rechte, um tatsächlich sicherstellen zu können, dass jede Person ihr qualifiziertes Vetorecht auch wahrnehmen und damit ihr Recht auf Rechtfertigung einfordern kann. Ist diese erste und für Forst primäre Forderung einer kritischen Theorie der Gerechtigkeit (zumindest annähernd) erfüllt, gilt es, in der daraus resultierenden Rechtfertigungsordnung durch ebenjene demokratischen Prozesse, die sie einfordert und ermöglicht, weiter festzulegen, welche Regeln und Politiken substantiell als gerecht gelten können. Ziel ist eine »vollständig« gerechtfertigte Struktur, die »maximale Gerechtigkeit« einlösen würde.[19] 

16Weil die Würde der Einzelnen als einander gleichgestellten normativen Autoritäten und ihr Recht auf Rechtfertigung schon im Rahmen der demokratisch organisierten Nationalstaaten, aber erst recht außerhalb seiner institutionellen Grenzen oftmals nicht hinreichend gewährleistet ist, hat Forst in einer Reihe von Aufsätzen seit Anfang der 2000er Jahre eine kritische Theorie transnationaler Gerechtigkeit erarbeitet, auf deren Grundlage er die beiden einflussreichsten Lager in der Debatte um globale Gerechtigkeit kritisiert.[20]  Gegen Vertreter:innen des Kosmopolitismus, für die sich die Forderung nach globaler sozialer Gerechtigkeit direkt aus dem universellen Menschsein ergibt, wendet er ein, dass soziale Gerechtigkeit im engeren Sinne nur dort gefordert werden kann, wo schon etablierte soziale oder politische Beziehungen vorliegen.[21]  Gegen Protagonist:innen einer lediglich international gefassten politischen Gerechtigkeit, deren primärer Bezugspunkt das Verhältnis unabhängiger Staaten ist, macht er geltend, dass ein solcher Ansatz bestehende Machtverhältnisse jenseits von Staatlichkeit nicht angemessen begreifen kann.[22]  Obgleich Forst mit Vertreter:innen dieses Ansatzes die Annahme teilt, dass von sozialer Gerechtigkeit nur da gesprochen werden kann, wo Menschen mit anderen schon in besonderen Beziehungen stehen, weist er es aus normativen Gründen ab, Fragen der (Un-)Gerechtigkeit generell erst dort zu lokalisieren, wo bereits bestehende Institutionen der positiven Kooperation oder des staatlichen Zwangs existieren.[23]  Denn Ungerechtigkeit tritt schon überall dort auf, wo Beziehungen der – wenn auch informellen – Herrschaft bestehen, durch die eine Partei eine andere Partei willkürlich 17Regeln oder Normen unterwirft.[24]  Auch multinationale Unternehmen können demzufolge Herrschaft ausüben, wenn sie Menschen durch ihren schieren Einfluss auf Lebensführung und Handlungsfähigkeit Restriktionen auferlegen, die eigentlich der Rechtfertigung bedürften, und damit faktisch normative Autorität beanspruchen, die ihnen niemand verliehen hat: »Eine normative Ordnung ist jede Ordnung gesellschaftlicher Normen und Regeln, die Personen und Kollektive in Bezug auf ihren gesellschaftlichen und politischen Status regiert und ihre Optionen als Mitglieder einer gesellschaftlichen Organisation bestimmt.«[25]  Entsprechend muss es nach Forst auch auf der globalen Ebene darum gehen, alle zu Autor:innen jener Normen zu machen, denen sie unterworfen sind.[26]  Eine solche Perspektive sollte uns auch davor bewahren, internationale Entwicklungshilfe als Akt des Wohlwollens zu begreifen, wo sie doch sehr viel eher als Kompensation für zugefügtes Unrecht, in Reaktion auf Folgen des Kolonialismus oder einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung verstanden werden sollte. Aber noch grundsätzlicher fordert eine solche kritische Perspektive eine Transformation der grundlegenden Strukturen, die dieses Unrecht allererst ermöglicht haben.[27]  Die Frage, wer die Macht hat, über solche Strukturen zu entscheiden, ist nicht die einzige, aber die erste Frage der Gerechtigkeit.

Macht ist für Forst dabei kein äußerliches Gut, keine Ressource, die einfach geliefert oder empfangen werden kann. Vielmehr wird sie diskursiv erzeugt und im Raum der Gründe ausgeübt. Sie beschreibt die Fähigkeit einer Person oder Gruppe, andere Personen oder Gruppen zu Gedanken oder Handlungen zu bewegen, die sie ohne diese Einwirkung so nicht gehabt oder vollzogen hätten.[28]  Diese Einflussnahme kann vermittels guter oder schlechter Argumente, Narrative, Täuschungen, Befehle oder Drohungen geschehen.[29]  Auch der vorgehaltene Revolver, welcher der Handlungsaufforderung »Geld oder Leben!« Nachdruck verleiht, übt Macht auf 18den Willen und den Geist, das heißt den Haushalt der Gründe der Opfer aus, indem er diesen einen ziemlich guten Grund vor Augen führt, dem Willen des Räubers zu folgen: nämlich dass ihnen das eigene Leben wichtiger ist als das geforderte Geld. Macht ist für Forst demnach ein »noumenales«, ein geistiges Phänomen – anders als die rein physische Gewalt, die unvermittelt auf den Körper des oder der anderen einwirkt.[30]  Als motivierende und Gründe transformierende Einflussnahme auf eine andere Person oder Gruppe wird Macht von Forst begrifflich gesehen als normativ neutral erachtet; Macht ist nicht an sich problematisch.[31]  Die Aufgabe der Kritik besteht nun zum einen darin, gesellschaftliche Machtasymmetrien offenzulegen und Strukturen zu durchleuchten, die es einigen mehr als anderen ermöglichen, den Raum der Gründe zu bestimmen oder gar abzuschließen. Zum anderen hat die Kritik die Funktion, jene Rechtfertigungen, die den Raum der Gründe faktisch besetzen, daraufhin zu prüfen, ob sie den Maßstäben der Reziprozität und Allgemeinheit gerecht werden.[32] 

Eine ideengeschichtlich weit ausholende kritische Analyse solcher Rechtfertigungsmuster hat Forst in seiner zweiten Monographie Toleranz im Konflikt vorgelegt, die auf seine Habilitationsschrift zurückgeht. Darin rekonstruiert er in einem historischen Durchgang von der Antike bis zur Gegenwart die vielschichtigen und komplexen, von Macht und Moral durchzogenen Praktiken und Begründungen der Toleranz. Dabei enthält Toleranz mindestens drei Komponenten: Die Ablehnungskomponente zeigt auf, warum man bestimmte Eigenschaften oder Überzeugungen der anderen Person oder Gruppe zwar duldet, aber ablehnt (und nicht etwa wertschätzt oder mit Indifferenz betrachtet), während die Akzeptanzkomponente erklärt, warum man die andere Person oder Gruppe trotz dieser Ablehnung gewähren lässt. Die Zurückweisungskomponente bestimmt drittens die Grenze der Toleranz, jenseits derer keine Akzeptanz mehr möglich ist.[33] 

19Probleme eines angemessenen Verständnisses der Toleranz treten nun bei der Bestimmung dieser drei Komponenten auf, die offensichtlich nicht alle auf denselben Gründen beruhen können. Ein zentraler Beitrag Forsts besteht darin, der empirisch äußerst wirkmächtigen »Erlaubniskonzeption« die normativ angemessenere »Respektkonzeption« entgegenzustellen.[34]  Eine Rechtfertigungsordnung, die auf der Erlaubniskonzeption basiert, spricht dem Staat die Macht zu, die Praktiken oder Überzeugungen einer Minderheit aus hegemonialen, das heißt partikularen und nicht reziprok-allgemeinen Gründen abzulehnen oder zu erlauben. Der Staat wäre dieser Konzeption zufolge tolerant, wenn er es der Minderheit gewährt, die eigentlich abgelehnten Praktiken in vorgegebenen Grenzen auszuüben. Aber diese Erlaubnis folgt weniger aus der Achtung vor dem unveräußerlichen Recht der Minderheit als vielmehr aus dem Herrschaftsrecht der mächtigeren Partei, die diese Erlaubnis jederzeit aufkündigen kann, wenn sie nicht mehr ihren eigenen Interessen oder Überzeugungen entspricht.[35]  Die Ablehnungskomponente besteht hier aus ethischen, die Akzeptanzkomponente aus pragmatischen oder wiederum ethischen Gründen. Diese bis heute wirkmächtige Begründung für Toleranz ist Forst zufolge durch und durch ideologisch, weil sie nicht auf allgemein teilbaren Gründen basiert und der tolerierten Minderheit keine gleichwertige normative Autorität zugesteht. Für diese Erlaubniskonzeption gelte deshalb, was Goethe allgemein über die Toleranz schrieb: »Toleranz sollte nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.«[36] 

20Demgegenüber beruht die von Forst vertretene Respektkonzeption, die historisch vor allem an Pierre Bayle anknüpft, auf einer Ebenendifferenzierung: Auch wenn man die Auffassungen der anderen aus ethischen Gründen ablehnt, muss man sie als moralisch, politisch und rechtlich Gleiche respektieren und ihre Überzeugungen und Praktiken als legitimen Ausdruck des vernünftigen Pluralismus akzeptieren.[37]  Während sich also die Ablehnungskomponente ethischen Gründen verdankt, basiert die Akzeptanzkomponente auf strikt moralischen und damit vorrangigen Gründen des Respekts. Diese erklären auch die Zurückweisungskomponente und damit die Grenzen der Toleranz: Handlungen und Praktiken, die aufgrund allgemeiner und reziproker Gründe verboten werden müssen, können nicht toleriert werden. Die Respektkonzeption beruht also auf einer Differenzierung von ethischen und moralischen Gründen. Angesichts des ethischen Pluralismus muss folglich auch der weltanschaulich neutrale Staat – insbesondere durch die Verleihung subjektiver Rechte – dem Kontext ethischer Selbstbestimmung Rechnung tragen und seine grundlegenden Normen unter Wahrung des Rechts auf Rechtfertigung begründen. Dies bringt erneut Forsts Kernüberzeugung zum Ausdruck, dass alle Menschen moralisch gesehen einen gleichwertigen Status haben und keine Person oder Gruppe das Recht hat, sich über andere zu stellen. Er übt somit eine scharfe Kritik an allen Formen hierarchischer oder herrschaftlicher Politik, die Personen oder Gruppen zu Untergebenen anderer macht und damit zu Menschen zweiter Klasse degradiert.

Die Zurückweisung dieses fundamentalen moralischen Übels verleiht dem Theorem des Rechts auf Rechtfertigung seine kritische universalistische Stoßrichtung. Dem Vorwurf, dass ein vernunftbasierter, rechtfertigungstheoretischer Ansatz ethnozentrisch oder noch kolonialen Denkfiguren verhaftet sei, entgegnet Forst mit einer Gedankenfigur, die an die Idee des »performativen 21Selbstwiderspruchs« bei Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas erinnert:[38]  So müsse eine solche Kritik selbst das fundamentale Recht auf Rechtfertigung und das darin verkörperte Recht, keiner Fremdbestimmung unterworfen zu sein, in Anspruch nehmen. Substantieller moralischer Fortschritt zeigt sich dementsprechend dort, wo Menschen vermehrt die Möglichkeit haben, ihr Recht auf Rechtfertigung in effektiver Weise geltend zu machen.[39]  Forsts Theorie erhebt damit den umfassenden Anspruch, den zentralen normativen Mechanismus von Gesellschaften zu benennen. Als Vernunft- und Rechtfertigungswesen sind menschliche Subjekte auf Rede und Antwort, auf Begründung und Widerspruch angewiesen. Ihre Autonomie manifestiert und realisiert sich gerade in dieser kommunikativen Freiheit mit und unter anderen. Aber dieser Freiheit entspricht in einem strikten Sinne die Verpflichtung, die Rechte und Gründe der anderen zu prüfen und zu achten. Diese Verpflichtung kann man, wie die Menschenwürde, verletzen, missachten und verleugnen; in ihrer Unverfügbarkeit antasten kann sie aber kein menschliches Verhalten.

An genau diesem normativen Grund richtet sich das Forst’sche Projekt nun auch in seiner kritischen Dimension aus. Zu einer Kritischen Theorie in der Bedeutung, die ihr Horkheimer gegeben hatte, wird diese Theorie dadurch, dass sie die sozialen Ausschließungen und politischen Entrechtungen in gegenwärtigen Gesellschaften hartnäckig zu diagnostizieren versucht. Zugleich erlaubt sie es aber, ein Jenseits der Herrschaft, eine Gegenkraft zur Ungerechtigkeit, zu benennen. Zum kritischen, ja, sogar utopischen Anspruch dieser Theorie gehört daher ihre Bereitschaft, sich ein anspruchsvolles Bild von weniger verzerrten und weniger herrschaftsförmigen Verhältnissen zu machen, in denen die Stimmen und Gründe aller gleich viel zählen und die soziale Welt Formen gefunden hat, die Vielfalt der partikularen Gesichtspunkte mit der universellen Vernunft in Einklang zu bringen.

Seiner eigenen Form einer Kritischen Theorie im strikten Sinne gemäß richtet Forsts philosophisches Projekt diesen Anspruch da22bei zugleich an sich selbst, indem es seine eigenen Maßstäbe und Rechtfertigungen an die diskursive Kritik, den Einspruch und Widerspruch ihrer Adressat:innen in der wirklichen Welt zurückbindet. Daraus spricht das selbstkritische Bewusstsein, dass sich jede Theorie ihrer eigenen Normativität reflexiv zu vergewissern und sie im Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik zu bewähren hat.[40]  Forsts Bereitschaft, sich diesem Kreuzfeuer auszusetzen, bezeugen nicht zuletzt die zahlreichen Publikationen der letzten Jahrzehnte, in denen er sich mit kritischen Überlegungen und Rückfragen zu seiner Position auseinandergesetzt und Rede und Antwort für seine Ideen gestanden hat.[41]  In Fortsetzung dieses Gesprächs versammelt der vorliegende Band anlässlich des sechzigsten Geburtstags von Rainer Forst im Sommer dieses Jahres Beiträge von deutschsprachigen und internationalen Kolleginnen und Kollegen aus Philosophie, Rechts- und Politikwissenschaft, Soziologie und benachbarten Disziplinen, die sich, gegliedert in sechs Sektionen, mit den zentralen Themen und Thesen aus seinem vielfältigen Werk beschäftigen.

Die erste Sektion zur Idee der Rechtfertigung eröffnet ein Beitrag von Charles Larmore, der ebenso wie Forst die Position vertritt, dass Menschen Wesen seien, die sich in ihrem Denken und Handeln durch Gründe leiten lassen. Außerdem teilt er Forsts Ansicht, dass politische Grundprinzipien der Zustimmung durch die Mitglieder einer Gesellschaft bedürften. Gleichwohl identifiziert Larmore in Forsts Konzeption eine Reihe von Unklarheiten und Schwierigkeiten, deren bessere Ausleuchtung seine Theorie ergänzen könnte. Marcus Willaschek fragt, wie sich das Recht auf Rechtfertigung selbst rechtfertigen lässt, insbesondere gegenüber jenen Personen, die es aus Gründen ablehnen, die nicht reziprok und all23gemein rechtfertigbar sind. Der Umstand, dass keine Lesart dieses Rechts eine solche Rechtfertigung zulässt, zeigt ihm zufolge, dass das Recht auf Rechtfertigung auf einer bestimmten, kantisch-rationalistischen Konzeption von Moral basiert und damit der faktischen Pluralität von Moralvorstellungen nicht gerecht wird. R. Jay Wallace hinterfragt den Status, den das Recht auf Rechtfertigung in einer deontologischen Moraltheorie kantischen Typs haben kann, und bleibt skeptisch gegenüber der These vom fundamentalen und vorrangigen Charakter dieses Rechts, das bereits im relationalen Verständnis der moralischen Vernunft enthalten ist. Thomas M. Schmidt beleuchtet die theologische und subjektivitätstheoretische Dimension des Rechtfertigungsbegriffs, indem er dessen Rolle in Kants Religionsschrift rekonstruiert. So werde deutlich, dass die philosophische Aneignung der protestantischen Rechtfertigungslehre durch Kant den Weg geebnet hat, auf dem sich das moralische Recht auf Rechtfertigung entwickeln ließ. Christoph Möllers untersucht, welche praktische Bedeutung einem theoretischen Begriff der Rechtfertigung insbesondere mit Bezug auf Rechtsverfahren zukommen kann. Dabei lasse sich nicht einfach von guten Gründen auf bestimmte Praktiken des Beratens und Begründens schließen, weil dabei nicht ausreichend berücksichtigt werde, dass solche Verfahren vorrangig der Beratung und Begründung von kollektiven Entscheidungen dienen.

Die zweite Sektion versammelt Beiträge zur Theorie der Moral und zum Stellenwert der Freiheit. Jürgen Habermas vertritt in Auseinandersetzung mit Forsts Idee einer »Einsicht zweiter Ordnung« in die unmittelbare Geltung der interpersonalen Moral die Auffassung, dass Forst die Detranszendentalisierung nicht weit genug vorantreibe. Zu sehr noch verankere Forst die Unmittelbarkeit dieses Sollens im Gewissen des Individuums und nehme zudem implizit einen Autoritätsbegriff in Anspruch, den er doch eigentlich ablehne, nämlich den der sakralen Aura des heilsbringenden und infalliblen Gebots. Im Zentrum von Klaus Günthers Text steht das Motivationsproblem der Moral, das er als Konfliktverhältnis zwischen ethischer Freiheit und Autonomiemoral beschreibt. Aus seiner Sicht kann der sich darin zeigende notwendige Konflikt im besten Fall durch eine gegenseitige Perspektivenübernahme zwischen Handelnden und Urteilenden aufgelöst werden, indem sich die Handelnden dem Urteil der anderen stellen und diese im Urteil 24die beiden Extreme eines moralisch zu rigoristischen Urteils ebenso wie eines vorschnellen Verzeihens vermeiden. Christoph Menke kontrastiert Moral und Freiheit und die ihnen entsprechenden praktischen Philosophien mit zwei Formen, die Macht der Moral zu verstehen, nämlich als Gesetz oder Gebot. Von dieser Alternative aus erscheint die Idee der Selbstbestimmung in der und durch die Moral mehrdeutiger, als es die an Kant anschließenden Moralphilosophien zulassen wollen. Arthur Ripstein geht in seinem Beitrag der Frage nach, wie kollektive Selbstgesetzgebung möglich ist, und zwar als Errungenschaft der Subjekte als Kollektiv. Dafür sei wesentlich, und dies arbeitet Ripstein als Verdienst von Forsts Arbeiten heraus, dass kollektive Regelungen keine unabhängig »richtigen« Entscheidungen erkennen, sondern diese tatsächlich in wechselseitigen Rechtfertigungsprozessen erst hervorbringen, indem sich die Teilnehmer:innen sowohl die Regeln als auch die Befugnisse, diese bindend auszulegen, gemeinsam auferlegen. Peter Niesen argumentiert, dass Forsts multidimensionaler Begriff der politischen Freiheit der von Isaiah Berlin hervorgehobenen negativen Freiheit keinen hinreichenden normativen Status einräume. Weil bei Forst die auf Gründen basierende moralische und ethische Autonomie geschützt werden soll, werde das irrationale Handeln nur als Residualkategorie geschützt, aber nicht selbst als schützenswert ausgewiesen. Matthias Lutz-Bachmann akzentuiert die philosophische Aktualität von Kants Vernunftidee in einer »allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, obgleich sich Kant durch seine offensichtlich ethnozentrischen und kolonialistischen Aussagen selbst in einen Widerspruch verwickele.

Die dritte Sektion umfasst Beiträge zu den Themen Toleranz, Demokratie und Recht. Thomas M. Scanlon bespricht die Forst’sche Idee der Toleranz und konzentriert sich dabei vor allem auf drei Aspekte: auf die Idee der teilbaren Gründe, auf die Möglichkeit, dass Toleranz auch eine Beleidigung darstellen kann, und auf die verschiedenen Weisen, in denen auch die Nichttoleranten toleriert werden müssen. Nicole Deitelhoff geht den zusammenhaltsfördernden Potentialen von Konflikten nach und erörtert die dafür notwendigen Voraussetzungen. Gerade in pluralistischen demokratischen Gesellschaften lasse sich der Zusammenhalt im und durch Konflikt fördern, wenn dieser, so ihre These, zugleich aktiv ermöglicht und institutionell eingehegt werde. Jean L. Cohen er25weitert in ihrem Beitrag die Forst’sche Diagnose einer demokratischen Regression durch den wiedererstarkenden autoritären Populismus mit Hilfe einer stärker politikwissenschaftlichen Reflexion auf die Formen neuerer Entdemokratisierungsprozesse, die sowohl von Eliten als auch »von unten« angestoßen werden können. Als wichtige Gegenfaktoren diskutiert sie insbesondere die Rolle von Vertrauensnetzwerken, die Bedeutung der Gleichheit aller gesellschaftlichen Gruppen und die Verhinderung von Machtzentren jenseits der öffentlichen Politik. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass liberale Demokratien gegenwärtig sowohl im Inneren wie von außen zunehmenden Anfechtungen ausgesetzt sind, analysieren Stefan Gosepath und Michael Zürn in ihrem gemeinsamen Beitrag, mit welchen spezifischen Krisendiskursen dem »liberalen Skript«, das heißt den Normen und dem Selbstverständnis dieser Gesellschaften, eine Mitschuld an der Krise zugeschrieben wird. Die notwendige Verteidigung gegen diese Angriffe kann aus ihrer Sicht nur durch Selbsttransformation und Neufassung dieser Normen und dieses Selbstverständnisses gelingen. Armin von Bogdandy beleuchtet Forsts Demokratietheorie mit Blick auf die transnationale Ordnung der Europäischen Union und fragt nach der Rolle des Rechts in der gesellschaftlichen Transformation hin zu mehr Demokratie und Partizipation. Dies sei nicht zuletzt in Zeiten zunehmender Erosion von politischen Rechten und der Zustimmung zu den europäischen Institutionen von Bedeutung.

Die vierte Sektion widmet sich dem Thema der (transnationalen) Gerechtigkeit. Zum Auftakt setzt sich Seyla Benhabib kritisch mit Ronald Dworkins posthum veröffentlichter normativer Rekonstruktion des Völkerrechts auseinander, die ihr zufolge zu teleologisch ausfällt, weil diese die Legitimität herrschaftlicher Gewaltausübung im Staatensystem als Ganzem steigern wolle. Ihr eigener Vorschlag unter dem Leitbegriff der »demokratischen Iterationen« sei nicht nur besser geeignet, jene diskursiven Prozesse zu beschreiben, in denen zivilgesellschaftliche Akteur:innen angesichts anstehender Vertragsratifizierungen im Streit mit staatlichen Vertreter:innen zumindest indirekt zu Subjekten des Völkerrechts werden, sondern ermögliche zudem eine stärkere Berücksichtigung zwischenstaatlicher Machtasymmetrien. Darrel Moellendorf bezweifelt, dass Forst im Kontext globaler Gerechtigkeit mit seiner kritischen Theorie transnationaler Gerechtigkeit wirklich eine pro26duktive Mittelposition zwischen »Globalisten« und staatszentrierten Ansätzen anbieten kann, und kritisiert die Privilegierung der innerstaatlichen Grundstruktur ebenso wie die mangelnde Relevanz globaler Ungleichheit in diesem Rahmen. Ayelet Shachar nimmt die vielfältigen und komplexen Exklusionsmechanismen in den Blick, mit denen Nationalstaaten den Zugang zu ihren jeweiligen Territorien kontrollieren. In Frontstellung zu Prognosen eines zunehmenden Souveränitätsverlustes identifiziert sie territoriale, kulturelle und ökonomische Sortiermechanismen, die es Staaten ermöglichen, ihre Grenzen nach außen zu verschieben und nach eigenem Ermessen zu schließen oder zu öffnen. Chandran Kukathas befasst sich mit der Herausforderung der Migration für liberale Gerechtigkeitstheorien und der Frage, inwiefern die ihnen zugrundeliegenden Prinzipien der Freiheit und Gleichheit auch für Menschen gelten, die nicht schon Staatsbürger:innen des Landes sind, in dem sie leben. Sanjay G. Reddy beleuchtet Rainer Forsts politische Philosophie aus Sicht eines Wirtschaftswissenschaftlers und erkennt insbesondere in den Konzeptionen eines universellen Rechts auf Rechtfertigung und der noumenalen Macht wichtige methodische Werkzeuge, um Fragen und Probleme globaler Gerechtigkeit auch in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften angemessener adressieren zu können. Am Beispiel des gegenwärtigen Wohnungsmarktes arbeitet Regina Kreide handlungsbezogene, strukturelle und radikaldemokratische Facetten der Ungerechtigkeit heraus, die aus ihrer Sicht zentrale Bausteine einer umfassenden, primären Theorie der Ungerechtigkeit sind. Die von ihr vorgeschlagene »Wende zur Ungerechtigkeit« bleibt dabei in ihrer normativen Orientierung an die Gerechtigkeit gebunden.

Zu Beginn der fünften Sektion zu Macht und Beherrschung bezweifelt Amy Allen, dass Forsts Kritik der Macht radikal genug ausfällt. Obgleich sie positiv hervorhebt, dass er der Frage der Macht eine primäre Relevanz einräume, glaubt Allen, dass sein Ansatz die eigene Verstrickung in Machtverhältnisse noch nicht hinreichend in den Blick nehme. In konstruktiv-kritischer Auseinandersetzung mit Forsts Konzept noumenaler Macht zeigt Henry S. Richardson, dass es drei Formen sozialer Macht gibt, die jener nicht berücksichtigen könne. Cécile Laborde greift Forsts noumenales Machtverständnis auf, um gegenüber zeitgenössischen neorepublikanischen Freiheitstheorien geltend zu machen, dass Menschen als unfrei be27zeichnet werden können, wenn sie sich unter bestimmten epistemischen Bedingungen unfrei fühlen. Mit dem Fokus auf eine solche Psychologie der Unfreiheit soll eine umfassendere Diagnose von Beherrschungsverhältnissen ermöglicht werden. Philip Pettit vergleicht seine eigene Version des Neorepublikanismus mit Forsts kantischem Republikanismus. Er arbeitet heraus, dass in Bezug auf drei für Forsts Theorie zentrale Thesen die Unterschiede zwischen beiden nicht so groß seien, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Lea Ypi macht auf eine oft übersehene Unrechtsdimension struktureller Ungerechtigkeit aufmerksam, nämlich die der Unfreiheit der Beherrscher selbst, die, genauso wie die Beherrschten, Entfremdung erführen – nämlich dadurch, dass ihnen ihr Leben innerhalb der Struktur Unbehagen bereite, ohne dass sie genau sagen könnten, woran dies liegt.

Die Beiträge der sechsten und letzten Sektion kreisen um Begriffe und Topoi der Kritischen Theorie. Nancy Fraser weist in ihrem Beitrag die Suche nach einer Gesellschaftstheorie, die zentrale Momente des modernen Kapitalismus als Ideologie zu begreifen vermag, als gemeinsame Schnittmenge von Forsts und ihren eigenen Arbeiten aus. Dabei geht sie vor allem jenen enteignenden oder räuberischen Momenten des Kapitalismus jenseits der Ausbeutung von »freier« Arbeit auf den Grund, die dessen Existenzbedingungen selbst untergraben – und jenen Bewegungen, die diese zu überwinden versprechen. Axel Honneth spürt den Verwendungen des Begriffs der Entfremdung nach und kritisiert allzu weite Verständnisse, in denen ein zentrales semantisches Element verloren gehe, nämlich die Unterstellung eines wesentlichen Fremdwerdens, des Verfehlens eines inneren Kerns. Maeve Cooke stellt die ethische Enthaltsamkeit der neueren kritischen politischen Theorie bei Habermas und Forst in Frage, insbesondere angesichts der heraufziehenden ökologischen Katastrophe. Weil diese die Veränderung grundlegender Lebensweisen erfordere, führe eine Ausblendung ethischer Fragen des gelingenden Lebens zu Entpolitisierung und einer zu großen Kluft zwischen privater und öffentlicher Autonomie – obgleich Forsts Verständnis dieses Zusammenhangs insofern produktiver sei, als es eine wechselseitige Revision moralischer und ethischer Urteile zumindest in Aussicht stelle. Martin Seel sucht ein verbindendes Element der Kritischen Theorie weniger in einem Set von Thesen und Grundsätzen als in einem Denkstil, der sich in 28einer bestimmten Form des nichtbestimmenden, offenen Denkens ausdrücke. Kritische Theorie gelinge so erst im jeweiligen Vollzug der ihr eigenen reflexiven und selbstkritischen Denkbewegung, in der sie sich gegen Konformismus und Dogmatismus wendet.

»Das Denken verläuft«, wie Rainer Forst es einmal ausgedrückt hat, »dialogisch, und jeder Text ist ein Gespräch mit bestimmten Anderen und eine Einladung an viele unbekannte andere, an ihm teilzunehmen.«[42]  Mit dem vorliegenden Band möchten die Herausgeber:innen gemeinsam mit den Beitragenden dieser Einladung nachkommen und ihren Dank für die intensiven und lebhaften Dialoge mit Rainer Forst über viele Jahre hinweg zum Ausdruck bringen. Diese haben nicht nur unser Denken, sondern auch uns als Personen geprägt, und sie haben uns aus nächster Nähe vor Augen geführt, dass Respekt, Toleranz und ein tiefes Vertrauen in die Vernunft (und in die oftmals mehr als unvernünftigen Vernunftwesen) als Ideen zu verstehen sind, die sich in der alltäglichen Praxis entfalten und bewähren können.

Unser Dank gilt weiterhin den zahlreichen Übersetzer:innen, die mit großer Sorgfalt eine Reihe der hier vorliegenden Texte ins Deutsche übertragen haben, Jaromir Sykora, der uns mit großem Einsatz und Sprachgefühl bei der Endredaktion der Beiträge zur Seite stand und Gesa Steinbrink für ein sehr sorgfältiges Außenlektorat. Rebecca Schmidt und Michael Graf aus der Geschäftsstelle des Forschungszentrums »Normative Ordnungen« danken wir für wichtige organisatorische Unterstützung. Ganz besonderen Dank schulden wir Eva Gilmer und dem Suhrkamp Verlag, ohne deren großartige Unterstützung dieser Band nie zustande gekommen wäre.

Frankfurt am Main und Binghamton, New York, im März 2024

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I. Rechtfertigung

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Charles Larmore

Was heißt Rechtfertigung?

Bekanntlich gehört der Begriff der »Rechtfertigung« zum Kern der politischen Philosophie von Rainer Forst. Seit dem Erscheinen seines ersten Buches, Kontexte der Gerechtigkeit (1994), hat er in einer Reihe von einsichtsvollen und systematischen Studien die grundlegende Rolle eines Rechts auf Rechtfertigung immer weiter herausgearbeitet. In seinem gleichnamigen Buch von 2007 hat er sein Hauptanliegen auf folgende Weise formuliert: »[W]ir [sollten] die Frage der politischen und sozialen Gerechtigkeit auf der Basis eines einzigen Grund-Rechts – dem Recht auf Rechtfertigung – verstehen und entsprechende Prinzipien einer gesellschaftlichen Grundstruktur konstruieren […].«[1]  Als Individuen oder als Repräsentanten verschiedener Organe des Staates seien wir verpflichtet, alle Mitglieder unserer Gesellschaft nach Prinzipien zu behandeln, die ihnen gegenüber gerechtfertigt werden können. Die erforderliche Rechtfertigung sollte insbesondere – hierin hat Forst einige Aspekte der Diskursethik von Jürgen Habermas übernommen, aber viel detaillierter entwickelt – reziprok und allgemein verfahren: Das heißt, kein Mitglied darf dabei anderen Mitgliedern gegenüber bestimmte Vorrechte genießen (Reziprozität der Inhalte), die Rechtfertigung selbst muss in einer normativen Sprache formuliert werden, die für alle offen ist und nicht nur von einer Partei bestimmt wird (Reziprozität der Gründe), und niemand darf aus dem Rechtfertigungsdiskurs ausgeschlossen werden, sodass eventuelle Einwände aller Betroffenen zu berücksichtigen sind (Allgemeinheit).[2] 

Ein solches Grundrecht auf Rechtfertigung zu beachten läuft, so Forst diesmal in Anlehnung an Kant, darauf hinaus, jeden Menschen als Zweck an sich zu respektieren. Denn der Mensch als vernunftbegabtes Wesen sei »ein Rechtfertigungswesen«, und 32das nicht nur in Bezug auf Gerechtigkeitsfragen, sondern überhaupt – in jedem Bereich seines Lebens. »Was immer wir denken und tun«, so erklärt Forst diese Auffassung, »wir stellen an uns (und an andere) den Anspruch, dass dies aus Gründen geschieht, seien sie ausdrücklich genannt oder (zunächst) implizit bleibend.«[3]  Zur Grundbestimmung des Menschen gehöre es, nichts denken oder tun zu können, ohne (zu Recht oder Unrecht) davon auszugehen, dass man gute Gründe hat, so oder so zu verfahren.

Nach Forst bedeutet dies jedoch nicht, dass das Recht auf Rechtfertigung überall relevant ist. Ihm zufolge müssen wir nur dann sicherstellen, dass sich die Prinzipien, nach denen wir handeln oder die Handlungen anderer Menschen beurteilen wollen, allen anderen gegenüber reziprok und allgemein begründen lassen, wenn es ihr Gegenstand ist, das gemeinsame Zusammenleben als solches zu regeln. Wenn es im Gegenteil um Zielsetzungen gehe, die, seien sie für uns selbst und für andere Gleichgesinnte noch so bedeutsam, dennoch keinen Anspruch erhöben, die Gesellschaft als Ganzes zu strukturieren, würden wir zwar normalerweise annehmen, dass sie hinsichtlich bestimmter Normen und Werte gerechtfertigt sind. Aber wir seien dann nicht verpflichtet, auch eine reziproke und allgemeine Rechtfertigung für diese zu suchen. Innerhalb einer gerechten Gesellschaft dürften verschiedene Individuen, Gruppen und sogar Gemeinschaften (etwa Religionen) nach ihrer eigenen »ethischen« Auffassung des guten Lebens handeln, solange sie nicht danach trachteten, damit die Lebensweise anderer Mitglieder der Gesellschaft zu beeinträchtigen. Moralische Prinzipien dagegen gälten unbedingt (kategorisch) für alle Menschen, was auch immer ihre Idee des Guten sein mag. So lautet im Wesentlichen die von Forst vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Ethik und Moral.[4]  Ihm zufolge müssen moralische Gründe allein in diesem Sinne teilbare Gründe sein.

Wie ich schon angemerkt habe, verdankt Forsts Rechtfertigungsbegriff einige seiner Elemente dem Denken von Habermas und Kant. Bei mehreren Gelegenheiten hat er sich sogar als Kantianer bekannt.[5]  Worin liegt dann die Originalität seines Ansatzes? 33Erstens hat er die Kriterien von Reziprozität und Allgemeinheit für die Rechtfertigung von politischen (und auch von moralischen) Prinzipien sorgfältiger als Habermas ausgearbeitet. Vor allem aber unterscheidet er sich von Habermas darin, dass er auf der Notwendigkeit besteht, das Prinzip einer gerechten Gesellschaft in der Anerkennung eines Grundrechts zu sehen, das jedem Menschen als solchem zusteht. Die Habermas’sche These der sogenannten Gleichursprünglichkeit von Volkssouveränität und Menschenrechten reformuliert er ganz unhabermasianisch als die Auffassung, dass beide weniger miteinander verschränkt sind, als sie vielmehr einen gleichen, ihnen vorangehenden Ursprung haben, nämlich das fundamentale Recht auf Rechtfertigung.[6]  In den stetig sich weiterverzweigenden Untersuchungen, die er diesem Grundbegriff in der Folge gewidmet hat, wird deutlich, wie sehr er von seinem Lehrer abgewichen und seinem eigenen Weg gefolgt ist.

Was seine Beziehung zu Kant anbelangt, so geht dessen Einfluss nicht über die Aufnahme von sehr allgemeinen Begriffen wie Respekt, Zweck an sich und (wie wir sehen werden) Autonomie hinaus. Zudem hat Forst diese Begriffe im Hinblick auf das Geben und Akzeptieren von Gründen bei der Rechtfertigung der Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens auf eigene Weise und damit noch gründlicher oder zumindest verständlicher als sein Vorläufer interpretiert. Den Schlüsselbegriffen von Gründen und Rechtfertigung hat Kant keine zentrale Stellung in seinem Denken als solchem zugewiesen. Darum hat er niemals von so etwas wie einem Recht auf Rechtfertigung gesprochen. Forst gilt insofern als Kantianer, als er seine praktische Philosophie auf eine enge Verbindung zwischen menschlicher Vernunft und menschlicher Würde aufbaut. Er ist jedoch kein Kant-Anhänger. Der Drehpunkt seines Denkens besteht in einer Begriffstrias eigener Prägung, die Grundrecht, Rechtfertigung und Gerechtigkeit umfasst.

Mit vielen Aspekten des Forst’schen Ansatzes stimme ich mehr oder weniger überein, und dies, obwohl ich, wie sich später zeigen wird, nicht besonders geneigt bin, mich als Kantianer zu bekennen. Ich bin ebenfalls der Meinung, dass wir nichts denken oder tun können, ohne uns nach Gründen zu richten, die, soweit wir sehen, für die eine oder andere unserer Denk- oder Handlungsmöglich34keiten sprechen. Und ich teile die Ansicht, dass die Grundprinzipien des politischen Lebens bei allen Bürgern trotz ihrer sonstigen Differenzen eine angemessene Zustimmung finden sollten.[7]  Mir scheint aber, dass der Rechtfertigungsbegriff in verschiedenen Hinsichten mehrdeutig und klärungsbedürftig ist, und ich frage mich, ob sich Forst dieser Schwierigkeiten vollkommen bewusst ist. Im Folgenden geht es mir darum zu erklären, warum man bei der Verwendung dieses Begriffs immer präzisieren sollte, was genau unter »Rechtfertigung« zu verstehen ist. Dabei werde ich bis auf ein paar Ausnahmen gegen Ende keine Einwände gegen Forsts Positionen erheben, sondern nur, meistens indirekt, andeuten, wo er sich in bestimmten Hinsichten vielleicht nicht im Klaren über Verwicklungen seines Leitbegriffs gewesen ist. Denn er hat den Rechtfertigungsbegriff selbst bislang keiner näheren Analyse unterzogen.[8]  Abgesehen von diesen beiden Ausnahmen sind daher meine Bemerkungen eher als Ergänzungen denn als Kritik zu verstehen.

Unsere Begriffsanalyse muss mit dem Umstand anfangen, dass nicht jedes Argument, das von bestimmten Prämissen zu einem Schluss führt, als eine Rechtfertigung desselben konzipiert ist. An einigen Stellen hat nun Forst selbst eine Unterscheidung eingeführt zwischen »vernünftiger Rechtfertigung«, deren Gegenstand moralische und ethische Behauptungen seien, und »rationaler Begründung«, die, sich allein mit der Wahl von geeigneten Mitteln zu gegebenen Zwecken beschäftigend, »normativ neutral« verfahren würde.[9]  Das ist nicht, was ich meine. Der Begriff von geeigneten Mitteln sowie die Idee von Begründung überhaupt, auch wenn diese keinen moralischen Charakter haben, sind keineswegs normativ neutral (Klugheit ist auch ein normativer Begriff), und Begründungen, die zeigen, dass bestimmte Handlungen die effizienten Mittel zur Erreichung gegebener Zwecke darstellen, gelten ebenfalls als Rechtfertigungen. Wenn ich behaupte, dass Rechtfertigungen nicht die einzige Art von Argumenten darstellen, dann denke ich an etwas anderes. Auch Beweise sind vernunftgeleitete Argumente. Das Ziel eines Beweises liegt aber normalerweise nicht so sehr da35rin, den Schluss zu rechtfertigen, als vielmehr nachzuweisen, wie er aus höheren Prinzipien folgt, das heißt, warum er wegen der Natur der Sache selbst wahr sein muss. Nehmen wir an, man glaubt unter anderem, dass die Summe der drei Innenwinkel eines (euklidischen) Dreiecks zwei rechten Winkeln entspricht. Dann braucht man keine Rechtfertigung dieser Wahrheit, man ist davon schon überzeugt. Es ist dennoch immer noch sinnvoll, einen Beweis für sie zu suchen, da man sonst nicht erklären kann, warum sie eigentlich der Fall ist. Die Mathematik gilt als Paradigma einer Form des Denkens, die sich mit Beweisen beschäftigt. Sie tauchen allerdings auch in den empirischen Wissenschaften auf: Newton zum Beispiel bewies, warum Äpfel von Bäumen fallen, eine Tatsache, die natürlich jedem Menschen schon längst bekannt war.

Rechtfertigungen dagegen wollen zeigen, warum man eine Meinung akzeptieren sollte, die irgendwie problematisch erscheint, mag sie das, was der Fall oder was zu tun sei, betreffen. Sie bieten eine Antwort auf einen Zweifel, der bezüglich der Wahrheit des fraglichen Satzes entstanden ist. Manchmal wird angenommen, der Unterschied zwischen Beweisen und Rechtfertigungen liege darin, dass Beweise aus einer notwendigen, deduktiven Beziehung zwischen Prämissen und Schluss bestehen sollten, während sich Rechtfertigungen mit bloß einleuchtenden Gründen für ihren Schluss begnügen könnten. Das ist nicht ganz falsch, aber gleichwohl kurzsichtig. Zum einen kann in bestimmten Kontexten die geeignete Rechtfertigung einer bestrittenen Behauptung deduktiv schlüssig sein, so etwa, wenn Zweiflern nachgewiesen wird, dass ein Fahnenmast tatsächlich sieben Meter hoch sein muss, da die Sonne in einem 45-Grad-Winkel zum Horizont steht und der vom Fahnenmast geworfene Schatten sieben Meter lang ist. Und wenn zum anderen diese Rechtfertigung auch ein Beweis genannt werden kann, dann nur deshalb, weil sie dieselbe deduktive Schlüssigkeit besitzt, die Beweise im paradigmatischen Sinne charakterisiert. In der Mathematik sowie in anderen Wissenschaften sollen Beweise prinzipiell deduktiv sein, weil sie erklären sollen, warum und somit aufgrund welcher tiefer liegenden Wahrheiten etwas der Fall sein muss. Das ist eben das Ziel von Erklärungen im Gegensatz zu Rechtfertigungen, die es auch in den Wissenschaften gibt, wenn empirische Befunde angeführt werden, um ein Gesetz oder eine Theorie zu rechtfertigen, und zwar dadurch, dass sie solche Re36sultate, die selbst tiefer liegende Ebenen der Realität darstellen, allein untermauern, aber nicht zur notwendigen Folge haben. Kurz, der Unterschied zwischen Beweisen und Rechtfertigungen geht im Grunde auf den Unterschied zwischen den zwei verschiedenen Einstellungen zurück, die einerseits dem Erklären und andererseits dem Überzeugen zugrunde liegen.

Wenn alldem so ist, wenn jede Rechtfertigung ihrem Wesen nach dazu dienen soll, jemanden von einer Meinung zu überzeugen, die er bezweifelt, in Frage stellt oder lediglich noch nicht akzeptiert, dann muss sie auf die Perspektive ihres jeweiligen Adressaten ausgerichtet sein. Denn ihr Ziel liegt darin, ihm zu zeigen, dass er der problematischen Meinung zustimmen sollte, und das bedeutet, dass die in ihr dazu angeführten Gründe solcher Art sein müssen, dass er in der Lage ist, sie nachzuvollziehen. Es wäre zwecklos, ja, es liefe sogar dem Ziel einer guten Rechtfertigung zuwider, wenn man jemandem gegenüber eine Ansicht oder eine Handlungsweise anhand von Annahmen, die er ablehnt oder zu akzeptieren nicht imstande ist, zu begründen versuchte. Das heißt nicht, dass eine Rechtfertigung immer dann als stichhaltig gilt, wenn es ihr gelingt, auf welche Weise auch immer, jemanden von der Wahrheit eines Satzes zu überzeugen. Im Gegenteil, die Gründe, die angegeben werden, müssen triftig sein: Sie müssen tatsächlich für die Wahrheit der Meinung sprechen. Aber sie müssen auch Gründe sein, die der Adressat schon einsieht oder zu deren Einsicht er aufgrund anderer Elemente seiner Perspektive kommen könnte. Die Rechtfertigung einer Meinung, die sich für den einen eignet, kann daher für den anderen nicht geeignet sein, wenn die vorhandenen Denkweisen und Interessen des Letzteren, im Gegensatz zu denen des Ersteren, keinen Zugang zu den angeführten Prämissen bieten. In dieser Hinsicht weisen Rechtfertigungen eine gewisse Relativität auf. Wenn sie richtig konzipiert sind, sind sie auf den Standpunkt ihres jeweiligen Adressaten bezogen, was, noch einmal gesagt, nicht bedeutet, dass sie »relativ« in irgendeinem anderen Sinne sind, nach dem sie nicht gültige, sondern bloß rhetorisch wirksame Argumente für ihren Schluss zu liefern brauchen. Sie müssen zugleich triftig und zielgerichtet sein.

Obwohl die vorangehenden Überlegungen es schon nahegelegt haben, gilt es explizit klarzustellen, wann genau Rechtfertigungen überhaupt nötig sind. Da die Funktion von Rechtfertigungen darin 37besteht, jemanden von etwas zu überzeugen, das er oder sie noch nicht völlig akzeptiert, sind solche nur dann vonnöten, wenn eine Frage, ein Zweifel oder ein Einwand vorliegt. Solange dagegen eine Meinung unproblematisch bleibt, gibt es kein Bedürfnis nach deren Begründung. So bin ich mit Forst nicht ganz einverstanden, wenn er behauptet, wir seien grundsätzlich »Rechtfertigungswesen«, oder zumindest würde ich diesen Ausdruck nicht im gleichen Sinne verstehen, wie er ihn anscheinend versteht. Obwohl es zutrifft, dass wir nichts denken oder tun können, ohne auf dafür relevante Gründe zu hören, folgt daraus nicht, dass wir dabei immer unterstellen, wir seien in dem, was wir denken oder tun, gerechtfertigt. Es ist eher so, dass wir durch die Reflexionskraft, die uns als Menschen eigen ist, prinzipiell fähig sind, unser Denken oder Tun – mit welchem Erfolg auch immer – zu rechtfertigen zu versuchen, wenn wir vor Herausforderungen gestellt sind, die dies notwendig machen. Wir sind also nicht so sehr »rechtfertigende Wesen«[10]  als vielmehr sich nach Gründen richtende Wesen, die über ihre jeweilige Ausrichtung auf Gründe in der Form von Rechtfertigungen reflektieren können, wenn es erforderlich ist.

Wir sind noch nicht am Ende dieser Begriffsanalyse. Es kommt jetzt darauf an, eine Folge der beiden bisher in Betracht gezogenen Aspekte von Rechtfertigungen sichtbar zu machen. Die Relativität jeder Begründung auf die Perspektive ihres Rezipienten sowie die Abhängigkeit derselben vom Anlass einer einschlägigen Herausforderung wirken zusammen, um einen weiteren, äußerst wichtigen Wesenszug zu erzeugen: Rechtfertigungen unterscheiden sich in ihrem Verfahren je nachdem, durch welche charakteristische Art von Frage, Zweifel oder Einwand das Bedürfnis nach ihnen von den verschiedenartigen Personen, die damit zu ihren Adressaten werden, hervorgerufen ist. Nennen wir diesen Grundsatz die Kontextgebundenheit aller Rechtfertigung. Kontextgebunden ist sie mit Blick auf die beiden Dimensionen ihres Anlasses und ihrer Adressaten. Im Grunde genommen gibt es dabei drei Möglichkeiten: Man kann sich aufgefordert sehen, eine Meinung erstens gegenüber sich selbst oder zweitens einem anderen oder drittens – diesmal als Mitglied einer Gruppe – den anderen Mitgliedern gegenüber auf einer gemeinsamen Basis zu rechtfertigen. In jedem dieser drei Hauptsze38narien lässt sich der gerade genannte Grundsatz deutlich erkennen. Und mit der dritten Möglichkeit kommen wir in die Nähe des von Forst postulierten Rechts auf Rechtfertigung.

Fangen wir zuerst mit dem Fall an, bei dem wir uns selbst gegenüber eine Meinung rechtfertigen müssen. Dies kommt vor, wenn unsere Denk- und Handlungsroutinen, die auf gegebenen Überzeugungen und Interessen basieren, im Lauf der Erfahrung derart gestört werden, dass wir uns fragen, ob unsere Auffassung davon, wie die Dinge wirklich sind oder was wirklich in unserem Interesse liegt, zumindest in bestimmten Hinsichten geändert werden müsste, damit wir reibungsloser weitermachen können. Es stellt sich die Frage, ob wir nicht irgendeine neue Meinung akzeptieren oder eine schon bestehende Meinung revidieren oder sogar zurückweisen sollten, um das Problem zu lösen. Wenn wir dabei vernünftig vorgehen wollen, werden wir versuchen, diese Frage nur durch eine solide Begründung des fraglichen Meinungswandels zu beantworten.

Es ist aber wichtig zu verstehen, dass nicht nur die Notwendigkeit einer Modifizierung, sondern auch die Stichhaltigkeit der von uns konzipierten Rechtfertigung von unserem eigenen Standpunkt her beurteilt werden muss. Denn wir sind selbst die Adressaten der Rechtfertigung. Erstens haben wir nur dann einen Grund, die Änderung oder Annahme bestimmter Meinungen zu erwägen, wenn irgendein Konflikt zwischen unseren Routinen und unerwarteten Wendungen im Laufe unserer Erfahrung entstanden ist. Innere Konflikte, die zwischen verschiedenen Bestandteilen unserer eigenen Gesamtperspektive auftreten, sind die charakteristische Art von Anlass, die es uns zum Bedürfnis macht, etwas uns selbst gegenüber zu rechtfertigen. Die bloße Tatsache etwa, dass jemand anderes mit uns nicht einverstanden ist, stellt keinen solchen Anlass dar, es sei denn, wir können im Lichte unserer eigenen Sichtweise und so als Teil unserer Erfahrung einsehen, dass er recht haben könnte und sein Einwand darum ernst zu nehmen ist. Und zweitens kann die von uns entwickelte Begründung nicht umhin, sich auf andere unserer Überzeugungen zu stützen, die selbst im gegebenen Kontext nicht fraglich geworden sind. Woher sonst kämen die Materialien zur Lösung des Problems? Schließlich sollte auch darauf hingewiesen werden, dass wir in gewissen Hinsichten ständig dabei sind, neue Meinungen aufzunehmen, ohne dass es erforderlich ist, sie zu rechtfertigen. Es gehört nämlich zu unseren gewöhnlichen Routi39nen, an die Wahrheit dessen zu glauben, was wir unter Normalbedingungen wahrnehmen, sowie bestimmten Informationsquellen (etwa Augenzeugen oder Zeitungen) zu vertrauen, sofern wir keinen Anlass haben zu vermuten, dass die Resultate dieser Routinen in Konflikt mit unseren bestehenden Ansichten geraten könnten. Obwohl wir dabei natürlich die Gründe beachten, die es dafür gibt, dies oder das zu glauben, formulieren wir keine Rechtfertigungen. Denn Routinen verlangen eben keine Reflexion.