"Die Mauer war doch richtig!" - Robert Rauh - E-Book

"Die Mauer war doch richtig!" E-Book

Robert Rauh

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Beschreibung

Dieses Buch stellt die gängige Auffassung in Frage, der Mauerbau sei in der DDR auf breite Ablehnung gestoßen. Unser Geschichtsbild ist durch die Bilder von spontanen Demonstrationen an der Berliner Sektorengrenze und von spektakulären Fluchtversuchen geprägt. Tatsächlich kam es aber am 13. August 1961 nur an wenigen Grenzübergängen zu größeren Ansammlungen und in den folgenden Wochen nur zu vereinzelten Protesten und Streiks. Die Mehrheit blieb passiv.Auf der Basis von internen Polizei-, SED- und Staatssicherheitsberichten sowie von Zeitzeugeninterviews und den Ergebnissen einer aktuellen Umfrage geht Robert Rauh der Frage nach, warum so viele DDR-Bürger den Mauerbau widerstandslos hinnahmen – und damit letztlich die deutsche Teilung billigten.

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Seitenzahl: 268

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Robert Rauh

»Die Mauer wardoch richtig!«

Warum so viele DDR-Bürgerden Mauerbau widerstandsloshinnahmen

In diesem Buch wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit

ausschließlich die männliche Form verwendet. Sie bezieht

sich auf Personen aller Geschlechter.

Der Fragebogen und die Ergebnisse der für dieses Buch

erhobenen Umfrage sind einsehbar unter

www.robert-rauh.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CDROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im be.bra verlag, 2021

© der Originalausgabe:

be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2021

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin

Umschlag: fernkopie, Berlin (Foto: akg-images / Alfred Strobel)

ISBN 978-3-8393-0154-8 (epub)

ISBN 978-3-89809-193-0 (print)

www.bebraverlag.de

Inhalt

Prolog

EinleitungMehr als ein Motiv

Der Tag danachBerlin am 13. August 1961

»Ein Aufstand ist nicht real«Der SED-Staat in der Offensive

Schock und Starre»Ansammlungen« an den Grenzübergängen

»Neugierige« und »Provokateure«Volkes Stimme im Blick der Stasi

Proteste ohne MassenReaktionen auf den Mauerbau

Reibungsloser Betriebsverlauf?Die Arbeiterschaft

»Ob ihr wollt oder nicht«Die Jugend

»Abwartende Haltung«Die Wissenschaftler

»Das Unrecht vom 13. August? Von welchem Unrecht sprechen Sie?«Die Künstler

Widerstandslose HinnahmeErklärungsversuche

Das Trauma des 17. JuniAngst und Ausweglosigkeit

»Nur vorläufig«Unsicherheit und Ungläubigkeit

»Der Zaun hat uns nicht gestört«Gleichgültigkeit und Gewöhnung

»Schlimm, aber notwendig«Überzeugung und Illusion

ResümeeHoffnung auf einen Burgfrieden

Anhang

Anmerkungen

Abkürzungen

Literatur

Archive

Bildnachweis

Dank / Der Autor

»Weißt Du, diese jüngere Generation hält nicht viel von uns und gibt uns die Schuld an einer Entwicklung, unter der wir doch am meisten leiden, weil wir mit so einem schweren Gepäck an Idealen losmarschiert sind. Aber das ist ein weites Feld […].«

Brigitte Reimann an ihren Bruder Ludwig, 1971

Prolog

»Warum haben sich die Leute das gefallen lassen?« Eigentlich wollte Fabian keine Fragen stellen. Geschichte interessiert ihn nicht so. Aber Herr Ahlemann hatte seine Schüler eindringlich dazu aufgefordert. Niemand schien die Gelegenheit nutzen zu wollen, die meisten schauten betreten zu Boden. Fabians Frage durchbrach die Mauer des Schweigens. Leicht irritiert fragte Ahlemann zurück: »Wie meinst du das?« Der Schüler ließ sein Smartphone in der Hosentasche verschwinden und richtete sich auf. »Na ja, warum haben die Leute nichts gegen den Mauerbau gemacht?«

Bernauer Straße, Sommer 2019

Vor ein paar Monaten war Fabian begeistert von der Idee seines Klassenlehrers gewesen, zum Abschluss der 10. Klasse nach Berlin zu fahren. Aber er hatte verdrängt, dass Herr Ahlemann Geschichtslehrer ist und andere Interessen verfolgt als pubertierende 16-Jährige, die ihre Schulzeit nicht nur mit der Zeugnisübergabe enden lassen wollen. Ahlemann hielt allerdings konsequent an seinem Bildungsauftrag fest. Auch auf der Abschlussfahrt. So hatte er das von den Schülern gewünschte Shopping im ALEXA aus dem Programm gekippt und durch eine mehrteilige Mauertour ersetzt: Brandenburger Tor, East Side Gallery und Checkpoint Charlie. Immer am historischen Schauplatz. Der Höhepunkt sollte die Bernauer Straße sein.

Vor der Klassenfahrt hatte Ahlemann seine Schüler versucht zu motivieren: »Wir in Worms haben den Dom und Luther. Sie repräsentieren das Mittelalter und die Frühe Neuzeit. Berlin hat die Mauer. Sie ist das Symbol für die deutsche Teilung im 20. Jahrhundert.« Luthers Auftritt vor dem Wormser Reichstag nachzuspielen, fand Fabian noch cool, aber Sightseeing an einer Mauer, die nicht mehr da ist? Ahlemann hat den Mauerfall vor dreißig Jahren miterlebt. Fabian kennt die Mauer aus dem Geschichtsbuch. Er kam 2002 zur Welt.

Der Lehrer ließ es sich nicht nehmen, seine Klasse persönlich über das historische Areal zu führen – entlang der rostroten Stahlstangen, die den Verlauf der 1990 abgerissenen Mauer an der Bernauer Straße markieren. Er führte ihnen Reste der Grenzsperren vor, erzählte ihnen, wie Menschen aus Fenstern und von Dächern der Grenzhäuser in den Westen sprangen, und erklärte, wie die Mauer eine Stadt teilte und Familien trennte. Im Anschluss an die Tour schickte er die schon geschichtsmüden Schüler in das 2009 errichtete Dokumentationszentrum, das neben einer Aussichtsplattform eine Dauerausstellung über die deutsche Teilung bietet. Fabian erklomm zunächst die Plattform und durchstreifte dann die Ausstellung mit den großformatigen Fotos. Vor dem Bild, auf dem Menschen auf eine Leiter und ein Motorrad geklettert waren, um über die Mauer ihren Verwandten zuzuwinken, blieb er stehen. Nach einer Stunde rief Ahlemann seine Schüler im Foyer für eine abschließende Fragerunde zusammen. Fabian, der auf seinen Smartphone eigentlich lieber ein witziges Bild für Instagram auswählen wollte, nutzte die Chance.

Schließlich hatte Ahlemann doch noch eine Antwort parat: »Sie haben doch protestiert!« Und fügte leicht lehrerhaft hinzu: »Hast du dir denn nicht die große Wand zu den Protesten angesehen?«

»Hab ich!« Fabian zeigte in die Richtung der Ausstellungswand. Ahlemann nickte zufrieden und blickte auf seine Uhr.

Der Schüler hakte nach. »Da werden Proteste in West-Berlin gezeigt. Ich meinte aber die Leute in der DDR, also die Leute, die eingemauert wurden.« Nicht nur Fabian sah seinen Lehrer jetzt erwartungsvoll an. Ahlemann überlegte, weil er seinen Schüler, wenn er schon nachfragte, nicht noch einmal mit einer schnellen Antwort abspeisen wollte. Er überlegte einen Tick zu lange.

Entlang der Mauer: Gedenkstätte Bernauer Straße, 2021

»Warum sollten wir denn dagegen protestieren?«, rief plötzlich ein älterer Mann dazwischen. Er war mit seiner Frau in die Bernauer Straße gekommen und hatte den Dialog verfolgt. Der weißhaarige Mann schien aufgeregt. Seine Frau zupfte am Ärmel seiner Jacke und zischte: »Lass doch, Werner!« Aber Werner ließ sich nicht den Mund verbieten. Die Aufmerksamkeit der 10 b aus Worms hatte er schon. Ahlemann versuchte zu moderieren: »Wollen Sie uns das vielleicht erklären?«

Werner war nur noch in der Lage, einen Satz zu sagen. Er schaute zu Fabian und rief dann laut in den Raum: »Die Mauer war doch richtig!« Während Herr Ahlemann erblasste, schoss Werner die Röte ins Gesicht.

Proteste im Besucherzentrum

Bis heute ärgere ich mich, dass ich dem Mann nicht hinterhergelaufen bin, um ihn um ein Interview zu bitten. Aber seine Frau zog ihn eilig aus dem Besucherzentrum und ich blieb bei der 10 b, die ich an diesem Tag für einen Beitrag über außerschulische Lernorte in Berlin begleitete.

Wer war dieser Mann? Ein ehemaliger DDR-Funktionär, vielleicht sogar ein ehemaliger Grenzoffizier? Ein Ewiggestriger? Zu Letzterem tendierte Ahlemann, der, als er sich wieder gefangen hatte, seinen Schülern erklärte, der Mann habe »nichts begriffen«. Die Mauer sei »menschenverachtend« gewesen – und könne »schon per se nicht richtig« sein. »Außerdem konnten die Menschen damals nicht protestieren, wie sie wollten. Die DDR war eine Diktatur.« Punkt.

Als Ahlemann mit seinen Schülern das Besucherzentrum verlassen hatte, schaute ich mir noch einmal die Themenwand »Proteste« an. Ausgestellt sind Fotos von Demonstrationen gegen den Mauerbau: Bilder von der Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg am 16. August 1961, an der Hunderttausende teilnahmen, ein Bild von einem Protestmarsch zum ersten Jahrestag des Mauerbaus 1962, bei dem Jugendliche ein Kreuz mit der Aufschrift »Wir klagen an« tragen, ein Bild mit Demonstranten auf der Maikundgebung 1963, auf der ein Transparent mit der Losung »Die Mauer kann uns nicht trennen« hochgehalten wird. Die Fotos haben eines gemeinsam: Sie sind alle in West-Berlin aufgenommen. Zwar wird auch der Ausschnitt eines Ost-Berliner Polizeiberichtes vom 13. August 1961 gezeigt, der »Ansammlungen« und »Zusammenrottungen« auf der östlichen Seite der Sektorengrenze dokumentiert, aber der Ausschnitt ist geschickt gewählt. Liest man das Dokument in Gänze, dann kommt man zu dem Ergebnis: Proteste gab es vor allem in West-Berlin.

Warum das so ist, wird im Einführungstext der »Proteste«-Wand erläutert: »Die Empörung über den Mauerbau war auf beiden Seiten der Mauer enorm. In Ost-Berlin erstickte das SED-Regime den aufflackernden Protest im Keim. Die Volkspolizei zerstreute jede Menschenansammlung. Die West-Berliner protestierten massenhaft.«

Mehr kann eine kleine Ausstellung vielleicht nicht leisten. Aber ist die Erklärung schlüssig? Fabians Frage bleibt. Und mich bewegt sie schon seit Jahrzehnten. Der Versuch einer Antwort ist dieses Buch.

»Über alles wurde geschimpft, so dass ich mir oft die Frage stellte, wie nur solch ein Regime existieren kann, wenn kaum einer, wo es auch immer sei, mit ehrlicher Überzeugung dafür eintritt.«

DDR-Flüchtling Detlef R., 1962

EinleitungMehr als ein Motiv

Dieses Buch behauptet nicht, dass die Mauer richtig war. Im Gegenteil: Sie war Unrecht. 17 Millionen Ostdeutsche wurden ihrer Freiheitsrechte beraubt, Familien und Freundschaften auseinandergerissen und mindestens 140 Menschen verloren allein an der Berliner Mauer ihr Leben.

Dieses Buch möchte erklären, warum der Mauerbau von so vielen DDR-Bürgern widerstandslos hingenommen wurde. Es zeigt auf, dass die Verweise auf die Erfahrungen vom niedergeschlagenen Volksaufstand am 17. Juni 1953 und auf den nächtlichen Überraschungscoup der SED-Führung am 13. August 1961 als Begründung für ausgebliebene Massenproteste zu kurz greifen.[1] Wenn man von Handlungsspielräumen in einer Diktatur ausgeht, war eine passive Hinnahme der Mauer nicht alternativlos. Weil es jedoch nur vereinzelt zu Protesten gekommen ist, muss es weitere Gründe gegeben haben.

Obwohl der Bau der Berliner Mauer zu den wichtigsten Zäsuren in der DDR-Geschichte zählt, wurden die Reaktionen der Bevölkerung von der Forschung bisher wenig untersucht.[2] Das Interesse galt vielmehr den politischen und militärischen Aspekten der Grenzschließung im Kontext des Kalten Krieges: Fragen nach Ulbrichts Zielen, Chruschtschows Genehmigung, Honeckers Umsetzung, Adenauers Zurückhaltung und Kennedys Urlaub. Dabei stand und fiel die Mauer doch mit der Haltung der Menschen, denen sie galt.

Erfasst und gewichtet sind zwar alle Motivkomplexe der Menschen, denen vor und nach dem 13. August die Flucht gelang. Aber was dachten die 17 Millionen DDR-Bürger, die vor dem Mauerbau nicht fliehen wollten und nach dem Mauerbau nicht (mehr) fliehen konnten?

Die Menschen hinter der Mauer: Ost-Berliner im August 1961

Dieses Buch stellt die Menschen hinter der Mauer in den Mittelpunkt. Es schildert, wie unterschiedlich die DDR-Bürger auf den 13. August reagiert haben, und zeigt auf, dass es mehr als ein Motiv gab, die Abriegelung der Berliner Sektorengrenze widerstandslos hinzunehmen. Und es hinterfragt die scheinbar in Beton gegossene Annahme, wonach die Mehrheit der Bevölkerung in der DDR gegen die Mauer war.

Eine Mehrheit gegen die Mauer?

Die Mauer gilt als Monstrum. Als steinernes Symbol des SED-Regimes, das die deutsche Teilung zementierte und seine Bürger einsperrte. So wird es bei Mauerjubiläen – ob zum Bau oder Fall – von den politischen Podien gepredigt. So steht es in den Geschichtsbüchern. Dass die Menschen, im Westen wie im Osten, die Mauer ablehnten, scheint da nur logisch. Dass einige in der DDR, wie Wolf Biermann, ihren Bau damals begrüßten – »als Rettung in höchster Not«[3] –, kann nur der SED-Propaganda geschuldet sein oder es muss eine politische Fehleinschätzung zugrunde liegen, die längst Geschichte ist.

Wie aber lässt sich belegen, dass die Mehrheit der DDR-Bürger die Mauer ablehnte? Mit den anhaltenden Fluchtversuchen einerseits und mit Hinweisen auf Verweigerung und Protest andererseits. Trotz der Abriegelung der Sektorengrenze gelang es bis Ende Februar 1962 etwa 11.800 Ostdeutschen, in den Westen zu fliehen. Allein im September 1961 verließen 3.370 Menschen illegal die DDR.[4] Als Fluchtwege dienten in den ersten Tagen nach dem 13. August die Wohnhäuser an der östlichen Sektorengrenze in Berlin-Mitte, die Kanalisation und Grenzgewässer; später kam es zu spektakulären Tunnelfluchten.[5] Weil das Grenzregime daraufhin ausgebaut und eine Flucht nach den ersten Todesschüssen Ende August 1961 lebensgefährlich wurde, »gehörte allerdings im Lauf der Jahre immer mehr Mut, Entschlossenheit und Einfallsreichtum dazu, die Grenzsperren zu überwinden«.[6] Bis 1989 flüchteten dennoch rund 40.000 Menschen in den Westen; 75.000 Fluchtversuche scheiterten.[7] Diese Fluchtaktionen sind ein klarer Beweis für den Freiheitswillen vieler Ostdeutscher, die sich gegen ein Leben in der eingemauerten DDR entschieden hatten.

Schwieriger ist es dagegen, Widerstand gegen den Mauerbau nachzuweisen. Wenige Tage nach dem 13. August 1961 tauchte in Zittau (Bezirk Dresden) ein Handzettel auf, der die SED alarmieren musste. Allein deshalb, weil er nicht aus dem Westen stammte. »Bürger und Genossen! Bei uns hat die rote die braune Farbe verdrängt. Der Geist ist geblieben. Kauft keine Lose, keine Zeitungen, spielt kein Lotto, zahlt keine Versicherung. Ihr finanziert euer eignes KZ. Übt Widerstand, wo es möglich ist. Beweist, dass ihr Deutsche seid. Die Welt schaut auf uns.«[8] Obwohl nicht geklärt werden konnte, ob das Flugblatt von einem Einzelnen oder von einer Gruppe stammte, kommen die Historiker Armin Mitter und Stefan Wolle, die sich seit Jahrzehnten mit der DDR-Geschichte auseinandersetzen, zu dem Schluss: »Aber eindeutig geht daraus hervor, dass unter der Bevölkerung ein quantitativ schwer auszumachendes Widerstandspotential vorhanden war, das in jedem Fall größer war als die Zahl derjenigen, die uneingeschränkt hinter der Regierung standen. Die Mehrheit der Bevölkerung hätte mit Sicherheit die Opposition gegen das Regime unterstützt.« Weil das auch der SED-Führung bewusst gewesen sei, hätte die nun den Schutz der Mauer genutzt, »um mit ihren tatsächlichen und vermeintlichen Gegnern bedingungslos abzurechnen«.[9]

Kurzum: Die Mehrheit der Bevölkerung stand also »mit Sicherheit« nicht hinter der Regierung. Und die Mehrheit »hätte« die Opposition gegen das Regime unterstützt, was aber aufgrund der Repressionen des SED-Staates nicht möglich war. Es existierten also keine Handlungsalternativen? Oder hätte es einer aktiven Opposition bedurft, damit die Mehrheit gegen den Mauerbau protestierte?

Das Fazit zum Zettel aus Zittau steht nicht allein. Obwohl keine statistischen Erhebungen über die Haltung der Ostdeutschen im August 1961 vorliegen, herrscht in der Forschung Konsens darüber, dass die Mehrheit dagegen war. Die Bevölkerung der DDR reagierte auf den Mauerbau, konstatiert der DDR-Oppositionelle und Historiker Rainer Eckert, »in ihrer Mehrheit mit stummer Wut und Ablehnung«.[10]

Der Literaturwissenschaftler Matthias Braun, der die Reaktionen der DDR-Künstler untersucht hat, behauptet, im Gegensatz zur SED-Führung habe die »große[n] Mehrheit der Bevölkerung« im Mauerbau »ein Schwächezeichen des Regimes« gesehen.[11] Und der Historiker Gerhard Sälter, Leiter des Arbeitsbereichs Forschung und Dokumentation an der Gedenkstätte Berliner Mauer, kommt gemeinsam mit dem Historiker Manfred Wilke zu dem Schluss: »Weder der nächtliche Aufmarsch bewaffneter Männer noch die Schließung der Grenze stieß bei den Ost-Berlinern mehrheitlich auf Zustimmung.« Die SED sei in den folgenden Monaten und Jahren jedoch nicht müde geworden, »das Gegenteil zu behaupten«.[12] Ist diese Behauptung schon deshalb nicht seriös, weil sie die SED aufstellte?

Auch Studien zu einzelnen Bevölkerungsgruppen kommen zum selben Ergebnis. Die Historikerin Anita Krätzner-Ebert bilanziert in ihrer Analyse über die DDR-Universitäten, dass »das Gros« der Universitätsangehörigen »mit dem Mauerbau und den folgenden Maßnahmen nicht einverstanden war«. Auf allen Ebenen, ob unter Funktionsträgern, Wissenschaftlern oder Studenten, hätten sich Gegner formiert. Zudem habe es lange nicht so viele Zustimmungserklärungen gegeben, wie von der SED gewünscht. »Ein Großteil der Wissenschaftler verfasste keine Zustimmungserklärungen, obwohl dies von ihnen verlangt wurde.« Was heißt ein »Großteil«, wenn kurz darauf die Behauptung folgt: »Viele jedoch resignierten oder fügten sich aus Angst vor den teilweise angedrohten Konsequenzen den Forderungen der SED.« Unstrittig, weil belegbar ist dagegen der Befund am Ende der Untersuchung: »Einige wenige Universitätsangehörige übten offenen Protest […].«[13]Dass nur wenige protestierten – dieser Befund lässt sich verallgemeinern. Für alle Bevölkerungsgruppen.[14]

Die Mutmaßungen der Geflüchteten

Die These, die Mehrheit sei gegen den Mauerbau gewesen, stützt sich vor allem auf zeitgenössische Aussagen. Für den englischen Historiker Patrick Major, einen der wenigen, die sich ausführlich mit den Reaktionen der DDR-Bevölkerung beschäftigt haben, können diese Einzelstimmen zwar nicht das Manko fehlender Erhebungen aufwiegen, sie ermöglichen jedoch – aufgrund der Fülle der Berichte in den DDR-Akten – »eine Vielzahl von Einsichten in zeitgenössische Denk- und Argumentationsweisen«.[15] Er zitiert in diesem Kontext die Aussage eines Ost-Berliner Ingenieurs vom Juli 1961 zum Verhältnis von Volk und Regierung: »Wir sollten nicht so viel sprechen von der Front zwischen der DDR und Westdeutschland, denn diese Front verläuft mitten durch die DDR. Sie besteht zwischen der Regierung und der Bevölkerung und 95 Prozent sind gegen die Regierung.«[16] Die Zahl erinnert an vermeintliche Zustimmungsquoten bei DDR-Wahlen – nur genau entgegengesetzt.

Der Ingenieur ist nicht der Einzige, der Zustimmung bzw. Ablehnung zu quantifizieren weiß. Major zitiert auch einen Ost-Berliner Gewerkschaftsfunktionär, der zwei Tage nach der Schließung der Sektorengrenze seinem Vorgesetzten berichtete: »Wenn ihr mit den Kollegen sprechen wollt, werden sie euch wahrscheinlich rauswerfen. 90 Prozent aller Menschen sind sowieso gegen diese Maßnahmen.«[17] Eine Zahl nannte auch ein junger DDR-Bürger, dessen Brief auf Umwegen zum West-Berliner Radiosender RIAS gelangte. Er schriebe, »um unsere Stimme« gegen »die Absperrmaßnahmen des Pankower Regimes« zu erheben. »Und wir wissen genau, dass 80 Prozent der Bevölkerung diese Maßnahmen nicht billigen.«[18]

Weil private Briefe ein nahezu ungefiltertes Meinungsbild wiedergaben, standen sie nach dem Mauerbau im Fokus der Staatssicherheit. Für eine Postanalyse wurden am 17. August 1961 »insgesamt 697 Sendungen zensiert«. In den 562 ausgewerteten Briefen dieses Tages aus der DDR »wurden 27 Äußerungen von der Bevölkerung der DDR [zur Grenzschließung] festgestellt, die sich wie folgt aufgliedern: 0 positiv; 27 negativ«.[19]

Ziemlich eindeutig ist auch das Ergebnis einer Auswertung von Berichten einiger DDR-Bürger, die erst nach dem 13. August in den Westen geflüchtet sind und ihre Erlebnisse und Erfahrungen nach der Abriegelung schriftlich festhielten.[20] »Ich kann versichern«, sagte Hildegard B., der die Flucht Anfang 1962 gelang, »dass 95 % der Bevölkerung nicht mit dem Regime einverstanden sind. Nach der Errichtung der Mauer sind auch bestimmt viele, die bisher Gutes sahen, geheilt.« Es gäbe »eine große Anzahl« ihr bekannter Menschen, »die nach der Errichtung der Mauer sagen, hätten sie das gewusst, wären sie gegangen«.[21] Drei geflüchtete Studenten gaben an, der »größte Teil der Bevölkerung« wäre mit dem Regime nicht einverstanden und würde »Vergleiche mit der Hitlerdiktatur« ziehen.[22]

In den Flüchtlingsberichten finden sich auch Einschätzungen über die Haltung der DDR-Bürger zum Mauerbau. »Die gesamte Bevölkerung war empört über die Maßnahmen [zur Grenzschließung am 13. August], die von einer Nacht zur anderen getroffen wurden«, gab eine junge Frau zu Protokoll.[23] Diese Maßnahmen würden, berichtete Jutta T., der die Flucht in November 1961 mit einem ausländischen Pass gelungen war, »von den meisten Menschen – auch Genossen der Partei – nicht bejaht, nicht verstanden, nicht gebilligt!«[24] Auch Stimmungsberichte von Flüchtlingen über einzelne Lebensbereiche ergeben dasselbe Bild. So schildert beispielsweise ein ehemaliger Grenzgängerstudent, der nach dem 13. August zunächst in einer Fabrik im Ost-Berliner Stadtteil Oberschöneweide arbeiten musste, »die Einstellung der Arbeiter zum herrschenden System« sei gekennzeichnet »durch aufgestauten Zorn und einen sorgsam zurückgehaltenen Hass«.[25]

In einigen Berichten wird Enttäuschung über die Passivität der DDR-Bürger artikuliert. Die Studentin Uta-Christine S. fragte nach ihrer gelungenen Flucht im Januar 1962: »Was sind die Menschen in der Zone? Sie sind Puppen ohne Willen, mit denen der Staat macht, was er will.« Und das, obwohl doch fast jede Berliner Familie von der »Trennungsmauer« betroffen sei. Überall höre man »nur missbilligende Stimmen«. Bedauernd ergänzte die Studentin: »Leider nicht öffentlich.«[26] Detlef R., ein weiterer Flüchtling, nannte den aus seiner Sicht entscheidenden Grund für die Passivität: »Die Resignation ist zu stark und der Terror zu groß, um einen aktiven Widerstand zu leisten.« Bemerkenswert ist jedoch, dass Detlef R. an anderer Stelle einen Widerspruch formuliert, der in einigen Berichten nur zwischen den Zeilen zu lesen ist. »Über alles wurde geschimpft«, sodass er sich »oft die Frage stellte, wie nur solch ein Regime existieren kann, wenn kaum einer, wo es auch immer sei, mit ehrlicher Überzeugung dafür eintritt«.[27] Wie gelang es der SED-Führung, ein ganzes Volk jahrzehntelang zu unterdrücken, wenn die Mehrheit das System ablehnte?

Wirtschaftliche und politische Zumutungen

Wenn die große Mehrheit gegen das SED-Regime im Allgemeinen und gegen den Mauerbau im Besonderen eingestellt war, ergibt sich zwangsläufig die Frage, warum die DDR-Bürger nicht massenhaft dagegen protestiert haben. Warum blieb die Revolte aus? Oder, mit den Worten des Wormser Schülers gefragt: Warum haben sich die Leute das gefallen lassen? Schließlich waren von der Sperrung der Sektorengrenze Millionen Familien und Zehntausende Berufspendler, die sogenannten Grenzgänger[28], betroffen.

Diese Frage drängt sich erst recht auf, wenn man die Gesamtsituation in der DDR 1961 berücksichtigt. Zugemutet wurden der Bevölkerung ja nicht nur der Mauerbau und die damit verbundenen Repressionen.[29] Die DDR steckte in einer handfesten Wirtschaftskrise. Das Ende der 1950er-Jahre ehrgeizig gesteckte Ziel der SED-Führung, die vermeintliche Überlegenheit des Sozialismus durch wirtschaftliche Erfolge zu demonstrieren (»Überholen ohne einzuholen«), erwies sich als nicht realisierbar. Wie ernst die Lage war, verdeutlicht Ulbrichts schonungslose Analyse vom Januar 1961, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Im SED-Politbüro erklärte der Erste Sekretär der Partei, die DDR werde »die ökonomische Hauptaufgabe nicht lösen«. Was nichts anderes hieß, als dass die Produktionssteigerung zu gering war. Das schaffe »Schwierigkeiten im Innern«. Ulbricht untermauerte die Annahme mit einem sozialpolitischen Vergleich zur Bundesrepublik: »Westdeutschland erhöhte die Löhne im Jahr 1960 um ca. 9 Prozent und führt die 5-Tage- bzw. 40-Stunden-Woche ein. Wir haben keine Voraussetzungen für Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen.«[30]

Die Bürger spürten die Wirtschaftskrise, so der Historiker Peter Hübner, vor allem als Versorgungskrise. Die vollständige Kollektivierung der Landwirtschaftsbetriebe erschwerte bereits 1960 die Versorgung. Es kam zu Produktionsausfällen, die in Kombination mit einer Missernte 1961 zu hohen Ertragsausfällen bei Getreide und Hackfrüchten führten. Hinzu kamen ab Sommer 1961 die immensen Kosten für die Sperranlagen.[31]

Neben den Versorgungsengpässen musste die DDR-Bevölkerung nun auch noch die SED-Propaganda zur Rechtfertigung der »Maßnahmen vom 13. August« ertragen, die sich nach den ausbleibenden Protesten gegen die Grenzschließung noch steigerte, weil die SED – sowohl die Führung als auch die Basis – in einen »Macht- und Siegesrausch« verfallen war.[32] Ihren Triumph nutzte die SED-Führung darüber hinaus für weitere Kampagnen, die sich im Schatten der Mauer leichter durchsetzen ließen als bei offenen Grenzen. Das FDJ-Aufgebot vom 16. August 1961, das ihre Mitglieder zum »Ehrendienst« in den bewaffneten Kräften aufrief, bereitete die Einführung der Wehrpflicht im Januar 1962 vor.[33] Das ebenfalls noch im August ausgerufene »Produktionsaufgebot« des FDGB (»Wir werden in der gleichen Zeit für das gleiche Geld mehr produzieren!«) zielte auf einen Lohnstopp.[34] Und im Rahmen der Aktion »Blitz contra NATO-Sender« (auch Aktion »Ochsenkopf«) begannen Anfang September 1961 FDJ-»Ordnungsgruppen«, private Rundfunk- und TV-Antennen von den Dächern abzumontieren, die Richtung Westen ausgerichtet waren, um künftig ein »ideologisches Grenzgängertum« zu verhindern.[35] Auch wenn die »Aktion Ochsenkopf« nicht zum Erfolg führte und das »Produktionsaufgebot« Ende 1962 stillschweigend eingestellt wurde, waren die Kampagnen erhebliche Stressfaktoren für die bis weit in die Privatsphäre drangsalierten Menschen. Und dennoch führten sie zu keinen Aufstand.

»Antennen für den Frieden«: Aufruf zur FDJ-Aktion »Blitz kontra NATO-Sender«, Junge Welt vom 4.9.1961

Dass die Menschen sich mit dem SED-Staat nach 1961 arrangierten, zeigt die Geburtenrate, die als ein entscheidendes Indiz gelten kann: Im Unterschied zu vorangegangenen DDR-Krisenjahren 1953 oder 1956/57 »stieg die Zahl der Geburten von 1961 bis 1963 kräftig an«.[36] Gegen den Mauerbau rebellierten nur Einzelne. Die Mehrheit blieb passiv. Warum – das wird in diesem Buch untersucht.

Versuch einer Antwort

Um die Frage zu klären, warum es in der DDR keine Massenproteste gegeben hat, werden zunächst die Reaktionen auf den Mauerbau beschrieben: die der Ost-Berliner am Tag der Grenzschließung und dann einzelner DDR-Bevölkerungsgruppen – Arbeiterschaft, Jugend, Wissenschaftler, Künstler. Anschließend werden vier Erklärungsansätze für das widerstandslose Verhalten der DDR-Bürger vorgestellt.

Grundlage für die Untersuchung sind weniger die umfangreich existierende Mauer-Literatur als vielmehr die bislang erschlossenen Quellen. Dazu gehören nicht nur die SED- und FDGB-Akten, sondern auch die im Rahmen der Publikation »Die DDR im Blick der Stasi« für das Jahr 1961 edierten MfS-»Informationen«, die eine Vielzahl von Stimmungsberichten aus der Bevölkerung enthalten.[37] Ausgewertet wurden zudem unzählige bereits veröffentlichte bzw. selbst geführte Zeitzeugeninterviews sowie zeitgenössische Aussagen von DDR-Bürgern wie die Berichte von Menschen, die unmittelbar nach dem Mauerbau flüchteten[38], Eingaben an die Regierung[39] und Briefe an Westverwandte, die bereits in den 1970er-Jahren publiziert wurden.[40]

Darüber hinaus wurde das Ergebnis einer 2020/21 selbst durchgeführten Umfrage zum Mauerbau berücksichtigt, an der sich trotz der Pandemie 600 Menschen der 1920er-, 1930er- und 1940er-Jahrgänge beteiligten, die den Mauerbau bewusst erlebt und am 13. August 1961 in der DDR gelebt haben. Es ist eine bisher nicht veröffentlichte Umfrage, die zu überraschenden Ergebnissen führte.

»Es trieb mich dazu, das mit Bangen Erwartete und doch nicht für möglich Gehaltene mitzuerleben, die Wandlung des Albtraums in Realität mit eigenen Augen zu sehen.«

Günter de Bruyn, Vierzig Jahre, 1996

Der Tag danachBerlin am 13. August 1961

»Ein Aufstand ist nicht real«Der SED-Staat in der Offensive

Die große Unbekannte war das Volk. Während die SED-Führung die Absperrung der Sektorengrenze für den 13. August 1961 generalstabsmäßig vorbereitete[1], blieb unklar, wie die Menschen, insbesondere die Ost-Berliner, reagieren würden. Als der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow Walter Ulbricht während eines Telefonats am 1. August 1961 mit Erkenntnissen westlicher Geheimdienste konfrontierte, wonach »in der DDR die Bedingungen für einen Aufstand herangereift« seien, entgegnete der SED-Chef, ihm wiederum lägen »Informationen vor, dass die Bonner Regierung durch Abwerbung und Organisierung von Widerstand Schritt für Schritt die Bedingungen für einen Aufstand vorbereitet, der im Herbst 1961 stattfinden soll«. Er zählte zunächst einige Belege für die »Methoden des Gegners« wie »Sabotageakte« auf, um dann zu fragen: »Ist das alles real?«

Die Frage war rein rhetorisch. Ohne eine Antwort Chruschtschows abzuwarten, konstatierte Ulbricht: »Ein Aufstand ist nicht real.« Allerdings schloss er nicht aus, dass es zu einzelnen »Aktionen« kommen werde. Dabei verwies er exemplarisch auf die von »feindlich gesinnte[n] Ingenieure[n]« organisierte Unterschriftensammlung in einem Betrieb bei Berlin, mit der unter anderem »freie Wahlen« gefordert wurden. Hausdurchsuchungen »bei diesen Leuten« hätten ergeben, dass die Initiative »auf das Wirken amerikanischer Agenten« zurückgehe. Obwohl Ulbricht andeutete, dass es »noch viele weitere Kreise [gibt], wo der Gegner solche Aktionen durchführt«, ging er davon aus, es werde »nichts Schlimmes passieren«.[2]

Dass die Grenzschließung für die SED dennoch ein politisches Risiko war, belegt Ulbrichts Äußerung im Sommer 1961, kurz vor dem Mauerbau, gegenüber dem sowjetischen Botschafter in der DDR Michail G. Perwuchin, wonach man »mit Massenaufläufen, offenen Versuchen des Ungehorsams, Schlägereien und vielleicht sogar mit Schießereien rechnen [müsse]«.[3] Aber der große Bruder hatte vorgesorgt: Marschall Andrej Antonowitsch Gretschko, seit 1960 Oberbefehlshaber der Streitkräfte des Warschauer Vertrages, ordnete Ende Juli an, das DDR-Gesundheitsministerium habe dem DDR-Verteidigungsministerium bis zum 10. August 35.000 Krankenhausbetten zur Verfügung zu stellen, um kurzfristig Armeelazarette einrichten zu können.[4] Und die SED-Führung mobilisierte nicht nur bewaffnete Einsatzkräfte, Panzer und Wasserwerfer gegen potentielle Demonstranten, sondern auch den gesamten Parteiapparat, um Unmut und Unruhen bereits im Keim zu ersticken. Spezielle »Agitatorengruppen« sollten in den Betrieben, in den »Hausgemeinschaften« und auf der Straße die Menschen von der Notwendigkeit der Maßnahmen überzeugen.[5]

Aktion »Rose«

Mit diesem Bündel von Präventivmaßnahmen hoffte man, die Lage im Griff zu haben. Überraschende Massenproteste wie am 17. Juni 1953 sollten sich auf keinen Fall wiederholen.[6] Tatsächlich befand sich der SED-Staat im Unterschied zu 1953 diesmal in der Offensive. Selbst der Zeitpunkt der Grenzschließung wurde bewusst gewählt: Man sollte, so Ulbricht gegenüber Botschafter Perwuchin im Sommer 1961, »an einem Sonntag handeln. Zurzeit herrsche herrliches Sommerwetter, und Berlin werde halbleer sein. Alle Welt fahre an einem solchen Tag ins Grüne. Wenn die Menschen abends zurückkehren, werde alles erledigt sein.«[7]

»Ein Aufstand ist nicht real«: Nikita Chruschtschow und Walter Ulbricht auf dem VI. Parteitag der SED in der Ost-Berliner Werner-Seelenbinder-Halle am 15.1.1963

In die Vorbereitung zur Absperraktion war auch das Ministerium für Staatssicherheit eingebunden.[8] In einer MfS-Dienstberatung zwei Tage vor der Grenzschließung verlangte Staatssicherheitsminister Erich Mielke von seinen Mitarbeitern »höchste Einsatzbereitschaft«. Alle »negative Erscheinungen« seien zu verhindern, »Zusammenballungen« dürften nicht zugelassen werden. In der Besprechung gab Mielke eine Reihe von Instruktionen bekannt. Insbesondere sei die Stimmung in den Betrieben zu analysieren und »die Zusammensetzung der Beschäftigten nochmals zu untersuchen, um die richtigen politisch-operativen Maßnahmen treffen zu können«. Wer mit feindlichen Losungen auftrete, sei festzunehmen. »Feinde sind streng und in der jetzigen Zeit schärfer anzupacken.« Den Hintergrund für die »höchste Einsatzbereitschaft« deutete der Staatssicherheitschef zu Beginn der Sitzung nur an: »Gegen die Republikflucht werden Maßnahmen getroffen, wobei besonders der Ring um Berlin der Schwerpunkt sein wird.« Auch am Ende seiner Ausführungen blieb Mielke im Ungefähren. Zwar gab er bekannt, die »gesamte Aktion« erhalte die »Bezeichnung ›Rose‹«; er verriet aber nicht, was sie genau beinhaltete.[9]

Die Vorbereitungen zur Grenzabriegelung liefen unter strengster Geheimhaltung. Selbst in der SED-Führung wusste nur ein kleiner Kreis Bescheid. Eingeweiht waren neben Mielke beispielsweise Verteidigungsminister Heinz Hoffmann, Innenminimister Karl Maron, Verkehrsminister Erwin Kramer sowie der Sekretär für Sicherheitsfragen des ZK der SED, Erich Honecker, der mit der Leitung des Zentralen Einsatzstabes beauftragt worden war.[10] Nachdem Ulbricht in seiner Funktion als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates am 12. August gegen 16 Uhr die Befehle zur Durchführung der Operation »Rose« unterzeichnet hatte[11], bestellte er die Mitglieder des Minister- und Staatsrates sowie führende Funktionäre der SED und der Blockparteien zu einem »Beisammensein« auf seinen Landsitz am Döllnsee bei Berlin.[12] Gegen 21 Uhr wurde dort eine außerordentliche Sitzung einberufen, bei der Ulbricht die bis dahin ahnungslosen Anwesenden über die Grenzschließung informierte – gerade einmal drei Stunden vor der Auslösung der Aktion.[13] Als die Teilnehmer kurz vor Mitternacht zurückfuhren, »war die Chaussee nach Berlin bereits mit sowjetischen Panzern voll«.[14]

Dem Feind zuvorkommen

Der Startschuss für die Aktion »Rose« erfolgte um ein Uhr nachts.[15] Nachdem auf der östlichen Seite der Sektorengrenze die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet worden war, begannen im Scheinwerferlicht von Militärfahrzeugen circa 20.000 bewaffnete Einsatzkräfte[16] des Ministerium des Innern (MdI), Transport-, Bereitschafts- und Volkspolizei sowie ausgewählte Betriebskampfgruppen, die 43,1 Kilometer lange Sektorengrenze zwischen West- und Ost-Berlin sowie den 111,9 Kilometer langen »Ring um Berlin (West)«, also die Grenze zwischen West-Berlin und der DDR, zu sperren.[17] Allerdings wurde in dem entsprechenden Einsatzbefehl des Verteidigungsministers Heinz Hoffmann die Anwendung der Schusswaffe »kategorisch verboten«. Scharfe Munition sollten nur die Wachen und Streifen erhalten.[18] Das bestätigt der damals 22-jährige Lothar Werth, der im DDR-Außenhandel tätig war und ab dem 13. August für acht Tage als Mitglied der Betriebskampfgruppe die Sektorengrenze an der Mohren-, Ecke Glinkastraße in Sichtweite des Übergangs Checkpoint Charlie sicherte – mit Waffe, aber ohne Munition.[19] Für den Fall einer Konfrontation mit den Westmächten hielten sich Einheiten der Nationalen Volksarmee (NVA) sowie der sowjetischen Streitkräfte bereit.[20] Auch Mitarbeiter der Staatsicherheit kamen zum Einsatz, weil die Transportpolizei (Trapo) »auf mehreren Bahnhöfen« aufgrund eines Kommunikationsfehlers nicht rechtzeitig eingetroffen war.[21]

Innerhalb weniger Stunden: Abriegelung der Sektorengrenze am Potsdamer Platz, 13.8.1961

Innerhalb weniger Stunden war die Grenze dicht. Mit Ausnahme von zunächst dreizehn Grenzübergängen war die Sektorengrenze »mit Stacheldraht, Betonpfählen und sonstigem Sperrgerät« abgeriegelt worden.[22] Unterbrochen waren zudem der Durchgangsverkehr auf zwölf S- und U-Bahn-Linien. Weil alles nach Plan lief, konnte die Staatssicherheit am frühen Morgen in ihrem ersten Bericht über die Durchführung der Aktion »Rose« melden: »Sämtliche Verbindungen nach Westberlin sind dadurch blockiert.« Und die »operative Lage« im Raum Berlin und in den Grenzbezirken Potsdam und Frankfurt/Oder sei »bisher im Allgemeinen normal und ruhig«.[23]

Reibungslos verlief auch die Mobilisierung von Agitatoren, welche die militärischen »Schutzmaßnahmen« nun auch ideologisch absichern sollten: an Grenzübergängen, auf Bahnhöfen und in Versammlungen. Aktiviert wurden nicht nur der SED-Apparat, sondern auch FDGB-Funktionäre und Studenten. Dem ZK der SED konnte Honecker eine Woche nach der Grenzschließung berichten, dass die Büros der SED-Bezirksleitungen am 13. August »gegen 3 Uhr einsatzfähig [waren]«. Bereits in den frühen Morgenstunden hätten Funktionäre in den Schichtbetrieben und in »vielen Hausgemeinschaften« Versammlungen und Aussprachen organisiert.[24] Einzelne SED-Unterorganisationen leiteten schon am 13. August die Ergebnisse ihrer Aktivitäten weiter. So teilte die Kreisleitung Pankow gegen sechs Uhr mit, dass sich die »mobilisierten Genossen« vor dem Rathaus zur »Flugblattverteilung« sowie zum »Agitations- und Propagandaeinsatz« melden würden.[25]

Einer der Agitatoren war Wolf Biermann, der 1961 an der Berliner Humboldt-Universität Philosophie studierte. Die Studenten mussten sich am 13. August um sechs Uhr zum Appell im Hauptgebäude der Universität einfinden, wo sie von Funktionären der Universitätsleitung Einsatzbefehle erhielten. »Wir wurden gedopt mit kämpferischen Phrasen, jeder hatte an seinem Platz ehrenvoll seinen Klassenaufrag zu erfüllen, die parteilosen FDJler so treu wie die Genossen der SED […] Wir schluckten die Parolen wie Aufputschmittel.« Biermann wurde zusammen mit anderen Studenten in die Ackerstraße und dann in die Brunnenstraße abkommandiert. Sie erhielten Flugblätter, die sie »treppauf, treppab persönlich von Mensch zu Mensch in den Haushalten« zu verteilen hatten. Dabei sollten sie »die ›Aussprache mit der Bevölkerung‹ suchen und die neuesten ›Maßnahmen‹ offensiv verteidigen. Streng untersagt: Diskussionen unter uns oder mit Leuten in Pulks auf der Straße, bloß keine Zusammenrottung provozieren! Immer nur zwei und zwei. Alles sollte zivil aussehen.«[26]

Agitatoren im Einsatz: Verteilung eines Sonderblatts zu den »Maßnahmen« des 13. August in Leipzig, 14.8.1961

In den Betrieben wurde die SED vom staatlichen Freien Deutschen Gewerkschafsbund (FDGB) unterstützt.[27] Selbstbewusst und siegessicher nahm der SED-Apparat für sich in Anspruch, die Partei sei »faktisch unter den Massen politisch wirksam [geworden],