Die Melodie der Hoffnung: Roman | Die Geschichte einer Frau, die sich trotz aller Schicksalsschläge niemals aufgibt – für Fans von Lori Nelson Spielman und Jodi Picoult - Tim Griggs - E-Book
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Die Melodie der Hoffnung: Roman | Die Geschichte einer Frau, die sich trotz aller Schicksalsschläge niemals aufgibt – für Fans von Lori Nelson Spielman und Jodi Picoult E-Book

Tim Griggs

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Beschreibung

In dunklen Stunden leuchtet die Liebe uns den Weg: Der Schicksalsroman »Die Melodie der Hoffnung« von Tim Griggs jetzt als eBook bei dotbooks. Eine einzige tragische Nacht kann alles verändern … Lauren Silver ist starr vor Schreck, als sie die schlimme Nachricht hört: Ihr Mann Matt und ihre Tochter sind bei einem Autounfall in die Themse gestürzt. Die kleine Freya kann Lauren bald darauf wohlbehalten wieder in die Arme schließen. Matt jedoch ist verschwunden und wird von allen für tot gehalten. Obwohl ihre Ehe schon lange zerbrochen war, fällt Lauren in tiefe Trauer. Einzig Inspektor Cobb, der in dem Fall ermittelt, gibt die Suche nicht auf. Seine Anteilnahme berührt Lauren zutiefst und im Laufe der Zeit entwickelt sich ein zartes Band der Gefühle zwischen den beiden. Aber dürfen sie dem leisen Ruf der Liebe wirklich folgen – oder könnte es sein, dass Matt noch irgendwo auf Lauren wartet und ihre Hilfe braucht? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der berührende Roman »Die Melodie der Hoffnung« von Tim Griggs beschreibt ein herzergreifendes Familienschicksal – für alle Fans von Nicholas Sparks. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 737

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Über dieses Buch:

Eine einzige tragische Nacht kann alles verändern … Lauren Silver ist starr vor Schreck, als sie die schlimme Nachricht hört: Ihr Mann Matt und ihre Tochter sind bei einem Autounfall in die Themse gestürzt. Die kleine Freya kann Lauren bald darauf wohlbehalten wieder in die Arme schließen. Matt jedoch ist verschwunden und wird von allen für tot gehalten. Obwohl ihre Ehe schon lange zerbrochen war, fällt Lauren in tiefe Trauer. Einzig Inspektor Cobb, der in dem Fall ermittelt, gibt die Suche nicht auf. Seine Anteilnahme berührt Lauren zutiefst und im Laufe der Zeit entwickelt sich ein zartes Band der Gefühle zwischen den beiden. Aber dürfen sie dem leisen Ruf der Liebe wirklich folgen – oder könnte es sein, dass Matt noch irgendwo auf Lauren wartet und ihre Hilfe braucht?

Über den Autor:

Tim Griggs (1948 – 2013) studierte Englisch und Archäologie in Leeds und London. Nachdem er mehrere Jahre lang in Afrika, Asien und Australien gelebt hatte, kehrte er 1997 nach England zurück. Dort lebte er mit seiner Frau in Oxford.

Bei dotbooks erschien von ihm bereits »Wo die Unendlichkeit beginnt«.

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eBook-Neuausgabe Februar 2020

Dieses Buch erschien bereits 2001 unter dem Titel »Die Vergebung« beim Scherz Verlag

Copyright © der englischen Originalausgabe 2000 by Tim Griggs

Die englische Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel »Redemption Blues« bei Headline Book Publishing Ltd., London.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2001 by Scherz-Verlag, Bern, München, Wien.

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Covergestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Mikhail Nilan / Iakov Kalinin / Galyna Andrushko / Sven Hansche / Bikeworldtravel

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-96148-865-0

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Tim Griggs

Die Melodie der Hoffnung

Roman

Aus dem Englischen von Theresia Übelhör

dotbooks.

Für die ganze verdammte Bande, die an mich glaubte – ja, sogar Mark Lucas

Kapitel 1

Am zweiten Jahrestag ihres Todes verließ Cobb schon vor dem Morgengrauen die Farm und stieg den Hang hinauf, dem Tagesanbruch entgegen.

Die Linie der schwarzen Hügel über ihm und um ihn her zeichneten sich vor dem Sternenhimmel ab. Er atmete schwer, und obwohl sein Atem sich in der kalten Luft wie eine Rauchfahne erhob, war es zu dunkel, um ihn zu sehen. Er bewegte sich im Wesentlichen seinem Instinkt und seiner Erinnerung folgend vorwärts: Er war diesen Weg schon viele Male in den kalten Stunden vor Sonnenaufgang hinaufgestiegen, und er kannte ihn gut. Zuerst das Knirschen von gefrorenem Gras auf den tiefer gelegenen Koppeln, spröde wie ein Glasgespinst. Dann zeigte ein keilförmiges Stück Himmel eine Lücke in der Weißdornhecke und den Beginn des Pfades an, Schlammfurchen, die zu Lava gefroren waren und unter seinen schweren Stiefeln wie Holz knackten.

Schließlich tastete er nach dem Tor in der oberen Umzäunung des Feldes und berührte das mit Frost überzogene Holz. Er öffnete es und ging hindurch. Als der Eisenriegel hinter ihm wieder zuschnappte, hörte er in der Nähe ein Tier mit den Hufen scharren und stampfen. Cobb starrte in Richtung des Geräusches, doch er konnte lediglich die massigen Schultern des Tieres ausmachen, dann ein weiteres daneben und noch eines, schwarze Höcker vor dem Sternenhimmel. Er sah den Dampf ihres Atems und den seines eigenen, und er drehte sich um und stapfte die letzten Meter weiter, wobei er mit seinen Stiefeln nach dem niedrigen Rand des Rasens tastete, der sich an der Mauer des alten Friedhofs hinzog. Er stieg darüber und nahm seinen morgendlichen Posten ein, sitzend, den Rücken gegen den Stamm der Eiche gelehnt, die dort stand.

Gern stellte er sich vor, dass die Eiche, ein aufgrund der

Friedhofsmauer unentdeckter Schössling, womöglich hier zu wachsen begonnen hatte, als das verlassene Dorf noch von den Lebenden und den Toten bevölkert war. Das war 1665 gewesen. Vor zwölf Generationen, vor gar nicht allzu langer Zeit also. Von Menschen, die er kennen würde, die eine ihm verständliche Sprache gebrauchten, die Witze rissen, über die er lachen könnte, die einander liebten und neckten und arbeiteten und sündigten und Verbrechen begingen wie diejenigen, mit denen er es Tag für Tag zu tun hatte. All diese verschwundenen Leute hatten geglaubt, es ginge immer so weiter, es gäbe – so Gott wollte – ein Morgen. Und dann hatten sie festgestellt, so wie Cobb selbst es auch herausgefunden hatte, dass Gott eben nicht wollte. Dass es ihn in Wahrheit sogar so wenig kümmerte, dass er zuließ, dass sie – gleich, wie tugendhaft und schön sie auch waren – von einer Macht hinweggefegt wurden, deren Wesen sie sich nicht einmal vorstellen konnten, ohne einleuchtenden Grund, ohne dass ein System von Gerechtigkeit oder Gnade zu erkennen gewesen wäre.

Cobbs Gesicht war von dem scharfen Wind, der über den Hügel fegte, wie erstarrt. Jetzt konnte er ihn sehen, den ersten Hauch Taubengrau und Rosa weit in der Ferne über London. Der aufkommende Wind ließ die Eiche über ihm knarren wie ein Schiff auf hoher See, und er spürte, wie sich der mächtige Stamm, ein Lebewesen, an seinem Rückgrat bewegte. Nach Süden hin konnte er einzelne diamantene Lichter ausmachen, das musste Oxford sein: Wenn er noch eine Stunde hier verweilte, dann würde er die schlanken Türme aus dem Nebelschleier entlang der Themse ragen sehen. Irgendwo da unten, das wusste er, verlief dieser Fluss aus uralter Zeit, schwarzes Wasser, das in dunklen Kanälen nach Osten glitt, kalt wie der Tod. Über dem Tal mit der Farm, von der er aufgebrochen war, lag noch immer Nacht. Nur ein gelbes Viereck war zu sehen, das Licht in der Küche, das er angelassen hatte, damit es ihm den Weg zurück weise.

Er hörte, wie Baskerville ganz in der Nähe im Stechginster herumtappte und lauter keuchte als er, struppig und kurzatmig. Der alte Hund suchte im Dunkeln nach ihm, hielt immer wieder inne, um zu schnuppern, näher, näher tappte er und schnupperte wieder. Dann lag der struppige warme Kopf auf seinem Schoß, Gesabbere und zotteliges Fell und heißer, heftig ausgestoßener Atem, und Cobb senkte den Kopf, begrub sein Kinn in dem warmen Fell und spürte, wie der Hund vor Freude zitterte, bedächtig mit seinem großen Schwanz wedelte, die halb blinden Augen zu ihm aufrichtete und ungestüm sein Gesicht ableckte. Cobb kraulte die Ohren des Mischlings und redete auf ihn ein, und der Hund legte sich auf dem überfrorenen Gras des Grabhügels zu Cobbs Füßen nieder und schlug mit dem Schwanz auf den harten Boden.

Cobb fühlte, wie sein Herz nach der Anstrengung des Anstiegs nun wieder langsamer schlug. Die wärmende Anwesenheit des alten Hundes tat ihm gut, und er erfreute sich an dem lachsfarbenen Lichterglanz, der sich von Osten her ausbreitete. Auch aus der Gesellschaft der Toten unter seinen Füßen schöpfte er Trost. Verglichen mit dieser unerklärlichen Auslöschung erschien ihm sein eigener Verlust, wenn nicht begreiflich, so doch zumindest so etwas wie geteiltes Leid zu sein. Er lehnte sich an die Eiche, und sie drückte gegen sein Rückgrat. Das Netz ihrer Wurzeln unter ihm barg die Knochen der Toten. Clea ruhte trotz all der Lebendigkeit, die sie zwölf Jahre lang in sein Leben gebracht hatte, genauso vollkommen wie diese schon lange verstorbenen Dorfbewohner. Ihr Friede war auch Cleas Friede, und in ihrer Gesellschaft war er auch Clea nahe. Fühlte er sich weniger einsam.

Der Hund zu seinen Füßen hob den ambossförmigen Kopf. Im zunehmenden Licht konnte Cobb die milchigen treuen Augen und den wedelnden Schwanz erkennen. Der Hund wusste, dass es Zeit war, etwas zu essen. Cobbs Magen knurrte zustimmend. Er kraulte dem Hund den Kopf, stand auf und streckte sich im schwachen Licht. Cobb war nicht verbittert. Früher war er verbittert gewesen, aber das war vorbei. Es war jetzt kein richtiges Leben mehr. Das akzeptierte er, und weil er es akzeptierte, war er beinahe zufrieden.

Kapitel 2

Silver konnte über das gleißende Scheinwerferlicht nicht hinaussehen, aber dahinter konnte er sie spüren, die vielmäulige Bestie, die er zu füttern hatte. Er schloss die Augen und warf den Kopf zurück; trotzdem brannte sich das grelle Licht wie ein roter Fleck in sein Gehirn. Der letzte schrille Akkord des Laufs hing in der Luft, schallte durch das riesige Stadion, und unsichtbar klammerten sich die Zuhörer daran fest und bettelten ihn im Stillen an, er möge weitermachen. Im letzten Moment entschloss er sich dazu. Mit zurückgelegtem Kopf und halb geschlossenen Augen ließ er die linke Hand das Griffbrett hinaufschnellen, die Patterns in seinem Kopf übertrugen sich mit absoluter Perfektion auf seine Fingerspitzen, die auf das Griffbrett klopften, darüber fuhren, tanzten. Und dann wieder hinunter – ein Barre, ein langes Glissando, die Gitarre heulte schmerzlich auf, und genau im richtigen Augenblick sprengte der Einsatz von Schlagzeug und Bässen die Fesseln der Musik und befreite ihn von dem Song.

Silver sprang aus dem Lichtkegel, und das Gejohle der Menge brach über ihn herein wie eine Brandung. Die Mitglieder der Band folgten ihm und winkten, im Gegensatz zu ihm, dem Publikum zu. Sie schnaubten wie Pferde, und im Licht der Scheinwerfer sah man die Schweißperlen durch die Luft fliegen. Silver blieb stehen und ließ die miteinander lachenden und fluchenden, nach dem grellen Licht nun in der Dunkelheit blinzelnden Musiker vorbei. In der Kulisse sah er die wohlbekannte massige Gestalt von Tommy Hudson, der ihnen auf die Schultern klopfte und ihnen in dem ganzen Getöse die üblichen Glückwünsche zurief, obwohl sie alle zu high und zu taub waren, um etwas zu hören.

Silver zog sich in den Schatten hinter das Gerüst zurück, das die Bühne einrahmte; das Adrenalin und der Schweiß, der in der Winternacht auf seiner Haut abkühlte, ließen sein Herz wie einen Schmiedehammer klopfen. Er schaute hinaus auf die gleißende Bühnenmitte, wo die Chromteile und Perlmutteinlagen der zurückgelassenen Instrumente glitzerten. Erst jetzt bemerkte er, dass feiner Regen auf die ungeschützten Menschen im Stadion niederging; Schleier von Nieselregen trieben wie goldener Rauch durch die Laserstrahlen. Die riesige Menge kümmerte sich nicht darum. Sie verlangte nach mehr, sie schrie und pfiff und stampfte mit den Absätzen auf das nasse Gras. Oben bei den überdachten Plätzen standen sie, jubelten, trampelten auf die Bretter und klapperten mit ihren Klappsitzen. Gegenstände – Blumen, Programmzettel, Mützen – segelten auf die Bühne; sie sanken im Scheinwerferlicht herunter wie versengte Motten.

Silver beobachtete die Menge. Er erinnerte sich an die Anfänge vor mehr als zwanzig Jahren, als ungeduldige Zuhörermengen Flaschen und Stühle auf die Bühne geschleudert und nicht immer gewartet hatten, bis er weg war. Damals war alles anders gewesen, in vergammelten Sälen in Liverpool, in Manchester und im Norden Londons, in halb verfallenen Theatern, nicht mehr genutzten Kinos und in Hinterzimmern mieser Pubs. Damals hatte es keine Sicherheitsleute gegeben mit Sprechfunkgeräten, Reizgassprays und adretten Uniformen, die aus Sorge um seine Sicherheit Spalier standen. Nur Tommy Hudsons einschüchternd breite Schultern. Eine wilde Nacht im Hackney Empire fiel Silver ein, als ein außer Rand und Band geratener Betrunkener eine Flasche geworfen und mitten in seine große Trommel getroffen hatte. Silver erinnerte sich, wie Tommy Hudson das stählerne Band seiner Uhr über die Faust gestreift hatte und von der Bühne geglitten war wie ein Eisbär von einer Eisscholle. Das Krachen der Fingergelenke gegen Knochen hatte das kreischende Publikum eine volle Minute verstummen lassen. Silver wusste nicht, warum er sich ausgerechnet an diesen Vorfall erinnerte. Es war nur einer von vielen und bei weitem nicht der schlimmste. Matt Silver wusste, dass Hudson auch heute hinausgegangen wäre, um ihn zu beschützen, selbst wenn jeder Einzelne in dieser Menge ein Flaschen schwingender Besoffener gewesen wäre.

Draußen in dem schwarzen Schlund des Stadions sang die Menge im Sprechchor ein hungriges, gnadenloses Lied. Silver verstand die französischen Worte nicht, aber er wusste, was sie wollten. Sie wollten mehr. Mehr von ihm. Und dann noch mehr. Und noch mehr. Jetzt zündeten sie Kerzen an. Nach wenigen Sekunden flackerten überall gelbe Flämmchen vor dem dunklen Hintergrund, ein Schwarm leuchtender Punkte, die zu dem aufbrandenden Gesang hin und her wogten. Er konnte seinen Blick nicht von diesen Lichterwogen abwenden. Er schaute hin, und es passierte wieder: Die schwarze Höhle des Stadions schwamm vor seinen Augen, der Lärm ebbte ab, und irgendetwas in ihm zog sich von der Gegenwart zurück.

Er war nicht sicher, wie lange es dauerte, bis das Getöse ihn zurückholte, aber nach einer Weile spürte er, dass Tommy Hudson aus dem Schatten neben ihm auftauchte.

»Schau dir diese Idioten an«, zischte Hudson ihm ins Ohr. »Weißt du, was du bist, Mattie? Du bist der Scheiß-Sonnenkönig.«

»Hör zu, Tommy …«

Ein Mann mit Kopfhörern kam angerannt, und ohne sich umzudrehen, sagte Hudson: »Verpiss dich.« Silver machte wieder den Mund auf, aber Hudson kam ihm zuvor. »Dafür sind wir zu alt, Mattie.« Einen Augenblick später fügte der korpulente Mann freundlicher hinzu: »Gib ihnen, was sie wollen. Du weißt, dass sie nur noch eins wollen.«

Silver schob sich an ihm vorbei, riss dem Bühnenarbeiter die glänzende Gibson aus der Hand und sprang auf die Bühne. Die Zuhörermenge johlte los. Silver aber stand reglos im Scheinwerferlicht und wartete, bis sich der ohrenbetäubende Lärm legte. Als absolute Stille herrschte, ließ er sie, die Rechte lässig über die Saiten gelegt, noch zwanzig Sekunden andauern. Dann schlug er den ersten dröhnenden Akkord an, und das Publikum brachte seine Begeisterung mit tosendem Beifall zum Ausdruck.

You people climbing on that narrow way

Can climb from cradle to the Judgement Day

You want to win, but first you gotta lose

That’s what they call

That’s what they call

Redemption Blues.

Silver schmetterte die schmerzenden Akkorde in das Stadion hinaus. Der Verstärker übertrug den leichten Druck seiner Finger auf die rau umwickelten Basssaiten. Dann kam die letzte Zeile, von Silvers hoher Stimme, hart und klar wie ein Diamant, hinausgeschrien; er breitete die Arme aus, die Gitarre in der einen Hand blitzte wie ein losgeschnallter Brustschild, die schwarzen Haare schwangen hin und her. Und dann rannte er, lief vor dem Ausbruch rasender Begeisterung davon und stürzte sich aus dem blendenden Scheinwerferlicht in die Kulissen.

Erschöpft klammerte er sich an Hudsons Mantel, bis er wieder zu Atem kam, und dann umfing das Getöse sie erneut. Die Bühnenkonstruktion schwankte, als die Menge dagegendrängte. Hudson merkte, wie sie sich bewegte, und übernahm augenblicklich das Kommando, hielt Silver fest, warf einem Helfer die Gitarre zu und legte Silver ein Jackett über die Schultern. »Okay, mein Sohn. Das war’s.«

Er packte Silver am Oberarm und schob ihn eilig fort. Anweisungen wurden geschrien, und sie kämpften sich unter Einsatz von Schultern und Ellbogen durch überfüllte Flure aus grauem Beton und Treppen hinunter, wo es nach Urin stank und sich kreischende Leute drängten, und schließlich hinaus in die prickelnd kalte Nacht, wo hinter dem Gebäude eine Stretchlimousine wartete, deren hintere Türen offen standen.

Silver richtete sich auf, machte seinen Arm los. »Fahr schon mal vor, Tommy. Ich komm gleich nach.«

Hudson sah ihn flüchtig an. »Sei kein Arsch. Komm schon.«

Aber Silver hatte sich wieder gefasst. Er zog das Jackett zurecht und machte wegen Hudsons Tonfall eine spöttische Kopfbewegung.

»Steig ein, verdammt noch mal.« Hudson verlor allmählich die Geduld.

Silver wich zurück und drehte die Handflächen nach oben. »Ich brauche etwas Zeit, Tommy. Nichts Besonderes.«

»Mattie, wir haben eine Verabredung …«

»Wir treffen uns dort, Tommy.«

Silver trat in die Dunkelheit zurück und lächelte. Es war ein Lächeln aus einer ganz anderen Zeit, das Grinsen eines Lausbuben, der im Garten des Pfarrers Obst geklaut hat, und als Hudson es sah, wusste er, dass es sinnlos war, mit ihm zu streiten. Er stieg in die Limousine, zog krachend die Tür zu, ließ die Fensterscheibe mit einem Surren herunter und rief: »Morgen ist Berlin dran. Vergiss das nicht! Hörst du mich überhaupt?«

Kapitel 3

Silver hörte es, ließ sich aber nichts anmerken. Er war bereits in das Chaos aus Lastern, Generatoren und Wohnwagen hinter dem Stadion eingetaucht, atmete den Gestank von Diesel und Frittierfett ein. Das Nieseln war stärker geworden, ging allmählich in Regen über, der auf dem Lack der Fahrzeuge glänzte und sich auf dem Asphalt in Pfützen sammelte. Die herumschreienden Männer, die Kräne und Lichterbögen ließen ihn an ein Lager hinter der Frontlinie irgendeines vergessenen Krieges denken. Als er zu einem zurücksetzenden Lastwagen hinaufschaute, trat er auf Kabel und stolperte gegen einen Arbeiter, der ihn auf Französisch anschnauzte. Der Mann trug ein Tour-T-Shirt mit Silvers Porträt darauf, aber nichts deutete darauf hin, dass er ihn erkannte.

Allmählich beruhigte er sich. Die Anonymität half dabei. Es war schon eine Weile her, dass er das letzte Mal über die Stränge geschlagen hatte, und es fühlte sich gut an – unverantwortlich, unprofessionell und gut. Unprofessionell, weil er eines von Tommys nächtlichen Geschäftstreffen in irgendeinem exklusiven Pariser Restaurant versäumen würde. Es gab eine Zeit – nicht allzu lange her –, da hatte Silver diese Dinge genossen. Da hatte er Tommy zugehört, wie er mit den Vertragspartnern über das große Geld redete, hatte sich zurückgelehnt und die Energie nach der Show gespürt, die besser war als Sex.

Er nahm den Geruch von gebratenen Zwiebeln wahr, fand einen Hamburger-Stand und kaufte sich einen Pappbecher Kaffee, der so dick war wie Teer. Die junge Französin, die ihn bediente, musterte ihn eingehend, und er zog sich schnell zurück und lehnte sich gegen einen Wohnwagen, der im Dunkeln stand, um seinen Kaffee zu trinken. Der kalte Regen fiel schräg durch die Lichter. Irgendetwas, vielleicht die Fremdheit der Sprache um ihn herum, versetzte ihn dreißig Jahre zurück in Dr. Gottschalks winziges Studio im Keller des Konservatoriums in Kensington, einen Ort vergilbender Notenblätter, heißer Wasserrohre und des kalten Zigarrenrauchs. Er sah sich selbst wieder, ein aufmüpfiger Junge von sechzehn, über seine Gitarre gebeugt und gedankenverloren aus dem Fenster auf die Mülleimer im Lichtschacht starrend.

»Sie sind auf dem Gebiet der Klassik ein sehr schlechter Schüler, Mr. Matthew Silver«, verkündete Dr. Gottschalk in seinem Metronomenenglisch. Dann legte der alte Mann seine von den Zigarren braunen Finger um den Hals seines eigenen Instruments. »Aber Sie haben etwas Großes zu sagen. Gehen Sie mir aus den Augen, und sagen Sie es.«

Etwas zu sagen. Welche Geschichte war so bedeutsam, dass diese Unmenge an Arbeitskräften und Equipment, an Transportkapazitäten und Technologie nötig war, um sie zu erzählen? Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Silver alles, was er zu sagen hatte, mit einer alten akustischen Gitarre und nicht mehr Zubehör, als in die Taschen seiner dicken, gefütterten Jacke passte, gesagt. Er trank seinen Kaffee aus, zerknüllte den Becher und warf ihn zwischen die großen Räder. Er war kein Romantiker. Er schwor nicht auf die guten alten Zeiten. Es waren schwere Zeiten gewesen, schwer und schmutzig, und er glaubte nicht daran, dass Armut die Menschen besser machte. Aber er wusste auch, dass er den Bodenkontakt verloren hatte, irgendwo zwischen dort und hier. An irgendeinem Punkt war seine Stimme vom Knirschen der großen Maschinerie übertönt worden, die eigentlich dazu gedacht war, sie zu schützen.

An diesem Abend hatten ihm zwanzigtausend zugehört; viele von ihnen waren noch nicht einmal auf der Welt gewesen, als Dr. Gottschalk ihn vor so vielen Jahren mit seinem Schicksal konfrontierte. Eigentlich hätte er vor lauter Energie, die ihm diese unbekannten jungen Leute gaben, leuchten müssen. Vor nicht einmal zwei Jahren wäre er überglücklich abgehoben.

Aber jetzt schien es, als seien die Stromkreise irgendwie unterbrochen worden. Das laugte ihn aus, verwirrte ihn. Was sahen diese jungen Franzosen? Was konnte ihnen der Redemption Blues sagen?

Der Song war ihm eingefallen, als er sich an einem trüben Novemberabend vor hundert Jahren in ein Wartehäuschen am Stadtrand von Hüll kauerte. Ihr Wohnmobil hatte auf einer Umgehungsstraße am Ende doch den Geist aufgegeben, und Tommy war gerade dabei, ein neues Fahrzeug zu organisieren, doch wie ihm das ohne Geld gelingen sollte, konnte sich Silver einfach nicht vorstellen. Silver, erschöpft und fast am Ende, war nicht einmal sicher, dass der dicke Mann überhaupt zurückkommen würde, und er hätte ihm auch keinen Vorwurf machen können, wenn er weggeblieben wäre. Von den scheußlichen Sozialwohnungsblocks auf der anderen Straßenseite drang das grobe Geschrei eines heftigen Ehekrachs herüber, da schrien sich zwei über das Geplapper einer Fernsehshow hinweg an. Lauren, fiebrig und krank, lag zusammengerollt in einem Schlafsack auf dem voll gespuckten Betonboden des Wartehäuschens und schlief. Ein einziger Bus schlich vorbei, ein Flickenteppich gelben Lichts. Er machte sich nicht die Mühe anzuhalten, und Silver erinnerte sich an das schreckliche Wimmern seiner Gangschaltung. Er wusste nicht, warum ihn das so deprimierte. Sie hatten ohnehin kein festes Ziel.

Zu seinen Füßen seufzte Lauren leise im Schlaf. Er kniete nieder und strich ihr über die Haare, murmelte ihr, sich selbst etwas zu. Sie schmiegte sich an seine Hand. Und urplötzlich war der Refrain in seinem Kopf. Er spielte ihn in Gedanken durch, ließ ihn Gestalt annehmen, bis er ihn vor sich hin summen konnte. Als das Mädchen wieder eingeschlafen war, ging er leise davon, fand den Kartondeckel eines Fastfood-Behälters im Rinnstein und kritzelte den Refrain mit einem immer wieder aussetzenden blauen Kugelschreiber darauf, kritzelte und kritzelte, bis seine Finger vor Kälte steif waren, und dann kritzelte er mit dem Kugelschreiber in der Faust weiter. Er brauchte vielleicht zwanzig Minuten, um die Verse niederzuschreiben. Nicht länger. Als er fertig war, sah er auf und merkte, dass Lauren ihn, jetzt gegen die Sitze gelehnt und den Schlafsack fest um sich geschlungen, beobachtete. Unter der gelben Straßenlaterne sah sie aus wie der Tod, krank und fröstelnd. Aber sie lächelte ihn an, ein Lächeln so voller Vertrauen und Mut, dass er spürte, wie es ihm leicht ums Herz wurde; da wusste er, alles würde gut werden. Von diesem Augenblick an war es ihr, Laurens, Song gewesen.

Silver richtete sich auf. Dabei raschelte der Weihnachtsbrief der Kinder in seiner Brusttasche. Er zog sein Handy heraus, klappte es auf und wählte. Besetzt. Er fluchte und versuchte es noch einmal. Und noch mal. Und noch mal. In der feuchten Nacht in seine Jacke vergraben, wählte er die Nummer wieder und wieder, während die fleißige Armee aus Fremden die Welt um ihn herum zerlegte. Seine Knöchel waren schon ganz weiß vom Umklammern des Telefons.

Kapitel 4

Lauren Silver blieb an der Tür des Spielzimmers stehen und sah ihrer Tochter beim Lesen zu. Die ernste kleine Freya wirkte mit ihren neun Jahren hinter den dicken Brillengläsern so würdevoll wie ein Bischof des Mittelalters. War sie an diesem Abend noch stiller als sonst? Gudrun war natürlich überhaupt nicht still. Sie war bereits dabei, die rot-gelben Essenskartons auf den Tisch zu stellen, und plapperte vor sich hin, sang Passagen aus dem Musical, bei dem sie in der vergangenen Woche in der Schule die Hauptrolle gespielt hatte. Es versetzte Lauren ein Stich ins Herz. Für Gudrun würde es keine Musicals mehr geben. Jedenfalls nicht in dieser Schule. Sie fragte sich, ob ihre kluge, begabte, unbezähmbare Tochter ihr jemals verzeihen würde, und wusste – schon in dem Augenblick, als ihr der Gedanke durch den Kopf ging –, dass sie es natürlich tun würde. Gudrun war nicht nachtragend. Dazu hatte sie keine Zeit. Sie war zu sehr damit beschäftigt zu leben – mit einer Einstellung zum Leben, die Lauren nur zu gut kannte, weil sie früher auch ihre gewesen war. Ja, Gudrun würde ihr verzeihen.

Bei Freya aber war das etwas ganz anderes. Bei der stillen kleinen Freya wusste man wirklich nie, woran man war. Naja, dachte Lauren ein wenig unfreundlich, das Kind kann in einem anderen Haus ebenso gut vor sich hin grübeln und schmollen wie hier. Gudrun war so viel leichter zu verstehen als ihre Schwester, und manchmal konnte man nur schwerlich glauben, dass die beiden Zwillinge waren. Als sie so dastand und sie beobachtete, blickten ihre beiden Töchter auf und sahen sie an. Gudrun lächelte unbekümmert, offen wie eine Sonnenblume. Freya starrte sie mit eulenhaften Augen hinter den Brillengläsern düster an. Lauren fragte sich, ob sie etwas ahnten. Vielleicht dachten sie auch bloß, dass dies ein besonderer Abend sei, weil in wenigen Tagen Weihnachten war. Sie drohte ihnen mit dem Finger, schnitt eine Grimasse, schloss vorsichtig die Tür und ging in den Raum hinüber, den sie als ihr Studierzimmer bezeichnete.

Es war ein angenehm schummriger Raum, voll mit dunklem Holz, Bücherschränken und Messinglampen. Aber es war albern, ihn Studierzimmer zu nennen. In Wahrheit zog sie sich dahin zurück, wenn sie in Ruhe etwas trinken und rauchen wollte. Ihn als Studierzimmer zu bezeichnen war anmaßend wie so vieles in ihrem Leben. Lauren hatte niemals irgendetwas wirklich studiert. Sie hatte gerade ihr erstes Semester an der Universität von Leeds begonnen, als sie Matt Silver im Union spielen hörte, und das war es dann mehr oder weniger gewesen. Innerhalb weniger Stunden hatte sie ihren Weg in seinen nach Tabak riechenden Schlafsack in einem kalten Wohnhaus mit Blick auf die Universität gefunden. Sie erinnerte sich, dass sie sich am nächsten Morgen ein Rugbytrikot übergezogen und am Fenster gestanden hatte, dass ihr Atem in der nasskalten Luft Rauchfahnen gebildet und sich zu ihren Füßen der potthässliche Beton-Campus ausgebreitet hatte. Das war das letzte Mal gewesen, dass sie ihn gesehen hatte. Am gleichen Tag war sie in Matt Silvers vor sich hin rostendes Wohnmobil geklettert, hatte sich hinten zwischen die arg ramponierten Gitarrenkoffer und das Schlagzeug gezwängt und die ganze Fahrt über bis zum nächsten Auftritt in Newcastle mit dem Keyboarder Haschisch geraucht. Sie war nicht einmal in ihre Bude zurückgegangen, um ihre Bücher und Kleider zu holen.

Damals und noch viele Jahre lang hatte sie geglaubt, dieser dramatische Abgang von der Universität sei ihr großer Bruch gewesen, ihr großer Versuch, die Freiheit zu erlangen. Freiheit von der schrecklichen Vorstadtspießigkeit ihrer Mutter, mit ihren pastellfarbenen Lambswooljacken und der Häuslichkeit einer Mädchenpensionatsschülerin. Gewiss war Lauren in ihrem ganzen Leben nie glücklicher gewesen als in jenen drei Stunden hinten in dem dröhnenden Wohnmobil, während derer ihr Kopf vor Haschisch und Lust schwamm und sie Matt Silvers Aztekenprofil im Gegenlicht betrachtete. An diesem Tag war er schön, und umso schöner, weil er nicht wusste, dass er beobachtet wurde. Oder vielleicht wusste er es doch. Bei Matthew konnte man das nie so genau sagen.

Rückblickend erkannte sie, dass ihre Flucht mit dem jungen Matt Silver das Gegenteil eines Ausbruchs gewesen war. Er hatte mit dem Finger geschnippt – vielleicht hatte er nicht einmal das getan – und sie war ihm nachgelaufen. Natürlich hatte sie ihr Studium nie beendet. Sie hatte Englisch und Dramaturgie belegt, aber inzwischen konnte sie sich nicht einmal mehr daran erinnern, ob sie jemals eine einzige Vorlesung gehört hatte. Bestimmt nicht. Sie hatte sich in der Universität nicht eingeschrieben, um Englisch und Dramaturgie zu studieren. Trotz all ihres Geredes von Unabhängigkeit war sie aus dem gleichen Grund dort hingegangen, aus dem ihre Mutter in den fünfziger Jahren die Sekretärinnenschule besucht hatte, nämlich um jemanden zu finden, der mit dem Finger schnippte und sagte, sie solle hinten hineinspringen. Und so war es auch in den seither vergangenen Jahren die meiste Zeit gewesen.

An dieser Stelle hielt Lauren inne. Es hatte schöne Zeiten gegeben – vor allem in den ersten Jahren. Sie brachte es nicht über sich, so zu tun, als sei alles vom ersten Tag an schlecht gewesen, auch wenn das den Abend erträglicher gemacht hätte. Denn an diesem Abend würde ihr endgültiges Scheitern offenkundig werden, ihres wie seines. Sie hatte weiß Gott jahrelang hart gekämpft, um genau das zu vermeiden. Hätte er bloß mit einem Zehntel ihrer Beharrlichkeit gekämpft, dann müsste sie das vielleicht nicht tun – vielleicht müsste keiner von ihnen das durchmachen. Lauren fühlte sich plötzlich müde und den Tränen nahe. Sie nahm an, dass Matthew wohl nicht anders konnte. Es lag im Wesen des Tiers, und es war ein Tier, das sie lange Zeit so innig geliebt hatte. Aber sie konnte diese Beziehung nicht allein tragen. Sie war so entsetzlich schwer. Wenn sie sie jetzt nicht ablegte, würde sie daran zerbrechen.

Es war komisch, es so zu sehen. Sie wusste, was die Leute von der bezaubernden Lauren Silver hielten, wenn sie ihre Starinterviews in den Frauenmagazinen lasen. Sie hielten sie für eine Schauspielerin. Sie bestand auf dem Wort »Schauspielerin«. Sie hatte sich den Ruf einer reichen Zicke eingehandelt, weil sie Interviewer, die ihr Recht auf diese Bezeichnung in Frage stellten, in aller Öffentlichkeit zusammenstauchte. Dabei konnte sie selbst nur schwer verstehen, wie sie dieses Märchen bloß wegen ein paar kleiner Rollen in Seifenopern so lange hatte aufrechterhalten können. Aber Matthew hatte einen kometenhaften Aufstieg hinter sich – ja, er stieg immer noch auf –, und nichts stand dem, was er wollte, je im Wege. Naja, dachte sie jetzt, vielleicht bin ich doch eine Schauspielerin. Denn in Wahrheit war sie eigentlich nichts anderes als Matt Silvers Frau. Und in letzter Zeit war diese Rolle am schwierigsten zu spielen gewesen. Dafür hatte er schon gesorgt.

Und nun war alles zu Ende.

Der Gedanke an ihn ließ sie einen flüchtigen Blick auf das Telefon auf dem Tisch werfen. Sie hatte gedacht, er würde vielleicht wenigstens dieses Weihnachten anrufen. Sie war sich absolut nicht sicher, ob sie das wollte, aber trotzdem. Sie sah auf die Uhr. Es war genau elf. In Paris Mitternacht. Er hatte die Bühne also vor etwa einer Stunde verlassen. Lauren spürte, wie plötzlich Arger in ihr hochstieg, nicht über ihn, sondern über sich selbst. Warum sollte ihr das etwas ausmachen? Das war erniedrigend. Aber es machte ihr etwas aus, und das erfüllte sie mit Zorn. Sie ging zum Tisch hinüber und schubste den Hörer vom Apparat, sodass er schaukelnd auf der Lederunterlage landete.

Sie ging zum Sideboard und schenkte sich einen Wodka ein, mehr, als sie vorgehabt hatte, und weil sie sich schämte, versuchte sie, etwas in die Flasche zurückzuschütten. Das ausgehängte Telefon, das einen automatischen Warnton von sich gab, piepste sie wie ein Nestling an, und sie erschrak und verschüttete den Großteil ihres Drinks auf dem Tisch. Sie fluchte, griff hinter sich nach einem Kissen und deckte damit das Telefon zu. Dann drehte sie sich um, griff hastig nach ihrem Drink, bemerkte, dass sie zitterte, zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Sie erhaschte einen Blick ihres Spiegelbildes im ebenholzumrahmten Fenster und sah eine angespannte Frau von vierzig mit ausgetrockneten blonden Haaren, die gegen den Rauch die Augen zusammenkniff. Dieser Gesichtsausdruck verlieh ihr etwas Zänkisches. Sie hatte nicht immer so ausgesehen. Es hatte Zeiten gegeben, da war sie mit sich und ihrem Äußeren fast zufrieden gewesen. Zum Beispiel während der Schwangerschaft. Damals hatte sie geglaubt, sie und Matthew könnten es trotz allem schaffen. Und auch davor, im ersten Hochgefühl seines Erfolges, als sie sich noch einreden konnte, dass sie etwas damit zu tun hatte. Gott, was für stürmische Zeiten waren das gewesen! Und noch früher, als sie – das hatte ihr zumindest ihre Mutter erzählt – genau so war wie die kleine Gudrun heute: ein vergnügtes, sonniges Kind, das gern tanzte und sich herausputzte. Damals hatte sie sich gemocht, und auch die anderen Leute hatten sie gemocht. Heute mochten sie sie nicht mehr. Der Wodka machte sie rührselig, und sie merkte, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Wieder betrachtete sie ihr Spiegelbild und wusste, dass sie über das Alter hinaus war, in dem sie noch mit Charme weinen konnte. Sie presste die Handballen gegen die Augen und drückte grimmig die Zigarette aus. Verdammt, sie würde das alles wieder in Ordnung bringen, sobald sie frei war. Richtig frei. Nicht scheinbar jugendlich frei wie vor zweiundzwanzig Jahren im altersschwachen Wohnmobil des schönen Matthew Silver.

Wieder sah sie auf die Uhr und schaute dann, die Stirn gegen die Fensterscheibe gelehnt, in den dunklen Garten hinaus. Durch den Umriss ihres eigenen Schattens sah sie die schwarzen Zypressen an der Einfahrt wie Lanzen vor dem Indigoblau arabischer Nachthimmel aufragen. Eine Ansammlung kalt strahlender Sterne war hoch in dem Blau über dem Widerschein Londons zu erkennen. Es war sehr kalt. Frost überzog bereits das Gras unter den kahlen Bäumen und glitzerte auf dem Steingarten. Er funkelte im Licht ihres Fensters. Wenn es so klar blieb, würden die Kinder wieder keine weiße Weihnacht erleben. Das war schade. Noch nie hatten sie an Weihnachten Schnee gesehen … Sie erinnerte sich. Vielleicht hatten sie dieses Jahr ja doch eine weiße Weihnacht. Ob es an Weihnachten in Nord Yorkshire wohl schneite? Wahrscheinlich. Sie schenkte sich einen weiteren Drink ein.

»Mummy, fahren wir fort?«

Lauren machte auf dem Absatz kehrt. »Meine Güte, Freya! Du hast mich zu Tode erschreckt! Dich so hereinzuschleichen!« Das Mädchen sah sie durch die großen, runden Brillengläser ernst an. Sie sagte nichts. Sie hatte ihre Frage gestellt, und jetzt wartete sie auf die Antwort. Lauren fand die Gelassenheit des Kindes beunruhigend und sogar ein bisschen verächtlich. Aber sie wusste, dass es heute Abend wichtig war, ruhig zu bleiben. Sie holte tief Luft. »Fortfahren, Schatz? Wie kommst du darauf?«

»Du hast das Auto draußen gelassen. Du lässt das Auto immer draußen, wenn wir irgendwo hinfahren.«

»Wir nennen dich von jetzt an Sherlock Holmes, hm?« Lauren kniff Freya liebevoll in die Nase, aber das Kind war nicht so leicht abzulenken.

»Wo fahren wir hin?«

»Das braucht dich nicht zu kümmern.«

»Wann kommt Daddy heim?«

Lauren erstarrte. »Daddy ist auf Tour. In Frankreich. Das weißt du doch.«

»Wann kommt er heim?«

»Das weiß ich nicht genau, Schatz.«

»Wann …«

»Verdammt noch mal, Freya, bitte kein Verhör!« Sie sah, wie das Mädchen zusammenzuckte, und in einer Sekunde war sie quer durch das Zimmer geeilt und auf den Knien und nahm ihre Tochter in die Arme und hielt sie fest. »Frey, Frey. Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht anschreien. Aber du sollst mich nicht so verhören. Ich tue doch mein Bestes. Für uns alle.«

Sie spürte, dass die Arme des Kindes sich zögerlich um ihren Hals legten. »Warum weinst du, Mummy?«

»Ich weine doch nicht. Es geht mir heute Abend nicht so gut, das ist alles.« Lauren ließ sich auf die Fersen zurückfallen und fuhr sich erneut mit den Handflächen übers Gesicht. »He, und warum isst du nicht mit Gudrun zu Abend?«

»Hab keinen Hunger.«

»Geh und iss etwas, Schatz. Mummy zuliebe.«

Die Augen des Kindes waren voller Argwohn. Es löste sich aus den Armen seiner Mutter und ging auf die Tür zu. Lauren den Rücken zugewandt, sagte sie: »Ich will nirgends hinfahren. Es ist fast Weihnachten.«

Lauren sah das Kind hinausgehen und fühlte, wie sich das Gewicht wie ein Joch auf ihre Schultern legte. Sie goss sich noch einen Schluck Wodka ein. Sie trank zu viel, das wusste sie, nicht nur an diesem Abend, sondern die ganzen letzten Monate. Vielleicht schon ein paar Jahre. Ach, zum Teufel! Jetzt war sie ohnehin schon über ihrem Limit. Wenn sie es sich heute Abend nicht ein bisschen leichter machen konnte, wann dann? Sie ging die Vorbereitungen noch einmal durch. Ihr Koffer stand in der Ecke. Ein Bündel Geld – ihre Fluchtkasse – lag in der Schublade. Sie zog die Schublade auf und legte das Geld auf den Tisch. Dann waren da noch ein paar Stofftaschen für die Spielsachen und die Kleider der Zwillinge. Und eine Box mit belegten Broten und Getränken im Kühlschrank. Es war der vierte Tag in Folge, an dem sie diese Box hergerichtet hatte. Jeden Morgen, wenn sie aufwachte und immer noch hier war, warf sie das ganze Essen fort und machte eine neue Ration. Aber damit musste Schluss sein. Matthews Tour endete morgen in Berlin. Das war der letzte Termin. Sie wollte, wenn sie aufbrach, genau wissen, wo er war, und das bedeutete, dass sie heute Nacht gehen musste.

Kapitel 5

Sergeant Dennis McBean stand an dem Holzgeländer und schlug wegen der Kälte, die in dieser Nacht in London herrschte, seine in Handschuhen steckenden Hände zusammen. Die Arbeiter nahmen keine Notiz von ihm, werkelten im Scheinwerferlicht mit ostentativer Anstrengung weiter. Es war, als spürten sie seine Laune und fürchteten sich davor, etwas von der Strafpredigt abzubekommen, die den Bauleiter erwartete. Oder vielleicht waren sie einfach nur still, um nichts davon zu verpassen.

Gut, dachte McBean und wippte auf den Zehen auf und ab. Genau so mochte er es. Ein bisschen Angst war immer hilfreich. Außerdem war er wirklich verdammt wütend. Es war halb zwölf in der Nacht, und der Verkehr nach Theaterschluss wälzte sich in Richtung Süden über die Lambeth Bridge auf ihn zu; die glitzernde Lichterschlange kam herangekrochen und staute sich, sobald sie sich an der Straßenbaustelle vorbeidrängen musste. Neben sich hörte er in der Tasche des Polizeischülers Einwickelpapier rascheln.

»Hayward, wann hören Sie endlich auf, sich voll zu stopfen?«

»Sony, Sarge.« Haywards Stimme klang gedämpft, weil er den Mund voll hatte.

»Das heißt ›Sergeant‹.« McBean sah zu dem Jungen hinüber. Hayward erinnerte ihn an ein Kamel. Er war enorm groß, hatte einen hervorstehenden Adamsapfel und Gelenke, die sich in die falsche Richtung zu beugen schienen. »Wenn Sie noch größer werden, passen Sie nicht mehr in den verdammten Wagen.«

Der Junge wurde rot, schluckte, dann hellte sich seine Miene wieder auf. »Haben Sie nicht Lust auf einen Bissen, Sergeant?«

»Nein.«

Hayward nahm so etwas wie Habachthaltung ein. »Stimmt, Sergeant. Dumme Frage.«

McBean schaute rasch zur Seite. Es war schwierig, über Hayward nicht zu lachen. Er hatte gerade seinen rauen Cockneyton angeschlagen, obwohl McBean genau wusste, dass er aus einem guten Mittelschichtselternhaus in den Cotswolds stammte. Der junge Mann tat sein Bestes, aber alles an London verwirrte ihn, nicht zuletzt die Tatsache, dass McBean, der um zehn Jahre älter und um Lichtjahre erfahrener war als er, schwarz war. Zuvor hatte Hayward nie einen Schwarzen als Vorgesetzten gehabt. Er hätte sich selbst nie auch nur eine Sekunde lang als Rassisten betrachtet, und trotzdem hatte er Schwierigkeiten, die richtige Form der Anrede zu finden, und griff vorsichtshalber auf seinen kumpelhaften Pseudo-Cockney-Slang zurück. McBean konnte es sich einfach nicht verkneifen, ihn aufzuziehen.

»Sie haben nach mir gesucht, Constable?« Ein kleiner, in Tweed gekleideter Mann mit Anorak und Schutzhelm stand hinter der Absperrung. Plötzlich ratterte ein Generator los, und der Mann musste den Rest seiner Vorstellung laut herausschreien. »Brian Dawson. Ich bin der Bauleiter.« Mc Bean stellte, ohne überrascht zu sein, fest, dass Dawson nicht ihn, sondern Hayward ansprach. Wenn sie die Wahl hatten, sprachen Weiße immer weiße Polizisten an, selbst wenn diese, wie in Haywards Fall, wohl kaum die Vorgesetzten waren.

»Das ist ein Schlamassel, was, Mr. Dawson?«, sagte McBean, sodass sich der Bauleiter umdrehen musste, um ihn anzusehen. McBean deutete mit seiner behandschuhten Hand auf die schaufelnden Männer, den Teerlaster und den Verkehrsstau. »Ihre Leute sollten vor dem Einsetzen des Abendverkehrs hier fertig sein.«

»Und es heißt Sergeant, nicht Constable«, warf Hayward mutig ein, bevor Dawson zu Wort kommen konnte. Und fügte dann weniger selbstbewusst hinzu: »Er, nicht ich.«

Unsicher wandte Dawson den Blick von dem einen zum anderen, und als er weitersprach, war sein Ton vorsichtiger. »Wir haben Ihre Leute informiert, dass wir ein bisschen länger brauchen werden, Sergeant.«

»Ach ja? Das hat uns niemand gesagt.«

»Nie ein Wort davon gehört«, bestätigte Hayward.

»Es ist alles mit der Stadtverwaltung abgeklärt.«

»Die Stadtverwaltung, das sind nicht wir. Sie hätten es uns unverzüglich wissen lassen müssen, dann hätten wir vielleicht etwas unternehmen können.« McBean blickte auf die vom Flutlicht erleuchtete Baustelle und begann Dawsons Sünden aufzuzählen. »Schauen Sie sich das an. Sie haben die halbe Busspur aufgegraben. Davon war nirgends die Rede. Und Sie haben die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet. Jetzt haben wir ein Verkehrschaos bis Elephant & Castle. Volle drei Tage geht das jetzt schon so. Der Berufsverkehr war höllisch. Haben Sie etwa vergessen, dass diese Woche Weihnachten ist?«

»Ja, gut, ich gebe zu …«

»Ich verstehe sowieso nicht, wieso Sie für die Arbeiten drei Tage brauchen.« McBean schlug erneut die Hände zusammen und sah durch die Lücke im Gitter der Straßenbegrenzung auf das schwarze Wasser der Themse hinaus. »Sie befestigen doch bloß das Geländer.«

»Ja«, sagte Hayward und bewegte kampfeslustig die Schultern, »bloß ein Stückchen Zaun.«

»Ganz so einfach ist das nicht«, entgegnete Dawson bissig. »Das sind viktorianische Gusseisensegmente. Die muss man wie Glas behandeln. Wir hatten die ganze Woche über grauenvolles Wetter. Und wir haben es mit dem englischen Arbeitsrecht zu tun …«

»Okay, okay. Wie lange noch?«

»Wir bringen gerade alles wieder in Ordnung, Sergeant. Kurz nach Mitternacht müssten wir fertig sein.«

»Das heißt heute gegen Mitternacht, ja?«

»Selbstverständlich.«

»Und das heißt, dass alles wieder in Ordnung ist? Die Straßenbeleuchtung wieder funktioniert? Keine Absperrungen, keine Löcher in der Straße, keine Warnlichter mehr? Nicht, dass die feinen Pinkel am Ende noch in den Fluss stürzen, wenn sie von ihren beschissenen Weihnachtsfeiern nach Hause fahren!«

Dawson entspannte sich, als ihm klar wurde, dass er vielleicht um eine Beschwerde herumkam.

»Nichts mehr außer dem blöden Schild ›Frisch gestrichen‹, Sergeant. Ganz großes Ehrenwort.«

McBean erwiderte sein Lächeln nicht. »Ja, gut. Sie sorgen aber dafür, dass es auch so läuft, ja, Sir?« Beinahe hätte McBean dem kleinen Mann einen Stoß gegen die Brust verpasst, doch er hielt sich zurück. »Ich habe hier nämlich schon genug zu tun, ohne dass die beschissenen Weihnachtsmänner durch Lücken in Ihrem Geländer in den Fluss fallen. Okay?«

»Richtig«, sagte Hayward.

»Seien Sie still.«

»Jawohl, Sergeant.«

Kapitel 6

In der Nähe des Gare du Nord stieg Silver aus dem Taxi und ging den Rest zu Fuß, fluchte über den Weihnachtsverkehr, die Nachtschwärmer und den Regen. Er ärgerte sich über sich selbst, darüber, dass er es abgelehnt hatte, mit Hudson zurückzufahren.

In der Nähe des Pont Neuf blieb er in einem Hauseingang stehen und wählte wieder die Nummer, und beim Wählen lief ihm Wasser in sein T-Shirt. Als er sie nicht erreichte, sah er sich um, ob jemand unterwegs war, streute ein bisschen von dem weißen Pulver auf seinen Handrücken, schnupfte es ungeschickt und leckte den Rest auf. Er hoffte, es würde ihn beruhigen, aber die chemische Zusammensetzung stimmte nicht. Im Licht der Straßenlaterne war seine Haut blau gesprenkelt und seine Zunge fühlte sich kalt an wie die einer Leiche.

Mit wildem Blick, voll gepumpt mit synthetischer Energie und wie Espenlaub zitternd kam Silver im Hotel an. Der Portier sah einen Augenblick herablassend auf seine nasse Kleidung, ohne ihn gleich zu erkennen, dann führte er ihn schnell vom Foyer in ein funkelndes Badezimmer, in dem ein livrierter Angestellter wartete. Sie brachten frische Badetücher herein und machten einen großen Wirbel um ihn, bis er sie schließlich los wurde und ins Foyer zurückflüchtete. Er fuhr mit dem VIP-Aufzug zur Prominentenetage hinauf und rubbelte sich unterwegs den Regen aus den Haaren. Geräuschlos öffneten sich die Aufzugstüren. In der üppig ausgestatteten Aufzugshalle saß ein älterer französischer Sicherheitsposten an einem kleinen Marmortischchen und blätterte in einer Zeitschrift.

Der Wachmann schnellte hoch, zog einen Notizblock aus der Jackentasche und streckte ihn ihm lächelnd hin. Sein Englisch hatte er sorgsam einstudiert. »Mister Silver, Sir. Meine fünfzehn Jahre alte Enkelin liebt Ihre Musik sehr …«

Silver schleuderte ihm das feuchte Handtuch ins Gesicht, drängte sich an ihm vorbei und hämmerte an die Tür von Hudsons Suite. Als sie aufging, stürmte er hinein und stieß dabei mit der Schulter so fest gegen die Tür, dass sie ganz aufschwang.

Hudson schaute hinaus zu dem alten Franzosen, der wie ein Hutständer mit dem Handtuch auf den Schultern dastand. »Schlechtes Timing«, sagte er. Voller Abscheu schob der Mann das Kinn vor. Hudson machte die Tür zu. »Das ist eine Weihnachts-CD weniger, die du verkaufst.«

»Ich habe heute Abend genug verkauft.« Silver ließ sich auf das graue Ledersofa fallen und fuhr sich mit den Händen durch die langen, nassen Haare.

»Du bist ja klatschnass, du Idiot. Wo warst du bloß?«

Silver gab keine Antwort, und Hudson ging ins Schlafzimmer hinüber und holte ein frisches Hemd und ein Handtuch und warf beides auf das Sofa. Silver zog sein T-Shirt aus, rubbelte sich mit dem Handtuch ab und stand auf, um sich das trockene Hemd überzuziehen. Dabei warf er einen Blick durch die halb geöffnete Tür ins angrenzende Zimmer. An dem Glas tisch saßen drei junge Frauen, schwatzten und schlürften Drinks. Sie waren elegant gekleidet und erinnerten ihn an selbstbewusste junge Angestellte bei einem Seminar. Als eine von ihnen seinen Blick auffing, lächelte sie. Dann nahmen sie ihre Unterhaltung wieder auf. Silver sagte: »Wer zum Teufel sind die?«

»Sie wollen jedenfalls kein Autogramm von dir.« Hudson ging zu seinem Schreibtisch hinüber, ließ sich nieder und setzte seine überraschend elegante Lesebrille auf. Damit sah er wie ein Schuldirektor aus. Er wühlte in seinen Papieren herum, und dann sah er Silver über die Brille hinweg an. »Du warst in letzter Zeit so verdammt unglücklich. Nimm es als Weihnachtsgratifikation.«

»Schmeiß sie raus, verdammt noch mal.«

»Das ist doch sonst nicht deine Art, so wählerisch zu sein, Matt.« Hudson nahm einen goldenen Füller zur Hand und begann, Papiere zu unterschreiben.

Silver ging zum Sideboard hinüber, öffnete eine Schublade, knallte sie wieder zu und kehrte zum Sofa zurück. »Ich suche mir meine Nutten selbst aus, wenn’s dir recht ist, Tommy.«

Er zog auf dem Glastisch zwei ordentliche Pulverreihen und klopfte sie mit der Kante einer Platin-American-Express-Karte zu zwei exakt parallelen Linien. Die Unterhaltung der Mädchen im Nebenzimmer wurde in dem allzu gleichmäßigen Rhythmus fortgesetzt, in den Leute verfallen, die einen Streit bewusst überhören wollen.

Hudson legte seinen Füller hin und beobachtete Silver einen Augenblick lang. »Tau auf, Matt. Du gehst einem allmählich wirklich auf die Nerven.« Er deutete mit dem Kopf auf die halb offene Tür und die Frauen dahinter. »Warum nimmst du dir nicht eine und gehst mit ihr ins Bett?«

Silver strich die erste Linie ein. »Ich muss mit dir reden, Tommy«, sagte er, den Kopf zurückgeneigt. »Also schaff sie raus. Bitte.«

»Mattie …«

Silver nahm die Kristallschale vom Tisch und schleuderte sie gegen die Wand. Früchte plumpsten herunter und kullerten herum, und eine der Frauen schrie auf. Dann kehrte er still zu seinem Ritual zurück, während Hudson die Frauen hinauskomplimentierte. Es wurde geflüstert und empört verhandelt, dann war das Rascheln von Geldscheinen zu hören, und die Tür wurde geschlossen.

Hudson ging zur Bar, nahm ein paar Miniflaschen Brandy heraus und holte Eis aus dem Gefrierfach. Er brachte Gläser und die Flaschen zum Tisch. Einen Drink schob er hinüber, aber Silver war bereits mit seiner zweiten Linie beschäftigt. Das strapazierte Hudsons Gutmütigkeit, das wussten beide, und Silver runzelte vor lauter Konzentration die Stirn, bis er fertig war. Hudson hatte eine puritanische Ader, und das Kokainritual irritierte ihn. Schließlich lehnte sich Silver zurück, schloss die Augen und seufzte. Dieses Mal schien es zu wirken.

Hudson legte seine breiten Hände um das Glas. »Mattie, ich bin zu alt, und es ist spät, und die Nummer vom leidenden Künstler finde ich allmählich zum Kotzen. Kannst du mir nicht einfach sagen, was zum Teufel mit dir los ist?«

Silver schlug die Augen auf. »Ich fahr heim, Tommy.« Hudson richtete sich langsam auf und überlegte angestrengt, wohin das wohl führen würde. »Es ist das Ende einer wahnsinnig harten Tour, Matt. Wir sind alle total kaputt.«

»Es ist nicht die Tour.« Silver machte eine ausladende Armbewegung, die das kleine Kokainkästchen, den sterilen Luxus des Hotelzimmers und sogar die nächtliche Uhrzeit mit einschloss. »Es ist das alles.«

»Du solltest dir eine bessere Qualität von dem Engelstaub besorgen«, sagte Hudson. »Schlaf dich aus. Wir reden morgen.« Mit einer schnipsenden Handbewegung bedeutete er Silver, dass er gehen solle.

Silver rührte sich nicht. Nach einer Weile sagte er: »Ich hatte in letzter Zeit einigen Arger mit Lauren.«

»Ja?« Hudson schüttelte vorsichtig den Kopf. »Ist das was Neues?«

»Ich fahr heim, Tommy. Jetzt. Heute Nacht. Organisier das für mich, ja?«

Hudson schlürfte seinen Drink und sah ihn an. »Du bist rechtzeitig zum zweiten Weihnachtsfeiertag zurück. Dann kannst du den Streit beilegen und alles wieder in Ordnung bringen.«

»Das reicht nicht.« Als Hudson nichts mehr sagte, klopfte Silver mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Morgen.«

»Sei kein so verdammter Blödmann, Matt. Es ist ein wenig Stunk wie sonst auch gelegentlich, weiter nichts.«

»Ich mein’s ernst, Tommy.«

»Das meinst du nicht ernst. Die Sache, die wir hier machen, ist ernst.«

»Ich war schon seit fünf Jahren nicht mehr an Weihnachten zu Hause bei meinen Kindern, Tommy. Sie sind beinahe zehn. Und ich bin 45.« Silver hob in seiner typischen Art den Kopf. »Das ist ernst.«

Hudson machte den Mund auf, um zu antworten, atmete dann aber nur langsam aus. Er tätschelte die lederne Rückenlehne des Sofas. Schließlich ging er um den Sessel herum und nahm Silver gegenüber Platz. Er schraubte den Deckel von der zweiten Miniflasche ab, goss den Brandy über die Eisreste, spülte ihn nachdenklich hinunter und stellte das Glas vor sich auf den Tisch. »Okay, Mattie«, sagte er. »Lass uns das durchdenken, bevor wir uns darüber noch in die Wolle kriegen. Erst einmal rufen wir sie an, jetzt.«

»Es ist ausgehängt.«

»Du hast schon versucht, sie anzurufen?« Hudson war überrascht. Er dachte kurz nach. »Also gut. Ich schicke einen von den Jungs rüber; nachsehen, ob bei ihr alles in Ordnung …«

»Hör zu, Tommy.« Silver beugte sich eindringlich vor. »Kapier doch endlich. Ich hau ab. Heute Nacht. Organisierst du das, oder soll ich es tun?«

Hudson richtete sich in seinem Sessel auf, und sein Gesicht versteinerte. »Nimm doch Vernunft an, Matt! Morgen Abend steht Berlin auf dem Programm. Das weißt du.«

»Sag es ab.«

Hudson schloss für einen Moment die Augen, als wollte er das nicht zur Kenntnis nehmen. Er sagte: »Nach Berlin kannst du nach Hause …«

»Sag’s ab, Tommy. Es ist mir ernst.«

»Red nicht so daher, Mattie.« Hudsons Stimme lag um einen Ihn tiefer, und Silver merkte, dass er langsam wütend wurde. »So etwas machen wir nicht. Laurie würde nicht wollen, dass du das tust. Du denkst im Moment nicht klar.« Er beugte sich vor und packte Silver am Arm. »Schau, Mattie, du weißt, wie ich zu Laurie und den Mädchen stehe. Sie sind so etwas wie Familie für mich, die einzige, die ich je haben werde. Goodie ist mein Patenkind, verdammt noch mal. Ich versprech dir, wir finden einen Weg …«

»Es waren diese verdammten Kerzen.«

Hudson blickte verständnislos drein. »Kerzen?«

»Weihnachten. Und zwanzigtausend französische Kids zünden Kerzen für mich an.« Silver sah dem kräftigen Mann in die Augen. »Für diese Kinder tue ich etwas. Was zum Teufel habe ich je für meine eigenen getan?«

Hudson sah ihn an. »Das ist ein Witz, stimmt’s, Mattie? Du behandelst sie jahrelang wie Dreck, und jetzt möchtest du in gerade mal fünf Minuten alles in Ordnung bringen?«

Silver hielt seinem Blick stand. »Tommy. Sie sind immer noch meine Kinder. Und ich bin immer noch ihr Vater.«

»Du, Matt?« Hudson gab ein verächtliches Bellen von sich. »Du bist nicht ihr Vater. Du hast lediglich ihre Mutter gefickt.«

Silver erhob sich langsam. Schon breiteten sich Angst und Schuldgefühle auf Hudsons massigem Gesicht aus. Obwohl er dies sah, ergriff Silver seine nasse Jacke, schwang sie sich über die Schulter.

»Mattie.« Jetzt war auch Hudson auf den Füßen. »Das wollte ich nicht sagen. Du weißt, dass ich es nicht so gemeint …«

»Ist schon gut, Tommy.« Silver schlenderte zur Tür und ließ Hudson, der seine großen herunterhängenden Hände hilflos zu Fäusten ballte und wieder öffnete, mitten im Zimmer stehen. Silver hatte Mitleid mit ihm und sagte noch einmal, diesmal sanfter: »Ist schon gut.«

Aber das war es nicht und würde es nie wieder sein, und das wussten sie beide.

Kapitel 7

Einer von Hudsons Leuten hatte den Jaguar zum Rollfeld von Stansted gebracht und dort auf das Flugzeug gewartet. Es war kurz nach drei Uhr morgens. Silvers Kleider waren noch immer feucht, und die Kälte war ihm in die Glieder gekrochen; nicht einmal die zwei Gläser Scotch, die er während des Fluges getrunken hatte, hatten dagegen geholfen. Ziemlich steif kam er die Stufen herunter und ließ sich von Hudsons Mann auf die Beifahrerseite geleiten. Er war sich nie sicher, wo Tommy diese Leute auftrieb: möglicherweise in einem Fitnessstudio. Sie kamen in allen Altersklassen und Größen, und selten sah Silver ein und denselben Mann zweimal. Dieser war groß und gut aussehend und um die zwanzig, schick gekleidet in einem blauen Blazer mit Goldknöpfen. Er hatte sogar irgendwo eine Chauffeursmütze ausgegraben und sie sich keck schräg aufgesetzt. Falls er es als Zumutung empfand, mitten in einer eisigen Winternacht von Hudson gerufen und angewiesen zu werden, umgehend durchs halbe Land zu fahren, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

»Hatten Sie einen guten Flug, Mr. Silver?«, erkundigte er sich, während er unnötigerweise Silvers Gurt überprüfte.

Silver brummte. Er wollte nicht reden; er brauchte Zeit zum Nachdenken. Er sagte: »Fahren Sie hinüber zum Taxistand.«

»Sie brauchen heute Nacht kein Taxi, Mr. Silver.«

»Das Taxi ist für Sie. Ich nehme den Wagen.«

Der Fahrer drückte den Handballen gegen das Lenkrad und spreizte die Finger ab. »Das würde Mr. Hudson nicht gutheißen, Sir.«

»Welchen Teil meines Befehls haben Sie nicht verstanden?«

Der junge Mann kaute einen Augenblick auf seiner Lippe herum und fuhr dann voller Unbehagen zum Taxistand vor dem neonbeleuchteten Flughafengebäude. Er begann erneut zu protestieren, aber Silver stieg aus, ging zur Fahrerseite hinüber und baute sich neben ihm auf, bis auch er ausstieg. Sogleich schob er sich auf den warmen Sitz. Bevor der junge Mann etwas sagen konnte, zog Silver die Tür zu und fuhr davon. Als er zum Ende des Taxistands kam und in Richtung

Flughafenausfahrt einbog, stand der junge Mann noch immer in der eiskalten Nacht, und der Schirm seiner flotten Mütze glänzte im Neonlicht. Er sah nicht mehr großspurig aus. Jetzt machte er einen sorgenvollen und niedergeschlagenen Eindruck, und sein Blick folgte dem Jaguar den ganzen Zubringer entlang, bis Silver auf die Autobahn einbog und in Richtung Süden verschwand.

Silver spürte, wie sich seine Stimmung hob, sobald er die Auffahrt zur Autobahn vor sich sah. Er war ein bisschen betrunken und high, aber er fuhr flüssig und gut; geräuschlos wie eine große Eule glitt der Wagen die leere Straße entlang. Zu dieser nächtlichen Zeit würde er keine zwei Stunden brauchen. Um fünf oder sogar etwas früher würde er da sein. Sicher, das war sehr früh am Morgen, und trotzdem überlegte er – bloß einen Augenblick lang –, ob es nicht zu spät sein könnte. Seine Bauchmuskeln spannten sich. In der düsteren Höhle des Wagens lächelte er in sich hinein: Lampenfieber. Matt Silver hatte Lampenfieber. Das wäre ein gefundenes Fressen für die Zeitungen gewesen! Und damit kehrte die ganze alte Selbstsicherheit zurück, seine Stimmung besserte sich und die Zweifel fielen von ihm ab. Er konnte auf seine Selbstsicherheit einschlagen, doch irgendwo in ihm war sie immer zu finden. Schließlich war dieser Auftritt wichtig: Den würde er nicht vermasseln. Er gab Gas, und der Jaguar schoss vorwärts. Er hatte alles unter Kontrolle. Er hatte das Sagen. Genau so mochte er es.

Kapitel 8

Lauren wurde durch den dumpfen Aufschlag des leeren Glases auf dem Teppich aufgeschreckt. Sie fühlte sich elend und verwirrt. Die Zunge klebte ihr am Gaumen, und ihr Genick schmerzte. Sie blickte auf die Uhr, konnte sie aber in der Dunkelheit nicht lesen. Die pelzigen grünen Ziffern auf der Digitaluhr auf dem Tisch sagten ihr, dass es 4 Uhr 37 war.

»O Gott.« Sie tastete nach der leeren Wodkaflasche. Sie war tatsächlich leer. »Verdammt noch mal!«

Vielleicht konnte sie noch bis zum Morgengrauen warten. Sie sehnte sich nach ihrem warmen Bett, nach der Sicherheit zu wissen, wo sie morgen früh aufwachen würde, egal, ob mit oder ohne Kater. Sie wusste, dass die Leute sie für robust und zänkisch hielten, aber in diesem Moment konnte sie sich überhaupt nicht erklären, warum. Sie wollte absolut nicht in diese leere Dunkelheit hinausgehen und eine kalte Welt von Fremden und deren unbekannte Häuser betreten. Vielleicht konnte sie es wirklich bis morgen aufschieben, bis nach Weihnachten, bis Neujahr. Aber eine Stimme in ihr sagte: Geh jetzt. Geh ins Kinderzimmer, wickle die Zwillinge in ihre Bettdecken und steck sie ins Auto. Nimm dir nicht die Zeit, ihre Spielsachen oder das Essen oder deinen Schmuck oder deine Kleider zusammenzupacken. In einem Zug zum Auto hinaus, ein Kind unter jedem Arm. Geh jetzt. Sie drehte sich um, die Flasche noch immer in der Hand, und wollte zur Tür.

»Hallo, Silvergirl«, sagte er, »komm ich zu spät zur Party?« Er stand lässig gegen den Türrahmen gelehnt, unrasiert, ungekämmt, dieses Lächeln im Gesicht, und Autoschlüssel baumelten von seiner Hand. Sie war unfähig zu reagieren. Er neigte den Kopf fragend in ihre Richtung, und selbst darin besaß er eine tigerhafte Anmut. »Ich bin zurückgekommen, Laurie.«

»Zurück?«

»Zurück, wegen Weihnachten. Nach Hause.« Er richtete sich auf. »Wahrscheinlich glaubst du mir nicht. Ich mach dir keine Vorwürfe.«

»Nach Hause«, wiederholte sie einfältig, schloss die Augen und fuhr sich mit einer Hand durch das zerzauste Haar.

Er schien einen Augenblick zu zögern, dann machte er zwei große Schritte auf sie zu. Als er sie berührte, merkte sie, wie sie zurückschreckte, und sie wusste mit absoluter Sicherheit, dass hier etwas entsetzlich schief lief.

»Nein«, sagte sie. Sie fasste hinter sich, um sich aus seiner Umarmung zu lösen, merkte, dass sie noch immer die leere Wodkaflasche in der Hand hatte, und sie warf sie auf einen Sessel. »Nein, Matthew.« Sie stieß ihn weg, richtete sich auf und strich ihre Kleider glatt. »Du kannst hier nicht einfach wieder hereinschneien wie ein Zauberkünstler. Ein Blitz, ein Knall und eine Rauchwolke. Das soll auf einen Schlag alles ändern.«

»Aber sicher kann ich das, Laurie.« Wieder zeigte er ihr dieses Lächeln. »Ich hab es einfach getan.«

Jetzt erst bemerkte sie seine Augen. »Du bist ja high, Matthew. Bist du in diesem Zustand etwa gefahren?«

»Ich bin vor meinem großen Auftritt nervös geworden.« Er lachte. »Ich! Deshalb habe ich draußen auf der Straße eine Linie eingestrichen. Nicht der Rede wert.«

Sie schüttelte den Kopf, um klar zu werden. »Ich verstehe nicht. Wie bist du hergekommen?«

»Ich habe die Tournee abgesagt.«

»Du hast was?«

Er verbeugte sich tief wie ein Zauberer nach einer gelungenen Nummer. »Hab sie abgesagt. Finito.« Grinsend rieb er sich die Hände, mit sich selbst höchst zufrieden. »Alles vorbei.« Dann fuhr er in verändertem Tonfall fort: »Alles wird sich ändern, Laurie, ich versprech’s dir.« Sie schwieg, und nach einem kurzen Augenblick fügte er hinzu: »Müssen wir hier wie Fremde herumstehen?«

Sie tastete hinter sich nach einem Sessel und setzte sich auf die Wodkaflasche. Sie zog sie unter sich hervor, ließ sie fallen und beobachtete, wie sie über den Teppich rollte. Er setzte sich auf den Lederdrehstuhl am Schreibtisch. Sie fühlte sich leer, ihr war übel. Selbst jetzt wollte ein Teil von ihr alles vergessen, aufgeben. Aber seine Selbstsicherheit reizte sie. Ihr Leben war ein Scherbenhaufen, und sein unglaublicher Optimismus war eine Beleidigung.

»Das hast du alles einstudiert, nicht?«, sagte sie. »Du hast diese Szene so oft durchgespielt, dass du tatsächlich glaubst, sie geht so aus, wie du es möchtest.«

»Laurie, das spielt doch keine Rolle. All das Zeug, was vorher war. Glaub mir. Wichtig ist nur, dass das alles vorbei ist.«

»Einfach so?«

»Genau. So erledige ich solche Sachen, Laurie. Einfach so.«

»Und wie ist es mit meiner Art, solche Sachen zu regeln?«

»Laurie. Lass uns nicht streiten. Nicht jetzt.«

»Warum nicht jetzt? Wir können ja sonst nicht streiten. Du bist ja nie da.«

»Laurie, du verstehst mich nicht. Das ist alles vorbei. Aus und vorbei. Hinter uns.«

»Nein, Matthew. Das ist es, was vorbei und vergangen ist und hinter uns liegt. Das. Wir.«

Plötzlich sah er müde aus. »Sag nichts, was du hinterher bereust, Laurie. Ich erwarte nicht, dass es einfach wird. Aber lass uns nichts überstürzen.«

»Überstürzen?« Sie hörte sich lachen, ein kurzer, hässlicher Laut. »Das ist nicht überstürzt, Matthew. Das hat das verdammte Leben lang gedauert.«