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Man merkt erst, was man hatte, wenn es zu spät ist … Der Schicksalsroman »Wo die Unendlichkeit beginnt« von Tim Griggs jetzt als eBook bei dotbooks. Menschenleben zu retten ist seine Berufung – doch manchmal kommt jede Hilfe zu spät … Dr. Michael Severin hat viele Opfer gebracht, um das Richtige zu tun: Als freiwilliger Rettungsarzt in Katastrophengebieten leistet er tagtäglich seinen Beitrag für eine bessere Welt. Doch seine eigene Frau kann er nicht vor dem Tod bewahren. Als Caitlin in London stirbt, ist Michael entsetzt: War es ein Unfall – oder kann jemand Caitlin wirklich so sehr gehasst haben, dass er sie ermordet hat? Um dieser Frage nachzugehen, muss er sich der Realität seiner Ehe stellen, egal wie sie aussieht. Wird die Wahrheit Michael helfen, den Schmerz zu verkraften – und gibt es für ihn noch die Hoffnung auf einen Neuanfang? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der berührende Roman »Wo die Unendlichkeit beginnt« von Tim Griggs beschreibt ein herzergreifendes Familienschicksal. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 671
Über dieses Buch:
Menschenleben zu retten ist seine Berufung – doch manchmal kommt jede Hilfe zu spät … Dr. Michael Severin hat viele Opfer gebracht, um das Richtige zu tun: Als freiwilliger Rettungsarzt in Katastrophengebieten leistet er tagtäglich seinen Beitrag für eine bessere Welt. Doch seine eigene Frau kann er nicht vor dem Tod bewahren. Als Caitlin in London stirbt, ist Michael entsetzt: War es ein Unfall – oder kann jemand Caitlin wirklich so sehr gehasst haben, dass er sie ermordet hat? Um dieser Frage nachzugehen, muss er sich der Realität seiner Ehe stellen, egal wie sie aussieht. Wird die Wahrheit Michael helfen, den Schmerz zu verkraften – und gibt es für ihn noch die Hoffnung auf einen Neuanfang?
Über den Autor:
Tim Griggs (1948 – 2013) studierte Englisch und Archäologie in Leeds und London. Nachdem er mehrere Jahre lang in Afrika, Asien und Australien gelebt hatte, kehrte er 1997 nach England zurück. Dort lebte er mit seiner Frau in Oxford.
Tim Griggs veröffentlichte bei dotbooks bereits »Die Melodie der Hoffnung«.
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eBook-Neuausgabe März 2020
Dieses Buch erschien bereits 2003 unter dem Titel »Die Versöhnung« beim Scherz Verlag
Copyright © der englischen Originalausgabe 2003 by Tim Griggs
Die englische Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »The End of Winter«.
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2003 by Scherz Verlag, Bern
Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Anastasiya Domnitch / Pajor Pawel / biletskiyevgeniy.com / alex-popov / Anton Watman
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-96148-866-7
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Tim Griggs
Wo die Unendlichkeit beginnt
Roman
Aus dem Englischen von Theresia Übelhör
dotbooks.
Für Jenny:
»Denn wie sollte ich die Weisheit vergessen, die du brachtest, den Trost, den du gespendet hast?«
W B. Yeats
Es war der Abend der letzten Abschiedsparty für meinen Vater.
So habe ich es jedenfalls in Erinnerung.
Meine Hausaufgaben lagen ausgebreitet vor mir auf dem Küchentisch. Die drei, die inzwischen seit zwei Stunden aus dem Restaurant zurück waren, wurden im Wohnzimmer immer ausgelassener. Sie wieherten vor Lachen, und ihre nervtötende Musik war zu laut aufgedreht, und sie unterhielten sich lautstark über sie hinweg und hörten einander gar nicht zu. Ich hasste es, wenn sie sich so benahmen. Ich hasste dieses heruntergekommene gemietete Haus. Ich hasste die grellbunten Schulbücher auf dem Küchentisch vor mir mit ihren Cartoons junger Leute, die Sport trieben, flirteten und idiotisch lächelten und mit denen ich mich identifizieren sollte. Mir war gar nicht nach Lächeln zu Mute. Mein Vater würde in zehn Stunden nach Afrika fliegen. Er würde monatelang an irgendeinem wilden und abgelegenen Ort sein, wo Männer mit Speeren jagten und die Sonne erbarmungslos auf verdorrtes Buschland herunterbrannte. Und er würde mich nicht mitnehmen. Ich war dreizehn. Ich hielt es für durchaus wahrscheinlich, dass ich nie wieder lächeln würde.
Die Musik war zu Ende, und Anthony rappelte sich auf die Füße. Seine plumpe Pinguingestalt füllte den ganzen Türspalt aus, durch den ich sehen konnte. Er konnte noch keine vierzig sein, aber er kleidete sich trotzdem richtig altmodisch – zerknitterter Nadelstreifenanzug mit Einstecktuch.
Er erhob sein Glas. »Auf Duncan.«
Seine Stimme war volltönend, so wie sie es immer nach ein paar Brandys wurde. Ich konnte meinen Vater beinahe hören, wie er ihn nachäffte. Er war ein hervorragender Imitator und verschonte niemanden, am allerwenigsten seinen ältesten Freund.
»Auf Duncan«, sagte Anthony noch einmal feierlich und zwinkerte wie eine Eule.
Ich knallte mein Buch zu, in der Hoffnung, sie würden es hören und es würde ihre blöde Party stören. Meine Mutter starrte mich unter Anthonys erhobenem Arm hervor an. In diesem Blick lag etwas Feindliches. Auch sie würde meinen Vater in ein paar Stunden verlieren, und sie war nicht gewillt, mir diese Stunden abzutreten. Sie wandte sich um, und der Trinkspruch wurde, begleitet vom Klirren der Gläser und weiterem Gelächter, wiederholt, und mit einem Mal war die Party zu Ende. Einen Augenblick später kamen sie auf ihrem Weg zur Hintertür in die Küche gepoltert, laut und erhitzt und von dem helleren Licht geblendet.
Anthony strahlte hinter seinen Brillengläsern, nahm aber zu keinem wirklich Blickkontakt auf. Er schlüpfte unbeholfen in seinen Mantel, seine Bewegungen alle ein bisschen zu weit ausholend. Ich wusste, dass er trotz der Ausgelassenheit traurig war über den Abschied. Es gab Zeiten, da fand ich Anthony lächerlich, aber er tat sein Bestes, mir ein Freund zu sein, wenn mein Vater fort war, und jetzt verspürte ich einen Anflug von Zusammengehörigkeitsgefühl mit ihm.
»Wir werden schon dafür sorgen, dass es ihnen gut geht, nicht wahr, Michael, alter Junge?« Anthony berührte zögernd meine Schulter. Er war Junggeselle und den Umgang mit Kindern nicht gewöhnt. »Deiner Mutter und den Kleinen. Wir werden anstelle des furchtlosen Abenteurers ein Auge auf sie haben, nicht wahr?«
Ich gab keine Antwort. Plötzlich war ich den Tränen nahe, und mir war klar, dass Anthony das wusste.
»Taten, mein Junge«, forderte er mich mit dröhnender Stimme in seiner typisch schroffen Art auf, vielleicht um die Aufmerksamkeit von mir abzulenken. »Genau das ist nötig, um unseren Geist zu beschäftigen. Kühne Taten!«
Das sagte Anthony häufig, aber seiner Vorstellung von kühnen Taten entsprach eine Fahrt zur Oper oder ein Ausflug zu irgendeinem Trödelmarkt. Beides übte keinen großen Reiz auf mich aus. Er stand da und schaute weniger als irgendjemand sonst, den ich bis dahin kennen gelernt hatte, wie ein Mann aus, der zu kühnen Taten fähig ist. Aber dann küsste meine Mutter ihn flüchtig auf die Wange und zog seinen Mantel fürsorglich um ihn, schob ihn zur Hintertür und sagte ihm, das Taxi würde nicht ewig warten.
Sie riefen sich Auf Wiedersehen zu, und ein Wirbel kalter Luft drang herein, als die Tür geöffnet wurde, dann eilige Schritte auf dem Weg und ein Auto, das davonfuhr. Meine Mutter lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür, um sie gegen den winterlichen Wind zuzudrücken, und rieb sich über ihre nackten Arme, um sich zu wärmen. Ihr Lächeln erstarrte. Sie schaute mich nicht an. Ihre Augen waren auf die meines Vaters gerichtet. Er stand gegen die Wand gegenüber gelehnt, rauchte eine Zigarre, musterte die Knöchel seiner rechten Hand und betrachtete sie nachdenklich. Ich wusste, dass dies der Augenblick war, vor dem sie sich gefürchtet hatte, wenn die letzte Ablenkung verschwunden war und sie ihn klar sah, mit dem klaren Bewusstsein, dass er bald schon wieder fort sein würde.
»Geh schon hoch, Pat«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Ich komme gleich nach.«
Sie ging direkt an ihm vorbei aus der Küche. Sie sagte nichts. Ihr Rücken war unnatürlich gerade, als sie durch das Wohnzimmer verschwand, und die Lautstärke und der Rhythmus ihrer Schritte auf der Treppe verrieten eine unglückliche Eindringlichkeit.
Mein Vater sah mich durch den Rauch seiner Zigarre hindurch an. Er war hager und von seiner letzten Reise noch immer braun gebrannt, und dies, sowie die Zigarre, gab ihm für einen Augenblick das Aussehen eines Outlaws in einem alten Western. Er zog die Mundwinkel herunter und runzelte die Stirn. Das kannte ich: Männersolidarität angesichts weiblicher Theatralik. Ich hasste ihn wegen dieser offensichtlichen taktischen Spielchen, hasste seine Zweideutigkeit und seine lässige Selbstsicherheit, ja sogar sein gutes Aussehen. Alle sagten, ich hätte dieses Aussehen geerbt, aber in diesem Augenblick hoffte ich inständig, das möge nicht stimmen. Ich wollte gar nichts von ihm haben. Ich wusste, dass seine Sehnsucht fortzukommen größer war als meine, dass er bliebe, und das hasste ich am allermeisten.
Er schaute auf die Zigarre in seiner Hand, als habe er sie zuvor nicht bemerkt. »Ich weiß gar nicht, warum ich diese scheußlichen Dinger rauche«, sagte er. »Es ist der verdammte Anthony Gilchrist, der mich dazu verleitet.« Er blickte sich um, suchte nach einem Aschenbecher, konnte in der Küche keinen finden und ging wieder ins Wohnzimmer. Offenbar fand er dort einen, denn als er zurückkam, die Lippen in gespieltem Ekel vor dem Geschmack gespitzt, hatte er die Zigarre nicht mehr in der Hand. Er zog den Stuhl mir gegenüber zurück und setzte sich.
»Versteh mich doch«, sagte er in einem Ton, den er mir gegenüber bisher noch nie angeschlagen hatte. »Du musst das begreifen. Es ist mein Job.«
»Du könntest dir, verdammt noch mal, einen anderen Job suchen.« Meine Stimme klang erstickt. Ich hatte in seiner Anwesenheit noch nie geflucht.
»Ich bin Projektingenieur, Mike«, sagte er müde. »Ich muss dahin gehen, wo die Projekte sind. Das bedeutet ja nicht, dass es mir gefällt, euch zurückzulassen. Das weißt du doch, nicht wahr?«
»Deb und Paul ist es egal, wenn du fortgehst. Sie sind ja noch klein. In zwei Tagen haben sie es vergessen.« Ich war erstaunt, mich selbst so reden zu hören. Mein Gesicht brannte, und meine Stimme schien von irgendwo anders zu kommen. »Und Mum hat ja die Möglichkeit, dich auf jeder deiner Reisen zu besuchen.«
»Das sind keine Ferienreisen, Mike. Kein Spaß. Das würde dich langweilen.« Er langte über den Tisch, zog eines meiner Schulbücher zu sich und blätterte die Seiten durch, als habe er noch nie ein Wörterbuch gesehen. »Du wirst bald wieder in der Schule sein«, sagte er, um sich selbst zu beruhigen. »Dann ist alles in Ordnung.«
Ich warf ihm einen wütenden Blick zu und sagte nichts. Es hatte keinen Zweck. Die Kluft war zu groß. Ich dachte an das graue Internat in den Midlands und stellte mir im Gegensatz dazu die Welt vor, in die er reiste – heißer Staub, Fahrten in Allradautos, smaragdgrüne Wälder und kaffeebraune Flüsse. Wie konnte er nur auf den Gedanken kommen, dass ich lieber mein Leben führte, als an seinem teilzuhaben? Es hatte keinen Zweck, mit jemandem zu reden, der so wenig kapierte.
»Haben sie dir jemals etwas über Odysseus beigebracht, Mike?«, fragte er plötzlich und schob das Wörterbuch zur Seite.
»Den von Joyce oder den Griechen?«
Er verzog das Gesicht. »Das war nicht als Quizfrage gedacht. Den Griechen.«
»Was ist mit dem?«
»Er hat lange gebraucht, um vom Trojanischen Krieg nach Hause, nach Ithaka, zurückzusegeln. Neunzehn Jahre. Aber er ist schließlich zu seiner Frau und zu seinen Kindern zurückgekehrt. Als er bereit dafür war. Als die Götter bereit waren, ihn zurückkehren zu lassen.«
Ich sagte nichts. Ich hielt den Atem an.
»Ithaka gibt es wirklich«, sagte er, wie ich es irgendwie schon vorausgeahnt hatte. »Es ist eine griechische Insel. Im Ionischen Meer. Ich war immer der Meinung, es müsse etwas Besonderes sein, dorthin zu reisen.« Er lächelte. »Vielleicht sollten wir eines Tages alle zusammen dorthin fahren.«
»Wann?«, fragte ich hastig.
Von oben drang ein Geräusch herunter, gedämpft und undeutlich. Vielleicht war ein Ziergegenstand heruntergefallen. Wir beide hörten es, so wie es wohl beabsichtigt war, ein Signal, so fordernd wie das Zuknallen meines Schulbuchs. Mein Vater und ich warfen einen Blick zur Decke, dann schauten wir uns an, und ich wusste in diesem Augenblick, dass wir nie zusammen nach Ithaka oder sonst wohin reisen würden. Und von diesem Moment an konnte ich nichts mehr sagen.
Er streckte die Hand aus und drückte mein Handgelenk. »Ich muss mich darauf verlassen, dass du hier alles zusammenhältst, Mike.« Wieder lag dieser künstliche Unter-uns-Männern-Tonfall in seiner Stimme. »Ich muss wissen, dass du dich um alles kümmerst. Dich irgendwie um uns alle kümmerst. Bis ich wieder zurück bin. Nur für ein paar Monate. Dann sehen wir weiter.«
Ich konnte meine eigene Wut beinahe sehen, die wie Kohle in mir brannte. Aber mein Vater sah sie nicht. Er ließ mein Handgelenk los, stand auf und lächelte mich an, als hätten wir soeben alles gelöst. Dann ging er leise durch das Wohnzimmer, und ich hörte die Treppenstufen unter seinem Gewicht knarren. Als die Geräusche oben verstummten – laufendes Wasser, leise zugemachte Türen, der dumpfe Schlag von den Füßen gekickter Schuhe –, stand ich auf und ging leise ins Wohnzimmer. Ein paar leere Flaschen standen auf dem Tisch und Gläser mit Rotweinspuren auf den Armlehnen der Sessel. Das Zimmer stank nach Zigarrenrauch. Vor dem Gaskaminfeuer lag ein aufgeschlagener Atlas auf dem Boden, zeigte eine leuchtend bunte Landkarte von Afrika. Ich schaltete das Kaminfeuer und die noch laufende Stereoanlage aus, nahm zwei Gläser und brachte sie in die Küche, ich stellte sie auf die Spüle und machte dann die Lichter aus. Lange Zeit stand ich da und lauschte dem Knacken des abkühlenden Kaminfeuers und dem heftig gegen das Küchenfenster blasenden Wind.
Ich machte die Hintertür auf und trat in die Winterkälte hinaus. Eine wilde Nacht, eine Nacht für Straßenräuber, mit schwarzen Bäumen, die in den Vorstadtgärten schwankten, und Schneeregen, der waagrecht zwischen den Häusern hindurchfegte. Ich schauderte, aber ich war frei, ich war ein Geist, ein freier Geist in Nacht und Sturm, ein Teil davon, vielleicht das Herz davon. Ich war von unbändigem Trotz erfüllt. Mich um sie kümmern? Sollten sie sich doch um sich selbst kümmern! Ich drehte den Schlüssel hinter mir im Schloss und rannte blindlings davon, die leere schwarze Straße hinunter.
Es war unheimlich still, stiller als es hätte sein sollen: keine Stimmen, kein Klappern vom Graben, kein Rumpeln von Bulldozern oder Baggern. Das Erdbeben hatte die Gebäude auf beiden Seiten zu niedrigen Schuttbergen zusammenstürzen lassen. Gelber Staub hing in der Luft, der nach Zement und – inzwischen noch stärker – nach Verwesung roch. Wir standen neben dem Jeep und schauten uns um. Auf meinem Rücken sammelte sich in der zunehmenden Hitze der Schweiß.
Stellas Stiefel knirschten auf dem Splitt, als sie sich hinter mir bewegte, ein fast unmerkliches Signal, um mich daran zu erinnern, dass sie da war – teils Beruhigung, teils Ungeduld. Ohne sie anzusehen, legte ich mir die Hand über die Augen. Weit unter uns, auf der zerstörten Straße nach Caracas, stand der Truck von Patrick und Julio mit der Ausrüstung noch immer so leuchtend zwischen Zuckerrohrfeldern in der Sonne, dass es in den Augen wehtat. Selbst von hier aus konnte ich ihre ameisengleichen Gestalten ausmachen, die um das liegen gebliebene Vehikel herumliefen. Patrick, der Logistikspezialist, war ein korrekter Mann, der erwartete, dass die Dinge funktionierten – die Fahrzeuge, die Technik und die Menschen. Er würde wegen der Panne wütend und frustriert sein. Ich konnte mir vorstellen, wie er fluchte und gegen die Reifen trat.
Ich wandte mich an den Fahrer. »Ist das der Ort?«
Er murmelte zweifelnd etwas auf Spanisch und suchte nach seiner Straßenkarte. Das Geräusch des knisternden Papiers war in der Stille des angespannten Wartens sehr laut. Ich wusste, dass es der richtige Ort war, aber ich wollte Zeit zum Nachdenken gewinnen. Ich wollte nicht hier inmitten dieser Trostlosigkeit stecken bleiben, mit dem Rest des Teams liegen geblieben und außer Reichweite. Stellas Augen auf meinem Rücken passten mir nicht. Mir passte auch der Gedanke an das, was man möglicherweise von uns erwartete und was wir nicht würden leisten können, nicht.
Ich hörte schwere Stiefelschritte, und ein venezolanischer Major kam um den Rand des Schuttbergs auf uns zu. Es kam mir so vor, als sei er aus dem Nichts aufgetaucht. Er war ein sehr großer Mann, ein paar Zentimeter größer als ich, und hätte eine einschüchternde Gestalt sein können. Doch als er näher kam, konnte ich sehen, dass seine Augen matt vor Müdigkeit und seine Haut und seine Haare mit Staub und Schweiß bedeckt waren. Er hatte sich ein khakifarbenes Halstuch über den Mund gebunden, und das sowie die Pistole im Halfter an seiner Hüfte verlieh ihm das Aussehen eines Banditen aus einem Comicheft. Ich trat ein paar Schritte vor, um ihn zu begrüßen, aber im letzten Augenblick rief irgendjemand, der nicht zu sehen war, etwas, und ein Hund jaulte aufgeregt, und der Major hob die Hand wie ein Polizist, der den Verkehr regelt, und ich blieb wie angewurzelt stehen. Der unsichtbare Hund fing wieder zu bellen an, dieses Mal eindringlicher.
Der Major zog das Halstuch herunter und rief über seine Schulter hinweg, doch ohne den Blick von mir zu wenden: »Qué pasa?«
Die Antwort kam undeutlich, aber triumphierend, und jetzt waren mehrere Stimmen zu hören, aufgeregte Stimmen, allerdings konnte ich die Worte nicht verstehen. Der Major hielt, während er zuhörte, weiter die Augen auf mich gerichtet.
»Ich bin Michael Severin«, sagte ich. Ich tippte auf das ÄRZTE OHNE GRENZEN-Emblem auf meinem Kittel. »Man müsste uns erwarten.«
Der Major schaute ausdruckslos von mir zu Stella. Das Stimmengewirr hinter ihm war weiter zu vernehmen. Er sagte: »Sie sind gekommen, um uns zu helfen?« Er schien das nicht glauben zu können, vielleicht amüsierte es ihn sogar, und einen Augenblick sah ich die hoffnungslose Ironie der Situation so klar wie er: Ein Mann und eine Frau gegen ein Erdbeben.
»Es kommen noch zwei mehr«, sagte ich und realisierte, wie schrecklich absurd das klang, »aber der Truck ist unten im Tal liegen geblieben.«
Er reckte zur Bestätigung, dass er verstanden hatte, das Kinn. Er zeigte keine Überraschung über unsere Probleme. Sie müssen ihm im Vergleich zu dem, was er in den letzten zwei Tagen erlebt hatte, wahrlich unbedeutend vorgekommen sein. Sein Name – P. Rivera – stand in weißen Buchstaben auf einem schwarzen Plastikschild auf seiner Hemdentasche. Er schaute wieder auf mein ÄRZTE OHNE GRENZEN-Abzeichen.
»Sind Sie Franzose?« Er klang, als bereite ihm das Schmerzen, als sei dieses Detail wieder so etwas Verrücktes in einer Welt, die ohnehin schon verrückt genug war. »Die schicken Ärzte aus Frankreich zu uns?«
»Wir sind ein britisches Team.«
Er starrte mich verständnislos an.
Ich sagte: »Sollen wir anfangen?«
»Ja, vielleicht.«
Der Major machte einen Schritt, dann fiel ihm etwas ein. Er schaute von mir zu Stella und richtete sich zu voller Größe auf. »Ich muss ... ich will Ihnen danken. Dass Sie zu uns gekommen sind. Für den Fall, dass das später vergessen wird. Für den Fall, dass es nicht ausgesprochen wird.« Zu meiner Verlegenheit salutierte er zackig und hielt die Hand ganze fünfzehn Sekunden gegen die Schläfe. Ich hörte, dass Stella sich hinter mir verlegen rührte. Ich wollte gerade etwas Flapsiges sagen, aber als ich aufblickte, sah ich, dass Major Rivera Tränen in den Augen standen.
Der Hund kletterte als Erster aus dem Loch, ein braunweißer Spaniel, der mit sich zufrieden war und freudig mit dem Schwanz wedelte. Er wirkte hier deplatziert, dachte ich, wie der Schoßhund einer älteren Dame. Nach dem Spaniel tauchte ein Unteroffizier auf, der von seinen Kameraden ans Tageslicht gezogen wurde. Er spuckte Dreck aus. Jemand reichte ihm eine Feldflasche, und er trank daraus, hustete, spuckte wieder und fing an, schnell auf Spanisch zu reden und dabei zu gestikulieren.
»Er sagt, da sei ein Tunnel unter der Kirche«, erklärte mir der Dolmetscher. »Nicht sonderlich lang. Er hat ein Markierungsband zurückgelassen. Der Hund hat einen Mann aufgespürt ...« Er legte eine Pause ein, um auf die schnellen Aussagen des Unteroffiziers zu hören. »Er glaubt, es ist nur einer. Ein alter Mann, sagt er.«
»Ein toter Mann?«
»Nein, nein. Er redet. Betet vielleicht. Ist eingeklemmt. Vielleicht ist es Pater Rafael. Der Soldat konnte nicht näher herankommen, sagt er. Der Tunnel ist gefährlich. Wasser steht drin. Und er sagt, dass er gespürt hat, wie sich die Felsen bewegten.« Der Dolmetscher starrte mich weiter mit ausdruckslosen Augen an. »Ich glaube, er hatte Angst, weiter zu gehen, der Soldat.«
»Sagen Sie ihm, dass ich ihn für einen Helden halte.«
Der Dolmetscher tat, worum ich ihn gebeten hatte, aber der Unteroffizier senkte nur den Kopf und hockte sich hin, um den Hund zu kraulen. Er wusste, dass er kein Held war, und ich kam mir wie ein Dummkopf vor, weil ich das gesagt hatte. Ich ging durch die kleine Ansammlung von Soldaten und Dorfbewohnern hindurch und kauerte mich neben das Loch. Jetzt stand die Sonne hoch am Himmel und wurde von dem geborstenen Mauerwerk zurückgestrahlt. Die Tunnelöffnung war samtschwarz, und eine leichte Staubwolke stieg daraus auf. Ich hörte das Knirschen und Rasseln von Grabungsgeräten, die nicht weit entfernt eingesetzt wurden, und in der Ferne ganz schwach das Klappern der Rotoren eines Hubschraubers, der von der Stadt herauf geknattert kam. Aber ich war mir der Stille der Männer und Frauen um mich herum bewusst. Ich hörte hinter mir Schritte, und Stella legte die Hand auf meine Schulter.
»Vielleicht gelingt es ihnen, von oben an ihn heran zu kommen.« Ihr schottischer Akzent kam ganz deutlich durch, kühl, sachlich, als würde sie im Pub zu Hause einen Drink bestellen. Es war beinahe komisch, das hier zu hören, an diesem Ort, wo es um ein Menschenleben ging.
Ich sagte: »Ach ja?« Ich rappelte mich auf und wischte mir den Staub von den Händen.
»Du weißt, wir müssen das nicht machen.« Jetzt benutzte sie ihre schulmeisterliche Stimme. »Ich sag es dir geradeheraus, Michael, ich bin dagegen. Wir sind nur das Team, das die Schäden feststellt. Wir sollten zumindest auf den Truck warten. Warten, bis die anderen da sind.«
Aber an ihrem Tonfall konnte ich erkennen, dass sie sich schon entschieden hatte.
Es war erstickend heiß in dem Tunnel und der Gestank so stark, dass ich ein paar Sekunden anhalten musste, um meinen Magen unter Kontrolle zu bekommen. Die Dunkelheit vor mir war so undurchdringlich, dass ich glaubte, sie auf meinem Gesicht zu spüren. Ich knipste die Taschenlampe an, und sie warf einen weißen Strahl in den Tunnel, traf auf uralte Balken und zerbrochene Backsteine und ein Wirrwarr von heruntergestürzten Bodenplatten, die in verrückten Winkeln kreuz und quer übereinander gekippt waren. Das Band des Unteroffiziers führte an der unteren Kante eines gefliesten Bodenstücks vorbei, das in das herabgestürzt war, was einmal die Krypta gewesen sein musste. Auf einer Seite hielt ein Backsteingewölbe den Schutt zurück, und ein Durcheinander aus Holzbalken und Beton bildete die rohe Decke. Auf allen vieren kroch ich weiter. Wenn ich meinen Kopf senkte, hatte ich noch ein paar Zentimeter Luft über mir. Ich fing an, mir einzureden, dass es nicht so schlimm werden würde, aber jedes Mal, wenn ich diese Worte in Gedanken wiederholte, wurden sie weniger überzeugend.
Ich konnte Stella hinter mir her kriechen hören, und mein Atmen klang laut in meinen Ohren. Ich hielt an und zwang meinen Körper stillzuhalten, streckte die Hand nach hinten und gab Stella ein Zeichen, leise zu sein, und lauschte auf die Geräusche um mich herum. Ein Klicken meines Gurtzeugs, als sich eine Schnalle bewegte. Wasser, das irgendwo in der Nähe plätscherte. Ganz unbewusst fasste ich in mein Hemd und tastete nach der Kette, an der mein Talisman hing. Der alte Sicherheitsschlüssel war im Laufe der Jahre, die ich ihn bei mir trug, zu glatter Bronze geworden, und ich rieb ihn auch jetzt wieder und fühlte, wie das meine Nerven beruhigte. Dann ein neues Geräusch, ein hoher, melodischer Ton, der wie ein Vogelruf mehrmals wiederholt wurde. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich ihn als menschliche Stimme erkannte.
Ich bewegte mich vorwärts. Das Markierungsband des Unteroffiziers war zu Ende. Der Tunnel verengte sich, sodass ich meine Schultern hindurchzwängen musste, und dabei löste ich ein kleines Rinnsal zerbröckelten Mauerwerks aus, und das Geräusch war in der Dunkelheit entsetzlich laut. Staub drang in meine Nase und meine Augen, ich bekam keine Luft, und als ich endlich wieder klare Sicht hatte, konnte ich sehen, wie der Staub im Strahl meiner Taschenlampe wirbelte und das Licht mattgelb färbte. Ich schwenkte den Strahl umher. Einen Meter zu meiner Rechten befand sich ein offener Steinsarkophag, vom Erdbeben zerbrochen, und der zusammengeschrumpfte Bewohner lag da und lachte mich durch elfenbeinfarbige bloßgelegte Zähne lautlos an. Ich hielt inne, mein Atem ging schwer.
Stella rief durchdringend: »Michael?« Sie kroch zu mir hin, und als sie das offene Grab sah, hielt sie die Luft an, wie ich es getan hatte. »Der hier hat eine Menge Blut verloren«, sagte sie.
Wieder kam die Stimme aus der Dunkelheit, unglaublich dünn, aber freudig, vielleicht ein Sprechgesang, vielleicht ein Loblied.
Ich sagte: »Ich kann ihn hören. Er singt.«
»Genau, was uns fehlt. Den ganzen Weg zurückzulegen, um einen verdammten Pavarotti auszubuddeln.«
»Wenn es Pavarotti ist, dann darfst du ihn tragen!«
Sie fasste mich am Arm. »Michael, glaubst du nicht, wir sind weit genug gegangen?«
»Was meinst du?«
»Du beantwortest eine Frage immer mit einer Gegenfrage. Wie kommt das?«
»Wieso fragst du das?«
»Es könnte weit genug sein, Michael«, sagte sie in anderem Tonfall.
»Ich kann ihn singen hören«, wiederholte ich, als sei dies schon Antwort genug. Darauf erwiderte sie nichts. Ich sagte: »Bleib hier und warte. Ich rufe dich, wenn du mir helfen kannst.«
Ein paar Meter machte der Tunnel Biegungen und fiel steil ab, dann öffnete er sich plötzlich zu einem großen Hohlraum. Ich registrierte, dass ich in Wasser stand – in vielleicht fünfundvierzig Zentimeter hohem erstaunlich kaltem Wasser – und dass sich der Geruch der Luft verändert hatte, dass sie nun unangenehm feucht war und stank.
Ich rief: »Pater Rafael? Können Sie mich hören?«
Pause. »Sind Sie Engländer?« Die Stimme des Mannes war klar und verblüffend nah.
»Ja, Engländer. Ich bin Arzt.« Ich dachte, es sei lächerlich, das zu sagen, aber mir fiel nichts Besseres ein.
»So?« Überraschenderweise fing die körperlose Stimme zu lachen an, ein harsches, keuchendes Geräusch. »Willkommen in meinem Land.«
Jetzt hatte ich ihn entdeckt, eine Bewegung vor der zerklüfteten Schuttwand, ganz unten, auf Höhe der Oberfläche des schwarzen Wassers: Der Umriss seiner Schulter, seines Arms, seines Kopfes, und jetzt das Weiß seiner Augen und Zähne.
»Seien Sie vorsichtig«, sagte der Mann. »Da ist ein Brunnen.«
Ich tastete mich voran und fand festen Boden unter den Füßen. Ich machte einen weiteren Schritt, dann noch einen. Dieses Mal verschwand mein Bein bis zum Oberschenkel in dem schwarzen Wasser, und es war entsetzlich kalt. Ich tastete mit dem Fuß nach dem Brunnenrand und vorsichtig um ihn herum, meinen Rucksack hinter mir herziehend, bis ich mich vor dem Mann niederkauern konnte.
»Pater Rafael?« Im Licht der Taschenlampe konnte ich sehen, dass das Gesicht des Priesters schwarz vor Schmutz war, hier und da durch heruntertropfendes Wasser von Streifen durchzogen, die Augen unglaublich groß und leuchtend. Er war ein ziemlich alter Mann, wie ich sah, kahl, mit einem faltigen und humorvollen Gesicht. Ich fragte mich, ob er wohl im Delirium war. Seine beiden Arme waren frei und offenkundig unverletzt, und der Großteil seines Oberkörpers war nicht von Schutt bedeckt, aber mehr konnte ich nicht erkennen. »Können Sie sich überhaupt bewegen, Pater? Spüren Sie Ihre Beine?«
»Zeigen Sie mir Ihr Gesicht«, sagte der Priester. Die Aufforderung überraschte mich, und als ich nicht sofort reagierte, tastete der alte Mann im Dunkeln, fand meinen Oberarm und packte ihn mit einer Klaue von einer Hand. »Ich würde gern das Gesicht eines anderen Menschen sehen«, sagte er.
Ich hockte mich auf die Fersen und leuchtete mir mit der Taschenlampe selbst in die Augen.
Pater Rafael musterte mich. Schließlich sagte er ganz leise: »Sie wissen, was es heißt, Angst zu haben, junger Mann.«
Ich antwortete nicht.
»Auch ich habe in diesen drei Tagen Angst gehabt«, sagte Pater Rafael. »Aber jetzt nicht mehr.«
»Sie brauchen jetzt keine Angst mehr zu haben.« Ich griff nach meiner Gürteltasche und zog geschäftig, hastig, den Reißverschluss auf, froh, etwas zu tun zu haben. »Jetzt können wir Ihnen helfen.« Dennoch war ich mir bewusst, dass es der Priester war, der mir Trost spendete, nicht umgekehrt. Ich verspürte ein starkes Bedürfnis weiterzureden. »Nun, da wir Sie gefunden haben, kriegen wir Sie hier auch raus.«
»Die Zeit zum Träumen ist vorbei«, antwortete Pater Rafael. »Das Wasser steigt. In einer Stunde, vielleicht weniger, werde ich ertrinken.«
»Wir kriegen Sie heraus«, wiederholte ich.
»Junger Mann, die Kirche liegt auf meinen Beinen. Und selbst Sie können die Heilige Mutter Kirche nicht innerhalb einer kurzen Stunde von der Stelle bewegen.« Wieder stieß Pater Rafael sein gepresstes, keuchendes Lachen aus. »Die Kirche ist ein Fels, nicht wahr? Und jetzt weiß ich, wie schwer der ist.«
Stella kam durch das seichte Wasser auf mich zugeplatscht, obwohl ich sie nicht gerufen hatte. Ich war sehr froh, ihre dunklen Umrisse im Lichtstreifen ihrer Helmlampe zu sehen, und meine Erleichterung ließ mich einen barschen Ton anschlagen.
»Pass auf den Brunnen auf«, sagte ich zu ihr. »Und überprüf Pater Rafaels Vitalfunktionen. Ich will mal sehen, was ihn einklemmt.«
Als wären wir gar nicht da, fing der alte Mann wieder an mit seiner dünnen Stimme zu singen, etwas auf Lateinisch, etwas Freudiges und Altes. Ich fuhr mit den Händen über seinen Körper, von seiner Hüfte an seinem rechten Bein hinunter. Es lag zum größten Teil unter der Wasseroberfläche. Direkt über dem Knie spürte ich eine Schwellung, die von einer Fraktur herrühren musste, obwohl er keinen Laut von sich gab, als ich sie betastete. Ich fuhr mit den Händen über sein linkes Bein. Es war in einem unmöglichen Winkel nach hinten verdreht, und dort, wo das Knie hätte sein sollen, glitten meine Finger in breiiges Fleisch, und ich spürte einen scharfen Knochen. Der alte Mann hörte auf zu singen, gab aber keinen Schmerzenslaut von sich. Ich schob mich hinter seinem Körper hindurch, und aus dieser Position konnte ich im Schein der Lampe sehen, dass das Bein von einer großen Mauerplatte zerquetscht war. Das offene Fleisch war bräunlich und aufgedunsen.
»Puls hundertdreißig und schwach.« Stella packte das Stethoskop in ihren Rucksack und sprach bewusst mit ausdrucksloser Stimme. »Blutdruck achtzig zu null. Er ist ziemlich dehydriert.« Nach einem Augenblick fuhr sie fort: »Vielleicht können wir Pumpen herschaffen. Den Wasserspiegel niedrig halten, bis Patrick mit dem Truck ankommt.«
»Nicht genug Zeit.« Ich schaute mich in der tropfenden Dunkelheit um. Eigentlich hätte ich es mir denken können, das Wasser war allem Anschein nach bereits gestiegen, seit ich angekommen war. Ich sagte: »Wir werden ihm das Bein abnehmen müssen, um ihn hier rauszukriegen.«
Stella antwortete nicht, aber ich konnte aus ihrem Schweigen Missbilligung heraushören. Ich wusste, dass sie die alten, unausgesprochenen Fragen stellte, die immer über Entscheidungen wie dieser hier hingen: Sind die zusätzlichen Schmerzen gerechtfertigt? Wer würde davon profitieren? Ich sagte: »Es ist eine Art Entfesselungsaktion, denn ich komme nur mit Mühe an die gequetschte Stelle heran. Mit ein bisschen Glück können wir es unter intravenös gespritztem Midazolam und Fenantyl machen. Hol die Sachen aus dem Jeep. Ich bleibe hier bei ihm.«
Sie zögerte kaum länger als eine Sekunde, dann wandte sie sich um und platschte durch den Tunnel davon. Dieses Platschen war vielleicht das einsamste Geräusch, das ich je gehört hatte. Ich fragte mich, wie der Priester drei Tage in dieser Dunkelheit, inmitten dieser ganzen Verwüstung hatte überleben können. Ich holte tief Luft und fasste mich.
»Ich muss Ihnen erklären, was wir versuchen werden, Pater. Ich will nicht so tun, als blieben uns viele andere Möglichkeiten.«
Wieder streckte sich die knochige Hand aus. »Warum sind Sie hierher gekommen, junger Mann?«
»Das ist mein Job.«
»Mich zu retten?«, beharrte der Priester. »Sind Sie deshalb gekommen? Aber Sie haben mich schon gerettet – davor, allein zu sterben, ohne noch einmal das Gesicht eines guten Menschen gesehen zu haben. Aber deshalb sind Sie nicht gekommen. Nicht nur deshalb.«
Die Eindringlichkeit seiner Worte ließ mich innehalten und ihn ansehen. Das Licht fing sich in den Augen des Priesters, und das Weiße glänzte in der Dunkelheit wie Porzellan. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass dieser Mann mehr über mich wusste, als er eigentlich hätte wissen können. Ich spürte, wie sich mir die Nackenhaare aufstellten.
»Wir haben eine Chance«, sagte ich und versuchte, meine Stimme fest klingen zu lassen. »Aber ich muss Ihnen ...«
»Sie können uns nicht alle retten, junger Mann«, sagte Pater Rafael. »All die Leidenden und Kranken und Eingeschlossenen. All die Opfer.«
Ich konnte mich selbst in der Dunkelheit keuchen hören. »Aber ich muss es versuchen«, flüsterte ich. »Verstehen Sie nicht? Ich muss es versuchen.«
Der alte Mann lächelte, seine wenigen Zähne glänzten, und der Griff seiner Hand umschloss meinen Arm wie ein Nussknacker. »Mein junger Freund«, sagte er, »wir sitzen beide in der Falle.«
Ich hörte Stella hinter mir durch das Wasser platschen, und ihre Stimme hallte durch den Tunnel, angespannt vor Angst. »Michael? Hast du das gespürt?«
Über das Pochen meines Pulses konnte ich nichts hören. War da etwas gewesen? Ein Rumpeln in der Erde, eher gespürt als gehört? So etwas konnte man sich leicht einbilden, hier unten mit diesem alten Kobold, der mich vom Rand des Todes viel sagend angrinste. Etwas flog mir gegen die Wange. Ich schaute nach oben. Die Platte über unseren Köpfen bröckelte unter dem Gewicht, das sie trug, und kleine Zementstückchen lösten sich, die von der Decke ins Wasser, auf meine Haut, auf meine Kleider fielen. Eines traf mich unter dem Auge und stach wie eine Wespe.
»Komm her«, rief ich ihr zu.
Sie kam hinter mich, sie keuchte, dann gingen wir zur Routine über, und ich brach die Fenantyl-Ampulle auf und zog die Spritze auf, die ich gegen das Licht hielt.
»Das wird Ihnen die Schmerzen nehmen, Pater.« Ich wandte mich Stella zu. »Geh dort rüber, hinter ihn, und binde ihm das Bein ab.«
Sie schob sich auf die andere Seite des Priesters und leuchtete mit ihrer Lampe in die Dunkelheit. »Mein Gott, Michael. Das ist unter Wasser! Das ist absolut hoffnungslos!«
»Tu's einfach, Stella!«
Sie packte mich an der Schulter, zog mich heftig an sich und flüsterte: »Hör mir zu. Du wirst uns noch alle umbringen. Hau ihm die Nadel rein, und dann nichts wie weg hier. Das ist das Beste, was du tun kannst.«
»Sie hat Recht, die da«, sagte der Priester. »Sie weiß ...«
Ich schaute verwirrt von einem zur anderen. Dann passierte es wieder, und dieses Mal gab es keinen Zweifel. Die Erde bebte. Das Wasser um meine Beine kräuselte sich in gebrochenen Silberringen.
»Michael!« Stellas Stimme wurde eine ganze Oktave höher.
»Jetzt verschwindet! Schnell!« Der Priester ließ meinen Arm los und stieß mich so fest von sich, dass ich einen Schritt nach hinten stolperte und die Taschenlampe verlor, die ins Wasser klatschte und wie ein sich drehender Fisch spiralförmig durch den langen, dunklen Brunnenschacht verschwand. Über mir war ein riesiger Riss, und irgendetwas Schweres traf mich am Arm, und ich ließ die Spritze fallen. Stella schrie und zog mich so fest nach hinten, dass ich über den Brunnen rutschte, ohne es zu merken, und ich schlug im Dunkeln um mich, und dann konnte ich das Licht an ihrem Helm sehen und sie rufen und schluchzen hören, während sie an mir zerrte, und dann kam ich wieder auf die Füße, und wir krochen durch den Tunnel, der hinter uns Staub und den Geruch des Todes aushustete, als der Hohlraum einstürzte.
Soldaten träufelten mir aus einer Feldflasche kaltes Wasser über den Kopf und auf mein Gesicht. Auf einmal blendete mich das Sonnenlicht, und ich hustete fürchterlich, um meine Bronchien frei zu bekommen. Die Männer machten viel Aufhebens um mich, riefen mir Fragen zu, tasteten meine Arme und Beine nach Verletzungen ab. Ich hatte Abschürfungen und wunde Stellen, und mein Arm war verletzt, und meine Brust fühlte sich beengt an vor lauter Staub, und mein Puls raste mit wahnsinniger Geschwindigkeit. Aber das Licht und die Luft erfüllten mich mit einer sündigen Freude.
»Ich bin in Ordnung.« Ich winkte die Männer fort. »Lasst mir eine Minute.« Sie tauschten zweifelnde Blick aus, traten aber zurück. Eine kleine Staubwolke hing über dem Tunneleingang, ein Fleck vor dem klaren blauen Himmel. Pater Rafaels Grabstein, dachte ich, eine Staubwolke in der Sonne. Das war mehr, als die meisten anderen dieser Leute bekommen würden. Hinter mir saß Stella am Rand des Schuttbergs, das Gesicht auf ihren verschränkten Armen. Ihre Haltung lud einen nicht gerade ein, ihr Trost zu spenden. Einen Augenblick später stand sie auf und stolperte den Hang hinunter, ohne mich auch nur anzusehen.
Ich lehnte mich gegen das Balkongeländer und trank das San-Miguel-Bier aus der Flasche. Sie hatten uns in einer alten Kaserne dreißig Kilometer außerhalb von Caracas einquartiert. Der Balkon schaute auf einen kleinen, festgetretenen Kasernenhof und eine Reihe von Nebengebäuden. Drei Jeeps waren auf dem Parkplatz unten abgestellt, und Wachen mit Maschinenpistolen standen gelangweilt beim Tor herum. Es war beinahe dunkel, und die Lichter der Stadt jenseits der Umzäunung gingen nach und nach an und flimmerten in der warmen Luft. Ich konnte die Landelichter von Flugzeugen sehen, die auf den internationalen Flughafen zusteuerten, und die Lichter der nächsten Flieger in der Warteschleife reihten sich am kobaltblauen Himmel hinter ihnen auf. Sie würden weitere Lebensmittel, weitere Zelte und Notunterkünfte, weiteres Räumgerät, weitere Such- und Rettungsteams herantransportieren. Vielleicht würde hier bald genügend Hilfe ankommen. Vielleicht würde es keine weiteren Fälle wie Pater Rafael mehr geben.
Ich hörte, dass hinter mir die Tür geöffnet wurde. Ich vernahm das Geplapper und Geklapper von Leuten, die unten gemeinsam in der Kantine aßen, aber ich wollte mich nicht zu ihnen gesellen. Stella kam heraus und legte ein wenig entfernt von mir die Hände auf das Geländer. Wie ich hatte sie eine Flasche San Miguel dabei. Nach ein paar Augenblicken schlug sie nach einem Moskito auf ihrem nackten Arm. Sie schaute mich nicht an.
Ich sagte: »Keinen Hunger, hm?«
Sie antwortete nicht.
Ich sagte: »Ich auch nicht.«
Unten kam gerade ein vierter Jeep mit der Wachablösung an, und die Soldaten beider Schichten standen herum, hielten ihre Waffen liebevoll in den Armen. Sie schienen es nicht eilig zu haben fortzukommen. Sie rauchten, unterhielten sich und lachten eine Weile miteinander. Die roten Punkte ihrer Zigaretten bewegten sich in der Dunkelheit, und das gab Stella vielleicht den Anstoß, denn sie drehte sich um, lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer, holte eine Packung aus ihrer Blusentasche, zündete eine Zigarette an und blies den Rauch genüsslich in den Himmel. Ohne mich anzusehen, streckte sie mir die Packung hin.
»Nein, danke.«
»Hast du Angst, es könnte deiner Gesundheit schaden?«
»Was hätte ich denn tun sollen, Stella? Ich habe ihn singen gehört.«
Sie drehte sich um und kam mit ihrem Gesicht ganz nahe an meines heran. »Weißt du, was dein Problem ist, Michael?« Ihr schottischer Akzent kam deutlich durch. »Du weißt nicht, wann du aufhören musst.«
»Tut mir Leid. Ich hätte dich zurückschicken sollen.«
»Mich zurückschicken?«, schrie sie. »Du hättest dich selbst zurückschicken müssen, verdammt noch mal, du Idiot, genau das hättest du tun müssen.«
»Ich dachte, wir könnten ihm helfen, das ist alles.«
»Michael, wir sind das Einschätzungsteam, verdammt, erinnerst du dich? Es wird von uns verlangt, dass wir die Lage sondieren, nicht nach singenden Priestern zu buddeln. Um Himmels willen, wir hätten nicht einmal dort sein sollen. Eigentlich sollten wir ein nettes, ruhiges Operationsprogramm in Caracas durchführen.«
»Ich habe das Erdbeben nicht arrangiert, Stella. Wir waren eben gerade vor Ort, das ist alles.«
Sie schnipste die halb gerauchte Zigarette ins schwarze Nichts. »Für mich ist Schluss, Michael. Das war's für mich. Meine letzte Mission.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Und wie, das meine ich absolut ernst. Ich fliege morgen nach Hause, genau wie vorgesehen.«
»Ich dachte, du würdest bleiben«, sagte ich vorsichtig. »Ich dachte, wir beide würden bleiben. Für eine Weile als Team zusammenarbeiten.«
»Ich gehe heim, und ich werde, verdammt noch mal, auch dort bleiben.« Nach einer ganz kurzen Pause fügte sie hinzu: »Ich werde Gordon heiraten.«
»Gordon! Weiß der das schon?«
»Er wird tun, was ihm gesagt wird«, antwortete sie. »Ich werde Gordon heiraten, und dann kriege ich vier oder fünf glückliche, dicke Kinder. Und ich werde eine Menge Topfpflanzen haben. Und einen Wellensittich.«
»Du wirst in die Geschichte der Gynäkologie eingehen.«
»Sehr witzig.« Sie starrte wütend in die Nacht.
Ich rief mir das Bild von Gordon ins Gedächtnis: würdig, in dunklen Anzügen, Brillenträger. Gordon war Versicherungsmathematiker. Der Rest des Notfallteams im Krankenhaus kannte Gordon und war nicht gut auf ihn zu sprechen. Sie rissen Witze über ihn, er wäre gerne Buchhalter geworden, ihm habe dafür aber das nötige Charisma gefehlt. Ich dachte an die Orte, an denen ich Stella bei der Arbeit gesehen hatte, in England und in Übersee – wie sie sich an einer Steilklippe abgeseilt hatte, um an einen in die Tiefe gestürzten Reisebus zu gelangen, wie sie bis zu den Achseln durch ansteigendes Hochwasser gewatet war. Wir beide hatten in Bosnien einmal zusammen in einem Keller operiert, in dessen Decke eine Panzergranate steckte, die nicht explodiert war.
»Du wirst vor Langeweile eingehen, Stella.«
»Nach dem heutigen Tag ist Langeweile für mich kein Problem.« Sie nahm einen Schluck Bier. Nach einer Weile drehte sie den Kopf und schaute mich an, und ihr Ärger schien sich verflüchtigt zu haben. »Du solltest es ebenfalls in Erwägung ziehen.«
»Ich will Gordon nicht heiraten.«
»Du gehst auf die vierzig zu. Du hast eine schöne Frau, die du nicht häufig siehst.«
»Cate hat Verständnis dafür.« Ich redete ein wenig abgehackt. Ich verstand nicht ganz, wieso, aber wann immer Stella auf Caitlin zu sprechen kam, merkte ich, dass ich es ihr übel nahm.
Stella schaute zur Seite. »Michael, du hast in London als designierter Nachfolger von Professor Curtiz genug zu tun. Warum überlässt du es nicht Jüngeren, den Helden zu spielen? Gönn dir eine Pause. Gönn uns allen eine Pause.«
»Du bist heute Abend ja richtig philosophisch.«
»Das kommt daher, dass ich beinahe von fünftausend Tonnen Schutt platt gequetscht wurde«, antwortete sie und fügte nach einem Moment hinzu: »Weißt du was, Michael? Es spielt keine Rolle, wie oft du wieder zurückgehst, du wirst sie nicht herausholen können. Vielleicht solltest du dem ins Auge sehen.«
Ich antwortete nicht.
Sie sagte: »Ich glaube, ich bin ein bisschen betrunken. Kommst du mit?«
»Nein, geh schon vor.«
Sie zögerte, als sei sie im Begriff, mir noch etwas zu sagen, dann beugte sie sich vor und drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, schließlich ging sie durch die Tür und die Treppe hinunter.
Ich beobachtete, wie die Tür hinter ihr hin und her schwang. Ich hatte ihr an einem warmen Abend in einem kurdischen Flüchtlingslager in der Türkei die Geschichte erzählt – den Großteil davon jedenfalls. Ich hatte ihr erzählt, dass ich – mit dreizehn – nicht stark genug gewesen war, um mich aus Anthonys Umklammerung zu lösen, als Wasser aus den Feuerwehrschläuchen schoss und Lichter blitzten und Pumpen dröhnten und Sirenen heulten und sich entsetzte Nachbarn versammelten und verzweifelte Schreie durch die Vorstadtstraße hallten. Ich hatte ihr nicht alles erzählt. Ich hatte ihr zum Beispiel nicht erzählt, wie fest mich Anthony gehalten hatte, so fest, dass es schmerzte, nichts von dem schnaubenden Geräusch, das er von sich gab. Damals hatte ich das Geräusch nicht erkannt. Ich hatte noch nie zuvor einen erwachsenen Mann weinen gehört. Ich erzählte ihr nichts von den Gestalten am Fenster des Schlafzimmers meiner Eltern, zwei größere und zwei kleine, die sich, Hand in Hand, vor dem immer heller werdenden Schein abhoben. Keiner außer mir sah sie dort, wie sie dastanden, als hätten sie sich für ein Familienfoto aufgestellt, in dem ich niemals wieder meinen Platz einnehmen würde. Ich glaube, außer mir sah sie keiner, weil sie nicht dort sein konnten, da sie zu diesem Zeitpunkt bereits tot sein mussten. Aber das machte keinen Unterschied, weil ich sie sah. Ich sehe sie noch immer. Ich erinnere mich, wie ich daran dachte, dass ich an diesem Abend erwartet hatte, Schwierigkeiten zu bekommen, weil ich so spät nach Hause kam. Ich hatte mir Schwierigkeiten gewünscht. Aber keine solchen.
Unten im Hof wurde einer der Jeeps gestartet, und vier der Wachsoldaten stiegen ein. Ein Chor von Abschiedsrufen und Späßen und Gelächter erschallte, und der Jeep holperte durch den Torbogen und schoss in die heiße Nacht davon. Ich nahm einen Schluck von meinem Bier und merkte, dass es warm geworden war, und mir wurde klar, dass ich, nachdem Stella gegangen war, eine gute Stunde oder länger hier gestanden haben musste. Die Soldaten waren auf dem Weg nach Hause, nahm ich an, und ich fragte mich: Gehen Soldaten abends wirklich nach Hause? Soldaten wie diese hier? Ich hoffte es. Mir gefiel der Gedanke, dass diese Männer zu schreienden Kindern, zu Unmengen von Tortillas und leidenschaftlichen Frauen in Baumwollkleidern mit verwaschenem Blumenmuster nach Hause gingen.
Nach einer Weile verließ ich den Balkon und ging in die Kantine hinunter. Es war spät, und der große, kahle Raum war fast leer. Ein halbes Dutzend deutscher Rote-Kreuz-Helfer spielten an einem Tisch in der Ecke Karten, tranken Bier und rauchten, und ein paar einheimische Frauen machten rund um sie herum sauber, putzten Tische ab und wischten den Boden auf. Aus einem Radio kam Geschnatter auf Spanisch, und ein Deckenventilator drehte schläfrig seine Kreise und verteilte den Zigarettenrauch. Ich war froh, nirgends eine Spur von Patrick oder Julio zu sehen. Ich wollte nicht reden.
In der Küche waren ein paar Frauen noch immer an der Arbeit, und ich ging zur Theke und nahm eine winzige Porzellantasse voll Kaffee entgegen, lehnte das Angebot, mir ein Sandwich zu nehmen, jedoch ab. Der Kaffee war sehr stark, und ich wusste, dass er mich wach halten würde, aber ich bezweifelte ohnehin, dass ich in dieser Nacht würde richtig schlafen können. Ich konnte hören, dass über den Hof Musik herüberwehte, und die Lichter einer behelfsmäßigen Bar durch die Jalousien blitzen sehen. Ich erinnerte mich an einen schäbigen Raum mit einer langen Theke und ein paar aufgestapelten Bierkisten.
Caitlin könnte zu Hause sein. Ich stellte mir vor, wie sie jetzt gerade durch die hellen, ordentlichen Zimmer unseres Hauses in Notting Hill ging, mit Haushaltsdingen beschäftigt war und vor sich hin summte. Oder vielleicht war sie oben im Dachzimmer – sie bezeichnete es als ihren Horst – und hörte Musik, las oder tat, was immer sie dort oben machte. Oder sie war beim Einkaufen. Ich schloss die Augen in der heißen Dunkelheit und sah die heruntergelassenen gestreiften Ladenmarkisen unten bei Notting Hill Gate vor mir. Und ich sah, wie sie sich durch diese Szene bewegte, groß und schön und schlank, die Tasche über die Schulter gehängt, die Sonnenbrille über die Stirn hochgeschoben, und ihre frisch geschnittenen Haare glänzten. In meiner Vorstellung trug sie in Zeitungspapier eingewickelte Narzissen und lachte mit den Händlern, die sie kannte – mit Stavros im Café, mit Julian, dem Blumenverkäufer, mit Ivan, der das Antiquariat führte. Sie alle schwärmten für sie, würden alles für sie tun. Jeder wollte sich um Caitlin kümmern. Ein solcher Schwall von Zärtlichkeit durchflutete mich, dass es mir einen Augenblick wehtat.
Die deutschen Rote-Kreuz-Mitarbeiter wurden allmählich immer fideler. Es waren alles kräftige Männer, und sie erfüllten den Raum mit ihrem Lärm und ihrer Ausgelassenheit. Dann rief einer von ihnen aus heiterem Himmel in nachgeäfftem Englisch: »This is Venezuela. You are welcome to it!«, und alle brüllten vor Lachen und schlugen auf den Tisch. Das musste unter ihnen wohl ein Runninggag sein, mit dem sie vielleicht irgendeinen wichtigtuerischen Funktionär nachmachten, der sie willkommen geheißen hatte. Aber dieser Akzent wie aus einer Operette versetzte mich augenblicklich wieder zurück, und ich konnte erneut den Zementstaub in der heißen Luft und die Verwesung riechen und das Weiß der Augen des alten Priesters sehen. Einen Augenblick später, nur eine geringe weitere Erschütterung, und Stella und ich wären noch immer dort, unter dem gleichen Schutt, der das Leben aus Pater Rafael gequetscht hatte. Vielleicht konnte ich doch etwas zu trinken gebrauchen. Ich stand auf, stellte die Tasse auf die Theke und verließ die Kantine, ging den langen Korridor entlang zur Tür und dann über den kühlen Staub des Hofs.
Vor der Bar blieb ich zögernd stehen. Der Lärm der Gäste drang heraus, eine bunt zusammengewürfelte Menge von Hilfskräften, Ärzten und Sanitätern aus vielen verschiedenen Ländern. Irgendjemand hatte eine Gitarre aufgetrieben und versuchte gerade, einen Flamenco zu spielen, und ein Chor von Gästen stimmte ein, hämmerte auf die Tische, schlug Bierflaschen gegeneinander, grölte und johlte. Stella kam gerade rückwärts mit einem Bier in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand heraus, rief irgendjemandem noch etwas zu und lachte. Sie stieß mit mir zusammen, fuhr herum und sah auf. Sie konnte nicht richtig geradeaus schauen.
»Nanu, Doktor Michael. Ich habe mich schon gefragt, wohin du dich wohl verkrochen hast.« Sie schwankte ein wenig, und eine Haarsträhne klebte ihr über der Stirn. Sie spitzte den Mund und schaute mich immer eindringlicher an, und ihre Augenbrauen hoben sich ein klein wenig. Ich wusste, dass mir die ganze Sache ins Gesicht geschrieben stand. Ich konnte sehen, wie sie wieder nüchtern wurde, während sie mich betrachtete.
Ich nickte in Richtung Bar. »Ziemlich wilde Party.«
»Die lassen bloß Dampf ab.«
»Das ist gut.«
»Geh rein, wenn du einen fetten holländischen Anästhesisten nackt auf dem Tisch tanzen sehen und Carmen singen hören willst.«
»Klingt verlockend, aber ...«
»Du solltest sehen, wo er sich die Rose hingesteckt hat!«
»Damit ist es entschieden. Ich gehe ins Bett.«
Sie gab mir den Weg nicht frei. Stattdessen stellte sie ihr Bier auf ein Fenstersims und schaute mich weiter fragend an. Nach einer Weile strich ich ihr die Strähne aus der Stirn und legte meine Hände auf ihre Schultern. Ich gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange, dann schob ich sie zur Seite und ging davon. Ich war noch nicht am Ende des Korridors angelangt, da rief sie mich, und eigentlich hätte ich wissen müssen, dass sie das tun würde.
»Michael?«
Sie kam zu mir, schlang die Arme um meinen Hals und küsste mich. Sie schmeckte nach Zigaretten.
Ich trat von ihr zurück und versuchte, ihre Arme von meinem Nacken zu lösen. »Stella, ich ...«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich weiß das alles, Michael, spar es dir also.«
»Was alles?«
»All den Mist über Treue und Vertrauen, den du mir erzählen willst.«
Ich gab den Versuch auf, mich von ihr zu befreien. »Ich sag dir was: Wenn du ein braves Mädchen bist, bring ich dich ins Bett und les dir eine Gutenachtgeschichte vor.«
Sie lächelte und lehnte sich entspannt gegen mich. Ich legte ihr den Arm um die Schulter. Ich konnte die Wärme ihres Körpers durch ihre Bluse spüren. Wir machten kehrt und gingen schwerfällig den Gang hinunter. Sie schob ihren Arm um meine Taille und drückte mich fest an sich.
Ihr Zimmer lag auf der Rückseite des Gebäudes mit Blick auf die Kasernenumzäunung und die ungeteerte Straße dahinter. Ich setzte sie aufs Bett, dann ging ich zum Fenster hinüber und zog die Läden zu. Die Luft hatte sich inzwischen ein wenig abgekühlt, und ich konnte Benzin und Nachtblumen und Staub riechen. So am Fenster stehend, hörte ich nur die Musik aus einer Kneipe am Ende der Straße, und hin und wieder donnerte unten ein Armeejeep oder ein Truck vorbei. Direkt auf der anderen Seite des Zauns hing eine Straßenlaterne an einem Stahlpfosten. Rund um die Lampe wimmelte es nur so von Insekten. Das Licht warf gelbe Strahlen durch die Ladenschlitze und malte Tigerstreifen auf das Bett und den Boden.
Stella zog sich ohne jede Spur von Koketterie aus, als wäre ich gar nicht im Zimmer. Vor gut neun Jahren hatte ich zum letzten Mal zugesehen, wie sie ihre Unterwäsche auszog, damals, an jenem Abend in der Türkei, und ich stellte fest, dass ich mich außerordentlich klar an die Art und Weise erinnerte, wie sie sich gab, wenn sie nackt war. Sie hatte einen kräftigen, festen Körper, und sie war völlig unbefangen, fast so, als stehe sie für eine Kunstklasse Modell. Ich merkte, dass ich wieder darüber schmunzelte, wie sie ihre Kleider nachlässig in die Ecke pfefferte: Häusliche Ordnung war nicht gerade Stellas Stärke. Sie war, diesen Gedanken konnte ich mir nicht verkneifen, in jeder Hinsicht völlig anders als Caitlin. Caitlin bewegte sich wie ein Luchs. Immer hatte sie den Duft des Geheimnisvollen um sich. Caitlin hatte nichts Prüdes, aber ein Teil von ihr blieb immer ihr Eigen, blieb zu entdecken. Bei Stella dagegen bekam man eindeutig das, was man sah.
Sie hatte zwei Gläser gefunden und schenkte jetzt aus einer Flasche irgendein gelbes Getränk ein. Sie stand ziemlich sicher auf den Füßen. Sie hielt die Gläser gegen das Licht und linste, ob sie auch gleich hoch eingeschenkt waren. Die durch die Ladenschlitze fallenden Lichtstreifen strichen über ihren Rücken und die Wölbung ihres Hinterteils. Es tat gut, sie zu beobachten, und während ich es tat, fühlte ich mich zunehmend getröstet und mit ihr vertraut. Ich konnte mich an jede Einzelheit erinnern, wie es mit Stella im Bett gewesen war – wie sie roch, wie sich ihre Haut anfühlte. Das erfüllte mich mit einer Art Nostalgie. Sie kam zu mir herüber und reichte mir den Drink.
Ich roch daran. »Mein Gott, was ist denn das für ein Gesöff?«
»Es wird schließlich von einem erwartet, dass man an Orten wie diesem hier Tequila trinkt, oder? Wenn du ihn zu Hause kaufst, ist es Pisse, aber vor Ort ist er klasse.« Sie ging zum Bett hinüber, warf die dünne Decke zur Seite und legte sich hin, dann stellte sie ihr Glas auf den Nachttisch und streckte sich aus. Sie wippte ein wenig auf der Matratze und ließ die Federn quietschen. Sie verschränkte die Hände hinter dem Kopf, dann setzte sie sich auf und nickte mir zu. Ich stand mitten im Zimmer, noch immer voll bekleidet. »Was ist los?«, fragte sie. »Schuldgefühle, auch ohne Sex?«
Ich ging zu ihr hinüber und setzte mich auf die Bettkante. Ich zog die Decke über sie. »Trink deinen schönen warmen Tequila aus.«
Sie schaute schnell zur Seite. »Wir beiden Dummköpfe sind heute beinahe umgekommen, verdammt. Ich will nur feiern, dass ich noch am Leben bin, das ist alles.«
»Tut mir Leid.«
Ein paar Takte lang sagte sie gar nichts, dann atmete sie hörbar aus. »Du bist immer so verdammt moralisch entschlossen, Michael. Du gibst dich zwar immer unbekümmert, aber im Innersten bist du ein knallharter Puritaner. Das bringt dir nicht viele Freunde ein.« Sie streckte die Hand aus und berührte mein Handgelenk. »Tut mir Leid. So hab ich das nicht gemeint. Aber du bist immer auf dieser verdammten Suche. Du lässt die Leute nie an dich herankommen. Nicht wirklich nahe. Ich meine nicht ... das. Ich meine richtig nahe.«
Ich zögerte. »Ich denke, ich bin ziemlich glücklich mit dem, was ich habe.«
Sie schaute mich direkt an. »Michael, wenn du so verdammt glücklich bist, was hast du dann hier zu suchen? In meinem Zimmer? Mitten in der Nacht? In diesem blöden Venezuela?«
Sie sah meine Augen und machte schnell einen Rückzieher. »Okay, okay. Ich glaube, du bist wegen des Wetters hierher gekommen. Die besten Katastrophen ereignen sich immer in den Tropen. In London herrscht schließlich ständig dieser scheußliche Winter.«
Winter. Ich war geblendet von einer intensiven Vorstellung: treibender Londoner Nieselregen und schwarze Abdrücke von Blättern auf dem Pflaster und knirschendes Eis unter den Füßen. Ja, was machte ich hier? Vielleicht war etwas dran an dem, was sie sagte. Vielleicht wurde ich tatsächlich von der starken Sonne und dem Geruch der Hitze angezogen, angelockt in eine Welt, in der die Grundfarben vorherrschten und die Kontraste stark waren. Sie hatte Recht. In London war immer Winter.
»Lass uns wenigstens darauf trinken.« Stella streckte mir ihr Glas entgegen. »Auf das Ende des Winters.«
Ich hob mein Glas und stieß mit ihr an. Wir tranken.
Es schien sehr still geworden zu sein. Ich konnte von der Kneipe vom Straßenende keinen Laut mehr hören, und nur das Zirpen der Nachtinsekten drang von draußen herein, das Geräusch der tropischen Stille. Ich hatte vorgehabt, noch etwas zu sagen, etwas über Dankbarkeit oder Zuneigung, aber auf einmal war ich von einem so heftigen Verlangen nach ihr gepackt, dass ich für einen Augenblick unfähig war, überhaupt irgendetwas zu sagen oder zu denken. Ich beugte mich ins Dunkel hinüber und küsste sie, überraschte sie damit und mich ebenfalls. Sofort waren ihre Arme um meinen Nacken geschlungen, und sie zog mich kräftig an sich, und ich hörte ihr Glas runterfallen und über den Boden rollen, und sie küsste mich gierig, und ich konnte Tequila und Salz und Zitrone schmecken, und sie atmete schwer in mein Ohr, murmelte eindringlich auf mich ein, zerrte an meiner Gürtelschnalle herum. Ich langte hinunter und legte meine Hand auf ihre und hielt sie fest.
Sie zog das Gesicht von meinem zurück. Ich konnte ihre Brüste sich schnell gegen mich heben und senken spüren. »Was ist?«, fragte sie. Und dann noch einmal, barscher: »Was ist, Michael?« Ich rollte mich weg und stand unbeholfen auf.
»Es tut mir wirklich Leid. Aber das ist ...« Ich schaute zur Seite, während ich mein Hemd wieder in die Hose steckte.
»Wenn du jetzt sagen willst, dass das ein Fehler ist, Michael«, fuhr sie mich an, »dann knall ich dir eine, ganz bestimmt.«
Ich sah sie an. »Ich sollte nicht hier sein, Stella.«
Sie setzte sich im Bett auf und zog die Decke um sich. »Na, dann solltest du dich wohl lieber verpissen und dir überlegen, wo du denn sein solltest.«
Ich sagte: »Das sollte ich wohl.«
Ich ging zur Tür und machte sie auf. Ich trat in den Korridor hinaus und schaute noch mal zurück. Sie saß auf dem Bett, die Decke noch immer um sich gezogen und starrte mich wütend an. Aber als ich gerade die Tür hinter mir schließen wollte, erlosch das Feuer in ihren Augen, sie reckte das Kinn und ließ die Decke von ihren Brüsten sinken.
Patrick hatte in einem winzigen Raum im Erdgeschoss, der auf den Hof blickte, ein Kommunikationszentrum eingerichtet. Drei Metalltische waren in die Kammer gequetscht, voll gestellt mit Computern und Kommunikationsgeräten. Ich hatte das Satellitentelefon nie für Privatgespräche benutzt, und ich wusste, dass Patrick überrascht war, mich hier zu sehen. Er ließ es sich nicht anmerken und ging hinüber zu einem der Tische, stieg dabei über einen schlangenartigen Kabelsalat. Er nahm den Hörer, überprüfte die Leitung und gab ihn mir dann. Ich konnte das Freisignal hören.
»Du müsstest direkt durchkommen.«
»Gut.«
»Aber ich würde keine Zeit für Smalltalk vergeuden. Du hast nur ein paar Minuten, dann verliert sich die Verbindung zum Satelliten wieder.«
Ich hörte, wie die Tür geschlossen wurde, und realisierte, dass Patrick gegangen war. Ich wählte die Nummer. Sie nahm fast augenblicklich ab.
Ich sagte: »Cate?« Und bevor sie etwas antworten oder ich meine Meinung ändern konnte, fuhr ich fort: »Du hattest Recht. Du hattest mit allem Recht.«
Zuerst konnte ich nur das Rauschen der atmosphärischen Störungen hören.
»Michael«, kam ihre Stimme durch die Welt gehaucht. »Michael, das kannst doch unmöglich du sein. Nicht jetzt.«
»Es ist nichts passiert, Cate. Ich muss dir nur sagen, dass ich über alles nachgedacht habe.«
»Es ist nichts passiert«, wiederholte sie mit der gleichen geisterhaften Stimme, als wundere sie das.
»Ich werde dir alles erzählen, sobald ich zurück bin. Ich habe noch nie irgendjemandem alles erzählt. Auch damit hattest du Recht. Danach können wir uns vielleicht daranmachen, wieder unseren gemeinsamen Weg zu finden. Anfangen, einander wieder zu finden.«
»Michael«, sagte sie kaum hörbar. »Ich möchte so gern gefunden werden.«
Ihre Intensität verwirrte und beunruhigte mich. Ich sagte: »Cate?« Ich fragte mich, ob sie vielleicht ein bisschen betrunken war. Ich stellte sie mir vor, einsam und traurig vor einer Flasche Wein, und ich fühlte mich schuldig. Oder vielleicht war es in London ganz früh am Morgen, und ich hatte sie aufgeweckt. Ich sagte: »Habe ich mich mit der Zeit vertan? Ist es sehr spät?«
»Es ist sehr spät, Michael«, antwortete sie. »Es ist sehr, sehr spät.«
Die Verbindung begann abzureißen. Zwischen dem Knacken der atmosphärischen Störungen konnte ich sie atmen hören. Wieder und wieder rief ich ihren Namen, aber ich schaffte es nicht mehr, dass sie mich hörte. Und trotzdem kam ihr Atmen noch immer bis zu mir durch, wie der Rhythmus des Meeres. Unerklärlicherweise hatte ich bei dem Geräusch das Gefühl, etwas Kaltes tröpfele in meinen Bauch hinab. Die Leitung war tot.