Die Mensch-Maschine. Technikkonzepte in der Zwischenkriegszeit anhand der Filme  Metropolis  (F. Lang) und  Enthusiasmus  (D. Vertov) - Heinrich Deisl - E-Book

Die Mensch-Maschine. Technikkonzepte in der Zwischenkriegszeit anhand der Filme Metropolis (F. Lang) und Enthusiasmus (D. Vertov) E-Book

Heinrich Deisl

0,0
36,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: GRIN Verlag
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2002
Beschreibung

Diplomarbeit aus dem Jahr 2001 im Fachbereich Medien / Kommunikation - Mediengeschichte, Note: 2, Universität Wien (Institut für PKW Wien), Sprache: Deutsch, Abstract: Wie geht man mit Krisenerfahrungen um? Welches Kommunikationsdesign und welche Ästhetik haben Medien, wenn sie sich neu strukturieren oder massenhaft genutzt werden? Wie wirken sich Technisierung und Rationalisierung des Alltags auf die menschliche Wahrnehmung aus? Zu welchen soziokulturellen Resultaten führen künstlerische Artikulationen, die in derartigen Umfeldern entstehen? Wie interagieren sie? Welches Körperbewusstsein resultiert daraus? Inwieweit ist Film ein adäquates Transportmedium, um kollektiv vorhandene Geisteshaltungen abzubilden? Diese allgemein gehaltenen Fragen waren Ausgangspunkte für Überlegungen, wie die „Maschine“ und der „Mensch“ zusammengedacht werden können. Auf unterschiedlichen Plateaus zwischen Abstrakt und Konkret angesiedelt, soll der Versuch unternommen werden, Konzepte aufzuzeigen, wie in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg die „Maschine“ Einzug hielt in die künstlerischen Artikulationen des Films. Die Zwischenkriegszeit ist eine Zeit der großen Umbrüche, in denen die unterschiedlichen sozialen, ideologischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die folgenden Jahrzehnte angedacht wurden. In diese Periode fällt auch die Etablierung der Medien als Massenmedien: Mit Radio, Grammofon, Kino, den ersten Ansätzen von Fernsehen, von Werbe- und Gebrauchsgrafik werden Situationen geschaffen, die mit den traditionellen Informationsflüssen brechen, demokratische und demokratie-bewusstseinsbildende Identitäten schaffen und gleichzeitig neue Hierarchien strukturieren. Produktion und Distribution verlagern sich von den bürgerlichen in populäre/ proletarische Kreise. Es ist der Beginn einer sich neu formierenden Kultur, in der Massenhaftigkeit, Reproduktion, Bedürfniserweckung und -befriedigung, Rationalisierung und Zweckgebundenheit wertbestimmend werden. [...]

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
I ANSCHLÄGE AUF DAS ALTE SYSTEM
VERLUST DER SINGULÄREN AUTORITÄT
„WEISSES RAUSCHEN“
II REPRODUKTION.
Mediale Realität und „Prothesengott“
Regressiver Anachronismus.
BEWEGUNG ALS INDIKATOR FÜR MODERNE.
Bewegung und Montage.
SOZIOPOLITISCHE SITUATION DER WEIMARER REPUBLIK NACH 1918.
Deutschlands Weg zwischen Krise und Auflehnung.
Geistiges Klima und Film: Caligarismus und Expressionismus.
SOZIOPOLITISCHE SITUATION DER UdSSR NACH 1917
Russische Filmproduktion
III FILM ALS REVOLUTIONÄRE KULTURTECHNIK.
Mit Kühltürmen, inszeniert als Punkte und Linien, zu einem neuen Bewusstsein.
KONSTRUKTIVISMUS UND DOKUMENTATION.
Russischer Maschinenkult: Dziga Vertov.
IV IN METROPOLIS
Chaos und Ordnung
Die architektonische Struktur.
Die Oberstadt.
Die Unterstadt.
Die Herzmaschine.
Der mystische Raum.

Page 1

Die Mensch-Maschine

Technikkonzepte in der Zwischenkriegszeit

anhand von

Page 3

Die Katakombenkirche.................................................................................................................................................82 Hütte von Rotwang.......................................................................................................................................................82 Verortung vonMetropolisund NS-Bau ....................................................................................................................84 Frau und Maschine........................................................................................................................................................86 Folgerung........................................................................................................................................................................88

V DOKUMENTATION UND KONSTRUKTION...............89

„Produktionsobjekte“ ...................................................................................................................................................89 Sozialreportage..............................................................................................................................................................90 Die industrielle Wirklichkeit .......................................................................................................................................91 ENTHISUASMUS - DIE DONBAS-SINFONIE...................................................................................................94

Einleitung .......................................................................................................................................................................94 Montage I: Perzeption ..................................................................................................................................................96 Montage II: Materialhaftigkeit ................................................................................................................................. 100 Optische Musik........................................................................................................................................................... 105 Folgerung..................................................................................................................................................................... 107

Abspann..............................................109

Verwendete und weiterführende Titel;

Referenzen............................................................................................................112

Lebenslauf..........Fehler! Textmarke nicht definiert.

Für diese Arbeit richtet sich mein Dank an all jene, die mich auf die eine oder andere Weise unterstützten, an meine Familie, besonders meine Mutter, an Didi Neidhart und vor allem an Benedetta Cucci, without whom - nothing...

Page 4

Einleitung

Wie geht man mit Krisenerfahrungen um? Welches Kommunikationsdesign und welche Ästhetik haben Medien, wenn sie sich neu strukturieren oder massenhaft genutzt werden? Wie wirken sich Technisierung und Rationalisierung des Alltags auf die menschliche Wahrnehmung aus? Zu welche n soziokulturellen Resultaten führen künstlerische Artikulationen, die in derartigen Umfeldern entstehen? Wie interagieren sie? Welches Körperbewusstsein resultiert daraus? Inwieweit ist Film ein adäquates Transportmedium, um kollektiv vorhandene Geistesha ltungen abzubilden?

Diese allgemein gehaltenen Fragen waren Ausgangspunkte für Überlegungen, wie die „Maschine“ und der „Mensch“ zusammengedacht werden können. Auf unterschiedlichen Plateaus zwischen Abstrakt und Konkret angesiedelt, soll der Versuch unt ernommen werden, Konzepte aufzuzeigen, wie in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg die „Maschine“ Einzug hielt in die künstlerischen Artikulationen des Films.

Die Zwischenkriegszeit ist eine Zeit der großen Umbrüche, in denen die unterschiedlichen sozialen, ideologischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die folgenden Jahrzehnte angedacht wurden. In diese Periode fällt auch die Etablierung der Medien als Massenmedien: Mit Radio, Grammofon, Kino, den ersten Ansätzen von Fernsehen, von Werbe- und Gebrauchsgrafik werden Situationen geschaffen, die mit den traditionellen Informationsflüssen brechen, demokratische und demokratiebewusstseinsbildende Identitäten schaffen und gleichzeitig neue Hierarchien strukturieren. Produktion und Distribution verlagern sich von den bürgerlichen in populäre/ proletarische Kreise. Es ist der Beginn einer sich neu formierenden Kultur, in der Massenhaftigkeit, Reproduktion, Bedürfniserweckung und -befriedigung, Rationalisierung und Zweckgebundenheit wertbestimmend werden.

Die Maschine als abstrakte und konkrete Lebenserfahrung ist Teil der künstlerischen und alltäglichen Verarbeitung und des mythischen Umgangs mit Technologie. Die Maschine ist nicht nur Katharsis, sondern auch „Prothesengott“ und

Page 5

allmächtiger Prometheus. Sie verlängert den menschlichen Körper, ist Hilfe und Fluch zugleich. Der menschliche Körper und seine Fähigkeiten und Funktionen werden in dieser Zeitperiode massiv in Frage gestellt: Teils aufgrund eines eklatanten Skeptizismus in die eigenen Fähigkeiten aufgrund des Kriegs oder des Verlustes von Bezugspunkten. Teils, um aktuellen Strömungen Referenz zu zollen, die sich mit dem heraufziehenden Maschinenzeitalter auseinandersetzen. Technisierung und Medialität überlagern sich phasenweise. Sie haben dieselben Abbildungsvektoren, lässt sich doch aus Beidem ein „funktionaler Kommunikationszusammenhang, der Status als sozial verbindliche Realitätskonstruktion und die angestrebte Elimination des subjektiven Faktors“1ableiten.

Für die vorliegende Arbeit wird davon ausgegangen, dass die Industrielle Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts die Grundvoraussetzung für die hier behandelte Thematik liefert. Die soziopolitischen, kulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen zwischen dem Anfang des 20. Jahrhunderts und dem Beginn des 2. Weltkriegs koordinieren ein Kommunikations-Setting, in dem die „Maschine“ als künstlerische Artikulation zum Tragen kommt. Weiters wird davon ausgegangen, dass der Erste Weltkrieg jene Zäsur darstellt, in der die verschiedenen Dispositionen kulminierten und eine starke künstlerische Beschäftigung mit dem Thema Maschine zeitigten.

Es ist eine signifikante Änderung oder Verschiebung in der audiovisuellen Rezeption festzustellen: Die auditiven Codes werden nun visuell decodiert und umgekehrt. Es stehen sich konkurrierende Technik- und Körpermodelle gegenüber, von denen hauptsächlich auf diejenigen eingegangen wird, die sich um eine Verbindung zwischen Maschine und Mensch beziehungsweise um eine Ästhetisierung der Maschine bemühen.

Diese Ästhetisierung im Sinne der Kunstrezeption und -produktion verweist auf Definitionskontexte, die Resultate der Zeitumstände sind und nicht auf allgemein Gültiges reduziert werden können, da sie sich als eine beliebige, gesellscha ftlich determinierte Zuschreibungspraxis verstehen. Es handelt sich hierbei um „materialisierte Kommunikationszusammenhänge“2, die sich wechselseitig bedingen und Aufschluss geben können über die subkutan vorhandenen Auseinandersetzungen mit der umgebenden Materie.

1Kay Kirchmann (1998): Verdichtung, Weltverlust und Zeitdruck. S. 238.

2Ibid. S. 239.

Page 6

Dazu wurden zwei Filme ausgewählt, die auf ihren Gehalt von Prägnanz, der Abbildung zeitgeistiger Strömungen, der maschinellen Durchdringung und einer Operationalisierbarkeit hin zu Implikationen der Populärkultur in Film und Musik untersucht werden. Diese Filme werden aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet:

}Soziopolitischer Abriss der Weimarer Republik und der UdSSR

}Die kulturellen und phänomenologischen Rahmenbedingungen zwischen „Technik-Euphorie“ und „Anachronismus“

}Film als Medium zwischen eskapistischen und propagandistischen Tendenzen und als (selbst-)reflexives Ausdrucksmittel für zeitgeistiges Gedankengut}Rezeptionsgeschichte

Es handelt sich um folgende zwei Filme:

}Metropolisvon Fritz Lang (Deutsches Reich; 1927) und

}Sinfonija donbassa (Enthusiasmus - Die Donbas Sinfonie)von Dziga Vertov (UdSSR; 1931).

Bewusst wurden zwei unterschiedliche Kategorien gewählt: Einmal ein Spielfilm, einmal ein Dokumentarfilm. Dadurch ist gewährleistet, ein breiteres Aktionsspektrum anzusprechen als nur durch zum Beispiel Spielfilme. Man mag einwenden: Das Eine ist ein expressionistischer Spielfilm mit futuristischen Tendenzen, das Andere eine revolutionäre Dokumentation. In beiden wird der Maschine aber ein bestimmter Typus einge räumt, ihr bestimmte Funktionen zugeordnet. Die Maschine tritt nicht nur als Vehikel auf, als mehr oder weniger abstrakter Projektionsort, sondern ist konstituierend für die besprochene Zeitperiode. Diese Implikationen gilt es transparent zu machen.

Siegfried Kracauer postuliert, dass Film eine Kollektivleistung sei und dadurch wie ein Seismograf Aufschluss über die „Kollektivdispositionen einer Nation“ geben könne.

Page 7

Dieser Forderung wird entsprochen: So findet sich in dieser Arbeit ein soziopolitischer und kultureller Abriss über die Deutschland und die Sowjetunion.

}Metropolisist ein Film, der unbestritten zu einem Klassiker des Weimarer Kinos wurde. Der Lauf der Geschichte mit der vermeintlichen Vorwegnahme faschistischer Repressionsästhetik konnte dem Film nichts anhaben; Im Gege nteil, wie seine lange Rezeptionsgeschichte bis heraus in aktuellste Populärkultur-Diskurse zeigt. Langs Visionen der totalitären Repression materialisieren sich in körpergeometrischen und baulichen Formen.

}BeiEnthusiasmushandelt es sich um ein nach strengen Regeln durchkomponie rtes Werk, in dem viele seiner Überlegungen zur Montage und Dynamik einfließen. Vertov verwendete „kollidierende“ Bildgestaltungen, die die konventionellen Blickrichtungen überrumpelten. Er transformierte den Alltag und die daraus abgeleiteten, populären Bildinhalte zu einer neuen audiovisuellen Wirklichkeitsdarstellung.

Es wurde auf eine inhaltliche Beschreibung der FilmeMetropolisbeziehungsweiseEnthusiasmusverzichtet. Diese sind nachzulesen bei: Siegfried Kracauer (²1993; Original 1947): Von Caligari zu Hitler, S. 158-160/ 171-173 (noch immer eine der besten Darstellungen) beziehungsweise bei: Katharina Svejkovsky (1996): Dziga Wertow -Publizist und Poet des Dokumentarfilms, S. 102ff. Weiters wurden, des leichteren Verständnisses wegen, russische Titel und Namen ins Deutsche transkribiert.

Erkenntnisinteresse

Es scheint den konstanten Wunsch zu geben, die Fähigkeiten des Körpers zu verbessern. Heute, 2001, scheint mir die Umwelt mit Technik durchdrungen zu sein wie nie zuvor. Ein Leben ohne Computer? Unvorstellbar. Was unterscheidet die Losung: Für jeden Haushalt einen Volksempfänger von der: JedeR soll am Internet teilhaben? Die

Page 8

Zeitumstände und der technische Status Quo. Das he ißt nicht, dass wir es heutzutage mit einer neuen Form eines Futurismus/ Konstruktivismus oder ähnlichem zu tun hätten. Dafür müssen erst die richtige Syntax und Vokabeln, kurz: ein neuer -Ismus, gefunden werden. Der Platz der Revolution ist nicht mehr die Fabrik sondern das Interface. Während sich auf der einen Seite des Spektrums die Industrielle Revolution verorten lässt, ist es auf der anderen die Informations(verarbeitungs)revolution, die ihren Widerhall im ubiquitären Einsatz multimedialer Realitätsdeskriptionen und -konstrukte findet. Dazwischen angesiedelt ist jenes technisch- mechanische Moment, um das es in diesem Text geht.

Auch heute stehen wir am Anfang einer neuen Kommunikations-Revolution. Ich behaupte, dass sich der Computer in der Ausschöpfung seiner Möglichkeiten in dem Stadium befindet, wo der Film am Anfang des 20. Jahrhunderts war. Experimentieren ist angesagt. Damals wie heute pendelt die Reflexion über das Zusammenspiel von Mensch und Maschine zwischen „euphorisch“ und „skeptisch“ und ist auf keinen endgültigen Nenner zu bringen. Während sich in der Zwischenkriegszeit derartige Implikationen in Film-Bildern manifestierten, sind es heutzutage die „vermenschlichten“ oder „subjektivierten“ Computer-Applikationen. Während sich die Zeitgenossen an konkreten Erfahrungen durch die Maschine begeisterten, ist Derartiges mittlerweile in den Cyberspace verlegt worden.

Durch den Computer ist die Rolle des Autors einmal mehr ins Wanken geraten. Einige der auditiv oder visuell arbeitenden Computer-Künstler ziehen sich bewusst hinter die Oberfläche zurück und lassen die Maschinen „sprechen“. In den laufenden Diskussionen finden sich immer wieder die Verweise auf reduzierte, formalistische Gestaltung. Es sind die Operateure, die Autoren, die Producer die „Maschinisten“, die die Maschine aus ihrer Objekthaftigkeit befreien.

Eine diesbezügliche Korrelation konnte im Rahmen dieser Arbeit nur andiskutiert werden; vielmehr ging es um die historische Durchdringung dieser Prozesse. Ich sehe die Relevanz der beiden für diesen Text ausgewählten Filme in deren Rezeption für aktuelle Diskurse in der Populärkultur, die sich ihrer mehr oder weniger stark angenommen und sie inkorporiert haben. Das geschah in so unterschiedlichen Artikulationen wie Sozialreportage, Disco- und Installationsmusik, Science Fiction, urbane Darstellungen von

Page 9

Repression im Film, avantgardistische Klangerweiterung und synergetische Bild-Ton-Montagen.

Da ich mich schon seit Längerem mit den audiovisuellen Interdependenzen zwischen künstlerischer Artikulation und Rezipienten beschäftige, war mein Forschungsinteresse dahingehend, eine historische Aufarbeitung dieser Thematik zu unternehmen. Das hat Auswirkungen auf die mittlerweile hauptsächlich digital generierten Diskurse der Populärkultur, in denen ich diverse Kontinuitätslinien zum „Mensch-Maschinen-Denken“ der Zwischenkriegszeit sehe. Die vorliegende Arbeit ist der Versuch, einen Beitrag zum historisch und medial argumentierbaren Verständnis für die als metastrukturell verstandenen populärkulturellen Diskursführungen für Film (und auch Musik) zu liefern.

Für eine eventuelle Dissertation über die weiter oben angestellte Behauptung ist thematisch also schon vorgesorgt.

Page 10

I ANSCHLÄGE AUF DAS ALTE SYSTEM

Die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sind in den meisten Staaten Europas und in Russland durch fundamentale Umwälzungen geprägt. Diese implizieren historische, sozioökonomische und politische Neuordnungen. Der ausschlaggebende Impuls dafür war der Erste Weltkrieg. Für die vorliegende Arbeit ist indes nicht relevant, wie und warum es zum Ausbruch des Krieges kam. Es wird von einer historischen Zäsur ausgegangen, die mit der russischen Oktoberrevolution und im Ende des Ersten Weltkriegs 1918 beziehungsweise mit den Friedensabkommen zwischen den Alliierten und Deutschland/ Österreich 1919 in Versailles beziehungsweise St. Germain anzusetzen ist. Sie sind nichtdeterminierte Hilfsmittel, um einen bestimmten Rahmen abzustecken und bestimmte Phänomene chronologisch zu erfassen. Dennoch wird über die Zeit davor zu reflektieren sein, da nicht von einer Zeit vor und nach der Zäsur, sondern von einem fließenden Übergang ausgegangen wird, von Kontinuitäten also, die innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens betrachtet werden. Der Erste Weltkrieg wird in diesem Zusammenhang als derjenige Impuls verstanden, der dafür sorgte, die Anforderungen an die moderne Massengesellschaft mittels künstlerischer Artikulationen hervorbrechen zu lassen und zu manifestieren.

Als einen wicht igen Antrieb für die hier behandelten Ideen, Konstrukte und künstlerische Artikulationen ist die von England zwischen 1750 und 1850 ausgehende Industrialisierung zu sehen. Die an vielen Stellen zu findenden Hinweise auf eine Verschiebung der Wahrnehmung vo n der auditiven auf die visuelle Ebene sind jene Erklärungsversuche, die Etablierung der Medien als Massenmedien und den daraus resultierenden Faktoren zu beschreiben. Es soll der Versuch unternommen werden, Codes, Zeichen und Hinweise aufzufinden, die sich in die sich entwickelnde Populärkultur einschreiben, jedoch bereits vorgedacht wurden von einem verhältnismäßig kleinen Kreis an Künstlern, Literaten, Filmemachern und Intellektuellen.

Der zyklische Prozess zwischen Impuls und Reaktion ist auch hier wieder zu finden. Nichts steht für sich alleine und alles steht in Interdependenz mit den umgebenden

Page 11

Faktoren. Jedoch wurde aus praktischen Gründen eine bestimmte Zeiteinheit gewählt, in der sich in den Medien eine neue Form, ein neues Kommunikations-Setting etabliert, das sich eine rseits durch Flüchtigkeit, andererseits durch Geschwindigkeit auszeichnet.

Wie in jeder Epoche der Ungewissheit und der Umwälzung, ist auch die Zwische nkriegszeit zwischen 1917/18 und 1939 geprägt von starken künstlerischen Artikulationen, um mit den Zeitumständen zurecht zu kommen. Das Thema „Maschine“ und seine ästhetische Überhöhung ist keineswegs eine Erfindung des 20. Jahrhunderts.

It was the culmination of a long process, beginning in the seventeenth

century Europe, of trying to fit the rhythms, sensibilities, and creative dynamics of

the human body to those of the machine - the opposite of the 'primitive' habit of

investing machinery with a humanoid character.3

Konfrontiert mit den technischen Innovationen der Zwischenkriegszeit, sah man sich einem Input gegenüber, der aus verschiedenen Gründen daran interessiert war, den menschlichen Organismus zu modifizieren und den zeitlichen Umständen anzupassen. Man begann, den Körper aus der manuellen Vorzeit in die maschinelle und industrialisierte Jetztzeit zu übertragen. Diese subkutan und bereits mental vorhandenen Prädispositionen wurden durch Kriegserfahrung und die darauffolgende krisenartige Instabilität zutage gefördert. Der Krieg bedeutete die perfekte „Anti-Utopie“ und war ein Schlag ins Gesicht des Humanismus, der durch die darauffolgenden Nationalismen und Faschismen noch mehr in Zweifel gezogen wurde und in Buchenwald und Auschwitz seinen radikalen Abgesang erfuhr.

In dem Gefolge zum Übergang in das Maschinenzeitalter treten Strömungen auf, die, teils gefördert von der noch jungen Psychoanalyse (so vor allem im Surrealismus), die Kriegserfahrungen in einer Kritik gegen die herrschende Klasse artikulieren. Amos Vogel schreibt:

3Richard Stites: Revolutionary Dreams. S. 170.