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»So mitreißend, feinsinnig und schonungslos, dass es mich einfach nicht loslässt.« Alena Schröder, Autorin von »Junge Frau am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid« In der DDR geboren, im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen. Als die Mauer fällt, ist Stine gerade einmal drei Jahre alt. Doch die Familie ist tief verstrickt. In ein System, von dem sie nicht lassen kann, und in den Glauben, das richtige Leben gelebt zu haben. Bestechend klar und kühn erzählt Anne Rabe von einer Generation, deren Herkunft eine Leerstelle ist. Stine kommt Mitte der 80er Jahre in einer Kleinstadt an der ostdeutschen Ostsee zur Welt. Sie ist ein Kind der Wende. Um den Systemwechsel in der DDR zu begreifen, ist sie zu jung, doch die vielschichtigen ideologischen Prägungen ihrer Familie schreiben sich in die heranwachsende Generation fort. Während ihre Verwandten die untergegangene Welt hinter einem undurchdringlichen Schweigen verstecken, brechen bei Stine Fragen auf, die sich nicht länger verdrängen lassen. Anne Rabe hat ein ebenso hellsichtiges wie aufwühlendes Buch von literarischer Wucht geschrieben. Sie geht den Verwundungen einer Generation nach, die zwischen Diktatur und Demokratie aufgewachsen ist, und fragt nach den Ursprüngen von Rassismus und Gewalt. »Eine junge Frau will die Gewalt verstehen, die ihre Familiengeschichte durchdringt – und entlarvt dabei die brutale Selbstlüge einer ganzen Elterngeneration. Wie Anne Rabe eine eigene Sprache für diese Sprachlosigkeit findet – das ist ganz große Kunst.« Alena Schröder
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Anne Rabe
Die Möglichkeit von Glück
Roman
Klett-Cotta
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Anzinger und Rasp Kommunikation GmbH, München
unter Verwendung einer Abbildung von © Getty Images
Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde
Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-98463-7
E-Book ISBN 978-3-608-12161-2
Für Robert
Am Ende, wenn die Welt vergeht
Und kein Gedicht weiß, wer wir waren,
Wenn kein Atom mehr von uns steht
Seit zwölf Milliarden Jahren,
Wenn schweigend still das All zerstiebt
Und mit ihm auch die letzten Fragen,
Wird es die Welt, die’s nicht mehr gibt,
Niemals gegeben haben.
Wolfgang HerrndorfDu versuchst dich zu erinnern.
Da ist das Meer. Die Ostsee mit ihrem trüben, unruhigen Wasser, das rhythmisch an Land fährt, niemals lautlos. Der Hafen und die alten Speicher. Die Kräne der Werft und die Fischerboote. Da ist die Wasserkunst auf dem Marktplatz, unter dem ein Trommler hausen soll, der nächtens in ewiger Verdammnis seine Schläge tun muss. Der Kirchturm ohne Schiff, der alle Stunde läutet. Die schaurige Ruine hinter dem Bauzaun, die auch einmal eine Kirche war, und da sind die engen Gassen mit ihrem Kopfsteinpflaster.
An dieser Ecke war der Obstmarkt. Dort legte die Tante ein paar Bananen auf die Waage und Apfelsinen. Gegenüber der Imbiss, in dem ihr neuer Freund arbeitete und Mutter und dir Pommes mit Ketchup machte.
Der Weg zu den Großeltern führt den Russenberg hinauf, vorbei an der alten Kaserne.
Früher hätten die Russinnen ihre Pelzmäntel in der Stadt ausgeführt, erzählt man dir. Aber das war zu der Zeit, als diese Straße noch Rosa-Luxemburg-Straße hieß und auf die Karl-Liebknecht-Straße führte, was die Eltern immer sagen, wenn sie dich etwas holen schicken bei Freunden.
Da ist die erste Wohnung ohne Toilette und Badezimmer, da die zweite – drei Zimmer, Küche, Bad und ein separates WC. Gegenüber der Spielplatz, auf dem die Nazis saßen. Gleich um die Ecke die Wohnung von Tante Sabine und deiner Cousine Katja. Die Zimmer voller Aschenbecher und mit dem Barbiemobil und den Videokassetten vom Polenmarkt, die Katjas neue Väter ihr mitbrachten. Wie du den Duft von kalten Zigaretten liebtest, wenn die Tante dir einen abgetragenen Pullover von Katja schenkte.
In den Sandkästen vor dem Kindergarten stecken Besenstiele. Sie sind mit bunten Bändern aus Krepppapier umwickelt. Flieder hängt an ihnen und Luftballons! Es ist Juni, Kindertag, und es regnet. Aus dem flachen Gebäude hörst du dich und die anderen singen: Liebe, liebe Sonne …
Da ist das Haus, das Vater gebaut hat. Das winzige Zimmer ohne Schlüssel, das deins war.
Das Bett, in dessen Dunkel du versunken bist.
Da ist die Mutter.
Da der Vater.
Da ist Tim. Dein Bruder.
Wenn ich mich an Tim erinnere, spüre ich ihn hinter mir auf dem Schlitten sitzen. Damals in Tschechien, im Riesengebirge. Er klammert sich an mich, und wir fahren im Affenzahn einen Berg hinunter. Er vertraut mir, vertraut darauf, dass ich die Kurve noch kriege vor dem Abhang. Ich brülle: »Lenken, Timmi, du musst den Fuß raushalten!« Aber Tim, der jünger ist als ich, vielleicht sechs oder sieben, weiß nicht, was ich meine, und so greife ich mit meinem rechten Arm hinter mich und rufe: »Spring!« Der Schlitten saust ohne uns den Abhang hinunter.
An meine Geburt kann ich mich natürlich nicht erinnern. Ich weiß bloß, was man mir erzählt hat.
Drei Wochen früher als errechnet, kam ich auf die Welt. Mutter hatte Vater, der damals in einer anderen Stadt studierte, gerade noch zum Bahnhof begleitet, da platzte ihre Fruchtblase. Sie war nach Hause gelaufen, und ein Nachbar hatte sie ins Krankenhaus gebracht. Später einmal, als ich Mutter erzählte, wieviel Angst ich vor der Geburt meiner Tochter hätte, sagte sie bloß: »Man muss bei einer Geburt nicht schreien.«
Ich stelle mir vor, wie sie zwischen anderen Kreißenden in einem großen Saal vor allem darum bemüht war, die Fassung zu wahren. Wie herrische Hebammen ihr befahlen, sich zusammenzureißen. Was reinkommt, kommt auch wieder raus! Das sei doch kein Hexenwerk, das hätten Millionen von Frauen vor ihr auch überstanden.
Ich selbst werde zwei Jahrzehnte nach meiner eigenen Geburt in den Wehen liegen und an Mutters Worte denken. »Man muss bei einer Geburt nicht schreien.« Ich werde mich lange daran halten und hoffen, niemandem zur Last zu fallen. Aber schließlich werde ich mich dem Schmerz doch hingeben und ihn hinausbrüllen, um Klara endlich das erste Mal im Arm zu halten.
Daran wirst du dich immer erinnern.
Dieser kristallklare Moment nicht endenden Glücks, als Klara mich aus ihren großen Augen ganz ruhig ansieht und ich mich sagen höre: »Ich bin deine Mama, ich hab dich lieb.« In der ersten Nacht im Krankenhaus habe ich sie zu mir ins Bett genommen, und wäre ich nicht so erschöpft gewesen, hätte ich sie wohl die ganze Nacht hindurch angesehen.
Klara war so klein und zart, manchmal hattest du Angst, sie mit deinem bloßen Blick zu verletzen.
Meine ersten Tage habe ich im Säuglingszimmer zwischen anderen Schreihälsen verbracht. Zu festen Zeiten hat man uns unseren Müttern zum Stillen übergeben und dann gleich wieder in die kleinen Bettchen gelegt. Die Mütter mussten derweil über die Flure der Klinik watscheln, um schnell wieder auf die Beine zu kommen.
Nachdem Vater von meiner Geburt erfahren hatte, hat er sich in den Zug gesetzt und versucht, irgendwo einen Blumenstrauß für Mutter zu besorgen. Das war zu dieser Jahreszeit in diesem Land nicht einfach gewesen, würde er später betonen. Im Krankenhaus hat man mich vor seinen Augen aus dem Bettchen gehoben und an die Scheibe gehalten. Da war ich also. Jüngstes Glied einer langen Kette unglücklicher Umstände, die meine Familie sein würden.
Es gab einen Moment, da lag Klara vor mir auf dem Wickeltisch. Sie hat mich angelacht und die Freude über ihr schieres Dasein fuhr ihr durch alle Gliedmaßen. Sie strampelte vor Glück und ruderte mit den Armen. Ihr Lachen, ihr Vertrauen in mich … ich erinnere mich noch, dass ich ihre Füße vorsichtig massiert habe … keinen Moment lang hat sie daran gezweifelt, dass ich die Richtige für sie bin, dass ich ihre Mutter bin. Und dann habe ich ihr gesagt: »Ich bin so froh, dass es dich gibt, Klara, ich passe immer auf dich auf.« Da habe ich mir vorgenommen, ihr jeden Tag, egal was kommt, zumindest einmal zu sagen, dass ich sie liebe.
Aber manchmal, wenn ich sie auf dem Arm hielt, habe ich mir vorgestellt, sie einfach fallen zu lassen. Ich dachte, dann ist sie wieder weg. Dann ist alles vorbei.
Woher kam das? Woher der Wunsch, das ganze Glück zu zerstören?
Ich habe sie aufs Bett gelegt. In Sicherheit. Und mich danebengelegt, um ihr zuzuschauen.
Du stellst dir vor, dass du selbst einmal auf einem Wickeltisch gelegen hast. Oder vermutlich auf einem Bett. Oder einem Küchentisch. Und dass du Mutter angelacht hast und auf ihr Lachen gehofft. Aber du warst nicht Klara. Etwas muss anders gewesen sein zwischen Mutter und dir.
Als Klara fünf war und ihr kleiner Bruder Kurt gerade drei, waren die Eltern zu Besuch. Wir wollten Kurtis Geburtstag feiern.
Damit ich nicht allein mit den Eltern sein musste, hatte ich Freunde eingeladen. Auch Victoria, die ich schon seit der Schule kannte und die selbst gerade erst Mutter geworden war. Ich dachte, es wäre gut, wenn Mutter ein Baby auf dem Arm halten könnte. Dann wäre sie beschäftigt. Und tatsächlich landete Vickys Baby gleich bei ihr, und es sprudelte nur so aus ihr heraus. Ich sei ja ein ganz einfaches Kind gewesen. Mich hätte man schon nach wenigen Wochen abends einfach bloß ins Bett legen brauchen. Dort sei ich dann eingeschlafen. Ganz von allein.
Oder ganz allein.
Das Wichtigste für einen ordentlichen Schlafrhythmus sei es, die Stillzeiten einzuhalten, betonte Mutter. Nach vier Wochen hätte ich schon durchgeschlafen.
Sie gackerte unbeholfen herum und ließ sich von Vicky noch ein Glas Cremant eingießen. »Dass ich das noch erlebe, Alkohol in diesem Haus. Gut, dass du da bist, Vicky.«
Ich habe nichts gesagt. Ich kannte die Geschichte schon.
Sie würde nun erzählen, dass man die Kinder in der DDR regelmäßig zum Wiegen bringen musste. Dabei habe man festgestellt, dass ich zu leicht war. In meinen ersten Wochen hätte ich nicht genug Gewicht gemacht. Was Mutter aber nicht von ihrem Fütterregime abgehalten habe. Stattdessen habe sie es irgendwie geschafft, mir kurz vor dem nächsten Wiegen etwas einzuflößen. Und so sei sie durch die nächste Kontrolle gekommen.
»Und wie man sieht, es hat Stine nicht geschadet.«
Über Mutters Gesicht zog sich ein triumphales Lächeln, als sie die Geschichte zu ihrem Höhepunkt brachte, an dem alles nun so klang, als hätte sie Widerstand gegen die Staatsgewalt geleistet.
Die Erinnerungen an das Land, das meine Geburt beurkundet hat, sind blass. Die DDR lag 1986 in ihren letzten Zügen, aber davon wusste ich nichts in meinem Kinderbett. Und auch sonst hat wohl Mitte der 80er Jahre noch niemand geglaubt, dass es die Mauer bald nicht mehr geben, dass drei Jahre später eine friedliche Revolution das Land von Diktatur und Stasi befreien würde. Ich war vier, als es endlich hieß »Deutschland einig Vaterland«.
Ich weiß noch, einmal, da hing die Stadt voller Fahnen. Es muss um den siebten Oktober gewesen sein, dem Tag der Republik. Ich lief an der Hand von Mutter durch die Stadt, am Marktplatz vorbei, wo auch das Rathaus mit den Fahnen geschmückt war, in deren Mitte Hammer und Zirkel im Ährenkranz prangten.
»Leben wir in Deutschland?«, fragte ich Mutter und sie sah mich streng an und korrigierte, »nein, wir leben in der DDR.«
So als hätte ich etwas furchtbar Dämliches, Verkehrtes, etwas der Kategorie »Ich-geb-dir-gleich-ne-Kopfnuss«-Falsches gefragt, aber später, wenn von der DDR die Rede war, dachte ich oft an diesen letzten Tag der Republik, an dem ich ahnungslos die falsche Frage stellte.
Die Zeit, in die ich geboren wurde, ist das, was man heute eine historische Zäsur nennt. Alljährlich im Herbst laufen über die Bildschirme die glücklichen Bilder des Mauerfalls. Die Menschen, die sich in die Arme fallen und kaum fassen können, dass das, was da gerade passiert, wirklich geschieht. Auf ihren Gesichtern Erleichterung und die Möglichkeit von Glück.
Ich denke jedes Mal, jetzt ist der Krieg vorbei.
In diesem einen Moment sah es so aus, als könnte das, was jahrzehntelang Wunden in die deutschen Seelen und Körper geschlagen hatte, endlich heilen. Ich habe mir die Bilder so oft angesehen, dass ich manchmal glaube, ich würde diese Leute kennen. Ihre Tränen, ihr Lachen, die schiere Erschöpfung auch. Man kann sie ihnen ansehen, obwohl die Freude alles überstrahlen will. Die Sätze, die sie sagen, kann ich mitsprechen.
Jeder weiß, wo er am Tag des Mauerfalls war und wird sich vermutlich immer daran erinnern.
Ich lag in meinem Kinderbett und habe das ganze Spektakel verschlafen.
Mutter saß allein vor dem Fernseher. Oder war sie auch schon im Bett? Hat sie auch geschlafen? Von Vater weiß ich, dass er am nächsten Tag als Letzter die Baustelle bei Berlin, auf der er neben dem Studium arbeitete, verlassen hat, um wie seine Kollegen mal rüber zu machen, mal zu gucken, was da los ist.
»Man wusste ja auch nicht, ob die vielleicht wieder zumachen, und ich war ja auf Arbeit«, erklärte er später seine Zögerlichkeit.
Dass alles ein gutes Ende nehmen, die Grenze tatsächlich offen bleiben würde, das wusste damals noch nicht einmal Egon Krenz.
Wenn Hans-Dietrich Genschers Worte von der Prager Botschaft erklingen, »Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …«, und der Jubelschrei, der seinen Satz beendet, kommen mir wie auf Knopfdruck die Tränen.
Und wenn ich in irgendeiner Sache gefragt werde, wann sie stattfinden würde, rutscht auch mir manchmal ein »Das tritt nach meiner Erkenntnis, ist das sofort …, unverzüglich« heraus.
Die Geschichte ist mir so nah, ich komme nicht von ihr los. Ich suche nach Bildern aus der Zeit, versuche zu verstehen, wie das war. Warum fasst es mich so an?
Bilder zum Beispiel aus der Stadt, in der ich gelebt habe. Sie zeigen Zerstörung und Armut. Häuserzeilen, in denen unten zwar Läden sind, man aber durch die Fenster der oberen Stockwerke schon den Himmel sehen kann. Die Kirchenruinen. Die toten Speicher am Hafen.
Ich erinnere mich an die Wohnungen ohne Toilette, ohne Bad. Daran, dass meine Cousine Katja und ich uns davor geekelt haben, das Klo im Hausflur zu benutzen. Wie kalt es darin war und voller dicker Spinnen. Ich erinnere mich an den Ofen, an dem ich mir die Hand verbrannte, als ich mich beim Rollerfahren daran abgestützt habe. Und daran, dass ich nie bei einem meiner Freunde gedacht habe: Das ist aber eine schöne Wohnung!
Überall die gleichen Möbel, das gleiche Braun. Die Rillen in der Couchgarnitur »Usbekistan«. Die Bananen, die ich nicht mochte, weil wir sie gegessen haben, wenn sie noch grün waren. Ich dachte lange, sie wären schlecht, sobald sie ein paar braune Stellen hatten.
Die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, liegt an der Ostsee. Eine Hansestadt, deren Backsteingotik heute Teil des UNESCO-Weltkulturerbes ist. Dort ist von der Ruinenlandschaft, in der ich laufen lernte, heute kaum noch etwas zu erkennen.
Der Aufbau Ost ist mit einer solchen Akribie vorangetrieben worden, dass es schwerfällt zu glauben, zwischen all dem lägen nur dreißig oder vierzig Jahre. Zu den Jubelbildern gesellt sich ritualhaft der Diskurs über die Unterschiede zwischen den beiden Landesteilen. Genauso eifrig, wie man die Städte in Pastell getaucht hat, wird nun danach gesucht, warum der Osten anders tickt, anders wählt, rechter ist und gewalttätiger.
Meine Erinnerungen an die Wendezeit sind so bruchstückhaft, so flatternd, sie ergeben kein wirkliches Bild, kein eindeutiges Gefühl. Auf meiner Suche nach Antworten finde ich den Film 7/10/89 – Makulatur von Kerstin Süske.
Die Redakteurin des Dokumentarfilmstudios der DEFA hatte am 6. und 7. Oktober 1989 zusammen mit Freunden von der Filmhochschule ohne Genehmigung in Berlin die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR gefilmt: Sie bewegt sich mit ihrer Kamera durch die Stadt. Nimmt den Fackelzug der FDJ und auch die Gespräche in der Erlöserkirche auf, die sich um eine mögliche Neuordnung des Landes drehen. Man sieht aber auch eine Kindergartengruppe, die von ihrer Erzieherin auf den Geburtstag ihrer Heimat eingeschworen wird. Da stehen sie also, die letzten Kinder des Sozialismus und tragen artig vor, was sie in den Tagen und Wochen zuvor einstudiert haben.
Auf die Frage ihrer Erzieherin, wer denn nun heute Geburtstag hätte, antworten sie artig: »Die Republik!«
Auf die Frage danach, wer diese Republik sei, drucksen sie jedoch herum und drehen stattdessen etwas ratlos die gebastelten Blumenwimpel, die »Winkelemente«, im Herbstlicht.
»Wir alle, wie wir hier stehen. Alle Kinder, alle Erzieher, der Hausmeister, unsere Küchenfrauen, alle sind unser Land …«, leiert die Erzieherin ihr Programm runter.
Auch wird den Kindern noch einmal eingetrichtert, dass man sich ja nun »extra geschmückt und vorbereitet« hätte, weil dieses Unserland heute Geburtstag hat.
Dann werden die Jüngsten aufgefordert, eine kleine Bühne zu betreten. Brav stapfen sie die Treppe hinauf, deren Stufen fast noch zu groß für sie sind. Einige wanken, geraten aus dem Gleichgewicht, aber man sieht ihnen an, wie sehr sie gewillt sind, diese wichtige Aufgabe vor der Kamera zu meistern. Sie stellen sich schließlich vorn an der Bühne auf:
»Flugzeug, fliege, nimm Grüße mit von mir. Flieg in die Sowjetunion, Druschba sagen kann ich schon …«, singen sie.
Währenddessen rollen durch die Straßen der Hauptstadt die frisch polierten Panzer der Nationalen Volksarmee.
Ob eines dieser Kinder die Sowjetunion kennt? Ob sie verstehen, was die Erzieherin meinte, als sie davon sprach, dass sie alle die Republik seien? Wissen sie, dass Druschba Freundschaft heißt und dass man sie darauf vorbereitete, dieses »Freundschaft!« schon bald bei jeder Gelegenheit als Begrüßung laut und ernst zu verkünden?
Die Lieder, jedenfalls, würden in wenigen Wochen aus ihren Köpfen verschwinden und mit ihnen auch diese seltsame Republik.
Eines der Kinder könntest du sein. Die Melodie kommt dir angenehm vertraut vor.
Du hältst ein flatterndes Fähnchen gegen die Sonne. Du singst gern und schickst Grüße weit fort in ein Land mit einem seltsamen Namen.
Einmal habe ich Vaters Mutter, Oma Ursel, nach der Nazizeit gefragt und sie hat erzählt, dass sie nach Kriegsende in ein Geschäft gegangen sei und beim Eintritt mit dem in Fleisch und Blut übergegangenen »Heil Hitler!« gegrüßt hätte. Dafür sei sie ausgeschimpft worden, dabei sei es keine böse Absicht gewesen, hatte sie mir versichert.
Die vergessenen Lieder, die irgendwo in dir vergraben sind. Das Koordinatensystem, in dem du dich bewegtest, Schritt für Schritt hinein in die Struktur, die Institutionen, die Rituale.
Und dann – nichts mehr.
Stille.
Stillsein.
Das war dir schon vertraut, denn
zuerst hast du das Schweigen gelernt.
Der Hunger, der dich in deinen ersten Lebenswochen nachts überfiel, war nicht deiner. Durfte nicht deiner sein. Du hast bis zum Morgen gewartet und gelernt, darüber hinwegzuschlafen.
Als ich das erste Mal schwanger war, hoffte ich, es würde ein Mädchen werden. Ich hatte gehört, dass Jungen häufiger als Mädchen Schrei- und Speikinder sind, und davor hatte ich eine irre Angst.
Ein Mädchen würde ich ganz sicher bedingungslos lieben können.
Zwei Jahre nach Klara war ich mit Kurti schwanger. Und Kurt kam mit einem Schrei zur Welt, der drei Monate nicht enden würde. Es war anstrengend, auch wenn ich Kurti nicht, wie befürchtet, weniger geliebt habe als Klara. Ich habe ihn durch die Wohnung getragen, ihn gewiegt und besungen, wenn er so sehr schrie, dass selbst seine kleinen Handrücken von dieser Anstrengung schweißnass waren – so lange, bis er schließlich erschöpft einschlief und ich nicht mehr tun konnte, als mich kraftlos neben ihn zu legen.
Einmal habe ich mit Mutter darüber gesprochen, ihr erzählt, dass ich nicht mehr weiterwüsste und nur hoffte, es würde bald besser werden. Ich wollte wieder arbeiten, musste auch, aber wie sollte das mit Kurti gehen?
»Wir haben Tim als Baby einfach schreien lassen. Das hat uns und deinem Bruder sehr geholfen«, sagte Mutter am anderen Ende der Leitung, ohne lang zu überlegen.
Ich habe nichts darauf gesagt. Nicht widersprochen. Aus dem hinteren Teil der Wohnung hörte ich Kurti auf dem Arm seines Vaters weiterschreien.
Es ist nicht so, dass ich nicht auch einmal die Tür hinter dem Baby geschlossen hätte und gewartet, ob es sich von selbst beruhigen würde. Aber ich habe das nicht lange ausgehalten. Es war nicht nur unmöglich, das Schreien auszublenden, es tat mir körperlich weh, der Schrei fuhr mir direkt in die Knochen. In meine Brüste schoss die Milch und drückte sich schmerzhaft durch die entzündeten Brustwarzen.
Er meinte mich. Nur mich. Kurti schrie nach mir. Nach Halt und Nähe. Ich war das Muttertier, das er brauchte, und mit nichts anderem wäre ihm geholfen gewesen.
Mein Sohn schrie genau, wie Tim geschrien hat, als die Welt, in die man ihn geworfen hatte, noch zu groß für ihn war. Damit das Schreien meines Bruders mich nicht weckte, legte man mich zum Mittagsschlaf in ein anderes Zimmer. Ich hörte ihn trotzdem, aber ich wusste, dass ich das Bett nicht verlassen durfte. Auch nicht, wenn Mutter zum Einkaufen in die Stadt gegangen war.
Ich blieb im Elternbett liegen, bis man mir erlaubte aufzustehen. Und Tim schrie, bis er nicht mehr konnte und bis er gelernt hatte, dass es nichts nützte. Niemand würde kommen, egal wie sehr er es sich wünschte.
Meinem Bruder soll es geholfen haben.
Und vielleicht stimmt das sogar.
Einmal erzählen die Eltern vom Wanderurlaub im Harz, da waren sie bei Tim zu Besuch und spielten gerade mit seinem vierjährigen Sohn. Als Timmi selbst vier Jahre alt war, sind sie zusammen mit uns Kindern den Brocken hochgelaufen. Dieser Berg, auf dessen Gipfel sich in der Walpurgisnacht angeblich die Hexen und Hexer zum Fest treffen, hat seinen Namen nicht ohne Grund. Ich erinnere mich noch, dass Tim und ich manche Abschnitte auf allen Vieren hochgekraxelt sind.
Zwischen Kaffee und Kuchen berichten die Eltern stolz von diesem Aufstieg. Davon, dass Tim irgendwann nicht mehr konnte und weinend darum gebettelt habe, getragen zu werden. Schließlich sei er so müde gewesen, dass er sich in den Graben am Wegrand gelegt und beinahe eingeschlafen wäre. Vorbeikommende Wanderer hätten schon Mitleid mit ihm gehabt, sagt Mutter. Sie habe gewusst, ergänzt sie lächelnd, würde sie Tim auch nur einen Moment hochnehmen, müsste sie ihren Sohn den ganzen Weg tragen.
»Und am Ende hast du es ja doch geschafft.«
Tim hätte die Eltern hinauswerfen sollen mit ihren blöden Geschichten. Aber er hat bloß sein Kind angeschaut und nichts gesagt.
Alle Familien haben solche Geschichten. Gemeinsame Erlebnisse, die eine Familie zu einer Familie machen. Geschichten, die man sich immer wieder erzählt. Die Geschichten von einem missglückten Weihnachtsbraten, von Irrfahrten zu einem lang ersehnten Urlaubsziel, Missgeschicke und Tollpatschigkeiten, die einem noch immer die Lachtränen in die Augen treiben. Diese Geschichten, an die man denkt, wenn man Zuhause denkt.
Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir über unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein.
An mehr als die Sache mit den Fahnen erinnere ich mich kaum vom letzten Geburtstag der Republik. Ich war auch nicht bei der Demo auf dem Marktplatz. Dabei waren viele Kinder da. Als Schutz vor Verhaftungen. Es war die größte Demonstration in Norddeutschland gegen die Machthaber der SED. Man ist vor die Stasizentrale gelaufen und forderte das Ende des Überwachungsterrors. Und als Zeichen des friedlichen Protests hatte man vor das Büro der Kreisleitung der SED Kerzen gestellt.
Warum hat man uns davon nie erzählt? Warum wurde darüber auch in der Schule nicht gesprochen?
Die neue Zeit kommt mit dem Mittagessen. 1990. Als alles vorbei ist. Der Gruppenraum im Kindergarten ganz am Ende des Flurs im Flachbau, nur fünf Minuten zu Fuß von der Wohnung mit der separaten Toilette.
Aus einem Radio knarzt die Stimme von Matthias Reim. »Verdammt, ich lieb dich, ich lieb dich nicht …« Während das Land um euch zusammenbricht, singt ihr mit piepsigen Stimmen: »Hier kommt Kurt – ohne Helm und ohne Gurt.« Und genau wie Frank Zander ruft ihr: »Schluss jetzt, wir wollen tanzen!«
Das Mittagessen wird nicht mehr gekocht, es werden Styroporkisten angeliefert, in die du neugierig lugst.
Es gibt echte Corny-Riegel mit Erdbeergeschmack!
Doch die bunte Verpackung hält nicht, was sie dir versprochen hat. Der Riegel schmeckt scheußlich, und du musst würgen. Aber die Kindergärtnerin, Frau Preußler, sagt, dass du aufessen sollst.
Während die anderen Kinder sich zum Mittagsschlaf hinlegen, sitzt du vor dem Riegel. Der ist nicht zu schaffen. Wie sehr du dich auch bemühst, du bekommst das klebrige Ding nicht runter.
Aber. Du. Musst.
Alles hatte sich verändert, heißt es.
Und das stimmte ja auch!
In diesem Sommer war ich mit Oma Ursel und Opa Arnd bei McDonald’s.
Das neue Land schmeckte anders, aber die Regeln, denen wir uns unterzuordnen hatten, waren noch dieselben.
Du isst gefälligst auf, wenn du dir etwas genommen hast.
Wer Frau Preußler eine Freude machen wollte, massierte ihr den schweren Rücken. Und wer frech war oder laut, musste beim Mittagsschlaf neben dem rothaarigen Bettnässer Kim liegen. Wenn es regnete, stellten wir uns in Zweierreihen im Flur auf und sangen: »Liebe, liebe Sonne, komm ein bisschen runter, lass die Wolken oben, dann wollen wir dich loben …«
Meine Eltern waren Mitglieder der Staatspartei SED. Die Großeltern auch. Das weiß ich, und dass sie nach der Wende noch eine ganze Weile Mitglieder in der von Gregor Gysi geführten PDS blieben. Irgendwann, als ich alt genug war und der ganze Umbruch weit genug weg, haben sie es mir erzählt. Es war ihnen wichtig, dass sie erst ausgetreten sind, als es plötzlich darum ging, Posten zu verteilen und sich Vorteile zu verschaffen. Sie wollten nicht einfach umfallen. Keine Wendehälse sein. Aus dem, was sie alle vier Jahre in der Wahlkabine ankreuzten, machten sie ein Geheimnis, dabei wusste ich, dass sie die PDS wählten.
Wendehals – ein Wort, über das ich als Kind viel nachgedacht habe. Aber ich habe mich nicht getraut zu fragen.
Unter einem Wendehals habe ich mir einen langen Schwanenhals vorgestellt, den Schwanenkopf, der sich darauf im Kreis dreht. Immer im Kreis. Aber wozu?
Als ich zehn Jahre alt war, das war 1996, erklärte Vater mir den Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus.
Wir saßen in unserem roten Opel Kadett auf dem Parkplatz vor dem Marktkauf.
Sommerhitze. Und die Autos hatten noch keine Klimaanlage. Um an Luft zu kommen, musste man die Scheiben händisch herunterkurbeln. Trotzdem machte der Opel etwas her. Kurz nach der Wende hatte dieser unseren Trabbi ersetzt. Er hatte Anschnallgurte, ein Radio und einen Kassettenspieler.
Mutter war mit Tim in den Supermarkt gegangen, und ich wartete, mit Vater in der Hitze brütend, auf ihre Rückkehr. An dem Supermarkt gefiel mir, dass die Menschen ihre Einkäufe in Papptüten ohne Henkel heraustrugen, wie in den amerikanischen Filmen, die ich manchmal mit Katja sah, denn Katja hatte Videokassetten. Ansonsten mochte ich es nicht, einkaufen zu gehen. Langweilig. Ich blieb lieber im Wagen und hörte im Radio »die Hits der 70er, 80er und das Beste von heute!«.
»Im Kommunismus«, setzte Vater an, »sind alle Menschen gleich und verdienen das gleiche Geld. Eigentlich braucht es im Kommunismus überhaupt kein Geld mehr. Das wird dann wahrscheinlich abgeschafft.«
Das Geld brauche es im Kommunismus deshalb nicht, da allen alles gehören würde. Es würde sich also nicht mehr lohnen, Dinge anzuhäufen oder sich zu bereichern. Vielmehr würden die Menschen in eine Kaufhalle gehen und sich nur das nehmen, was sie wirklich bräuchten. Die Vorstellung gefiel mir, ohne dass ich hätte sagen können, warum. Es klang gerechter, vielleicht.
Im Kommunismus, erläuterte Vater weiter, würde der Müllmann genauso viel verdienen wie ein Professor, der Maurer genauso viel wie ein Architekt. Denn wenn man es genau nähme, dann sei kein Mensch mehr wert als der andere. Wie sollte ein Architekt ein Haus bauen, wenn er niemanden hätte, der ihm die Mauern hochzieht? Was würde passieren, würde niemand mehr den Müll fahren?
»Klassenunterschiede sind eine Erfindung der Herrschenden«, stellte Vater fest.
Im Radio rief jemand nach Macarena.
Ich wusste nicht, was er mit Klassen meinte, aber ich nickte und sagte ab und zu: hmm. Ich wollte ihm wirklich gern glauben, und das mit dem Geld und dem Wert der Menschen leuchtete mir sofort ein.
Du denkst daran, dass du einmal in der Grundschule eine Welt ohne Geld geschrieben hast, auf die Frage, was ihr euch wünscht. Eine Welt ohne Geld und Weltfrieden.
»Und was ist mit dem Sozialismus?«, fragte ich ihn.
»Der Sozialismus ist die Vorstufe vom Kommunismus. Das war die DDR.«
Dass wir in der ehemaligen DDR lebten und dass ich selbst noch in der DDR geboren war, wusste ich. Auf meinem roten Impfpass waren Hammer und Zirkel eingestanzt. Ich mochte das kleine rote Heft, nahm es manchmal aus der Schublade, in der Mutter ihre Dokumente aufbewahrte, und strich mit den Fingern über das Emblem. Der Kranz um die Symbole der SED-Diktatur verliehen diesem Nachweis meiner Immunität gegen Masern, Tetanus und Windpocken etwas Feierliches. Ich wusste aber auch, dass dieser Impfpass aus einer anderen Zeit stammte, dass hier alles einmal ganz anders gewesen war, dass meine Eltern unsere Vergangenheit in zu Ostzeiten und zu Westzeiten einteilten, dass es Ossis und Wessis gab, dass die Wessis schlecht und die Ossis, also auch ich, irgendwie besser waren, auch wenn die Wessis das ganz anders sahen.
Jon Bon Jovi brüllte so laut, dass Vater sich genötigt sah, das Radio abzudrehen.
Ich sah aus dem Fenster den Menschen zu, die vollbepackte Einkaufswagen über den Parkplatz bugsierten. Dabei drohten die Wagen, plötzlich auszuscheren und einem fremden Auto den Lack zu zerkratzen. Sie alle hatten vor wenigen Jahren die Mauer eingerissen, stellte ich mir vor. Sie alle hatten sich also gegen den Sozialismus gewandt? Wieso? Ich hatte dafür kein Verständnis. Was Vater gerade erzählt hatte, war doch vollkommen richtig. Wäre doch idiotisch, in einer solchen Welt nicht leben zu wollen. Arbeit und Versorgung für alle statt der drohenden Arbeitslosigkeit, die in den 90er Jahren so selbstverständlich war wie das Salzwasser der Ostsee.
Aber Vater kannte die Gründe. Die Menschen in der DDR seien noch nicht bereit gewesen, behauptete er. Sie hätten noch nicht verstanden, dass der Kapitalismus ihnen nur schaden würde. Sie würden eben nur an sich denken, an ihren eigenen Vorteil, und seien viel zu gierig. Aber eines Tages, wenn der Krieg um die Ressourcen ausbreche, wenn alle erkannt hätten, dass es kein unendliches Wachstum geben könne, dann käme der Sozialismus zurück. Dann würden die Menschen wieder für den Kommunismus und eine gerechtere Welt kämpfen. Dann würden sie verstehen, dass man nicht zwanzig verschiedene Sorten Joghurt bräuchte, sondern eine einzige eben auch satt mache.
Ich hatte mich schon manchmal gefragt, was diese DDR war, und nun war alles klar. Sie war das bessere Land, die bessere Idee. Ihre Zeit würde kommen.
Ich erinnere mich daran, wie sehr ich mir als Jugendliche ein FDJ-Hemd gewünscht hatte. Ich wäre gern Jungpionier gewesen. Wie man einen Pionierknoten bindet, hatte ich mir von Mutter zeigen lassen. Mit wehenden Fahnen wäre ich vorneweg marschiert, wenn wir den 50., den 60. und den 70. Jahrestag der Republik gefeiert hätten.
Als ich älter wurde, dachte ich deshalb konsequent, dann muss es eben eine Diktatur sein! Wenn die Menschen zu blöd sind, das Richtige zu tun und sich immer nur um sich selber scheren, muss man sie eben zwingen. Überhaupt – eine Diktatur wie die DDR, wäre das wirklich eine Diktatur? Mir machten viel mehr die Nazis Angst, die in den 90ern die Straßen beherrschten und im Osten der 00er-Jahre schließlich einen Weg in die Parlamente finden würden. 9,4 Prozent der Stimmen holte die NPD 2004 in Sachsen und 2006 zog sie auch in den Schweriner Landtag ein. Die Nazis waren für mich eine echte Gefahr. Der Sozialismus dagegen eine gute Idee, die man nur noch nicht richtig umgesetzt hatte.
VOR ACHT JAHREN
Da war eine Zeit
Da war hier alles anders.
Die Metzgerfrau weiß es.
Der Postbote hat einen zu aufrechten Gang.
Und was war der Elektriker?
Bertolt BrechtWo fängt eine Geschichte an? Wo fängt meine Geschichte an?
Wenn ich an den Anfang denke, sehe ich Paul vor mir, meinen Großvater.
Paul, der mit seinem viel zu großen Fahrrad, auf dessen Sattel er noch nicht sitzen kann, durch das Berlin der dreißiger Jahre flitzt. Er ist zwar groß, in seiner Schule ruft man ihn den Langen, aber für das Fahrrad reicht es noch nicht. Trotzdem ist es sein ganzer Stolz. Er spielt Rennfahrer und hängt sich in den Windschatten eines Busses. Dort strampelt er wie verrückt, bleibt dran, lässt sich nicht abschütteln und merkt, dass es ganz leicht wird, wenn er möglichst dicht hinter dem Bus fährt. Was der Zehnjährige nicht bedenkt, ist, dass der Bus gelegentlich hält. Also knallt der kleine Lange mit voller Wucht gegen den Riesen aus Blech und klatscht auf das Pflaster. Ängstlich und mit aufgeschlagenen Armen und Beinen schiebt er sein Rad zurück nach Hause. Als der Vater von seiner Dummheit erfährt, fragt er nur: »Und dit Ratt? Isset noch heil?«
Die Tage bei Oma Eva und Opa Paul waren ordentlich. Es gab gutes Essen, das Eva kochte (immer Sahnesoße), und Orangensaft aus Trinkpäckchen von ALDI. Die Zweiraumwohnung im obersten Stockwerk eines Plattenbaus war kurz nach der Wende vollgestopft mit Erinnerungen an früher, an Opa Pauls Reisen. An der Wand hingen Teppiche aus der Mongolei, und in einer Vitrine in der Schrankwand standen Trinkbecher aus Karlovy Vary und Figürchen aus Glas, die ich nicht schön fand.
Die Wohnung hatte einen Balkon, aber auf dem waren wir nie, obwohl man von dort aus sicherlich einen ganz guten Blick gehabt hätte. Die Spiele für meine Cousine Katja, Tim und mich befanden sich auch in der Schrankwand, in einer langen Schublade. Es war übersichtlich. Es gab ein Portemonnaie mit Spielgeld (das waren vor allem Ostmark), ein Kartenspiel, ein Steckhalmaspiel und eine Spielesammlung, aus der wir entweder Mensch ärgere dich nicht, Mühle oder später auch Schach spielten.
Opa Paul hat uns nie gewinnen lassen.
Ich habe Jahre gebraucht, um ihn im Mühlespiel zu besiegen, und selbst nie daran geglaubt, dass es einmal so weit kommen würde.
Als Tim und ich klein waren, spielten wir eigentlich immer das gleiche Kartenspiel mit ihm. Das Spiel hatte keinen Gewinner und hieß »Rote Karte, schwarze Karte«. Es bestand lediglich darin, dass Opa Paul den Kartenstapel nahm und ihn ordentlich durchmischte. Dann wurden die Karten nacheinander aufgedeckt und wir sollten raten, ob die nächste Karte eine rote oder eine schwarze Karte wäre. Das ging so etliche Runden.
Aber es gab auch einen Fernseher. Am liebsten sahen wir das Zirkusfestival aus Monaco oder die Zaubershows von David Copperfield (der war mit Claudia Schiffer zusammen, die fand Vater »total scharf«). In meiner Erinnerung flimmerten diese Shows in den 90ern beinahe wöchentlich über die Bildschirme und brachten einen Hauch von großer, weiter Welt zu uns.
Ich war vollkommen fasziniert davon. Besonders einmal, als der Magier die Zuschauer vor dem Fernseher einlud, sich ein Symbol unter vielen, die auf dem Bildschirm erschienen, auszusuchen und es sich fest einzuprägen. Er versprach, er würde per Telepathie erraten können, welches Symbol ich mir ausgesucht hatte. Ich musste nur fest genug daran denken. Dann sollte ich von meinem Symbol ausgehend mit einem Finger mal drei Schritte hoch, vier Schritte nach links oder rechts, kreuz und quer über die anderen Symbole hopsen und am Ende landete ich tatsächlich wieder auf dem von mir ausgesuchten Symbol. Copperfields Fahrt die Niagarafälle hinab, gefesselt in einem Holzfass, oder sein Gang durch die Chinesische Mauer, das Verschwindenlassen der Freiheitsstatue in New York, waren nichts gegen die Magie, die von diesem einfachen Trick auf mich abstrahlte.
Weshalb Opa Paul genauso begeistert war, weiß ich nicht. Zu dieser Zeit war er schon fast blind, und ich musste ihm erklären, was auf dem Bildschirm passierte.
Meinem Großvater die Welt zu erzählen, ihm nicht nur zu sagen, wann eine Stufe kommt oder wann wir die Straße sicher überqueren konnten, war für mich nicht ungewöhnlich. Auf unseren Spaziergängen durch den nahegelegenen Tierpark berichtete ich ihm, was ich sah. Wie viele Bisons an den Zaun kamen, ob ein Pfau unseren Weg kreuzte oder was die Waschbären gerade veranstalteten. Wir gingen nebeneinanderher, und ich erklärte ihm alles. Manchmal fragte er: »Da vorn? Ist das ein Hirsch?« Und wir freuten uns jedes Mal, wenn er richtig lag. Als gäbe es noch Hoffnung darauf, dass der Schleier sich wieder heben würde.
Später würde er es mit einer Laseroperation versuchen, aber vergeblich. Die Augen waren zu trüb. Die Verbesserung war zwar prozentual erstaunlich, aber was sind schon fünfzig oder sechzig Prozent mehr von fast nichts?
Jedes Jahr zum Kindertag am 1. Juni bekamen mein Bruder Tim, unsere Cousine Katja und ich eine neue Jahreskarte für den Tierpark. Die Freude war mäßig, auch wenn Katja und ich den freien Eintritt manchmal nutzten, um auf den großen Spielplatz dort zu gehen. Ich war wohl die Einzige, bei der sich die 15 DM gelohnt hatten. Paul und ich spazierten viel. Meist durch den Tierpark. Später, als die Großeltern in eine andere Wohnung in der Nähe der Seebrücke zogen, gingen wir jeden Sonntag eine Stunde am Strand entlang.
Dabei hatte ich oft das Gefühl, dass es Mutter nicht recht war, dass ich mich mit ihrem Vater so gut verstand. Als wir kleiner waren, wurden Tim und ich viel häufiger bei Vaters Eltern untergebracht.
Mir gefiel es aber besser bei Oma Eva und Opa Paul. Es war ruhiger, es passierte nicht viel.
Die Geschichte, wie er mit dem Fahrrad auf den Bus geknallt ist, hat er mir am Gehege von den Greifvögeln erzählt. Dann noch eine, da ging es darum, dass man nicht auf ältere Kinder hören solle. Er selbst sei einmal von ein paar Jungen dazu überredet worden, in eine Stromleitung zu greifen, und habe bloß Glück gehabt, dass nicht allzu viel passiert sei. Schmerzhaft sei es trotzdem gewesen und dumm.
Und später dann, als ich schon ein Teenager war, erzählte er noch von der brennenden Synagoge in der Oranienburger Straße und dass er nicht zur Hitlerjugend gegangen sei, aber das sei nur in Berlin möglich gewesen und vor allem deshalb so gekommen, weil es ihm da einfach nicht gefallen habe, schon zur Begrüßung »Heil Hitler!« zu brüllen.
Er sagte auch, er habe im Krieg zum Glück niemanden erschießen müssen und dass es doch das gute Recht eines jeden Landes sei, die eigene Grenze zu verteidigen. Die Menschen, die man an der Mauer erschossen habe, die wussten doch, was ihnen drohte. Genau wie er, als er über sechs Zäune gesprungen sei, um aus der sowjetischen Gefangenschaft zu fliehen.
Wir gingen so nebeneinander her und ich war froh über alles, was er sagte. Jeder Satz ein kleiner Fetzen Geschichte, ein kleines Stück vom Anfang. Es kam mir vor, als könnte ich so ein bisschen was verstehen, als würde Opa Paul aus der Vergangenheit ein kleines Stückchen Boden holen, auf dem es sich laufen ließe, auf dem ich Tritt fassen könnte. Aber es war zu wenig. Unsere Schritte nebeneinanderher waren zu vorsichtig. Wir spielten Nicht-den-Fußboden-berühren, ohne zu lachen.
Die Eltern haben mit Tim und mir nie über ihre Kindheit gesprochen. Und auch Opa Paul erzählte nichts von dem Mädchen, das meine Mutter einmal gewesen war. Er erzählte nur von sich. Viel war es nicht, und ich war zu jung, um das Wenige zu hinterfragen. Ich nickte, und wie um zu beweisen, dass ich verstanden hatte, lernte ich die Brecht-Gedichte auswendig, die er mir vorlegte, um sie ihm vorzulesen.
»Adolf Hitler, dem sein Bart, ist von ganz besonderer Art. Kinder, da ist etwas faul, ein so kleiner Bart und ein so großes Maul.
Balthasar war Bürstenbinder. Er hatte siebenundzwanzig Kinder. Sie banden alle Bürsten, sie lebten nicht wie Fürsten …«
Aber auch Brechts Bitte An die Nachgeborenen und das Lob des Kommunismus.
»Die Ausbeuter nennen ihn ein Verbrechen, aber wir wissen: Er ist das Ende der Verbrechen.«
Ich las und lernte. Opa Paul hatte noch ein paar AMIGA-Platten, aber keinen Plattenspieler mehr. Deshalb besorgte er uns eine CD – Die sieben Todsünden der Kleinbürger. Auch Die Dreigroschenoper konnte ich auswendig mitsingen. Und ich versuchte alles zu verstehen, alles zu begreifen.
Wenn Paul von den Anfangsjahren der DDR sprach, sagte er: »Weißt du, Stinchen, ich kam aus dem Krieg, für mich gab es nur eins: Nie wieder Faschismus!«
Wenn ich jetzt daran denke, wünsche ich mir, er hätte den Satz weitergeführt. Das große Aber ausgesprochen, das hätte folgen müssen und von dem ich später hoffte, dass es auf seiner Zunge lag.
Eine Ahnung davon, was er mir nicht erzählt hat, bekam ich, kurz bevor ich zum Studium nach Berlin ging.
Sein jüngerer Bruder Wilhelm war zu Besuch gekommen. Aus München. Was schon spektakulär war. Wilhelm wohnte nicht bloß im Westen, er war beim Fernsehen wer gewesen und hatte einen Schlager geschrieben, dessen erste Choruszeile noch heute ein geflügeltes Wort ist.
Über Wilhelm hat Paul nie viel gesprochen. Aber die Videokassetten mit den TV-Serien, die Wilhelm geschrieben hatte, standen alle bei Opa Paul im Regal, und ich hatte schon ein paarmal darin geblättert. Außerdem kannte ich alles aus dem Fernsehen.
Von den beiden wusste ich bloß, dass sie nach dem Krieg getrennt wurden. Opa Paul war in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und Onkel Wilhelm, so hieß es, bei den Amerikanern gelandet. Da hatte Opas jüngerer Bruder dann angeblich Englisch gelernt und im Westen schnell Karriere gemacht.
Ich hatte mich sehr auf Onkel Wilhelm gefreut, und als ich in der Wohnung meiner Großeltern ankam, gefiel mir gleich alles an ihm. Er begrüßte mich als Kollegin, wohl weil ihm sein Bruder von meinen mageren Theaterversuchen erzählt hatte. Paul war äußerlich ruhig wie immer, aber ich sah seine Finger nervös auf der Sessellehne auf und ab tippeln.
Zum Kaffee gab es Kuchen, den Oma Eva bei ALDI gekauft und nur halb aus der Folie gezogen hatte. Eigentlich backte meine Großmutter die fantastischsten Kuchen. Nur für den Schwager aus dem Westen gab es den billigen Marmorkuchen, dessen Glasur aus Kakaoersatz, Fett und Zucker bestand.
Ich erinnere mich noch, dass Opa Paul die ganze Zeit schwieg und Onkel Wilhelm beständig von »ihr in der Zone« sprach.
Das Land war geteilt worden. Die Familie zerrissen. Opa Paul hatte sich als Einziger aus seiner Familie für ein Leben im Osten entschieden. Die DDR, das hatte er mir mit all den Gedichten von Brecht und seinen eigenen Erzählungen versucht zu verdeutlichen, war »das bessere Deutschland« gewesen. Die richtige Entscheidung.
Diese letzte Begegnung der beiden Brüder fand etwa zwei Jahre vor Pauls Tod statt. Nach jahrzehntelangem Schweigen hatten sie es gerade so geschafft, sich noch einmal zu sehen. Aber anschauen wollten sie einander nicht mehr. Gleich nachdem Opa Paul gestorben war, schickte Eva einen Brief an ihren Schwager Wilhelm. Darin lag die Todesanzeige aus der Zeitung und dazu eine knappe Notiz. Sie wünschte keinen weiteren Kontakt.
»Jedes Land hat das Recht, seine Grenze zu verteidigen.«
Ich dachte, ja, das stimmt, das ist doch richtig. Und verstand nicht, dass die DDR ihre Grenze vor allem nach innen verteidigen musste. Gegen sich selbst.
Gegen all jene, die die Republik waren, wie ich im Kindergarten gelernt hatte. Gegen jene, denen alles gehörte, die alles miteinander teilten, wie Vater gesagt hatte. Gegen die Gerechtigkeit.
Was ich auch nicht verstand, Paul sprach von sich selbst, von seinem Recht, seine Grenze zu verteidigen.
Du siehst euch laufen, er immer links, du immer rechts. Er sagt, das muss so.
Du kommst auf deinem Fahrrad vom Roten Weg, der bei Gegenwind ziemlich steil werden kann, und siehst in das Küchenfenster. Da steht schon Oma Eva und hält nach dir Ausschau. Du winkst und weißt, dass sie Paul jetzt sagt, dass er sich anziehen kann. Wenn du zur Tür reinkommst, gibst du Oma Eva die Hand und umarmst sie flüchtig. Auch Opa Paul. Dann geht ihr los, und sie in die Küche, um zu kochen.
Er immer links und du immer rechts.
Du sagst: »Vorsicht Stufe.«
Dabei zählt er doch beim Gehen die Schritte und weiß genau, wo die Stufen sind. Weiß, wo der Bordstein höher ist und wo die Stolperfallen sich befinden.
Kurz vor der Seebrücke kommt ihr an einer Villa vorbei. Da bleibt ihr stehen. Am Gartentor. Opa Paul holt aus seiner Tasche eine Tüte mit Leckerlis für den Schäferhund. Wenn der Hund nicht kommt, ist Opa Paul ein bisschen enttäuscht.
Dann entscheidet ihr euch. Wie ist der Wind? Geht ihr auf die Seebrücke oder doch lieber hinter den Bäumen entlang durch das Wäldchen hinter der Steilküste?
Ihr sprecht über dies und das. Viel über Literatur. Und er sagt vorsichtig ein paar Sätze. Über den Krieg, über seine Jahre als Schuldirektor.
Und einmal erzählst du von der Todesangst, die du hattest, als du schwer krank warst. Als Mutter dich nicht zum Arzt gebracht hat und du vor Schmerzen kaum noch laufen konntest.
Statt ins Krankenhaus hat sie dich an diesem Sonntag zu ihm gebracht. So war es schließlich verabredet. Die Stufen hoch zur Wohnung versuchtest du zu nehmen, ohne die Miene zu verziehen. Du wolltest nicht zeigen, wie schlecht es dir ging, und batest nur darum, dich erstmal setzen zu können. Opa Paul sagte dann, dass ihr vielleicht lieber nicht spazieren geht, und du warst erleichtert.
Stattdessen saht ihr zusammen ein Tennisspiel im Fernsehen an. Rafael Nadal, als er das erste Mal bei den French Open über den Platz flitzte. Opa Paul war begeistert. Und du auch.
Einige Wochen später ging es dir besser, und da ist es aus dir herausgefallen: »Ich hab gedacht, ich sterbe.«
Opa Paul blieb kurz stehen und sah dich durch seine blinden Augen an: »Da hat Mutti es aber übertrieben«, sagte er.
Ein anderer Anfang.
Ich denke an Ada. Ich muss oft an sie denken. Das liegt daran, dass Ada lange meine beste Freundin war und ich diese Freundschaft kaputt gemacht habe.