Die Mondtänzerin - Petra Grill - E-Book

Die Mondtänzerin E-Book

Petra Grill

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Beschreibung

Die bewegende Geschichte einer Gemeinschaft von Außenseitern und des legendären Zirkus Krone

Januar 1887: In einer eiskalten Winternacht kommt in einem notdürftig mit Stroh gepolsterten Eisenbahnwaggon Pipa zur Welt. Ihr Status als Findelkind spielt keine Rolle in der ungewöhnlichen Familie, die sich ihrer annimmt: Die bärtige Jungfrau Rosalia und der sanfte Gewichtheber Antonio ziehen sie groß wie ihre eigene Tochter. Sie alle sind Teil der »Menagerie Continental«, die sich auf dem Weg befindet, der große Zirkus Krone zu werden. Und Pipa wird ihr Star sein: Als gefeierte Artistin wird sie sich in schwindelnden Höhen vor jubelnden Menschenmengen durch die Lüfte schwingen. Dabei hört die Frage nach ihrer wahren Herkunft nie auf, an ihr zu nagen. Endlich zu Hause fühlt sie sich bei Henry, ihrer großen Liebe. Doch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs reißen die beiden auseinander und drohen auch den Zirkus für immer zu zerstören.

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Seitenzahl: 616

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Das Buch

Januar 1887: In einer eiskalten Winternacht kommt in einem notdürftig mit Stroh gepolsterten Eisenbahnwaggon Pipa zur Welt. Ihr Status als Findelkind spielt keine Rolle in der ungewöhnlichen Familie, die sich ihrer annimmt: Die bärtige Jungfrau Rosalia und der sanfte Gewichtheber Antonio ziehen sie groß wie ihre eigene Tochter. Sie alle sind Teil der Menagerie Continental, die sich auf dem Weg befindet, der große Circus Krone zu werden. Und Pipa wird ihr Star sein: Als gefeierte Artistin wird sie sich in schwindelnden Höhen vor jubelnden Menschenmengen durch die Lüfte schwingen. Dabei hört die Frage nach ihrer wahren Herkunft nie auf an ihr zu nagen. Endlich zu Hause fühlt sie sich bei Henry, ihrer großen Liebe. Doch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs reißen die beiden auseinander und drohen auch den Zirkus für immer zu zerstören.

Die Autorin

Petra Grill wohnt in ihrer Heimatstadt Erding. Mit ihrem Debüt »Oktoberfest 1900« gelang ihr auf Anhieb der Sprung auf die SPIEGEL-Bestsellerliste. In »Die Mondtänzerin« schreibt sie endlich die lang ersehnte Geschichte über die magische Zirkuswelt, die sie schon immer zu Papier bringen wollte. Es ist ihr zweiter Roman bei Heyne.

Petra Grill

DIE

MOND

TÄNZERIN

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 11/2024

Copyright © 2024 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Redaktion: Ingola Lammers

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München, unter Verwendung von Trevillion Images (Magdalena Russocka), Ullstein Bild (brandstaetter images / Archiv Seemann), Zirkus, Shutterstock.com (Elena SchweitzerESB Professional, korkeng)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-29892-0V002

www.heyne.de

PROLOG

Januar 1887

Eiskristalle fegten mit dem Fahrtwind durch die Ritzen ins Innere des Eisenbahnwaggons. Sie stachen und brannten auf nackter Haut wie Säure, heiß statt kalt. Die Schmerzensschreie der Frau auf dem Stroh erstickten im Rattern des Zugs und im aufgeregten Scharren, Schnauben und Stampfen der Pferde, die im vorderen Teil des Waggons angebunden standen. Gestank nach Schweiß und Blut und der weiße Dampf des Atems derer, die ihr zu helfen versuchten und ihr Mut zusprachen, wogten um sie herum.

Ganz am Rand des Waggons, gerade so, dass sie außer Reichweite der trampelnden, vor Angst fast panischen Pferde waren, presste das kleine Mädchen sich gegen die kaum größere Gestalt ihres Bruders. Sein Körper gab ihr Wärme, seine Hand drückte ihr Gesicht gegen seine Brust und hielt ihr das Ohr zu, als könnte er seiner Schwester so das Wissen darum ersparen, dass die Mutter auf dem besudelten Strohlager soeben ihre Lebenskraft in eine eisige Winternacht hinausbrüllte, um ein Geschwisterchen zur Welt zu bringen.

»Dümmste Idee, die wir je hatten.«

Der barsche Satz verhallte im Dunkel, während die frierenden Männer über den Bahnhof von Ala stapften, Rosalia hinter ihnen her, in ein gestricktes Umschlagtuch gewickelt. Frischer Schnee knirschte unter den Sohlen, ein paar Gaslaternen füllten den Bahnsteig mit milchigem Licht und ließen das Weiß glitzern. Die Grenzstation zwischen dem Königreich Italien und dem habsburgischen Kaiserreich bestand nur aus ein paar einstöckigen Gebäuden, hineingezwängt zwischen die Schienen der Brennerbahn und die Felswände der Alpen, fast erstickt unter ihrer Schneedecke. Zollbeamte freilich gab es auch, sich schwer wichtig nehmende und kaum Deutsch parlierende Beamte, um genau zu sein, und diese bestanden trotz Nacht und Kälte darauf, alles zu begutachten, was sich in den angemieteten Viehwaggons Richtung Bozen bewegte.

»Hätte mich nie drauf einlassen sollen.« Der Leiter der kleinen Wandermenagerie, der sie sich in Innsbruck angeschlossen hatten, machte normalerweise nicht viele Worte, so viel hatten Rosalia und Antonio bereits verstanden. Am liebsten sprach Herr Krone gar nicht. Rosalia konnte sich kaum vorstellen, wie dieser einsilbige, schwerfällige Mann Zuschauer in seine Vorstellungen locken wollte. Dass er jetzt zwei Mal ohne Not gesprochen hatte, ließ sich nur dadurch erklären, dass Herr Krone schwer verärgert war. Worte und Ärger richteten sich an den jüngeren Mann, der neben ihm her durch den Schnee stapfte, beide Hände tief in den Taschen seiner abgetragenen wollenen Jacke vergraben, seinen Sohn Fritz. »Kostet uns ein Vermögen, dieses Abenteuer. Wird uns rein gar nichts bringen.«

Mit dem Abenteuer meinte er wohl die Fahrt über die Alpen, um den Winter mit seiner Tierschau im wärmeren Italien zu verbringen. Eine Tournee, hatte der junge Fritz es gegenüber Antonio genannt, mit dem ganzen Übermut eines Siebzehnjährigen. Ein gewagter Begriff für die kleine reisende Menagerie, die von der Hand in den Mund lebte wie die meisten ihrer Art, deren tierische Ausstellungsobjekte beinahe nur aus ein paar Wölfen und Bären bestanden und deren Käfigwagen so baufällig in Innsbruck angekommen waren, dass die Krones sich entschlossen hatten, sie nicht mehr zu reparieren, sondern zu verkaufen und nach ihrer Ankunft in Italien neue anzuschaffen. Lediglich die Pferde hatten sie mitgenommen, und das schöne hölzerne Schild, das den Namen des Unternehmens verkündete: »Menagerie Continental«.

Ein Name ebenso gewagt wie das Wort »Tournee«, nach Rosalias Ansicht.

»Hätten in Erfurt überwintern sollen.«

»Wir müssen einmal etwas Neues ausprobieren, Vater.« Fritz schaute trotzig geradeaus. »Ohne Risiko kein Erfolg.«

»Du hörst dich an wie Karl. Ihr Schlauberger, die Fahrt wird uns viel mehr kosten, als sie einbringt.«

Rosalia schmunzelte bitter in sich hinein und tauschte einen Blick mit Antonio. Solche Diskussionen kannte sie zur Genüge. Alle Schaustellerfamilien kannten sie.

Die italienischen Zollbeamten warteten schon vor dem Viehwaggon. Im Inneren konnte man die Pferde randalieren hören, die die ungewohnte Fahrt und der Schneesturm unterwegs völlig verängstigt hatten. Einer der schweren Kaltblüter donnerte die Hufe gegen die Wand, dass die Bretter bebten. Die beiden Krones hätten sowieso nach den Tieren sehen wollen, sie hatten kaum von etwas anderem gesprochen, aber ohne lästige Zöllner an der Seite. Vater und Sohn beherrschten nur Deutsch, ein hartes, kantiges Deutsch, von einer ganz anderen Klangfärbung als die weichen österreichischen und breiten süddeutschen Dialekte, die Rosalia bisher gewohnt war. Antonio brauchten sie als Dolmetscher. Rosalia hätte ebenfalls übersetzen können, hatte sich den Männern aber nur angeschlossen, weil sie nicht neben Frau Krone, die auf dem Gepäck eingeschlafen war, in der zugigen Bahnhofshalle sitzen bleiben wollte.

Die Kälte draußen tat ihr gut. Sie linderte ein wenig den Schmerz, den körperlichen in Rosalias geschwollenen Brüsten und den seelischen bei der Erinnerung an den winzigen Körper, den man in Innsbruck in einem Grab in der Ecke des Friedhofs verscharrt hatte. Rosalias Tochter hatte keinen ganzen Tag gelebt.

Warum? Warum strafte Gott sie so sehr? Oder lag es an Rosalia selbst? Konnte eine Kreatur wie sie keine lebensfähigen Kinder gebären? Die Blicke, mit denen die überraschten Zollbeamten ihr ins Gesicht sahen, auf den dichten, leicht rötlichen Vollbart, der sich um ihre Lippen bis hinunter zum Kinn zog, mochten genau das besagen. Einer der Zöllner bekreuzigte sich.

Rosalia schob die bohrenden Gedanken zur Seite mit einer ähnlichen Kraftanstrengung, wie die Männer sie aufwenden mussten, um die vereiste Tür des Viehwaggons zu öffnen.

»Was zum Teufel …!«

Herrn Krones Ausruf ging beinahe unter in dem aufgeregten italienischen Geschnatter der Zollbeamten. Offenbar hatte Herr Krone vergessen anzugeben, dass sich außer den Pferden noch weitere Ausstellungsstücke seiner Menagerie in dem Waggon befanden: seine »Negertruppe«, wie man alle exotisch anmutenden Gruppen aus fernen Ländern nannte. In diesem Fall handelte es sich um eine Gruppe Inder, Bengalen wohl, braune Gestalten mit dunklem Haar und breiten Gesichtern. Vier Männer, drei Frauen und sogar ein paar Kinder. Kinder waren besonders beliebt bei den weiblichen Zuschauern, die Frauen erregten hin und wieder das Interesse von Herren. Die Krones hatten die Truppe offenbar sehr günstig erstanden, ein Glücksfall. Eine der Frauen war obendrein schwanger.

Oder vielmehr, schwanger gewesen. Als die Verriegelung der Waggontür sich endlich löste, schlug ihnen eine Welle an Gestank entgegen, Blut, Schweiß, Pferdekot. Die Bengalin lag auf dem Stroh, mit dem der Viehwaggon ausgelegt war, unter einer löchrigen Decke, die notdürftig den Dreck und das Blut verbarg, mit eingefallenen Wangen und schwer atmend. In ihrem Arm lag ein winziges Wesen. Unförmiger Kopf, verschmierte braune Ärmchen.

In Rosalia zog sich alles zusammen.

Die Zollbeamten redeten auf Antonio ein, der umständliche Erklärungen gab. Die beiden Deutschen, Vater und Sohn, starrten einen langen Moment ins Wageninnere.

»Hol deine Mutter«, befahl Vater Krone schließlich. »Müssen den Saustall aufräumen. Und das Kind muss ins Warme.«

»Ich nehme es«, hörte Rosalia sich sagen. Noch ehe der Gedanke Zeit gehabt hatte, ihr bewusst zu werden.

Herr Krone schaute sie an. Seine grimmige Miene änderte sich kein bisschen, dennoch konnte Rosalia ihm ansehen, dass er Bescheid wusste. Wahrscheinlich hatte Antonio ihm von dem Grab in Innsbruck erzählt. Rosalia sprach zu niemandem darüber. Herr Krone nickte.

Die Bengalen wichen zur Seite, als Rosalia der Mutter das Kind aus den Armen nahm. Die Frau war zu schwach, um zu sprechen, aber sie reckte den Kopf und streckte einen Arm nach dem Säugling aus. Rosalia brummte ein paar beruhigende Worte, die die Frau sicher nicht verstand. Sie sank zurück auf das Stroh.

Als Rosalia den Säugling, sorgfältig eingehüllt in das wollene Tuch, zur Stationshalle trug, stapfte Herr Krone neben ihr her.

»Die macht’s nicht«, sagte sie halblaut und meinte die Bengalin damit. »Der schaut Gevatter Tod schon aus den Augen.« Sie warf einen Blick auf den schweigsamen Mann, musste aber bis fast zur Schwelle der Halle warten, ehe eine Antwort kam.

»Schauen wir erst. Wenn sie wirklich … Das Kleine braucht Milch.«

»Es ist ein Mädchen«, sagte Rosalia. Und nachdem sie einmal heftig geschluckt hatte: »Meins war auch ein Mädchen.«

Ein unwirscher Laut, hinter dem sich alles und nichts verbergen konnte, dann ein kurzes Nicken in Richtung Rosalias Armbeuge. »Wer weiß, ob das da durchkommt.«

Rosalia drückte den kleinen Körper unter dem Tuch fest an sich. In diesem Moment fühlte sie sich fast hellsichtig. Doch, dieses Kind würde durchkommen. Dafür würde Rosalia sorgen.

»Wir nennen es Giuseppina.«

TEIL I

MONDAUFGANG

1.

Am Anfang war das Fliegen.

In Pipas frühesten Erinnerungen packten zwei grobe Hände sie an den Schultern, rissen sie fort von den Gitterstäben, an denen sie sich hochziehen wollte. Zu diesem Bild gehörten scharfer, durchdringender Raubtiergeruch und grelle Angst, als Pipa ohne Vorwarnung durch die Luft sauste und mit den Beinen hilflos im Nichts strampelte.

»Rosalia! Halt das Gör von den Käfigwagen fern, oder ich schick’s zurück zur Negertruppe!«

Dann fühlte Pipa sich ebenso plötzlich aufgefangen, in die Arme genommen, eingehüllt in Weichheit und Wärme, und der scharfe Gestank der Wölfe wurde abgelöst von Mamma Rosalias dick aufgetragenem englischem Parfüm.

»Bitte nicht, Herr Krone! Ich schau schon auf die Kleine, versprochen!«

Die Gestalt des Mannes mit der durchdringenden, heiseren Stimme knurrte zur Antwort etwas Böses und wandte sich ab. In Pipas Erinnerung hatte der Mann kein Gesicht, alles, was sie im Gedächtnis behielt, waren der gewaltige Schnurrbart, dessen Spitzen nach oben gezwirbelt waren, und die schmalen, tief liegenden Augen, die sie zornig anfunkelten.

»Du darfst Herrn Krone nicht böse sein«, erklärte Mamma ihr später, als sie allein, oder vielleicht mit Pappa Antonio, im Wagen saßen, auf der rot und gelb gestrichenen hölzernen Bank, die sich am Abend in Pipas Bett verwandelte. Es roch nach Holz und Rauch und nach der Suppe, die Mamma Rosalia mittags und abends auf dem kleinen Bollerofen kochte. »Er hat Angst um dich, verstehst du? Und zu Recht. Wie oft habe ich dir gesagt, du darfst die Hand nicht zwischen die Gitterstäbe stecken? Wie oft? Warum gehorchst du nicht?« Und dann folgte die grausame Erzählung, die Pipa später immer wieder hören sollte, wie eines Morgens, nur ein paar Monate nach Pipas Geburt, der junge Sohn von Herrn Krone in den Wagen zu seinen Bären gegangen war, um ihnen Kunststücke beizubringen.

»Das tat er jeden Tag, doch dieses Mal … Wir haben ihn gehört. Vom ganzen Jahrmarkt, aus allen umliegenden Buden sind die Leute zusammengelaufen, so hat der arme Fritz geschrien, aber die Ersten am Käfig waren Herr Krone und dein Pappa. Einer der Bären hat Fritz das Bein zerfleischt und ihn mit seinen Pranken fast erdrückt. Herr Krone hat durchs Gitter mit einem Jagdmesser nach dem Bären gestochen, und dein Pappa ist in den Wagen gestiegen und hat den Jungen herausgeholt.«

»Weil der Pappa der stärkste Mann der Welt ist«, sagte Pipa stolz. So viel wusste sie damals schon, hatte sie bereits von dem begriffen, was Herr Krone vor den Vorstellungen den Leuten zurief, die über den Jahrmarkt gingen. Und weil Pappa Antonio der stärkste Mann der Welt war, brauchte Pipa auch keine Angst zu haben, wenn er sie übermütig in die Höhe warf und wieder auffing und sie dabei »Uccelina« nannte, einen kleinen Vogel, den er fliegen ließ. Mit Pappa Antonio war Fliegen nicht furchteinflößend, sondern lustig und aufregend.

Mamma nahm Pipa lächelnd in den Arm und küsste sie in rascher Folge auf die Stirn, auf die Wangen und die Augen. Ihr Bart kitzelte Pipa dabei im Gesicht, bis Pipa lachen musste.

»Der stärkste Mann der Welt, genau. Aber auch wenn dein Pappa Antonio den armen Fritz aus dem Käfig gezogen hat, konnte ihm niemand mehr helfen. Sie haben ihn auf einem Karren ins Krankenhaus geschafft, und dort ist er gestorben. Kannst du verstehen, warum Herr Krone nicht will, dass du in die Nähe der Wölfe gehst? Er ist nicht böse, er möchte nur nicht, dass du verletzt wirst. Seit dem Unglück mit dem armen Fritz lässt er die Tiere immer nur im Käfig, und niemand darf ihnen mehr Kunststücke beibringen.«

Pipa nickte und sagte ja, sie verstehe es. Aber ganz verlor sie ihre Angst vor dem grimmigen, wortkargen Mann mit dem riesigen Schnurrbart nie.

Obwohl sie oft Mühe hatte, ihn überhaupt als denselben Mann zu erkennen. Denn wie alle Mitglieder der kleinen Reisegesellschaft in den Wohnwagen konnte Herr Krone sich verwandeln. Wenn Pipa ihm tagsüber zwischen den Wagen begegnete, wenn er wortlos die Tiere fütterte, sah er aus wie ein Bauer oder Knecht, in Hemdsärmeln und Weste und mit einem abgerissenen Strohhut auf dem Kopf, von dessen Rändern einzelne Halme abstanden. Abends jedoch, wenn sie in einem Dorf haltmachten, trat er aus seinem Wohnwagen im schimmernden dunklen Anzug, einen Zylinder auf dem Kopf und ein seidenes Einstecktuch in der Tasche, und führte zwischen den Tierkäfigen Zuschauer herum, die dafür vorher bei Frau Krone ein Billett am Kassenhäuschen gekauft hatten.

Niemand, nicht einmal Pappa Antonio, war dann so elegant wie Herr Krone.

Doch so freundlich er sich Pipa gegenüber später gab, die Drohung mit der »Negertruppe« konnte Pipa nicht vergessen. Sie kannte solche Gruppen; auf den Jahrmärkten, auf denen die Menagerie Continental aufbaute und Mamma Rosalia und Pappa Antonio auftraten, sah sie immer wieder welche. Die Angst, ihren Eltern weggenommen und in eine solche Truppe gegeben zu werden, verließ Pipa lange Zeit nicht, obwohl sie nicht begriff, weshalb Herr Krone die Macht haben sollte, so etwas zu entscheiden.

Wenn er sich neben dem Kassenhäuschen aufbaute und den Leuten zurief, sie sollten in seine Menagerie kommen, verwandelte Herr Krone sich nicht nur äußerlich. Seine Stimme, sonst rau und heiser, war dann voll und angenehm und trug weit. Führte er die Zuschauer von Käfig zu Käfig, wurde er auf einmal gesprächig, sogar witzig, er erfand die tollsten Geschichten zu seinen Tieren, um das Publikum zu unterhalten, rühmte die Gefährlichkeit der Wölfe und der einzelnen Löwin, die einsam in ihrem Käfigwagen saß. In Wahrheit waren die Wölfe alt, an Menschen gewöhnt und so zahm, dass einer, der einmal unbemerkt aus dem Käfigwagen entwischt war, danach stundenlang auf den hölzernen Stufen des Käfigwagens saß, mit den Pfoten an den Dielenbrettern vor dem geschlossenen Gitter scharrte und winselnd darauf wartete, dass jemand ihm das Tor öffnete. Die Löwin war blind und schlief außerhalb der Vorstellungen friedlich auf einer alten Decke, Herr Krone musste sie zwischen den Käfigstangen hindurch mit seiner Reitgerte anstoßen oder ihr einen Fleischbrocken hinwerfen, damit sie das Maul aufriss und die Leute sich über das Gebiss und das Brüllen gruseln konnten. Doch wenn Herr Krone erzählte, tat er es so überzeugend, dass sogar Pipa sich beinahe vor der blinden Seida fürchtete.

Auch die Geschichte seines toten Sohns erzählte Herr Krone, am Wagen mit den Braunbären. Den größten unter ihnen nannte er stets den »Mörderbären« und behauptete, er sei derjenige, der Fritz umgebracht hatte.

»Das stimmt natürlich gar nicht«, erzählte Frau Krone, wenn Mamma Rosalia mit Pipa zu Besuch in ihren Wohnwagen kam, »den Bären hat damals der Jagdwächter von Neuruppin erschossen.« Sie zwinkerte Pipa zu. »Aber das ist unser Geheimnis. Die Leute kommen zu uns, um etwas Besonderes zu sehen, etwas Wunderbares, Gefährliches oder Entsetzliches. Das müssen wir ihnen auch geben.«

Vielleicht lag darin tatsächlich ein Geheimnis, dachte Pipa, ein Geheimnis das ein bisschen so war wie Zauberei. Während der Vorführungen an den Käfigwagen verwandelte Herr Krone nicht nur sich, sondern sogar die Tiere. Solange Herr Krone sprach, wurden sie die Monster, von denen er erzählte, und der dicke Bruno schaute tatsächlich so bösartig und gefährlich drein, als hätte er den armen Herrn Fritz auf dem Gewissen.

Die kleine, spitznasige Frau Krone mit ihrem unmerklichen Lächeln und ihrer vornehmen Art mochte Pipa viel lieber als Herrn Krone. Nachdem sie am Abend an der Kasse gesessen hatte, zählte sie am nächsten Vormittag stets sorgfältig die Münzen auf dem schwarz lackierten Damensekretär ihres Wohnwagens zu kleinen Säulen. Sie hatte sehr schlanke, schmale Hände mit langen Fingern, ihre Nägel glänzten mehr als viele der abgegriffenen Kupfermünzen. Außerdem gab es noch drei Töchter, die aber älter als Pipa waren und außerdem nicht immer mit ihren Eltern reisten, sondern oft Monate oder sogar Jahre bei Verwandten in Berlin blieben. Frau Krone stammte aus gutem Haus, erzählte Mamma Rosalia, ihr Großvater war ein berühmter Zauberkünstler gewesen, dessen Familie in einem prächtigen Haus in Berlin lebte. Frau Krone legte deshalb Wert darauf, dass ihre Töchter mehr lernten, als Bärenkäfige zu reinigen oder ein Lama zu füttern. Wenn sie da waren, halfen sie freilich mit und passten auch manchmal auf Pipa auf, damit Pipa sich nicht heimlich zu Mamma Rosalia in die Vorstellung schlich.

Noch jemand verwandelte sich zu den Vorstellungen: Mamma und Pappa. Pappa Antonio trug dann ein enges Trikot und eine kurze Hose, die seine Muskeln frei ließen, darin stemmte er Gewichte und zog ganz allein einen schweren Wagen wie ein Pferd. Und Mamma legte eines der wunderschönen Kleider an, die sie in einer eigenen, mit Messingbeschlägen versehenen Truhe im Wohnwagen verstaut hatte. Wenn Pipa brav gewesen war, öffnete Mamma Rosalia diese Truhe für sie und erlaubte Pipa, mit der Hand über die glatten, glänzenden Stoffe zu streichen. Die Farben dieser Stoffe trugen Namen, die Pipa sich von Mamma Rosalia immer wieder vorsagen ließ, weil sie geheimnisvoll und fremdartig klangen, Purpur, Safran, Scharlach, Azur, Turmalin. Am Ausschnitt und an den Nähten hatten diese Kleider immer viele glitzernde Steinchen und Bänder in Gold und Silber. Wenn Mamma Rosalia eines dieser Kleider trug, bemalte sie Lippen, Wangen und Augenlider mit viel Farbe, steckte sich das Haar mit einem funkelnden Kamm zu einem Knoten in die Höhe, hängte sich zwei große Ringe an die Ohrläppchen, kämmte ihren Bart sehr sorgfältig und benutzte Bartwichse, um ihn zu formen. Manchmal durfte Pipa ihr dabei helfen und die Pomade verstreichen.

Wenn Mamma Rosalia zur Vorstellung ging, von Kopf bis Fuß schimmernd und glitzernd, dachte Pipa, so müsse eine Königin aussehen. Genau wie die Königinnen in den Märchen, die sie Pipa später am Bett erzählte, damit sie abends einschlief trotz der vielen lauten lachenden und betrunkenen Menschen, die rund um ihren Wohnwagen über den Jahrmarkt stromerten und sich gegenseitig von den Wundern berichteten, die sie dort erlebt hatten.

Mamma Rosalia, Pappa Antonio, der Wohnwagen mit seinen immer wieder ausgebesserten, bunt gestrichenen Möbeln, der Geruch der Tiere, der Lärm der Jahrmärkte, daraus bestand Pipas früheste Welt. Die Krones waren irgendwie auch immer da gewesen. Obwohl es eine Zeit gegeben haben musste, als Mamma und Pappa ohne diese Familie unterwegs waren. Pappa Antonio redete manchmal davon, wenn er sich, was oft vorkam, über Herrn Krone geärgert hatte. »Ich hätte nicht übel Lust, ihn mit seiner ganzen Menagerie und seiner aufgeblasenen Sippschaft sitzen zu lassen! Früher sind wir auch alleine durchgekommen, Rosa. Wir stehen nicht bei ihm unter Vertrag, wir brauchen nur zu gehen.«

Aber irgendwie gingen sie dann nie.

Frau Krone, die Pipa einmal, als sie allein bei ihr war, vorsichtig zu fragen wagte, ob Pappa Antonio und Herr Krone einander nicht mehr lieb hätten, lachte herzlich und strich Pipa über den Kopf. »Das ist immer so, Kleine. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Das hat nichts zu bedeuten. Die Zeiten sind hart, da liegen die Nerven blank. An manchen Tagen weiß Herr Krone kaum, wo er das Futtergeld für die Tiere hernehmen soll. Aber keine Angst, deine Eltern wollen uns bestimmt nicht wirklich verlassen. Wir reisen jetzt schon seit drei oder vier Jahren zusammen, ziemlich genau so lange, wie du auf der Welt bist, und wir ergänzen uns gut, wir mit unseren Tieren und dein Pappa und deine Mamma mit ihren Vorführungen. Man streitet sich, und man schimpft und ärgert sich, und dann hilft man sich gegenseitig aus und hat sofort alles wieder vergessen.« Sie kitzelte Pipa am Bauch, und Pipa musste lachen und strampelte mit den Beinen. »Warte nur, ein paar Jahre, dann bist du vielleicht selbst schon ein Teil unserer Truppe.«

Von der Welt außerhalb sah Pipa in dieser Zeit wenig mehr als die Beine fremder Menschen, die ihnen Platz machten, wenn Pipa an der Hand von Mamma Rosalia über den Jahrmarkt stolperte, oder die Gebirge, Häuser und Hügel, die vor dem Fenster des Wohnwagens vorbeizogen, sooft sie unterwegs waren. Erst mit der Zeit lernte sie, die verschiedenen Plätze auseinanderzuhalten, auf denen die Wagen hielten. In kleinen Dörfern waren sie meist allein, nur die Wagen der Krones und der von Pipas Eltern, dorthin ließen sie sich von Pferden ziehen. »Wie früher«, sagte Pappa Antonio, der dann immer einen der Käfigwagen kutschierte, meist den mit den Bären, während Mamma Rosalia den eigenen Wagen lenkte. Auf dem Land kamen weniger Zuschauer, und Pipa konnte abends schneller einschlafen, weil es still blieb um die Wohnwagen. Dafür staunten die Leute dort mehr, selbst über die dürren Hyänen mit ihrem heiseren Gebell und über die alten zottigen Wölfe.

Bevor sie in ein Dorf hineinfuhren, hielten sie an. Die Kutschpferde wurden gestriegelt, und Pappa Antonio hängte ihnen kleine Glöckchen ans Geschirr. Meistens liefen den Wagen dann die ersten Kinder schon aufgeregt entgegen, oder jemand rief: »Die Zigeuner kommen«, die Haustüren öffneten sich, und Leute schauten ihnen nach. Pipa, die dann neben ihrer Mutter auf dem Kutschbock saß, winkte stolz zu diesen Fremden hinunter und fühlte sich auch ein bisschen wie eine Königin.

In die Städte fuhren sie dagegen oft mit der Eisenbahn. Pipa liebte diese Reisen, während Herr Krone immer über die Kosten schimpfte, erzählte Mamma Rosalia mit einem Schmunzeln. Die Lokomotiven waren gewaltig, sie dampften und stampften, und Pipa schaute gern zu, wenn die Tiere verladen wurden. Oft fuhren sie nachts, weil die Nachtzüge billiger waren. Dann hing der Mond als einziger Fixpunkt oben am schwarzen Nachthimmel, während unter ihm Bäume, Flüsse und Häuser dahinflogen wie ein reißender Fluss. Pipa konnte sich nicht sattsehen daran.

»Natürlich magst du die Eisenbahn«, sagte Pappa Antonio eines Tages lachend. »Schließlich bist du in einem Eisenbahnwaggon zur Welt gekommen.«

Aber da hatte er sich wohl verplappert, denn Mamma Rosalia schaute ihn bitterböse an, bis er ganz still wurde, und sprach dann von etwas völlig anderem. Pipa hätte gern mehr gehört, traute sich aber nicht zu fragen, da Mamma merklich nicht darüber reden wollte. Da lauerte ein weiteres Geheimnis im Verborgenen und wartete darauf, entdeckt zu werden.

Die Dorfkinder zerrten es als Erste ans Licht.

Neben den undeutlichen Erinnerungen daran, wie Herr Krone sie an jenem Tag vom Käfigwagen fortriss und sie so heftig durch die Luft schwang, dass sie zu fliegen glaubte, war dies eine weitere Szene, die sich fest in Pipa verankert hatte. Die Wohnwagen hielten an diesem Tag in irgendeinem Dorf, auf einer Wiese hinter einem Bauernhof. Nachmittags gab es für die Leute Führungen vorbei an den Käfigwagen, und Pappa Antonio und Mamma Rosalia zogen sich ihre schönen Kostüme an und ließen sich bewundern. Am nächsten Vormittag ging Mamma in ihren gewöhnlichen Kleidern in den winzigen Kramladen des Orts einkaufen. Sie brauchte neue Nadeln und Nähgarn, weil an den Kleidern oft etwas ausgebessert werden musste. Pipa nahm sie auf diesen Spaziergang mit, was sonst selten vorkam, und weil das Geschäft wirklich sehr klein und eng war und schon ein paar Kunden darin standen, setzte sie Pipa vor dem Eingang auf eine Bank in die Sonne.

»Bleib hier sitzen, ich bin gleich wieder da. Ich sehe dich durchs Fenster.«

Das Fenster war gleich hinter Pipa, und sie konnte Mamma durchs Fenster zuwinken. Außerdem konnte sie sehen, dass die Frauen in dem Geschäft alle auf einen Schlag zu sprechen aufhörten, als Mamma Rosalia eintrat. Die Frauen musterten Mamma Rosalia von oben bis unten, vor allem ihren Bart, und schauten dann verlegen zur Seite. Selbst die Frau hinter dem Tresen blickte Mamma Rosalia nicht ins Gesicht.

»Bartgesicht, Bartgesicht!«, kam es plötzlich höhnisch, wenn auch verstohlen hinter dem nächsten Hauseck hervor. Vier oder fünf Jungen, barfuß, in kurzen Hosen, etwas älter als Pipa, drückten sich dort herum und schauten feixend durch ein anderes Fenster des Kramladens. Dann entdeckte der Erste von ihnen Pipa auf der hölzernen Bank. Zögernd scharten die Jungen sich um sie. Pipa verstand nicht alles, was sie sagten, weil die Leute überall ein wenig anders redeten, aber das meiste begriff sie.

»He, Negermädchen. Wieso hast du blonde Haare?«

»Ich bin kein Negermädchen!« Was war das überhaupt genau? Pipa war auf jeden Fall Mamma Rosalias und Pappa Antonios Mädchen. Die Drohung von Herrn Krone fiel Pipa wieder ein. Wollten diese Jungen sie etwa auch in eine Negertruppe stecken? Sie wollte bei Mamma Rosalia bleiben!

»Bist wohl ein Negermädchen«, behauptete einer der Jungen. »Deine Haut ist viel brauner als meine. Und hässlich bist du außerdem, mit deiner dicken Nase! Gehörst du zu dem Bartweib?«

»Das ist meine Mamma.«

Schallendes Gelächter antwortete ihr. »Das passt. Missgeburt und Missgeburt!«

»Negermädel – Vollbartweib! Negermädel – Vollbartweib«, fing einer einen Singsang an, und die übrigen fielen ein.

Pipa wusste nicht, ob sie weinen oder wütend werden sollte, bis die Jungen anfingen, an ihren Haaren zu ziehen, die Mamma Rosalia heute Morgen zu zwei besonders schönen Zöpfen geflochten hatte. Da stieg sie auf die Bank und fing an, die Jungen wegzuschubsen.

Mehr brauchte es nicht, weil hinter Pipa ein Glöckchen heftig zu bimmeln anfing, als die Tür des Kramladens aufflog. Die Kinder fuhren urplötzlich auseinander, drehten sich um und rannten über den dreckigen Dorfplatz davon. Mamma Rosalia schimpfte und wetterte hinter ihnen her, hob Pipa auf den Arm und trug sie die ganze Strecke bis zurück zu den Wagen. Erst auf den Stufen ließ sie sie zu Boden gleiten.

Pappa Antonio kommentierte den Vorfall nur mit einem Achselzucken. »Warum hast du nicht gewartet bis zur nächsten größeren Stadt. Du weißt doch, wie diese Bauern sind.«

»Ich brauchte den Zwirn.«

Damit hätte es wohl sein Bewenden haben sollen. Doch Pipa ging die Begegnung nicht mehr aus dem Sinn. Was bedeutete es, dass »diese Bauern« so waren? Wieso hatten die Kinder sie ein Negermädchen genannt? Und wieso riefen sie Mamma Rosalia »Bartgesicht« hinterher? Bei Herrn Krone und bei den Vorstellungen tat das auch niemand. Was war so besonders daran, dass Pipa blonde Haare hatte? Viele Leute hatten blonde Haare und helle Augen, an Pipa fielen sie nur mehr auf, weil ihre Haut so dunkel war.

Alle diese Fragen stellte sie Mamma Rosalia.

»Das waren dumme, ungezogene Straßenjungen. Vergiss sie. Lass dich nie auf etwas ein, das die Gadjos tun, merk dir das. Die haben nichts mit uns gemeinsam.«

Leichter gesagt als getan, wenn die Fragen Pipa so heftig auf der Zunge brannten. Immer wieder wollte sie davon anfangen, so lange, bis Mamma Rosalia richtig böse auf sie wurde.

Es war Pappa Antonio, der Pipa irgendwann bei der Hand nahm und mit ihr hinausging zwischen die Wohnwagen, um ihr alles zu erklären, ohne dass Mamma Rosalia es hörte. Er erzählte von einem furchtbaren Schneesturm und einer Zugfahrt durch die Berge und einer »Negertruppe« aus Indern, und von der Frau, die Pipa zur Welt gebracht hatte und bald darauf gestorben war. Davon, wie seitdem Rosalia Pipas Mamma gewesen war und Antonio ihr Pappa, und wie sie alle sehr glücklich seien damit. »Darum möchte die Mamma nicht darüber reden. Sie will nicht, dass sich etwas ändert. Dass dich uns vielleicht einer wegnimmt.«

Pappa Antonio erklärte Pipa die Sache mit dem Bart: dass das etwas höchst Seltenes und Merkwürdiges an einer Frau sei, weswegen die Leute Geld dafür bezahlten, um Rosalia bei den Vorstellungen anstarren und sie am Bart zupfen zu dürfen. So wie sie die blinde Löwin Seida oder den »Mörderbären« anstarrten.

Die Vorstellung machte Pipa so traurig, dass sie zu weinen anfing. Es war fast so, als sitze auch Mamma Rosalia in einem Käfigwagen wie die Wölfe, die Hyänen, die Löwin und die Bären, bei denen sie gerade standen und die träge durch die Gitterstäbe schauten. Pappa Antonio lachte den Gedanken fort. Er hatte ein großes, breites Lachen, das seine Zähne aufblitzen ließ und sein ganzes rundes Gesicht heller machte. Mamma Rosalia sagte, er könne auch lachen, wenn ihm zum Weinen zumute war.

»Wir sind Schausteller, kleine Pipa. Wir verdienen unser Geld damit, den Leuten zu zeigen, was sie sehen wollen. Sollen die Sesshaften ruhig glauben, dass sie etwas Besseres sind als wir, am Ende lachen wir sie doch aus, denn wir haben ihr Geld und ziehen weiter, während sie wieder zurückmüssen in ihr langweiliges graues Leben, ohne Bären, ohne Wölfe – ohne Bärte.« Er beugte sich zu Pipa hinunter und tippte ihr zweimal vor die Brust. »Mit dem, was dadrin ist, hat unsere Rolle während der Auftritte nichts zu tun. Denk immer daran. Wir haben eine Maske für die Welt draußen und unser echtes Gesicht nur für uns hier drin. Und weil das so ist, darum können wir zaubern. Wir sind, wer wir sein wollen, das können die anderen nicht. Was die Gadjos draußen tun und denken, das geht uns nichts an. Wir haben unsere eigenen Regeln. Wenn die Vorstellung beendet ist und die Fremden nach Hause gehen, beginnt für uns das Leben.«

Pipa wollte ihm gern glauben. Doch der Gedanke, dass ihre Eltern nicht wirklich ihre Eltern waren, kam zurück, sobald sie im Wohnwagen lag und dem leisen Schnarchen Antonios im Dunkel lauschte. War ihr Leben bei Pappa Antonio und Mamma Rosalia dann auch nur eine Rolle? Eine Lüge? Über Pipas Bett baumelte jede Nacht eine glitzernde Kordel, die von einem Kostüm abgefallen war und an der Mamma Rosalia eines der Glöckchen vom Pferdegeschirr aufgehängt hatte. Sonst hatte das goldene Glänzen im Dunkel Pipa beruhigt, heute wälzte sie sich hin und her. Im Halbschlaf sah sie eine Frau mit brauner Haut wie die Pipas, aber mit dunklen Haaren, so wie Antonio Pipas Mutter beschrieben hatte. Die Frau hatte einen dicken Bauch, genau wie die Hyäne, die Herr Krone einmal von einem Tierhändler gekauft hatte und von der alle gedacht hatten, sie wäre trächtig und würde bald Junge werfen, bis sich herausstellte, dass sie die Wassersucht hatte und einging. Das Gesicht der Frau in Pipas Traum lag im Dunkeln, und sosehr Pipa auch versuchte, näher an sie heranzukommen, damit das Mondlicht ihr Gesicht erhellte, es gelang ihr nie, einen Blick darauf zu werfen. Die Frau legte sich auf den Boden, rollte sich zusammen wie die kranke Hyäne am Ende, und verschwand.

Nachdem Pipa den Traum zum ersten Mal geträumt hatte, kam er immer wieder. Sie erzählte Mamma Rosalia davon, doch die wollte nichts davon hören und war danach den ganzen Tag ärgerlich auf Pipa und schlecht gelaunt. Pipa hatte ein schlechtes Gewissen, doch in der nächsten Nacht träumte sie den Traum wieder, und in der übernächsten auch. Es war, als würde eine Hand aus dem Dunkel nach Pipa greifen und sie immer wieder an den Ort zerren, an dem die Frau ohne Gesicht sich auf dem schmutzigen Fußboden krümmte.

2.

Später konnte Pipa nicht mehr sagen, wann genau Herr Karl zur Menagerie Continental gestoßen war. Es war wohl während eines der Aufenthalte in Berlin. Dort wohnte die Familie von Frau Krone, die die Kinder ihrer fahrenden Verwandten von Zeit zu Zeit bei sich aufnahm, damit diese eine ordentliche Schule besuchen konnten. Herr Karl war der jüngere Sohn von Herrn Krone, und da Pipa sich an den armen Fritz nicht erinnern konnte, den der Mörderbär umgebracht hatte, stellte sie ihn sich immer vor wie eine größere Version von Herrn Karl.

»Der Fritz war viel älter als ich«, sagte Karl dazu nur.

Er redete auch sonst meist nicht viel, in dieser Hinsicht war er seinem Vater ähnlich. Davon abgesehen hatten die beiden allerdings nicht viel gemeinsam. Rosalia sagte, der Karl komme mehr nach seiner Mutter. »Der hat Größeres im Sinn.«

»Wenn’s nur keine großen Seifenblasen sind«, spöttelte Pappa Antonio, während er Pferdemist in eine Schubkarre schaufelte. Bei solchen Arbeiten durfte Pipa jetzt schon helfen, auch wenn die Karre und das Werkzeug natürlich noch zu schwer für eine Vierjährige waren. Aber Käfige auswaschen und Futter verteilen, das erlaubte man ihr schon, solange jemand sie dabei beaufsichtigte.

Häufig war dieser Jemand der junge Herr Karl.

Die Vertrautheit mit dem Sohn von Herrn Krone hatte ganz von selbst begonnen, als Pipa Herrn Karl einmal auf den Stufen des Käfigwagens mit der blinden Löwin vorfand. Er kraulte dem Tier, das auf dem Käfigboden lag, zwischen den Gitterstäben hindurch den Kopf.

»Willst du?«, fragte er. »Seida ist ganz friedlich.«

Dass jemand ihr erlauben wollte, eines der Wildtiere der Menagerie zu streicheln, war etwas völlig Neues für Pipa. Das Herz schlug ihr im ersten Moment bis zum Hals. Seit Herr Krone sie irgendwann so heftig von dem Gitter eines der Wagen fortgerissen hatte, hatte sie kaum je gewagt, den Käfigwagen auch nur zu nahe zu kommen, aus Angst vor einer neuen Strafpredigt. Kurz überlegte sie, erst Rosalia zu fragen. Aber dann überwog die Sehnsucht. Denn Mamma Rosalia würde es gewiss verbieten.

Die blinde Löwin schnupperte erst ausgiebig an Pipas Hand, bevor sie sich kraulen ließ. Ihr Fell fühlte sich unter Pipas Kinderfingern rau und struppig an, und irgendwie fettig. Der Raubtiergeruch war in unmittelbarer Nähe des Tiers so scharf, dass er förmlich in Pipas Nase biss.

»Früher haben wir mehr mit den Tieren gemacht«, sagte Karl. Pipa konnte nicht einschätzen, wie alt er war. Um seinen Mund sprossen Bartstoppeln, die sicher noch viele Jahre brauchen würden, um so kräftig zu werden wie der Bart von Mamma Rosalia.

»Wann war früher?«, wollte sie wissen.

Herr Karl verzog den Mund. »Als ich noch mit der Familie mitgezogen bin, bevor sie mich zur Schule geschickt haben. Wir haben Vorführungen gemacht mit den Wölfen, ihnen Kunststücke beigebracht. Ich habe mich geduckt, und die Wölfe sind über mich weggesprungen, zum Beispiel. Einer nach dem anderen. Das hat den Leuten gefallen.«

Pipa dachte, dass ihr das auch gefallen würde. Und den Wölfen vermutlich am allermeisten, wenn sie sich einmal bewegen durften, statt nur immer in ihren Käfigen zu dösen. »Sie könnten über mich springen. Ich bin klein, ich bräuchte mich nicht einmal sehr ducken.«

»Der Vater erlaubt es nicht mehr. Seit der Sache mit Fritz. Und unsere Wölfe sind schon zu alt, die lernen keine Tricks mehr. Sie bekommen nur noch ihr Gnadenbrot. Die meisten werden die nächsten Jahre nicht überleben.«

»Kauft Herr Krone dann neue?«

»Wahrscheinlich nicht. Wölfe sind keine Attraktion mehr, heutzutage, nicht einmal mehr auf den Dörfern. Wir brauchen wilde, exotische Tiere aus fernen Ländern.« Es zuckte lustig um seinen Mund. »Wir hatten schon einmal einen Elefanten.«

Pipa blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Elefanten kannte sie von Bildern und aus den Beschreibungen ihrer Eltern, die schon welche auf Jahrmärkten gesehen hatten. »Wie groß war der?«

»So groß, dass er in keinen unserer Käfigwagen passte.«

»Haben Sie ihn mit der Eisenbahn gefahren?«

Herr Karl lachte. »Dummerchen, damals konnten wir uns keine Eisenbahnfahrt leisten. Wir waren ganz furchtbar arm. Den Elefanten haben wir nur bekommen, weil sein Besitzer ihn nicht bändigen konnte und dringend loswerden wollte. Es war nämlich ein Afrikaner.«

»Ist das gut?«

»Nein, schlecht. Pluto war sehr brav, aber man konnte ihm nichts beibringen und schon gar nicht auf ihm reiten. Afrikanische Elefanten lassen sich nicht zähmen. Nur indische.«

»Aus Indien kam meine … meine Mutter«, sagte Pipa zögernd.

»Ich weiß. Mein Vater hat mir erzählt, dass sie bei der Geburt gestorben ist. Er hat diese Bengalentruppe dann in Italien an einen anderen Schausteller abgegeben. Sie brachte ihm wohl kein Glück. Seitdem haben wir nur noch Tiere.« Er lächelte. »Nur dich haben wir behalten. Vielleicht taugst du besser zum Talisman.«

Pipa wusste nicht so genau, was ein Talisman war, und fragte nicht nach. »Muss ich auch einmal in so eine Negertruppe, wenn meine echte Mama aus einer kam?«

Herr Karl rümpfte die Nase. »Vielleicht. Aber für eine orientalische Prinzessin schaust du nicht indisch genug aus mit deinen hellen Haaren und Augen.« Er zwinkerte spöttisch und kitzelte Pipa, die sich lachend wegduckte. »Außerdem bist du nicht hübsch genug für eine Prinzessin. Nein, du wirst einmal als Elefantenpfleger arbeiten müssen, um dein Geld zu verdienen.«

»War damals, als meine richtige Mutter noch gelebt hat, der Elefant auch da?«

»Nein, die Bengalen holte mein Vater viel später. Pluto war da schon längst eingegangen. Ich war selbst noch klein, als wir ihn hatten. Weil wir ihn nicht anders transportieren konnten, musste ich zu Fuß mit ihm von Ort zu Ort gehen. Wir haben ihn auf dem Marsch unter einer großen Decke verborgen, damit die Leute ihn nicht sehen konnten. Sonst hätten sie ja bei den Vorstellungen kein Geld mehr dafür bezahlt.«

»Lass dir von dem jungen Herrn Krone kein X für ein U vormachen«, sagte Mamma Rosalia am Abend, als Pipa aufgeregt von dem Elefanten berichtete. »Du weißt doch, was für Geschichten der alte Herr Krone den Zuschauern bei den Führungen durch die Menagerie auftischt. Der junge Herr Karl wird bei ihm in die Lehre gehen.«

Eigentlich war es Pipa egal, ob Herrn Karls Geschichten erfunden waren oder nicht. Sie waren schön, und sie weiterzuerzählen machte genau so viel Spaß, wie ihnen zuzuhören. Nur dass sie nach den Bengalen gefragt hatte, verschwieg Pipa, um Mamma Rosalia nicht wieder traurig zu machen.

Stattdessen fragte sie Herrn Karl weiter aus, aber der konnte ihr auch nicht mehr sagen. »Damals war ich in der Schule. Aber ich kann den Vater nach dem Namen der Leute fragen, an die er sie weitergegeben hat, und mich auf den Jahrmärkten in den größeren Städten umhören. Vielleicht weiß jemand, was aus ihnen geworden ist.« Er grübelte. »Ich muss ohnehin zu anderen Schaustellern. Wir brauchen etwas Neues. Etwas Gutes, das die Leute anlockt. Wenn nur der Vater …« Er brach ab.

In der Zwischenzeit begann auch für Pipa die Zeit des Lernens – anfangs, ohne dass sie es richtig bemerkte. Purzelbäume und Rad schlagen, auch Balancieren auf einer Zaunlatte an Rosalias Hand, das machte Spaß. Pipa staunte, wie gut Rosalia und Antonio all das konnten, wenn sie es ihr vormachten. Obwohl Pappa Antonio dabei manchmal schmerzlich das Gesicht verzog. Sein Rücken tat ihm seit einigen Wochen oft weh.

»Ich werde alt«, sagte er. Er lächelte dabei, aber es klang, als wolle er eher weinen. Pipa fand nicht, dass er älter aussah als früher, aber er hatte wohl recht. Eines Tages, als er vor dem Wohnwagen mit seinen Gewichten übte, hörten Pipa und Rosalia plötzlich einen Schrei. Sie fanden Antonio verkrümmt am Boden kauern, beide Hände ins Kreuz gestemmt. Er zischte den Schmerz zwischen fest zusammengebissenen Zähnen hindurch.

Herr Krone ließ einen Wagen kommen, einen Bauernkarren, der Antonio in die nächste Stadt fuhr, wo es ein Hospital gab. Er wimmerte, als sie ihn hinaufhoben, und Pipa weinte. Zwei Tage später kam er zurück, mit einem steifen Korsett um den Leib und aschgrauem Gesicht. Er erholte sich nur ganz allmählich, und Gewichtheben, so viel war klar, würde er nie wieder können.

Das gestand er als Erstes dem alten Herrn Krone. Sie saßen gemeinsam zwischen den Käfigwagen, Pipa, Rosalia und Herr Karl auf den Stufen der verschiedenen Wohnwagen, und Herr und Frau Krone auf Stühlen vor einem Tisch, die sie im Ort ausgeliehen hatten, weil sie ihre Buchführung so besser erledigen konnten als auf dem kleinen schwarz lackierten Schreibtisch im engen Gefährt. Nur Antonio stand. Damals konnte Pipa sich darunter noch nichts vorstellen, später hätte sie gesagt: wie ein Angeklagter, der auf sein Urteil wartete.

»Du und Rosalia«, sagte Herr Krone nach einer Weile, nachdem Antonio erklärt hatte, welche Folgen seine Verletzung haben würde, »ihr habt noch Schulden bei uns.«

»Meine Frau wird sie abstottern.«

»Rosalia wird auch allmählich alt für eine bärtige Jungfrau. Wie alt bist du, Rosa, 36? Ihr seid schon so lange mit uns unterwegs, dass ihr fast schon zur Familie gehört. Aber wir müssen auch zusehen, wo wir bleiben. Die Tiere kosten, niemand schenkt uns etwas. Wenn ihr nichts mehr zum Unternehmen beitragen könnt, müsst ihr uns verlassen und selbst schauen, dass ihr zurechtkommt.«

»Wir sind ehrlich, das wissen Sie. Wir sind noch nie jemandem etwas schuldig geblieben.« Antonio reckte sich, sosehr sein geschundener Rücken und das Korsett es erlaubten. »Ich kann bei den Tieren helfen wie bisher, das spart Ihnen die Kosten, vor Ort jemanden anzuheuern. Rosalia auch. Und wir können komische Nummern einstudieren, sobald mein Rücken wieder besser ist. Klamauk, als Hanswurst für die Kinder. Das gefällt, dafür zahlen die Leute.«

»Das klingt vernünftig«, sagte Frau Krone. Herr Krone wirkte nicht überzeugt. Sein Schnurrbart zuckte hin und her, als er sich das Kinn rieb.

»Wir können uns nicht leisten, dauerhaft Gehilfen anzuheuern nur für die Viecher.«

»Doch, Vater«, widersprach Karl aus dem Hintergrund. »Das müssen wir sogar. Weil wir nämlich viel mehr und neue anschaffen müssen, wenn wir konkurrenzfähig bleiben wollen. Und trainieren müssen wir sie auch. Du weißt, wie ich darüber denke.«

»Wenn ich noch einmal das Wort ›Löwendompteur‹ höre …«

»Für unsere alten Wölfe, den Bären und die paar Hyänen zahlt uns bald niemand mehr etwas, Vater. Wir brauchen etwas Besseres. Aufregenderes. Antonio und Rosalia haben eine sichere Hand bei den Tieren. Wir werden gewiss Verwendung für sie haben.« Er warf Pipa einen Blick zu und zwinkerte. »Und die Kleine kann in ein paar Jahren selbst schon auftreten. Vielleicht mit einem Elefanten.«

»Tagträumer!«, raunzte Herr Krone. Aber dabei blieb es, und davon, dass Pipas Eltern die Menagerie verlassen sollten, sprach niemand mehr.

Ein paar Tage später erlebte Pipa, was Herr Karl unter »etwas Besseres« verstand. Leider war es wohl kein Elefant. Denn den hätten sie doch sicher nicht einfach am Bahnhof der pommerschen Stadt Köslin abholen können. Oder?

»Wart’s ab«, sagte Herr Karl lachend. Er kutschierte einen kleinen Zweispänner, den er in dem Dorf ausgeliehen hatte, in dem die Menagerie Continental gerade Station machte. Mamma Rosalia hatte ihm einen heiligen Eid abgenommen, gut auf Pipa zu achten und nur ja nicht zu schnell zu fahren, bevor sie erlaubte, dass er sie zum Bahnhof mitnahm. Karl ließ die beiden schwerfälligen Braunen im Schritt dahintrotten, bis die Menagerie außer Sicht war, dann zwinkerte er Pipa wieder wortlos zu und ließ die Peitsche knallen. Pipa klatschte begeistert, als die zwei Kaltblüter sich ins Zeug legten.

Vielleicht waren sie zu schnell gefahren, jedenfalls mussten sie am Bahnhof lange warten. Oder der Zug hatte Verspätung. Pipa konnte zusehen, wie Herr Karl, obwohl er sonst ebenso ruhig und kühl wirkte wie sein Vater, immer ungeduldiger und ängstlicher wurde. Als die Lokomotive endlich in der Ferne auftauchte und ein paar Minuten später inmitten weißer Qualmwolken am Bahnsteig zum Stillstand kam, stürzte er sich auf den ersten Kondukteur, den er zu Gesicht bekam.

»Mein Name ist Karl Krone. Sie haben etwas für mich im Gepäck, glaube ich?«

»Sie meinen die Kätzchen? Die sind vorn beim Lokführer.«

Karl nahm Pipa bei der Hand und eilte mit ihr am Zug entlang mit so großen Schritten, dass Pipas kurze Beine kaum mitkamen. Der Lokführer war aus dem Fahrzeug geklettert und hielt Karl Krone die mit Stroh gepolsterte Kiste bereits entgegen. Aus einem Fenster darüber blickte das schwarz verschmierte Gesicht des Heizers auf sie herunter.

»Sind das Ihre, junger Mann? Habe ich auch noch nie erlebt, dass wir ein paar Katzen quer durchs Land fahren müssen. Haben die Bauern hierzulande keine?«

»Solche nicht«, sagte Herr Karl nur, dann setzte er die Kiste vorsichtig auf den Bahnsteig und ließ Pipa hineinsehen.

Die Katzen waren tapsig, ja, und sichtlich noch recht jung. Aber dafür schon sehr groß. Ihr gelblich-braunes Fell hatte an einigen Stellen eine dunklere Zeichnung. Der Wildtiergeruch um sie herum war noch nicht ausgeprägt, aber schon zu spüren. Die Kleinen schienen geschlafen zu haben und wurden jetzt munter, mit quäkenden Lauten riefen sie nach ihrer Mutter. Als Pipa sie streichelte, ließen sie sich das gern gefallen, eines der Kätzchen leckte mit seiner rauen Zunge an Pipas Hand.

»Sind das …«

»Junge Löwen.« Herr Karl schmunzelte. »Ich habe sie billig erstehen können. Zuerst müssen wir sie großziehen, dann werde ich mit ihnen üben und sie dressieren.« Seine Miene verdunkelte sich. »Auch wenn ich mir wahrscheinlich damit die größte Standpauke meines Lebens eingehandelt habe.«

Ob Herr Karl sich an diesem Tag tatsächlich wegen seines eigenmächtigen Handelns von seinem Vater eine Strafpredigt anhören musste, erfuhr Pipa nicht, und sie fragte auch nie. Sie war einfach nur glücklich, weil sie während der gesamten Fahrt zurück zur Menagerie die Kiste mit den Löwen beaufsichtigen und die Kleinen abwechselnd auf den Schoß nehmen durfte. Als Herr Karl zeigte, was sie vom Bahnhof mitgebracht hatten, war das Hallo natürlich groß. Nicht einmal der alte Herr Krone sagte etwas gegen die Anschaffung, zumindest nicht, solange andere Leute zuhörten.

»Und wo willst du sie hintun?«, fragte er lediglich.

»Wir haben doch schon einen für Löwen geeigneten Käfigwagen, den für Seida. Der ist doch groß genug.«

Herr Krone rümpfte die Nase. »Musst du erst schauen, was die dazu sagt.«

Seine Skepsis bewahrheitete sich. Seida mochte blind sein, aber Ohren und Nase arbeiteten noch gut, und sie war so lang allein gewesen, dass sie nun grimmig jede Gesellschaft zurückwies. Von diesen vier quäkenden fremden Winzlingen wollte sie partout nichts wissen. Fürs Erste teilte Herr Karl mit Antonios Hilfe eine Ecke des Käfigs durch eine Bretterwand für die kleinen Löwen ab. Aber langfristig würden sie einen zusätzlichen Wagen brauchen.

»Daran geht ohnehin kein Weg vorbei. Wenn ich die Kleinen dressieren will, muss ein großer Vorführwagen her, in dem die Tiere genug Platz für Kunststücke haben.«

»Und wovon sollen wir das bezahlen?«, fragte Herr Krone. Er wartete nicht auf Antwort, sondern drehte sich um und ging zurück in seinen Wohnwagen.

»Du musst dem Vater ein bisschen Zeit lassen«, sagte Frau Krone zu ihrem Sohn. »In seinem Alter gewöhnt man sich nicht mehr leicht an Veränderungen.«

»Die Zeiten ändern sich aber«, sagte Herr Karl. »Wir dürfen die Einnahmen nicht beiseitelegen, wir müssen investieren. Schulden machen, wenn es sein muss. Wer heutzutage nicht wächst, geht unter.«

Davon verstand Pipa noch nichts. Ihre Welt drehte sich darum, dass sie inzwischen schon ganz allein, ohne die stützende Hand von Mamma Rosalia, auf einer waagrechten Holzplanke laufen konnte. Auch das Radschlagen klappte immer besser, obwohl das Üben Pipa inzwischen nicht mehr ganz so viel Spaß machte wie zu Beginn. Sie hätte lieber nach Herrn Karl und seinen kleinen Löwen geschaut. Ohne die steten Ermahnungen ihrer Eltern hätte sie sicher nicht so rasche Fortschritte gemacht.

»Du musst es jetzt lernen, Pipa, später wird es viel schwieriger. Du bist schon groß, wirst bald fünf. Wir müssen alle unseren Teil beitragen, damit die Menagerie Erfolg hat.«

Also übte Pipa, wenn sie mit dem Putzen der Käfige fertig war, bis sie Schwielen an den Händen und den Fußsohlen hatte. Pappa Antonio übte ebenfalls, er jonglierte jetzt mit Bällen und Ringen und allen möglichen Gegenständen, seitdem er keine Gewichte mehr stemmen konnte. Pipa durfte jetzt öfter als früher bei den Vorstellungen zusehen. Die Krones hatten ein kleines Zelt erstanden, in dem sie die harmloseren ihrer Tiere ohne Käfig präsentieren konnten, zwei Affen, die Frau Krone und Rosalia an Leinen im Kreis vor den Zuschauern herumführten, und das mürrische Lama. Dazu erzählte Herr Krone dann wieder seine hanebüchenen Geschichten, und die Leute machten große Augen. Zwischendurch purzelte Antonio herein, im Harlekinkostüm mit übergroßen Schuhen und einer Perücke aus gekräuselten Papierstreifen, tat, als laufe er vor den Affen davon oder wolle auf dem Lama reiten, und führte zum Abschluss seine Jonglierkünste vor. Wann immer sie ihn beobachtete, wünschte Pipa sich, schon größer und geübter zu sein, dann würde sie zusammen mit ihm im Zelt der Krones auftreten.

Ihr Wunsch ging schneller in Erfüllung, als sie dachte, denn Frau Krone regte an, Pipa solle doch auf dem Lama reiten, während Rosalia es im Kreis führte. Dafür bekam Pipa ein richtiges Kostüm, bestehend aus einem roten Rock, einer Wollmütze und einem bunt bestickten weiten Hemd, und dem Lama wurde ein kleiner roter Sattel mit vielen Troddeln aufgeschnallt.

Das war das erste Mal, dass auch Pipa sich verwandeln durfte: in die arme, aus ihrer Heimat vertriebene Waisenprinzessin aus Peru, deren traurige Geschichte Herr Krone den Zuschauern erzählte, während Pipa auf dem Lama ritt. Die zusätzliche Einlage schien bei den Leuten gut anzukommen, auch wenn Pipa oft hörte, wie jemand sich über ihre blonden Haare und hellen Augen wunderte.

Herr Karl dagegen konnte mit seinen Löwen noch lange nicht auftreten. Bisher lagen die Kleinen noch an den Zitzen einer großen Dogge, die er ebenfalls aus Köslin geholt hatte und die bei den Kätzchen die Mutterstelle vertrat.

»Das ist ein bisschen so wie mit dir und deiner Mamma Rosalia«, sagte er mit einem Lächeln, als Pipa ihn besuchte. Pipa dachte darüber nach und fühlte sich den Löwen plötzlich sehr verwandt.

»Kommen die Löwen auch aus Indien, so wie ich?«

»Nein, das sind Berberlöwen. Aus Nordafrika.« Er streichelte den Kopf der Dogge, die sehr zufrieden mit ihren Ziehkindern schien, und erhob sich aus seiner kauernden Position. »Ich habe mein Versprechen übrigens nicht vergessen. Mein Vater weiß leider nichts darüber, was aus der Bengalentruppe geworden ist, aus der deine Mutter kam. Aber der Vater bekommt überhaupt wenig mit. Er wird immer griesgrämiger. Sogar den Namen des Mannes, der die Truppe übernommen hat, musste ich ihm förmlich aus der Nase ziehen. Ich höre mich auf den Jahrmärkten weiter um, versprochen.«

Pipa hätte nicht einmal sagen können, warum sie ihn danach gefragt hatte. Sie wusste, Mamma Rosalia wäre sehr traurig darüber, dass Pipa mehr über diese Leute aus Indien wissen wollte, zu denen sie gehört hätte, wenn Rosalia und Antonio sie nicht zu sich genommen hätten. Aber wissen musste sie es nun einmal, die Frau aus ihrem Traum, deren Gesicht im Dunkel lag, ging Pipa nicht aus dem Sinn.

Eines Abends übte sie wieder Handstand und Radschlagen zwischen den Wagen. Inzwischen war sie schon so sicher, dass Mamma Rosalia ihr schwierigere Kunststücke beibringen wollte, und von Antonio lernte sie die Grundlagen des Jonglierens.

»Klappt schon ganz gut«, sagte plötzlich eine heisere Stimme von einem der Wagen her. Pipa zuckte zusammen. Im Schatten eines der Käfigwagen saß der alte Herr Krone, eine Pfeife im Mund, auf dem blanken Erdboden, mit dem Rücken gegen ein Wagenrad gelehnt. Schräg hinter ihm blickten die müden Augen des letzten Bären, den die Menagerie noch besaß, zwischen den Gitterstäben hervor.

Neugierig ging Pipa zu ihm hinüber. Von Herrn Krone gelobt zu werden, geschah seltener, als man einen Regenbogen sah. Zur Sicherheit führte sie ihm noch einmal ein perfektes Rad vor, was auf dem unebenen Boden gar nicht so leicht war, und er nickte über seiner Pfeife.

»Schön, schön. Wirst dich einmal gut machen als Artistin.« Er warf einen Blick über die Schulter auf den Bären. »Aber wir zwei werden das nicht mehr erleben, was, Alter? Muss auch alles nicht sein.«

Herr Krone schaute müde aus, dachte Pipa. Es kam jetzt auch öfter einmal vor, dass er unrasiert war oder vergessen hatte, sich umzuziehen, wenn er den Conferencier gab.

»Warum erleben Sie das nicht mehr? Vielleicht darf ich ja schon ganz bald auftreten?«

»So viel Zeit haben wir nicht mehr, dass wir auf dich warten können«, sagte Herr Krone heiser. »Die Zeit bleibt nicht stehen.« Eine Weile saß er nur da und schaute seinen eigenen Rauchwölkchen nach, dann nahm er die Pfeife aus dem Mund und deutete auf den nächsten Käfigwagen. »Das sind die Tiere, mit denen wir begonnen haben, meine Frau und ich. Bären und Wölfe. Davon haben wir noch zwei, und beide sind alt. Wenn die Wölfin stirbt, stirbt der Rüde ihr wahrscheinlich binnen vierzehn Tagen nach.« Pipa fand das traurig, aber sie kam nicht dazu, etwas zu sagen, weil Herr Krone sie etwas fragte. »Weißt du eigentlich, was mein Vater von Beruf war?«

Pipa schüttelte den Kopf. »War der auch Menageriebesitzer?«

»Obstbauer. Ich war der zweite Sohn. Besserer Knecht, verstehst du? Ich wollte mehr sehen von der Welt als Apfelbäume. Hab mich einfangen lassen von den Geschichten der Philadelphias, der Familie meiner Frau. Deren Großvater ist vor Königen und Fürsten aufgetreten, in aller Herren Länder, haben sie erzählt. Reichtümer und Weltreisen haben wir uns ausgemalt.« Er hustete. »Im Wohnwagen haben wir unser Leben zugebracht, von einem kleinen Nest zum anderen sind wir kutschiert, haben Mist geschaufelt jeden Tag und zugesehen, wie uns im Winter die Viecher verrecken. Aber wir kamen immer über die Runden, bis jetzt. Jetzt muss alles immer größer werden, immer irrwitziger und teurer. Wölfe oder Bären, was ist das schon? Viel zu gewöhnlich fürs verwöhnte Volk.« Wieder warf er einen fragenden Blick auf den Bären. »Was haben wir alten Tanzbären dabei noch verloren, möchte ich wissen, wenn jetzt dann die Löwen durch Reifen springen und auf Stühlen sitzen? Werden wir den Affen als Nächstes Uniformen anziehen und ihnen beibringen, in Reih und Glied zu marschieren? Oder Walzer zu tanzen? Ist das noch eine Tierschau, wenn die Tiere sich benehmen müssen wie die Menschen?«

»Der Herr Karl sagt, dass es dann ein Zirkus sein wird.« Das hatte Pipa ihn sagen hören, auch wenn sie nicht genau wusste, was ein Zirkus war.

»Vielleicht. Irgendwann einmal.« Herr Krone lehnte sich zurück gegen das Rad. »Aber erst einmal bin ich noch da, und was mein Sohn an Zirkusaufführungen einführt, findet in meiner Menagerie statt. Soweit ich es billige. Wenn Karl seine eigenen Wege gehen will, muss er das auch selbst bezahlen. Seine Katzen und die Dogge, das Futter und der zusätzliche Wagen, die kommen uns teuer genug zu stehen. Und es wird noch Monate dauern, bis sie uns etwas einbringen.«

3.

»Kommen Sie, staunen Sie, meine Herrschaften – eine nie gesehene Sensation, vier Berberlöwen und eine dänische Tigerdogge in unserem Vorführwagen! Die wilden Bestien gezähmt vom einmaligen Dompteur Monsieur Charles!«, rief Herr Krone in den abendlichen Regen. Der Jahrmarkt am Rand der Stadt Genthin hatte sich in Matsch verwandelt, schneller als irgendjemand Sägespäne oder Stroh auf die Pfützen zwischen den Buden und Zelten hätte streuen können. Es sah nicht nach einem guten Tag aus, und es wurde auch keiner. Obwohl das Städtchen gar nicht so klein war, obwohl aus der Nachbarbude eine Drehorgel einladende Weisen quäkte, kamen bei der Abendführung, der ersten mit den Löwen, nur siebenunddreißig Zuschauer in die Menagerie Continental. Ganz genau siebenunddreißig, denn Pipa hatte sie gezählt, während sie sich von dem Lama durch das kleine Zelt der Krones tragen ließ.

Trotzdem wirkte Herr Karl zufrieden. Die Löwen waren binnen neun Monaten zu einer beachtlichen Größe herangewachsen.

»Sie haben uns auch all die Zeit die Haare vom Kopf gefressen«, klagte Herr Krone.

Pipa durfte längst nicht mehr zu ihnen in den Käfig, um sie zu streicheln wie früher.

»Du bist zu klein. Sie könnten dich mit ihrem Frühstück verwechseln.« Herr Karl musste sich selbst mehr in Acht nehmen inzwischen, die Tiere, noch lange nicht ausgewachsen, wollten spielen und mit ihm raufen, und es konnte vorkommen, dass sie ärgerlich wurden und ihren Dompteur zu verletzen versuchten. Es verging kein Tag, ohne dass Herr Karl mit neuen Schrammen und Striemen aus dem Vorführwagen kletterte.

Seine erste Dressur, bei der seine jungen Löwen auf Kommando auf Kisten stiegen und sich von ihm streicheln und durch den Käfigwagen jagen ließen, klappte jedoch wie am Schnürchen. Es war der krönende Höhepunkt dieser Vorstellung, als die Leute, obwohl es noch immer tröpfelte, sich rund um den Käfigwagen versammelten.

»Bleiben Sie zurück, meine Damen und Herren!«, rief Herr Karl dramatisch und schwenkte eine lange Gerte wie einen Zauberstab dabei. »Bitte, achten Sie darauf, dass vor allem die Kinder sich dem Gitter nicht zu sehr nähern. Dies sind echte Raubkatzen aus den Wüsten Nordafrikas, und nur mir ist es unter Lebensgefahr gelungen, sie ausreichend an mich zu gewöhnen, damit sie meinen Befehlen gehorchen.«

Die Leute raunten andächtig, ein paar Frauen wichen hastig vom Käfig zurück, und Pipa presste sich die Hand auf den Mund, um nicht laut zu lachen. Pappa Antonio hatte heute, als er den Käfig sauber machte, eine kleine Ewigkeit mit einem der Löwen schmusen und ihn hinter den Ohren kraulen müssen, bevor er wieder ins Freie klettern durfte.

Inzwischen richtete Herr Karl seine Gerte auffordernd auf eines der Tiere. »Suleika, Platz!«

Die Löwin riss das Maul auf, als wolle sie protestieren, und präsentierte den Zuschauern dabei ihr furchterregendes Gebiss, legte sich dann aber brav zu Füßen Herrn Karls auf den Boden. Erneut ging ein Raunen durch die Menge, vor allem, als Herr Karl das Gleiche von einem der männlichen Tiere verlangte und dieser zur Antwort ein drohendes Gebrüll ausstieß. Als er mit der Pranke nach dem Dompteur schlug, ohne ihn zu treffen, schrie eine Frau sogar erschrocken auf.

Sie wusste ja nicht, anders als Pipa, dass Herr Karl und Sultan auch das gemeinsam einstudiert hatten.

»Es war eine gute Idee, Danika mit einzubinden«, sagte Herr Karl nach der Vorstellung und meinte die Dogge damit. »Das gibt ihnen Sicherheit. Wenn nur der Wagen nicht so eng wäre!«

Auch Pipa war glücklich. Sie hatte heute nicht nur auf dem Lama sitzen dürfen wie sonst, sondern war zum ersten Mal richtig aufgetreten. Eine andere Schaustellergruppe, zu der auch Jongleure und Akrobaten gehörten, hatte in Herrn Krones kleinem Zelt eine Vorstellung gegeben. Im Gegenzug waren die Kinder dieser Gruppe bei Antonios Hanswurst-Einlage aufgetreten, und Pipa mit ihnen. Wie sie dabei stolz feststellte, war sie bei ihren Turnübungen viel besser als die anderen Kinder, obwohl manche von denen schon ein oder zwei Jahre älter waren. Auch Rosalia und Antonio hatten es gesehen.

»Ich hab’s dir doch gesagt. Man muss es jung lernen, sonst lernt man es nicht. Jetzt lass nicht nach, mach weiter. In ein paar Jahren kannst du alleine auftreten.«

Die Zuschauer hatten laut applaudiert, als Pipa, die Kleinste von allen Kindern, einen makellosen Überschlag machte. Jemand warf eine Münze vor ihr auf den Boden, und Pipa fischte sie mit einem Knicks aus den Sägespänen und schlug als Dankeschön noch ein Rad.

»Das muss das orientalische Blut sein«, sagte der Mann, der die Münze geworfen hatte. »Alles halbe Schlangenmenschen.«

Hatte Pipa orientalisches Blut? War sie eine halbe Schlange? Trotz Herrn Karls Versprechen hatte er ihr bisher noch nichts über die Menschen erzählen können, zu denen Pipas Mutter gehört hatte. Aber er hatte im vergangenen Jahr ja auch die meiste Zeit im Löwenkäfig verbracht.

Es kam jetzt öfter vor, dass auf Jahrmärkten wie diesem andere Schausteller im Zelt der Krones mit auftreten durften. Groß war dieses Zelt zwar nicht, gerade ausreichend, damit man die Tierkäfige darin aufreihen und die Leute daran vorbeiführen konnte. Aber dadrin blieb man wenigstens trocken; Genthin war nicht die einzige Stadt mit regnerischem Wetter. Herr Krone erhielt eine kleine Gebühr dafür, oder vielleicht halfen manche Schausteller auch nur als Gegenleistung bei den Stallarbeiten.

Auch Herr Karl bekam von seinem Vater etwas eigenes Geld ausbezahlt. Fünfzig Pfennig am Tag, wie er sagte. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.