Ein Hauch von Amerika - Petra Grill - E-Book

Ein Hauch von Amerika E-Book

Petra Grill

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Beschreibung

Zwei ungewöhnliche Frauen auf der Suche nach sich selbst in einer Zeit des Umbruchs

Pfalz, 1951: Amy McCoy erreicht die US-Militärstation Kaltenstein. Hier soll sie als First Lady ihres Ehemanns Colonel Jim McCoy residieren. Was sie niemandem verrät: Amy ist nicht das erste Mal in Deutschland. Als Amelie Werner musste sie 1933 mit ihren Eltern aus Berlin über Paris in die USA fliehen. Nie wollte sie in das Land der Täter zurückkehren. Nun sitzt sie hier fest, mitten im Nirgendwo, wo sie sich mit der Dorfbevölkerung herumschlagen muss, die demokratische Werte von der US-Armee erlernen soll. Erst ihre Freundschaft zu dem Bauernmädchen Marie gibt ihr Hoffnung. Die ungleichen Frauen vereint die Liebe zur Kunst. Amy macht es sich zur Aufgabe, Marie ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Doch in den Aufbruchswirren der Nachkriegszeit scheint es keinen Platz zu geben für die Träume einer modernen Frau ...

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Das Buch

Pfalz, 1951: Amy McCoy erreicht die US-Militärstation Kaltenstein. Hier soll sie als First Lady ihres Ehemanns Colonel Jim McCoy residieren. Was sie niemandem verrät: Amy ist nicht das erste Mal in Deutschland. Als Amelie Werner musste sie 1933 mit ihren Eltern aus Berlin über Paris in die USA fliehen. Nie wollte sie in das Land der Täter zurückkehren. Nun sitzt sie hier fest, mitten im Nirgendwo, wo sie sich mit der Dorfbevölkerung herumschlagen muss, die demokratische Werte von der US-Armee erlernen soll. Erst ihre Freundschaft zu dem Bauernmädchen Marie gibt ihr Hoffnung. Die ungleichen Frauen vereint die Liebe zur Kunst. Amy macht es sich zur Aufgabe, Marie ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Doch in den Aufbruchswirren der Nachkriegszeit scheint es keinen Platz zu geben für die Träume einer modernen Frau …

Die Autorin

Petra Grill wohnt in ihrer Heimatstadt Erding. Mit ihrem Debüt »Oktoberfest 1900« gelang ihr auf Anhieb der Sprung auf die SPIEGEL-Bestseller-Liste. In ihrem neuen Roman rückt Petra Grill erneut zwei unterschiedliche facettenreiche Frauen ins Zentrum, die auf ihre ganz eigene Weise für ihr Glück kämpfen.

PETRA GRILL

Ein Hauch von Amerika

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 10/2021

Copyright © 2021 by Petra Grill und FFP New Media GmbH

Copyright © 2021 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk basiert auf der gleichnamigen TV-Serie von FFP New Media GmbH und wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Redaktion: Ingola Lammers

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung der Gestaltung von FFP New Media/Dani Winkler

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-28194-6V001

www.heyne.de

Kapitel 1

1951

Bill Meadow holt mich ab. Er lehnt lässig am Heck des Jeeps, etwas abseits der Rollbahn, in seiner braunen Uniform, die Sergeant-Abzeichen auf seinen Footballspielerschultern, das Haar wie geleckt, angestrahlt von der Augustsonne. Ich muss zugeben, er ist von Kopf bis Fuß der Inbegriff eines jungen, schneidigen Vertreters der US-amerikanischen Streitkräfte, und weil er das weiß, achtet er darauf, mir genug Zeit zu lassen, ihn zu bewundern, ehe er sich vom Wagen löst und mir entgegenläuft, um mir den Koffer abzunehmen.

»How are you, Mrs. Amy? Pleasure to see you!« Auf Deutsch setzt er hinzu: »Willkommen in der alten Heimat!«

Ich habe damit gerechnet, dennoch versetzen die Worte mir einen Stich.

»Hardly«, gebe ich zurück. Ich habe doppelt recht damit. Weder ist dies meine Heimat, noch bin ich hier willkommen. Um es zu unterstreichen, bleibe ich beim Englischen. »Good to see you, too, Bill. Was macht der Colonel?«

»Wäre gern selbst zu Ihrem Empfang gekommen, Ma’am, aber wir hatten heute gleich mehrere Überraschungen.«

Bill verstaut meinen Koffer hinter dem Fahrersitz, während ich umständlich in den Jeep klettere. Hinter uns rollt die Douglas-Transportmaschine, mit der ich gekommen bin, langsam von der Landebahn. In der Luft liegt ein Teppich aus Öl- und Benzingeruch. Der Schatten vom Tower fällt über uns, und Wind fängt sich in meinem Schal, als wir losfahren, über planiertes Gelände, auf schnurgeraden Straßen, über rechtwinklige Kreuzungen. Links und rechts hat man Hallen mit Dächern aus Wellblech aus dem Boden gestampft und dazwischen jeden Baum und jeden Strauch herausgerissen. Flugzeughangar, Garagen, Kasernen. Betonblock neben Betonblock, säuberlich aufgestellt in präzise abgemessener Distanz, dazwischen Menschen in Uniform, deren Gesichter ich kaum erkennen kann. Alles ohne Schnörkel, reduziert auf seine Funktion, in klaren Linien. Das Gelände erscheint mir in seiner Trostlosigkeit vollkommen ehrlich.

Hier gefällt es mir.

»Überraschungen?«

Bill lacht. Er hat großartige Zähne. Das beste Gebiss, das ein wohlhabender Vater seinem Sohn bei einem Kieferorthopäden in Auftrag geben kann. Er muss jetzt um die dreißig sein, rechne ich nach. Ich habe ihn noch als schlaksigen Studenten erlebt und sollte vermutlich nostalgisch werden bei dem Gedanken, wie schnell die Kinder groß werden. Stattdessen fühle ich mich nur alt. Ich bin zweiundvierzig.

»Ungezieferbefall in einer Baracke.« Er grinst. »Generalreinigung, ein Haufen Umquartierungen, und jetzt weigern sich die Jungs aus Alabama und Louisiana, in Betten zu schlafen, in denen vorher schon ein Neger gelegen hat. Sagen wir mal, Ihr Mann ist gut beschäftigt heute.«

»Sind das die üblichen Probleme hier?«

»So ziemlich. Gibt immer Ärger bei gemischten Mannschaften.« Er spricht im Ton eines altgedienten Veteranen. »Sind leider eine ganze Menge Schwarze bei uns. Die Kasernen sind nur zum Teil fertig, und irgendwo müssen wir die Leute halt unterbringen.«

»Langweilen Sie sich hier nicht?«

Die Frage provoziert nur neues Lachen. »Was? Im Gegenteil, ich bin froh, dass Ihr Mann mich zu sich abgestellt hat. Ist ein großartiger Job. Wir machen es uns hier schon hübsch, Ma’am, Sie kennen mich doch. Auf der Base gibt es ein Kino und im Ort eine Kneipe.« Er wirft mir einen Blick zu, während er schaltet. »Und die deutschen Mädchen sind sehr nett, das muss man schon sagen. Was will ein Mann mehr?«

Wunderbare Aussichten. Ich seufze innerlich.

Wir nähern uns dem Tor. Wachsoldaten lugen aus dem Verschlag daneben, einer macht sich, das Gewehr geschultert, langsam auf den Weg zum Schlagbaum, versperrt die Straße und signalisiert mit ausgestreckter Hand, dass wir anhalten sollen. Bill stoppt, lässt den Motor laufen, zeigt dem Wachhabenden seine und meine Papiere und erklärt meine Anwesenheit. Der Soldat salutiert, dann macht er zackig kehrt und stapft zurück in sein Wachhäuschen.

»Hatten Sie denn eine gute Reise?«, erkundigt Bill sich, während wir darauf warten, dass der weiß-rote Balken vor uns in die Höhe geht. Als wohlerzogener Junge, der aufs College gegangen ist, weiß er, was man einer Dame an Umgangsformen schuldet. Selbst dann, wenn diese Dame einmal eine billige Schreibkraft im Büro des eigenen Vaters gewesen ist.

»Bestens, danke«, lüge ich.

In Wahrheit ist mir schlecht, seitdem ich Paris verlassen habe.

Etwas surrt. Der Schlagbaum bewegt sich, wir verlassen den Stützpunkt. Dahinter liegen Felder. Die Einfahrt zu dieser Airbase ist ebenfalls sichtbar neu angelegt, ihr dunkler Asphalt hat noch keinen einzigen Riss. Nach gut hundert Yards mündet sie in eine alte Landstraße, der Straßenbelag wird grau und schmutzig. Bill biegt ein und gibt Gas.

Er fährt gern schnell, gleichgültig ob der Weg es zulässt oder nicht. Wir holpern durch ein Schlagloch, und ich vermeide mit knapper Not, aus dem Sitz zu fliegen. Ich fange an zu verstehen, weshalb Bill für diese Fahrt ein Geländefahrzeug gewählt hat.

Die Straße mäandert in hundert Kurven durch ein Mosaik aus Roggen- und Weizenfeldern, Grasstreifen, Baumgruppen und Gemüsegärten, als habe sie nach all den Jahrhunderten, seitdem man sie angelegt hat, noch immer nicht herausgefunden, wo sie eigentlich hinwill. Hinter einer Kurve tritt Bill mit aller Macht auf die Bremse. Vor uns zuckelt ein Fuhrwerk. Ein wirkliches, ratterndes und knarrendes Ochsenfuhrwerk. Ich drehe mich unwillkürlich danach um, als Bill überholt. Der Jeep wirbelt Unmengen von Staub auf. Die Ochsen trotten stur in die graue Wolke hinein, nur der Kerl auf dem Kutschbock blickt kurz unter seiner Hutkrempe hervor, schaut uns hinterher und spuckt dazu auf die Straße.

Wo bin ich hier nur gelandet?

Durch die Staubschleier sehe ich von Weitem einige Dächer. Manche sind eingesunken, auf anderen wächst Moos. Scheunen, nehme ich an. Oder leben noch Leute in diesen Behausungen? Am Wegrand Gärten, handtuchschmal. An den Ästen der Obstbäume wuchern dicke Knoten. Ich wundere mich, wie klein, eng und alt hier alles ist.

Ich hatte es vergessen.

»Es ist seltsam. Fremd, nach so langer Zeit, nicht wahr?« Bill spricht wieder Deutsch, mit seinem amerikanischen Akzent. Es tut mir in den Ohren weh. Ich weiß, dass mein Chauffeur nur mit seinen Sprachkenntnissen angeben will. Als wäre er immer noch der Sohn des Firmenchefs, als säße ich immer noch im Vorzimmer seines Vaters in New York und er stolziere herein, um die anwesenden Tippmamsellen großzügig an seinen heutigen Heldentaten teilhaben zu lassen, an einem glorreich absolvierten Vortrag über Volksökonomie oder der Anschaffung des neuesten Sportwagens.

»Alles ist fremd«, bestätige ich versuchsweise auf Deutsch. »Selbst die Sprache.«

Und wie sie das ist. Sogar mit meinen Eltern habe ich in den letzten Jahren nur noch Englisch gesprochen, mit Jim sowieso. Mein »R« rollt in der Kehle, die Vokale passen nicht. Ich klinge amerikanischer als Bill. Hastig schüttle ich den Kopf und wechsle zurück ins Englische. »It’s been too long – es ist zu lange her. Ich fühle mich nicht mehr wohl damit.« Und: »Vielleicht wäre ich besser in Paris geblieben.«

Er lacht sein sorgenfreies New Yorker Lachen. »Das wäre dem Colonel aber gar nicht recht gewesen, denke ich. Und an Ihrer Stelle wäre es mir zu gefährlich. Denken Sie an die netten deutschen Mädchen.«

Wie nebenbei wirft er mich mit diesen netten Mädchen in einen Topf: ein bedeutungs- und mittelloses Ding, das nichts hatte als ein Paar schöne Beine, um sich einen Mann zu angeln. Er nimmt mir immerhin nicht übel, dass es mir gelungen ist. In den Staaten sieht man diese Dinge sportlich, wenigstens nach außen. Jede wuchert eben mit den Pfunden, die sie hat.

Der Fahrtwind macht jede weitere Unterhaltung unmöglich, zum Glück. Ich wickle mir den Schal fester um Haar und Hals, halte mich am Metallgestänge des Jeeps fest und bekämpfe die Wut und die Panik, die in mir aufsteigen.

Ich möchte meinem Mann am liebsten eine gehörige Ohrfeige verpassen. Ich wünschte, ich hätte etwas zu trinken.

Warum tust du mir das an, Jim?

In gewisser Weise habe ich es mir selbst angetan, aber den Gedanken schiebe ich beiseite. Es ist leichter, Jim dafür verantwortlich zu machen. Vor allem ist es jetzt zu spät.

Hier bin ich, denke ich. Zurück in Fremdland.

1933

»Das ist nicht mehr mein Land«, sagte Amelies Vater.

Dies betonte er beileibe nicht zum ersten Mal. Amelie wusste, dass ihr Vater sich leicht erregen konnte und über nichts leichter als Politik. Doch an diesem Morgen hatte der Satz eine ungeahnte Schwere.

Wie das Fallbeil einer Guillotine.

Seine Hände zitterten, als er die Zeitung auf den Küchentisch sinken ließ. »Das ist nicht mehr mein Land, in dem so etwas möglich ist.«

»Was ist passiert?« Amelies Mutter stellte den Teller ab und ließ sich auf einem der Stühle nieder. Statt einer Antwort deutete ihr Mann auf die Schlagzeile.

»Sie verbieten die SPD?«

»Die letzte Partei, die es gewagt hat, gegen das Ermächtigungsgesetz zu stimmen. Die letzte Opposition zu den Nazis im Land.« Er schob abrupt den Stuhl zurück und stand auf. »Es ist vorbei, Hedwig. Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen.«

Jeder wusste, was das hieß. Amelie schaute von ihrem Vater auf ihre Mutter und wieder zurück. Aus der Nachbarwohnung quäkte das Grammofon der Witwe Danheimer blecherne Fetzen von Marschmusik. Der Teekessel auf dem Herd dampfte und zischte.

»Inwiefern ist das anders als damals, als sie die KPD verboten haben?«, fragte Amelies Mutter schließlich. »Die neue Regierung will doch nur beweisen, dass sie sich durchsetzen kann. Vielleicht gewähren sie wieder mehr Freiheiten, wenn sie das Gefühl haben, wirklich fest im Sattel zu sitzen. Paul, du wirst schon wieder irgendwo unterkommen. Wir haben es bisher immer geschafft. Aber das Land zu verlassen, alles aufzugeben …«

»Was denn? Was geben wir denn noch auf?« Er drehte sich um, gestikulierte wild umher, deutete auf den altersschwachen Gasherd, die rostigen Scharniere der Hängeschränke und die Küchenfliesen, die oberhalb der Spüle gesprungen waren und fast von der Wand fielen. Amelie konnte nachvollziehen, was er meinte.

In diese Wohnung waren sie vor drei Jahren gezogen, als Paul Werner seine erste Stelle verloren hatte, und niemand von ihnen hatte sich hier je wirklich heimisch gefühlt. Die Zeitung, bei der er arbeitete, hatte damals den Besitzer gewechselt und fast unmittelbar darauf auch die politische Ausrichtung und die Zusammensetzung der Redaktion. Ein Journalist, der der KPD nahestand, wie Paul Werner einer war, war nicht mehr erwünscht gewesen.

Amelies Vater hatte relativ rasch eine neue Stelle beim »Vorwärts« gefunden, allerdings war diese deutlich schlechter bezahlt. Daher waren sie umgezogen, von Wilmersdorf fort in eine Hinterhauswohnung unterm Dach, in der Nähe der Neuen Nazarethkirche. An der Straßenecke war eine Kneipe, vor der sich regelmäßig die Arbeiter mit den Braunhemden der SA prügelten; man hörte es bis herauf in die Wohnung. Wenn die Polizei überhaupt kam, führte sie stets nur diejenigen ab, die kein braunes Hemd trugen. Kleider machten eben Leute. Amelies neues Zimmer war eine Abstellkammer, in der nichts Platz hatte außer einem Bett und dem Nachtkästchen; ihre Arbeiten für die Uni und ihre Zeichnungen erledigte sie am Wohnzimmertisch. Bald würde es wieder so heiß und stickig in der Wohnung werden, dass sie sich kaum konzentrieren konnte und Papier und Füllfederhalter an den Händen klebten. In den Sommermonaten versuchte sie, so viel Zeit wie möglich in der Bibliothek und in Museen zu verbringen.

Aber, dachte Amelie, wenn es nur das gewesen wäre. Niemand hätte geklagt.

»Ich habe schon viel zu lange gewartet. Sie haben unseren Staat von einer Republik in eine Diktatur verwandelt, und zwei Drittel der Leute da draußen stehen daneben und applaudieren!«, zürnte ihr Vater. »Ich kann nicht glauben, dass niemand begreift, was vorgeht! Die Nazis machen ja nicht einmal einen Hehl aus ihren Plänen. Sie werden jeden Vorwand nutzen, der sich ihnen bietet, um Hitlers Macht auszubauen – und wenn sich keiner bietet, schaffen sie ihn selbst!«

»Du weißt nicht, ob sie den Reichstag selbst angezündet haben«, sagte Amelies Mutter. »Sei gerecht, Paul.«

»Nein. Nein, ich weiß es nicht. Aber was ich weiß: Das Feuer hätte nur ein Gebäude zerstört. Die Gesetze zu seinem Schutz haben die ganze Institution, ach, was rede ich, unsere gesamte Republik zerstört!« Er schaute Amelie an. »Was sagen deine Professoren?«

»Nichts mehr.« Amelie erschrak beinahe selbst über den Hohn in ihrem Tonfall. »Darum habe ich ja das Fach gewechselt – bei Kunstgeschichte weiß ich wenigstens, dass man mir Vergangenes und Verstaubtes vorsetzt. Seit Liebermann zurückgetreten ist, gibt es an der gesamten Berliner Akademie niemanden mehr, der noch den Mund aufzumachen wagt. Kunst ist jetzt nur noch, was aussieht, als hätte Spitzweg es nach dem fünften Glas Schnaps auf die Rückseite eines Amtsschreibens gepinselt.«

Ihr Vater lachte grimmig. Die Mutter schüttelte den Kopf, während sie an die Spüle zurückkehrte und das Geschirr trocknete, aber selbst sie schmunzelte. »Also wirklich, Kind.«

Amelie konnte sich über Gemälde mindestens so leicht erregen wie ihr Vater über Politik.

»Es ist aber wahr, Mutti. Man malt jetzt wieder auf deutsche Art, weißt du? Blümchen, Hügelchen, Schlösschen und Rehlein. Oder tapfere Wikinger mit Rauschebart und blond bezopften Damen.« Sie zuckte die Achseln. »Ihr wisst genau, wie beeindruckend ich die Bilder der modernen Maler finde. Ich meine, die haben etwas zu sagen – was die meisten Leute zu Papier bringen, ist doch nichts Besseres als … das da.« Sie deutete auf das Blütendekor der Porzellantasse, die ihre Mutter in der Hand hielt. »Wenn man eine Maschine malen ließe, käme das Gleiche dabei heraus.«

»Ich verstehe gut, was du meinst.« Ihr Vater war ans einzige Fenster der kleinen Küche getreten, hatte die Hände aufs Sims gestützt und starrte hinunter in den Hof. Seine Jacke hing über dem Stuhl; die Hosenträger über seinem Hemd waren verschlissen. Sein Haar musste geschnitten werden, bemerkte Amelie. Es begann sich im Nacken zu kräuseln, und graue Fäden mischten sich hinein.

»Nun, ich nicht«, sagte Amelies Mutter rigoros, fuhr mit dem Geschirrtuch über die Tasse und stellte sie in den Hängeschrank. »Ich mag unser Frühstücksporzellan.«

»Ich auch«, sagte ihr Mann über die Schulter. »Aber ich will nicht, dass unser ganzes Land so aussieht wie nachgemachtes Meißner mit falschem Goldrand. Vor allem nicht, wenn es unschuldige Leute die Freiheit und vielleicht bald das Leben kostet.« Er fing den fassungslosen Blick seiner Frau auf. »Es ist nur eine Frage der Zeit, Hedwig. Sie verhaften Politiker und Gewerkschaftsführer, nur weil sie einer Partei angehören und sich für dieses Land eine andere Zukunft wünschen. Noch stecken sie sie nur in Straflager. Was glaubst du, was der nächste Schritt sein wird?«

»Aber das ist Wahnsinn.«

»Ja. Und das ganze Land ist ihm offenbar verfallen.« Der Vater drehte sich um und hob hilflos die Arme. »Ich kann nichts mehr tun. Alle halbwegs freien Zeitungen sind verboten. Es gibt keine Partei mehr, die uns Rückhalt bieten könnte. Soll ich abwarten, bis wir an der Reihe sind, oder soll ich in Zukunft in meinen Artikeln Hitlers Reden glorifizieren und gegen Juden, Bolschewiken und Homosexuelle wettern? Mehr wird einem Journalisten hierzulande bald nicht mehr erlaubt sein. Und wer weiß, wie lange wir überhaupt noch die Chance haben zu gehen?«

»Aber wo willst du hin, Paul?«

»Frankreich«, sagte er sofort. Und, mit leicht gehobenen Brauen und Blick auf seine Tochter: »Paris.«

»Ich bin dabei!« Amelie hörte sich schon antworten, bevor sie ganz begriffen hatte, was ihr Vater da sagte.

Der lachte wieder. »Siehst du, Hedwig? Ich sage Paris, und sie hört Cézanne und Renoir.«

»Gauguin«, widersprach Amelie. »Toulouse-Lautrec.«

Trotz der Schreckensbilder, die ihr Vater soeben an die Wand gemalt hatte, jubelte etwas in ihr bei der Aussicht auf eine Reise nach Frankreich. Die Berliner Akademie der Künste war nur noch ein Schatten ihrer selbst, seitdem die gesamte Studentenschaft unter der Fuchtel der NSDAP stand. In den hohen Fluren, durch die Amelie früher oft lachend und außer Puste in die Vorlesungen gehastet war, lauerte etwas Kaltes, Misstrauisches. Wenn jetzt gelacht wurde, dann klang es hart und boshaft. Als vor einigen Wochen die Nazis ihr gruseliges Ritual am Opernplatz durchgeführt hatten, waren gleich mehrere Kommilitonen auf Amelie zugekommen und hatten sie aufgefordert, auch sie möge alle vaterlandsverräterischen Bücher in ihrem Besitz den Flammen übergeben.

»So was lese ich sowieso nicht.« Sie war froh gewesen, zu Hause zu wohnen, sodass niemand die Behauptung überprüfen konnte.

Als die Verbrennung abends im Radio übertragen wurde, hatte Paul Werner irgendwann den Apparat ausgeschaltet.

Er hatte völlig recht. Dies war kein Land mehr, in dem man noch leben, denken, wünschen, ja kaum noch frei atmen konnte. Paris dagegen … Bei der bloßen Aussicht darauf fiel eine Last von Amelies Schultern.

»Denkst du, ich könnte in Paris fertig studieren?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ihr Vater ehrlich. »Ich hoffe es, aber ich mache mir keine Illusionen; dort warten sie sicher nicht auf uns. Zumindest werden wir wieder sagen und denken dürfen, was wir wollen.«

»Ich werde wenig sagen können«, murmelte Amelies Mutter. »Ich bin im Gegensatz zu euch beiden nicht auf die höhere Schule gegangen und spreche kein Französisch.«

»Aber Mutti, das lernst du doch!«

»Es wird ein weit geringeres Problem sein als jedes, das uns hier erwartet.« Paul Werner legte seiner Frau den Arm um die Schultern, lehnte seine Stirn an ihre und zwinkerte. »Und ich freue mich schon darauf, dich zum ersten Mal in die Pariser Oper auszuführen.«

Selbst Amelies Mutter musste lächeln. Es war beschlossen. Von nun an, dachte Amelie, konnte es nur noch besser werden.

Kapitel 2

1951

Bill reduziert die Geschwindigkeit, wir biegen ab. Hinter einer Kurve, über dem Gesträuch am Wegrand, tauchen Hausdächer auf. Ein schief in der Erde steckendes Ortsschild verkündet den Namen Kaltenstein. Einige Yards weiter fault der Lattenzaun des ersten Gartens im Schatten alter Eiben vor sich hin. An dem zweistöckigen Haus hängt, windschief und wie angeklebt, ein Bretteranbau, gedeckt mit Holzschindeln. In einem Hackstock davor steckt eine kleine Axt, vor dem Eingang picken Hühner vor sich hin. Disteln wuchern um einen Ziehbrunnen. Irgendwo hinter dem Haus muss es außerdem einen Misthaufen geben, sagt mir meine Nase. Ziemlich frisch und vermutlich ziemlich groß.

Selbst Maine ist fortschrittlich verglichen mit dem, was ich hier sehe.

»Ist es das, Bill?«

»Ja, Ma’am. Ziemlich trostloses Kaff, nicht wahr? Aber wir mischen das Nest schon auf, keine Sorge.« Wir rollen an den ersten Häusern vorbei. Langsam, weil ein alter Mann in geflickter Strickweste eine Kuh mit einer Haselnussrute vor sich her quer über die Straße treibt. »Sollen wir eine kleine Rundfahrt durch den Ort machen?«

Ich schüttle den Kopf. »Nicht bevor ich einen Drink hatte. Einen doppelten.«

Bill lacht. »Man gewöhnt sich dran, Mrs. Amy. Aber gut, nehmen wir den schnellsten Weg zur Base. Der Colonel wartet bestimmt schon.«

Selbst der schnellste Weg dauert mir zu lang. Während wir durch den Teil rollen, der hier vermutlich als Ortszentrum durchgeht, deutet Bill auf einige Häuserfronten. Da ist also das Gasthaus, dort die Apotheke, da hinten wohnt der Bürgermeister. Blasse Reklameschilder aus Holz und Blech verweisen auf Bäckerei, Werkstatt mit Tankstelle und Kramladen. Dazu Kirche, Pfarrhaus, Schule und Friedhof. Damit hätten wir die Sehenswürdigkeiten der Metropole wohl passiert. Das Pflaster ist holprig, wir umkurven Pferdefuhrwerke von Bauern und den einen oder anderen Volkswagen. Immerhin scheint es schon Straßenlaternen zu geben.

Bill biegt wieder ab, die Häuser werden weniger und rücken weiter von der Straße fort. Ein Schild weist Richtung Polk Barracks. Schwarzer, makelloser Asphalt auf der Straße verkündet, dass wir uns der Einflusszone der US-Armee nähern. Ein Konvoi aus Jeeps und Transportfahrzeugen kommt uns entgegen. Von einem Wachturm herunter grüßt nachlässig ein GI. Ich sehe Transformatoren, große Strommasten und, am Tor des Stützpunkts, Ampeln und Scheinwerfer. Bill zeigt am Tor wieder die Papiere vor, der Schlagbaum öffnet sich, wir rollen hinein in gerade Straßen, zwischen hell gestrichene Kasernen- und Verwaltungsgebäude. Ich sehe einen Chevrolet vor einer Tankstelle. Ein AAFES-Supermarkt preist seine Sonderangebote an. Im Kino läuft »The Wizard of Oz«.

Die Zivilisation hat mich wieder. Wenn man die Trupps auf- und abmarschierender Soldaten in ihren braunen Uniformen und die geparkten Panzer ignorieren könnte, sähe das hier fast aus wie eine Vorstadt zu Hause in Amerika.

Ja, stelle ich mit Verblüffung fest: Ich habe gerade wirklich »zu Hause« gedacht.

Unser Jeep hält in einer sauber gepflasterten Einfahrt vor der Garage eines einstöckigen Hauses. Auch diese Gebäude sind sichtbar neu, so neu, dass ich am liebsten prüfen würde, ob der Anstrich schon ganz trocken ist. Die Sonne gleißt geradezu darauf. Das Haus hat große Fenster und Glaseinsätze in den Türen. Es gibt einen Rasenstreifen vor dem Haus und einen Maschendrahtzaun auf einem weiß getünchten Betonsockel, der ihn gegen die Straße abgrenzt. Ein Anblick vor allem erleichtert mich: Kabel schwingen sich durch die Luft bis zum Dach. Elektrische Leitungen! Zumindest die zweifelhafte Romantik von rußenden Petroleumlampen und Holzkohlen dürfte mir erspart bleiben.

Wenn ich ganz fest daran glaube, sieht das Haus ein bisschen aus wie unser Ferienhaus in Malibu.

Bill springt aus dem Wagen und umrundet das Heck, um mir beim Aussteigen behilflich zu sein. Ich zupfe meinen Rock zurecht, schwinge die Beine herum und stelle die Absätze fest aufs Pflaster – in einem Bleistiftrock von einem Jeep abzusteigen will gelernt sein.

Die Reaktion kommt sofort in Form anerkennender Pfiffe. Kein Zweifel, ich habe Publikum. Frauen in einem Militärlager voller Soldaten hätten sicher auch dann Publikum, würden sie geblümte Kittelschürzen tragen, statt eines Kostüms von Dior. Natürlich benehme ich mich, als hätte ich nichts gehört, und begutachte stattdessen weiter mein neues Zuhause. Dafür hebt Bill meinen Koffer aus dem Heck des Wagens und dreht sich zur Straße um, wo vermutlich gerade feixende GIs beieinanderstehen und Stielaugen machen. Er sagt nichts, aber aus den Augenwinkeln kann ich sehen, wie er wild mit der Hand abwinkt.

Es hilft nicht viel.

Erst als die Haustür sich öffnet und Jim auf der Schwelle steht, der sich zu meiner Begrüßung in Schale geworfen hat und in Uniform, die Schirmmütze auf dem schlohweißen Haar und das kleine Mosaik seiner Auszeichnungen auf der Brust, hoch aufgerichtet und mit steinernem Gesicht vor die Tür tritt, erstirbt das Raunen abrupt. Ich höre, wie die Sohlen der schweren Militärstiefel auf dem Pflaster hastig auseinander schlurfen, und ahne, was die Besitzer der Schuhe sich dabei zuraunen.

»Wer hätte gedacht, dass der Alte noch so eine knackige Frau hat?«

Jim ahnt es auch. Das sehe ich an dem grimmigen kleinen Lächeln um seine Lippen, als er Bill Meadow an sich vorbei ins Haus dirigiert und die paar Stufen vom Eingang heruntersteigt, um mich auf die Wange zu küssen. Er genießt es, mit mir auf andere Leute Eindruck zu machen. Selbst wenn es nur ein paar GIs aus den Südstaaten sind.

»Nun, Mrs. McCoy?«, raunt er an meinem Ohr. »Zufrieden mit deinem Empfang?«

»Ich denke, eine Cancan-Tänzerin vom Moulin Rouge wäre deinen Männern lieber gewesen«, gebe ich ebenso leise zurück. »Wenn du schon etwas aus Paris einfliegen lässt.« Er brummt amüsiert, legt einen Arm um meine Taille und führt mich ins Haus.

Die Diele empfängt mich mit angenehmer Kühle. Sie ist dunkel und nahezu kahl, erhält ihr Licht vor allem durch das Milchglasfenster über dem Eingang. Neben der fast leeren Garderobe hängt immerhin ein Spiegel; ich nehme den Schal ab und richte mir die Haare. Jim sieht mir zu. Im Hintergrund kommt Bill zurück und hält mir die Tür ins nächste Zimmer auf.

»Sergeant, auf ein Wort noch«, sagt Jim und zu mir: »Geh schon vor, Darling. Ich komme gleich.«

Die Tür schließt sich hinter mir, damit die Männer über Wichtigeres sprechen können.

Jetzt weiß ich, dass ich angekommen bin.

Der Wohnraum ist ähnlich leer wie die Diele. In der Regalwand stapeln sich ein paar Broschüren, Jims Militärhandbücher, ein deutsch-englisches Wörterbuch und ein paar Heftbinder voll maschinenbeschriebener Seiten. Einige Gläser für Wasser, Weißwein, Bier. Unser Hochzeitsfoto ist das einzige Bild im Raum. Ich trete ans Fenster, ziehe es auf und schaue hinaus. Ein paar neugierigen Soldaten hinter der Gartenmauer fällt plötzlich ein, dass sie ganz dringend etwas zu tun haben.

Aus der Diele höre ich Jims und Bills Stimmen, die über Militärthemen sprechen – vermutlich noch immer über die brisante Frage, wie man die armen weißen Rassisten aus den Südstaaten am besten vor zu viel Kontakt mit ihren schwarzen Kameraden schützt. Der bloße Gedanke macht mich schon wütend. Vom offenen Fenster her mischen sich in unregelmäßigen Abständen Kommandorufe hinein, dazu hin und wieder das Trapp-Trapp Dutzender Armeestiefel im Laufschritt.

Ich nehme ein Glas aus dem Schrank, öffne die Bar und gieße mir ein Glas Gin ein. Meine Vorliebe für dieses Getränk habe ich entdeckt, als Jim nach Japan ging. Es hat den Vorteil, noch leerer zu schmecken als Wasser. Man trinkt es nicht aus Genuss, sondern um gezielt betrunken zu werden.

Zumindest ich.

Zu den wenigen Einrichtungsgegenständen, die Jim angeschafft hat, gehört eine Kuckucksuhr. So kann ich, während ich an meinem viel zu warmen Gin nippe und den Stimmen aus der Diele lausche, das Vorrücken der Zeiger verfolgen und mich fragen, ob ich den mechanischen Vogel in diesem lächerlichen Ding noch zu hören bekommen werde, bevor mein Mann Notiz von mir nimmt.

Ich bin beim zweiten Glas, als die Tür sich öffnet und Jim eintritt. »Tut mir leid, Amy, ich …« Er sieht den Gin in meiner Hand. »Amy. Bitte.«

Ich sage nichts und nehme einen weiteren Schluck. Er schließt die Tür hinter sich, schlüpft aus dem Uniformrock und hängt ihn über eine Stuhllehne. Dann kommt er herüber, nimmt mir das Glas weg und stellt es auf den Couchtisch.

»Ich will zurück nach Paris, Jim.«

Er seufzt und lässt den Kopf hängen. Für einen Moment sieht er tatsächlich alt aus. Sonst ist es nur seine Haarfarbe, die ihn älter wirken lässt als seine dreiundfünfzig Jahre. Ich darf mir offenbar schmeicheln, einen ähnlichen Effekt auf ihn zu haben.

»Wir hatten darüber gesprochen, Amy.«

»Ich kann das nicht, Jim. Ich halte das nicht aus. Was soll ich denn hier?«

»Meine Frau sein. Bei mir sein.«

»Und was soll ich den ganzen Tag tun, deiner Meinung nach? Soll ich melken lernen? Willst du eine Kuh in die Garage stellen?«

»Du bist die Frau des hiesigen Kommandanten«, sagt er. »Sozusagen die First Lady der Base. Du wirst gesellschaftliche Verpflichtungen haben. Es leben noch andere Offiziersgattinnen hier, du wirst sie bald kennenlernen. Ihr könnt Bridge-Abende veranstalten …«

»Bridge«, wiederhole ich in einem Ton, dass sogar Jim lachen muss.

»Du weißt, was ich meine. Bestimmt findest du jemanden, der deine Interessen teilt.«

»Meine Eltern …«

»Es gibt einen Telegrafen auf der Station. Und deine Freunde in Paris kannst du anrufen, von mir aus jeden Tag. Wir haben ein Telefon im Haus.«

»Ich will nicht in diesem Land bleiben, Jim!«

Er schweigt, damit er nicht zugeben muss, dass er das verstehen kann. Für ihn sind diese Deutschen in erster Linie eine Aufgabe. Ein Job. Im Krieg musste er sie erschießen, jetzt muss er sie bewachen und vor den Russen beschützen. Für mich ist es anders, und weil er nicht dumm ist und außerdem weit weniger Hornhaut auf der Seele hat, als er mich, die Welt und sogar sich selbst glauben machen möchte, kann er sich vorstellen, wie es mir geht.

»Ich brauche dich hier«, sagt er schließlich.

Nein, er ist wirklich nicht dumm. Er weiß genau, was er sagen und wie er mich ansehen muss, damit mein schlechtes Gewissen die Oberhand gewinnt. So wie jetzt. »Gib mir … Gib uns wenigstens eine Chance. Weißt du eigentlich, wie lange wir zusammengelebt haben seit unserer Heirat? Und ja, ich weiß, es war nicht deine Schuld. Ich habe Fehler gemacht. Kaltenstein ist unser Neuanfang. Es ist vielleicht nicht das, was wir wollten, aber zumindest können wir hier zusammen sein.«

Er nimmt mich in den Arm und küsst mein Haar. Ich schmiege mein Gesicht an den Stoff seines Hemds. Er riecht nach Rasierwasser, nach Zigarettenrauch, nach Jim.

»Du bist mein Leuchtturm, Amy, vergiss das nicht. Ohne dich komme ich vom Kurs ab.«

Ich lehne mich an ihn, schließe die Augen und weiß, dass er gewonnen hat.

Etwas rattert an der Wand hinter mir, etwas klappt hörbar auf. Der mechanische Kuckuck fährt aus seinem Holzverschlag und gibt ein Hupen von sich, das wohl an einen Vogelruf erinnern soll.

Ich trete einen Schritt von Jim zurück, deute mit dem Daumen über die Schulter und sehe meinen Mann an. »Damit wir uns richtig verstehen: Das geschmacklose Ding da hinten fliegt raus! Meine Möbel aus Paris sind unterwegs. Ich stelle meine Louis-XVI-Kommode nicht unter diesen Kitsch!«

Er grinst. »Ich wusste, du würdest diese Uhr lieben. Schicken wir sie an Henry, was meinst du?«

Der Gedanke bringt mich zum Lachen.

»Dein Bruder wird begeistert sein.« Zu meinem Entsetzen wird er das wahrscheinlich wirklich.

1933

Es war, als sei mit dem Entschluss zu gehen der ganzen Familie ein Gewicht von den Schultern gefallen. Zum ersten Mal seit Jahren, dachte Amelie, sahen sie alle wieder eine Perspektive vor sich. Selbst Amelies Mutter, so schwer ihr der Gedanke noch immer fiel, von ihrer gewohnten Umgebung Abschied zu nehmen, schien das so zu empfinden. Sie besorgte Koffer und Reisetaschen, begann auszusortieren, was sie mitnehmen konnten, und verkaufte oder verschenkte alles Übrige.

Amelies Vater kümmerte sich um Behördengänge und Papiere. Einige Möbel ließen sich zu Geld machen, viel würde zurückbleiben. Amelie selbst besuchte noch immer ihre Vorlesungen, wenn auch mit mäßiger Aufmerksamkeit. Aber es gab ihr Gelegenheit, sich von Kommilitonen und befreundeten Professoren zu verabschieden.

Aus einem ähnlichen Grund verbrachte sie die sonnigen Nachmittage gern am Landwehrkanal. Im Umkreis der Galerie Flechtheim hatten sich viele kleine Papeterien und Händler von Ansichtskarten, Bilderrahmen und Kunstdrucken angesiedelt, und dort hatte Amelie früher an manchen Tagen die Hälfte ihrer Bekannten von der Akademie getroffen. Sie hatten gemeinsam Ausstellungskataloge durchgeblättert, über Kirchner, Nolde und Dix diskutiert und ihr Taschengeld für billige (und häufig miserable) Kopien von Gemälden van Goghs oder Manets hingeblättert, bevor sie sich mit dem Wechselgeld in ein Café gesetzt und sich gegenseitig ihre Schätze gezeigt hatten.

Inzwischen herrschte in diesen Läden die gleiche Atmosphäre wie in den Fluren der Akademie. Die Regale mit den Drucken expressionistischer Bilder waren nach hinten verbannt und kauerten nun verschämt in den Ecken. In den Schaufenstern hingen Dürer und Rembrandt neben Werner und Menzel. In dem Laden, den Amelie schließlich betrat, eher aus Nostalgie als weil die Auslagen sie angelockt hätten, war sie fast allein. Der Verkäufer wirkte etwas nervös, als sie zielsicher in die Ecke mit den modernen Werken schritt.

Nach einer Weile verstand sie den Grund.

»Gefällt dir der Dreck etwa?«

Erschrocken schaute Amelie auf. Den jungen Mann, der in seinem braunen Hemd vor ihr stand und sie feindselig anfunkelte, kannte sie nicht. Sie erinnerte sich dunkel, das Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Vermutlich in einer Vorlesung; am Kragen seines braunen Hemds steckte eine schwarz-weiß-rote Emailleraute mit einem auf die Spitze gestellten Hakenkreuz. Das Abzeichen des NS-Studentenbunds.

»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.« Sie drehte sich weg. »Vor allem wüsste ich nicht, dass wir einander schon einmal vorgestellt worden wären oder was Ihnen sonst das Recht gäbe, mich zu duzen.«

Mit dem ruhigen Stöbern war es jetzt vorbei. Amelie nahm die Karten und Drucke, die sie gefunden hatte, und wollte damit zur Kasse gehen. Der Kerl stellte sich ihr in den Weg.

»Axel Rothe«, höhnte er. »Jetzt kennen wir uns. Du brauchst dich nicht vorzustellen; dich kennen wir genau. Amelie Werner, Tochter des Kommunistenschweins Werner. Passt zu einer wie dir, so was zu kaufen. So eine pervertierte, jüdische Schmiererei.«

Amelie wusste, dass sie nicht hätte antworten sollen. Doch der Zorn war schneller.

»Franz Marc war kein Jude! Und wenn er es gewesen wäre, wäre es mir auch egal!«

»Wahrscheinlich bist du selber eine Judensau. Juden, Zigeuner, Bolschewiken, alles das gleiche Gesindel. Schmarotzer, die unser reines deutsches Blut aussaugen!«

Diskutieren war sinnlos. In dieser Art konnte er vermutlich stundenlang fortfahren, konnte ohne Unterbrechung alle Phrasen und Beleidigungen wiederholen, die er aus den Reden der Politiker und seiner Studentenführer aufgeschnappt hatte, stur und unbeirrt, als sage er im Religionsunterricht den Katechismus auf. Amelie ging um ihn herum und marschierte weiter zur Kasse.

Prompt änderte Rothe seinen Ton.

»Denk doch mal nach! Du siehst doch gar nicht aus wie so eine. Bist doch ein properes deutsches Mädchen. Wach auf, fang an, selbst zu denken, benutz deinen Kopf! Lass dir doch nichts einreden von den degenerierten Idioten, die dir allen Ernstes erzählen wollen, das da …«, er wedelte mit der Hand nach den Drucken, die Amelie auf den Verkaufstresen gelegt hatte, »… dieses Geschmier eines Geisteskranken wäre Kunst!«

Amelie blickte auf den Tresen. Zwei Landschaftsbilder von Macke. Und eines von Amelies liebsten Bildern, »Die großen blauen Pferde« von Franz Marc. Eleganz, Dynamik, Lebensfreude und Mythos, alles ausgedrückt in nur ein paar Pinselstrichen, ein paar Formen und Farben. Der Maler hatte sich nicht damit abgegeben, das Äußere eines Pferdes abzubilden; das konnte ohnehin jede Fotografie besser. Er hatte sein Wesen eingefangen, alle Regungen und Assoziationen, die der Anblick dieses Tiers beim Betrachter auslöste.

Für Amelie gab es kein perfekteres Bild.

Der Verkäufer hinter der Kasse schwitzte sichtbar Blut und Wasser. Seine Hände flogen, während er die Preise in die Tasten hämmerte, und er sprach so leise, dass Amelie seine Frage kaum verstand. »Soll ich’s Ihnen in eine Papiertüte stecken, Fräulein?« Deutlich lauter fügte er hinzu: »Sie haben gesehen, dass Sie auf diese Ware zehn Prozent Nachlass bekommen, nicht wahr? Wir lösen diesen Teil des Sortiments nämlich auf.«

»Siehst du?«, fing der Student sofort wieder an. »Der ganze Krempel fliegt raus! Das deutsche Volk erneuert sich aus sich selbst heraus, es duldet kein faules Fleisch an seinem gesunden Körper. Bald werden wir für diese Schmierereien ebensolche Feuerchen anzünden wie …«

»Savonarola in Florenz?«, fuhr Amelie dazwischen. Sie hätte noch mehr gesagt, aber die Ladentür klingelte, und eine bekannte Stimme rettete sie.

»Ahnte ich doch, dass ich dich hier finde.«

»Käthchen! Was machst du denn hier?«

Amelies Cousine lächelte huldvoll einmal in die Runde, was den Verkäufer aufatmen ließ und selbst Rothe erst einmal verstummen machte. Niemand konnte blonder und arischer aussehen als Käthe Hagner. »Ich wollte dich einsammeln. Ihr esst heute bei uns, Papa hat euch alle eingeladen. Bist du hier fertig?«

Der Verkäufer hielt Amelie mit verzerrtem Lächeln die Tüte hin. Amelie nahm sie und wollte sich mit Käthe zur Tür wenden. Rothe grölte ihr noch hinterher.

»Wenn ich dich noch einmal mit solch perversem Schweinkram erwische, melde ich dich dem Reichsjugendführer!«

»Der soll erst mal sein Studium fertig machen!«, rief Amelie über die Schulter.

Dass Baldur von Schirach sein Studium der Kunstgeschichte an den Nagel gehängt hatte, sobald er Vorzeigemitglied der SA geworden war, hatten Studenten wie Professoren eifrig bespöttelt, als Spötteln an der Akademie noch opportun gewesen war. Käthe packte hastig Amelies Ellbogen und zog sie nach draußen. Die Ladentür fiel unter schrillem Klingeln ins Schloss.

Sie rannten beinahe zur Straßenbahn, so eilig versuchten sie, Distanz zwischen sich und den Laden zu bringen. Amelie widerstand nur mit Mühe dem Drang, sich umzuschauen, ob der Kerl sie verfolgte.

»Kanntest du den?«, fragte Käthe außer Atem. »Ich hab nur die Gesten durchs Schaufenster gesehen und dachte, da musst du eingreifen. Hat der dich früher schon dumm angeredet?«

Amelie schüttelte den Kopf. »Aber das ist egal. Seit die Nazis die Studentenschaft übernommen haben, wimmelt es von denen.«

»Ist bei uns nicht anders. Gott sei Dank, da ist die Bahn. Komm, wir fahren gleich zu uns. Ich habe nicht gelogen, ihr esst heute wirklich bei uns. Es gibt Neuigkeiten.«

Tante Martha war eine Schwester von Amelies Vater. Im Gegensatz zu den Werners hatten die Hagners bisher noch keine großen finanziellen Rückschläge erlitten. »Aber das ist nur eine Frage der Zeit«, sagte Käthe nüchtern.

Sie war es auch, die, kaum waren Amelies Eltern eingetroffen und hatten sich am Tisch niedergelassen, von Amelies Begegnung in der Papeterie berichtete. »Ein widerlicher Kerl!«

»Und es laufen leider viel zu viele davon herum.« Onkel Otto schaute auf seine Frau. »Das bestärkt uns in unserem Entschluss, nicht wahr, Martha?«

»Und ob.« Tante Martha lächelte in die Runde. »Ich weiß, dass ihr demnächst nach Paris geht, und eigentlich wollten wir euch dabei noch behilflich sein. Aber nun sieht es aus, als wären wir schneller fort als ihr.«

»Ihr geht?«, staunte Amelies Vater. »Wohin wollt ihr?«

»Kommt mit nach Paris!«, rief Amelie. Mit Käthe gemeinsam Montmartre zu besichtigen wäre sicher großartig. Da Amelie keine Geschwister hatte, war die zwei Jahre ältere Cousine das, was einer Schwester für sie am nächsten kam.

Aber Onkel Otto schüttelte den Kopf. »Wir versuchen unser Glück in der Tschechoslowakei. Meine Mutter stammt aus Böhmen, wir haben auch einmal Urlaub bei unseren Verwandten dort gemacht. Michael ist schon vorausgereist und wird für uns Quartier machen, wie er sich ausgedrückt hat.«

»Was er uns von dort schon geschickt hat«, ergänzte Tante Martha, die mit einem dampfenden Topf aus der Küche kam, »sind Kochrezepte. Dank ihrem Bruder konnte Käthe sich für den Nachtisch an einer Mehlspeise versuchen. Ich bin gespannt.«

Das kulinarische Experiment war gelungen; das Ergebnis wurde allgemein gelobt, konnte aber nicht über die Anspannung und die erzwungene Heiterkeit am Tisch hinwegtrösten. Zum ersten Mal erfasste Amelie ein Gefühl von Endgültigkeit, zum ersten Mal hatte sie den Eindruck, etwas löse sich auf und werde vielleicht nie wiederkehren. Bisher hatte sie die anstehende Reise eher als Abenteuer empfunden, die Aufregung hatte die Angst überwogen. Jetzt, da Käthe und ihre Eltern sich aus Amelies Leben verabschiedeten, wurde ihr bewusst, dass ihre Welt gerade im Begriff war, zu zerfallen.

Käthe empfand es ähnlich.

»Es ist alles so unwirklich«, sagte sie, während die beiden Mädchen in der Küche gemeinsam den Abwasch erledigten. »Wir stehen jeden Tag auf, lesen jeden Tag die Zeitung, trinken unseren Kaffee, gehen zur Uni und in die Arbeit – und in einer Woche wird plötzlich alles anders sein. Keiner von uns weiß, wohin; keiner weiß eigentlich, wie es weitergeht. Und trotzdem ist mein Kopf so langsam und begreift es nicht.« Sie stellte den Teller ins Regal und sah Amelie nachdenklich an. »Wir werden vielleicht nie zurückkommen. Wenn das mit Hitler so weitergeht, wird es womöglich gar kein Deutschland mehr geben, in das wir zurückkommen können. Trotzdem denkt ein Teil von mir immer noch, wir fahren in die Sommerfrische.«

»Du musst mir die Adresse von euren Verwandten in der Tschechoslowakei geben«, platzte Amelie heraus. »Damit ich dir schreiben kann. Ich weiß noch nicht, wo wir in Paris wohnen werden; ein paar Freunde von Papa sind schon dorthin emigriert und wollten sich darum kümmern, uns eine Unterkunft zu besorgen. Ich schreibe dir, sobald wir in Paris angekommen sind. In Ordnung?«

»So machen wir es«, nickte Käthe. Spontan umarmte sie Amelie, und diese Umarmung vor der Küchenspüle Tante Marthas würde von jetzt an immer das Erste sein, an das Amelie sich erinnerte, wenn sie an Käthe dachte.

»So machen wir es. Durch dick und dünn, Cousinchen. Wir halten zusammen.«

Kapitel 3

1951

Beim Frühstück hat Jim schon damit angefangen. Jetzt, in der Diele, kurz bevor wir aufbrechen, macht er den nächsten Versuch.

»Aber siehst du nicht, wie wichtig du hier für mich bist? Mein Deutsch ist besser geworden, seitdem ich hier bin, aber immer noch nicht perfekt. Mit dir an meiner Seite …«

»Als Dolmetscher hast du Bill«, halte ich dagegen. Ich würde gern noch viel mehr sagen über smarte Streber, die im Gegensatz zu meinem Mann nie ein Gefecht erlebt haben, aber jeden Sprachkurs und jedes Privileg mitnehmen, die die Armee ihnen bietet. Ich kann nicht, weil ich mir die Lippen nachziehen muss. Außerdem weiß Jim längst, dass ich Bill Meadow nicht sonderlich schätze. Ebenso wie ich weiß, dass sein Deutsch viel besser ist, als er vorgibt; er sucht nur nach einer Möglichkeit, mich zu überreden.

»Der Bürgermeister hat eine Familie«, sagt Jim. »Es geht darum, Vertrauen zu schaffen zwischen uns und diesen Leuten. Persönliche Kontakte unterhalte ich lieber nicht über einen Stabsunteroffizier.« Man könnte fast meinen, auch Jim mag Bill nicht sonderlich.

»Ich will überhaupt keine persönlichen Kontakte hier!«

Ohne es zu wollen, bin ich laut geworden, und ich sehe im Spiegel, wie ein Muskel in Jims Wange heftig zuckt. Dann gibt er nach.

»Gut. Ich verspreche dir, du wirst nicht viel mit ihnen zu tun haben. Aber du musst mich hin und wieder zu ihnen begleiten; alles andere wäre beleidigend. Du kannst dich mit Mrs. Strumm übers Wetter unterhalten oder …«

»Ich kann mich mit ihr leider überhaupt nicht unterhalten. Es sei denn, sie spricht gut Englisch.« Jim runzelt verständnislos die Stirn, und ich drehe mich zu ihm um. »Ich will nicht Deutsch sprechen, Jim. Das ist mein letztes Wort.«

Er kennt mich gut dafür, dass wir so wenig Zeit miteinander verbracht haben im Lauf unserer Ehe. Er macht keinen weiteren Versuch.

»Okay.« Er seufzt, dann lächelt er. »Womöglich ist es gar kein dummer Einfall. Wenn sie denken, du kannst kein Deutsch, machen sie in deiner Gegenwart vielleicht Bemerkungen, die sie mir gegenüber sonst nicht fallen lassen würden. Ich werde Bill zur Verschwiegenheit verpflichten und ihm sagen, dass du im Auftrag der US-Armee Spionage im Haus des Bürgermeisters betreibst.« Er grinst, küsst mich auf die Stirn und fasst mich dann an den Schultern, um mich ein Stück von sich wegzuhalten. »Du willst diese armen Deutschen mit deinem Auftritt wirklich umhauen, ja?«

Ich habe mir für diesen Antrittsbesuch das eleganteste Kleid ausgesucht, das ich besitze: Bleistiftrock, Saum exakt zwei Fingerbreit unterm Knie, schmale Taille, tiefer Rückenausschnitt. Dazu Nylons und Pumps mit schmalen Riemchen um die Fesseln. Wenn ich damit auf den Bürgermeister nur halb so viel Eindruck mache wie auf meinen Ehemann, bin ich zufrieden. Jim, wieder in Ausgehuniform, bietet mir den Arm, und ich kann mir so ungefähr vorstellen, was für ein Bild wir abgeben, als wir vor die Tür unseres Hauses treten, wo Bill Meadow mit dem Wagen auf uns wartet. Als wäre ein Pärchen aus einem Hollywoodfilm von der Leinwand gefallen und hätte sich in einen Armeestützpunkt in der deutschen Provinz verirrt.

»Machen Sie den Mund zu, Sergeant«, sagt Jim beiläufig, während er die Tür zum Fond des Dodge Deluxe für mich öffnet. Er diktiert Bill ein paar halblaute Verhaltensregeln, vermutlich mich betreffend, bevor er sich neben mich setzt. Wir rollen langsam durch den Stützpunkt. Am Straßenrand in der Nähe der Bücherei lässt ein weißer Unteroffizier gerade einige schwarze GIs Liegestütze machen.

»Schämt ihr euch eigentlich kein bisschen«, stichle ich, »wenn ihr hier gegenüber den Deutschen als Wahrer der Freiheiten und Menschenrechte auftretet, und in eurer eigenen Armee weigern sich die Weißen, sich mit den Schwarzen einen Schlafsaal zu teilen?«

Jim lächelt mich milde von der Seite an. »Wie kommt es eigentlich, dass du immer zu provozieren anfängst, wenn du vor etwas Angst hast, Amy?« Er schneidet mir das Wort ab, bevor ich widersprechen kann. »Unsere Schwarzen sind ziemlich glücklich hier in Deutschland, denke ich. Sie dürfen in dieselben Läden wie die Weißen, zu denselben Ärzten, ins selbe Kino und in dieselben Lokale. In Louisiana dürften sie nicht einmal mit ihren Kameraden im selben Eisenbahnwaggon sitzen. Der Rest … eins nach dem anderen. Manche Dinge brauchen Zeit.«

So ist es. Wie recht er hat. In Kaltenstein scheint die Zeit buchstäblich stehen geblieben zu sein. Davon kann ich mich ausgiebig überzeugen, als Bill uns gemächlich durch den Ort chauffiert. Diesmal kann ich mich gegen die Stadtbesichtigung nicht mehr wehren: Mauern aus Feldstein, eine bröckelnde Hausfront neben der anderen, Werkstätten und Läden im Untergeschoss, Wohnräume oben. Erker, wacklige Balkone, bemalte Fensterläden. Immerhin hängen keine Hakenkreuzfahnen mehr herum, aber sonst dürfte alles sein wie früher. Unser Dodge Deluxe kurvt durch die engen Gassen und zwischen den klapprigen Fuhrwerken und Volkswagen herum wie ein Schlachtkreuzer zwischen Ruderkähnen. Mitten auf der Straße versperrt uns ein ramponiertes Fuhrwerk den Weg. Haben mich die Ochsen gestern schon entsetzt, erlebe ich hier die Steigerung: Vor diesen Karren hat man tatsächlich Milchkühe gespannt.

»Versuch bitte, beim Bürgermeister nicht ganz so entsetzt auszusehen«, schmunzelt Jim, als ich mich umdrehe und dem Gefährt fassungslos hinterherstarre. »Die Leute hier tun, was sie können.«

Bürgermeister Friedrich Strumm fungiert im Zweitjob als Inhaber des örtlichen Vertriebszentrums für Brenn- und Baustoffe. Hätte mein Ehemann es mir noch nicht erzählt, könnte ich es dem verwaschenen Firmenschild entnehmen. Für dieses Nest ist es vermutlich ein luxuriöses Heim, das er da bewohnt. Schade, dass die Gardinen am Fenster grau und die Vorhänge ausgebleicht sind.

Der Hausherr, im besten Anzug, der noch ein wenig nach Mottenkugeln riecht, öffnet uns eigenhändig die Tür. Er ist ein bisschen älter als Jim und weit schlechter frisiert, rasiert und trainiert. Sein Bäuchlein konnte er sich offensichtlich auch durch die Hungerjahre hindurch bewahren; hoffentlich hat er nicht die ganzen für seine Gemeinde bestimmten Carepakete persönlich eingeheimst. Er komplimentiert uns herein in die Diele und hinauf in den ersten Stock, vorbei an einem Wetterhäuschen und einem kaputten Barometer, spricht dabei Deutsch und mischt es eifrig mit allen englischen Begriffen, die er aufgeschnappt hat. Wäre die tollpatschige Unterwürfigkeit des Mannes nicht so traurig, wäre sie zum Lachen. Bill Meadow hält sich hinter Jim und mir, murmelt halblaut und dolmetscht.

In der guten Stube im ersten Stock erwartet uns die holde Frau Gemahlin, die blau geblümte Kaffeekanne in der Hand. Ich muss an die Tassen denken, die meine Mutter im Küchenschrank in unserer letzten Berliner Wohnung zurückließ, als wir gingen. Sie könnten zum selben Service gehören. Anneliese Strumm, wie ihr Gatte sie vorstellt, mustert mich vom Kopf bis zu den Füßen. Ich tue das Gleiche mit ihr. Wahrscheinlich ist sie nicht viel älter als ich, trotzdem trennen uns Welten. Ihr biederes Kostüm, sonst vermutlich für den Kirchgang reserviert, sitzt etwas zu eng um Brust und Hüften. Die Absätze ihrer Schuhe sind heruntergelaufen, um den Hals hängt ein Goldkettchen mit einem Kreuz. Wir sehen einander an und wissen beide, dass das Einzige, das uns verbindet, eine instinktive Abneigung ist.

»Welcome«, sagte sie. Man hört, dass sie das Wort soeben erst gelernt hat. »Please, sit down.«

Jim als Soldat erkennt ein Kommando, wenn er eines hört. Vorher rückt er mir allerdings, ganz Gentleman, den Stuhl zurecht, und sein deutscher Geschäftspartner bestaunt die Geste merklich verwirrt, ehe er sich ebenfalls auf die Bank sinken lässt. Anneliese bringt das, was man Gästen in einem anständigen deutschen Haushalt anbietet, eine kalte Platte mit Wurst, Schinken, Käse und Essiggurken. Friedrich schenkt Jim ein Bier ein, für mich gibt es eine klebrig-süße Bowle. An der Wand gegenüber hängt das Bild eines röhrenden Hirschs, und eine boshafte innere Stimme fragt mich, ob ich nicht dahinter nach dem Umriss des Führerporträts suchen will, den es wahrscheinlich verdeckt.

Die Tür öffnet sich, und ein junges Mädchen tänzelt herein. Rotblond, vielleicht Mitte zwanzig, in einem kniekurzen Sommerkleid, das lange offene Haar sorgfältig in jene Wellen gelegt, wie sie vor einigen Jahren populär geworden sind. Ihre Absätze sind höher als meine, ihr Lippenstift etwas knalliger.

»Meine Tochter Erika«, sagt Friedrich Strumm hörbar stolz. Seine Frau schaut umso grimmiger. Erika knickst leichtfüßig, als ihr Vater mich vorstellt, radebrecht tapfer ein wenig Englisch, und ich merke, dass ich lächle. Das Mädchen ist entschieden lebendiger als ihre Familie, wahrscheinlich als der gesamte restliche Ort.

Ich bin nicht die Einzige, die das bemerkt hat. Bisher hat Bill Meadow sich alle Mühe gegeben, mit dem braunen Blattmuster der Tapete zu verschmelzen, vor der er steht. Aber nun, da etwas Weibliches in Reichweite ist, kann er die Zurückhaltung, die er seiner Rolle als Dolmetscher eigentlich schuldig wäre, nicht länger beibehalten. Das Mädchen flirtet eifrig zurück, bis ich Jim unter dem Tisch auf die Zehen trete. Ein mahnender Blick über die Schulter genügt, damit Bill sich räuspert und verstummt. Zu diesem Zeitpunkt mustert Anneliese Strumm uns alle bereits mit Blicken, als hätten wir uns verschworen, gemeinsam gegen die sittliche Ordnung ihres gutbürgerlichen Haushalts zu revoltieren.

Wir sitzen beim Essen und lassen uns vom Bürgermeister in seinem Deutsch-Englisch erklären, für wie wichtig er die deutsch-amerikanische Freundschaft hält, als die Tür sich noch einmal öffnet. Diesmal steht eine alte Frau auf der Schwelle, mit dünnem weißem Haar und verwirrtem Blick. Als sie Jim und Bill sieht, beginnt sie zu strahlen.

»Soldaten«, sagt sie aufgeregt. »Ist Siegfried wieder da?«

Strumm wird verlegen. »Nein, Mutti, der ist in Russland, das weißt du doch.« Und an Jim gewandt: »My son, Sie erinnern sich? My mother …« Er macht mit der Hand kleine Bewegungen neben seiner Stirn. »Sie vergisst es immer wieder.«

Erika steht auf, nimmt die alte Frau sanft beim Ellenbogen und führt sie aus dem Zimmer.

Jim schaut mich an. »Ihr Sohn wird noch immer vermisst«, erklärt er auf Englisch. »In Russland.«

Betroffen starre ich auf meinen Teller. Meine eigene Arroganz wird mir mit einem Schlag bewusst. Natürlich haben auch diese Leute einen Krieg erlebt.

»What a shame!«, sage ich zu Anneliese. »Es tut mir sehr leid. Das muss schrecklich für Sie sein.« Bill übersetzt, und Anneliese gesteht mir immerhin ein kurzes Nicken zu. Sie lächelt nicht, und ihr Gesichtsausdruck wird keine Nuance weicher.

Als die Teller geleert sind, steht sie auf und räumt den Tisch ab. So, wie meine Mutter es früher immer getan hat und vermutlich noch macht. Ihre Tochter muss an die Tür, weil es geläutet hat, sonst wäre sie ihr wahrscheinlich zur Hand gegangen, wie Käthe und ich früher bei unseren Müttern. Alles selbstverständlich. Mein Mann bemüht sich, seinem bürgermeisterlichen Freund »dear Fritz« schonend beizubringen, dass er im Namen der Armee der Vereinigten Staaten eine Menge Grund beschlagnahmen wird, um die Kaserne weiter auszubauen.

Ich langweile mich, stehe auf und betrachte die spießbürgerliche Parade gerahmter Fotos auf der Anrichte. Hochzeitsfoto auf Häkeldeckchen. Ein Kinderbild von Erika im weißen Kleid mit Kerze. Das Foto eines jungen Mannes mit kurz gestutztem Haar, in Wehrmachtsuniform, vermutlich der vermisste Sohn. Derselbe junge Mann, mit Erika und einem zweiten Mädchen. Der Junge in der Uniform der Hitlerjugend, die Mädchen in der des Bundes Deutscher Mädel.

Etwas gefriert in mir.

Ich habe das Bild unwillkürlich in die Hand genommen. Anneliese steht plötzlich hinter mir wie ein Wachhund.

»Sind das Naziuniformen?«, erkundige ich mich auf Englisch und versuche, wie eine höflich-interessierte Unbeteiligte zu klingen. Es gelingt mir wohl nicht ganz, denn sie nimmt mir das Foto weg und stellt es entschieden zurück an seinen Platz.

»Ich spreche kein Englisch«, sagt sie. Verstanden hat sie mich trotzdem, denn sie fügt hinzu: »Das mit der Hitlerjugend, das musste man damals, verstehen Sie? Das war halt so.« Sie nimmt mein Glas und füllt es mit Bowle.

Ich denke daran, wie viel lieber mir gerade ein Gin wäre. Ich hatte recht. Hier hat sich nichts geändert.

1933

»Scheren Sie sich zum Teufel!«, rief der Student, der auf einen der Auslagetische vor Herrn Klickis Geschäft geklettert war, als der Buchhändler auf den Gehweg eilte und dagegen protestierte. »Ich bin ein freier Staatsbürger, ich habe Rechte, ich habe es nicht nötig, mich von irgendjemandem herumkommandieren zu lassen!« Er wandte sich wieder dem Geschehen auf der Straße zu, dessentwegen er seinen Aussichtspunkt überhaupt erklommen hatte, und streckte den Arm aus. »Heil Hitler! Heil Hitler!«

Die Umstehenden nahmen den Ruf begeistert auf, und die marschierenden Braunhemden hinter ihrer Hakenkreuzfahne stimmten das Horst-Wessel-Lied an.

»Unsere freien deutschen Staatsbürger«, kommentierte Amelies Vater spöttisch, der die Szene ebenso beobachtet hatte wie seine Tochter. »Da erübrigt sich jeder Kommentar.«

Immerhin hatte der Kerl die Bücher auf dem Tisch zur Seite geschoben, ehe er hinaufgestiegen war. Eines war dabei zu Boden gefallen. Amelies Vater hob es auf. Es war ein hübscher kleiner Band in blauem Leinen.

»Tschechow«, lächelte er. »Das wäre wohl genau das Richtige für melancholische Tage, wenn die Dinge nicht so gehen, wie sie gehen sollten.«

»So traurig?«, fragte Amelie.

»Nein, so witzig.« Er drehte sich zu Herrn Klicki um. »Was kostet das, Herr Klicki?«

»Für Sie die Hälfte, Herr Werner.« In halblautem Gemurmel, mit Blick auf den jubelnden Mann auf seinem Auslagentisch, setzte er hinzu: »Wer weiß, wie lange ich Russen überhaupt noch verkaufen darf? Der Autor könnte ja schließlich ein Kommunist gewesen sein. Aber wenn wir schon dabei sind, wer weiß, wie lange ich überhaupt noch irgendetwas verkaufen darf, bei meinem polnischen Nachnamen?« Er musterte Amelie und lächelte. »Um Sie wird es mir besonders leidtun, Fräulein Werner. Sie waren immer ein Lichtblick in der Buchhandlung. Ich will nicht wissen, wie viele Kunden nur Ihretwegen gekommen sind.«

Amelie lachte. »Ich werde Sie auch vermissen, Herr Klicki. Wegen Ihrer Kunstbände und noch mehr wegen der Schmeicheleien. Sie haben demnach schon gehört, dass wir gehen?«

Er nickte. »Und man kann Ihnen nichts Besseres raten. Vielleicht raffe ich mich auch noch auf. Ich schaue es mir noch ein paar Wochen an, dann entscheide ich. Ich habe noch Verwandte in Warschau, bei denen könnte ich unterkommen. Soll ich Ihnen den Tschechow einpacken, Herr Werner?«

Sie verabschiedeten sich, und im Nachhinein dachte Amelie, es sei doch gut gewesen, dass sie auf den etwas nostalgischen Vorschlag ihres Vaters eingegangen war und ihn auf diesen Spaziergang begleitet hatte. Ihr Vater wollte sich von einigen Orten der Stadt verabschieden, die ihm viel bedeuteten. Herrn Klickis Buchhandlung gehörte offenbar dazu, aber auch ein paar seltsame Plätze, mit denen Amelie nichts anzufangen wusste.

Sie warteten an der Straße darauf, dass die Braunhemden mit ihren Fahnen vorbeimarschierten. Amelie hätte nicht sagen können, was der Anlass dafür war; die Nazis und ihre Anhänger schienen ständig irgendwo in der Stadt zu marschieren, als hätten sie verlernt, sich anders zu bewegen als im Gleichschritt und in Reih und Glied.

»So sind wir damals auch gewesen, weißt du«, sagte ihr Vater plötzlich. Amelie sah ihn erschrocken an, und er lächelte mild. »Vor dem Krieg. Voller Begeisterung und voller Wut auf etwas, von dem wir nicht einmal hätten sagen können, was es war. Diejenigen, die uns ins Feuer schicken wollten, mussten uns bloß die Richtung weisen. Marschiert sind wir von allein.«

»Ich kann mir das nicht einmal vorstellen bei dir, Papa«, sagte Amelie ehrlich.

Ihr Vater lachte. »Danke. Leider ist es trotzdem wahr. Ich wollte eigentlich Kriegsberichterstatter werden. Wollte unsere glorreichen Siege für die Nachwelt festhalten.« Er sah aus, als würde ihm übel bei dem Gedanken. »Aber sie haben so lange auf mich eingeredet, bis ich mich freiwillig gemeldet hab.« Er sagte nicht, wer »sie« waren; Amelie nahm an, Freunde oder Verwandte. »Vielleicht musste es so sein. Vielleicht muss man im Schützengraben gewesen sein, um zu wissen, was Krieg wirklich heißt. Was das Schlachten wirklich bedeutet. Was es mit dir macht.« Er schüttelte heftig den Kopf und schaute Amelie an. »Du kennst das Bild von Otto Dix, um das es so viel Aufruhr gab? Das vom Schützengraben? Dann weißt du auch, warum seine Bilder, und die all der modernen Künstler, den Nazis solche Angst machen. Alles, was Hitler und seine Spießgesellen haben, ist der Anschein. Anschein von Größe, Anschein von Ruhm, von Bedeutung. Aber deine Maler, die geben sich damit nicht zufrieden. Sie haben den Anschein bewusst abgestreift und führen stattdessen die Wahrheit vor, die dahintersteht. Die nackte, ungeschminkte Wahrheit. Dagegen haben die Nazis kein Mittel.«

»Außer Keulen. Und Buchverbrennungen.«

»Irgendwann, Amelie.« Sein Tonfall hatte etwas Beschwörendes. »Irgendwann muss der Wahnsinn ein Ende haben. Und dann tragen wir das, was wir jetzt mit uns außer Landes und in Sicherheit bringen, hierher zurück und pflanzen es wieder ein.« Er schwieg kurz. Der Marschtritt der Braunhemden verklang hinter der nächsten Straßenecke. »Irgendwann.«

Kapitel 4

1951

»Ich habe einen Elektroherd und einen Staubsauger, Jim«, argumentiere ich. »Ich sehe wirklich nicht ein, wofür du ein Hausmädchen einstellen willst.«

Jim knöpft sich noch das Hemd zu, während er sich an den Frühstückstisch sinken lässt; am Rand seiner linken Wange klebt ein vergessener Klecks Rasierseife. »Ich dachte, du würdest froh sein«, sagt er verständnislos. »Du hasst Hausarbeit.«

Natürlich tue ich das. Jeder Mensch tut das. Vermute ich. Kann es etwas Langweiligeres geben als Kochen oder Bügeln? Etwas Sinnloseres als Fußböden zu wischen, auf denen keine halbe Stunde später die nächsten Sergeanten die Hacken ihrer lehmigen Stiefel zusammenschlagen? Ich gieße Jim Kaffee in seine Tasse und entferne mit dem Daumen die Seifenreste neben seinem Ohr.

»Und was steckt wirklich dahinter?«, erkundige ich mich, während ich mich ihm gegenübersetze. Das Fenster geht nach Osten, die Sonne fällt herein. Eine Amsel pfeift auf dem Dachfirst des nächsten Hauses gegenüber. Der kleine Frühstückstisch in der Küche hat sich schnell zu unserem Lieblingsplatz gemausert.

Jim wird verlegen. »Der Vater des Mädchens hat bei unseren letzten Beschlagnahmungen eine Menge Grund verloren.«

»Dafür erhält er doch sicher eine Entschädigung?«

Er zuckt die Achseln. »Das wird ihn kaum trösten. Es sind Bauern, Amy, sie hängen an ihrem Grund. Ihn zu verlieren tut ihnen weh, und ich verstehe das gut. Stell dir nur vor, jemand würde versuchen, meinem Vater die Farm wegzunehmen. Dad würde vermutlich jeden Fußbreit verteidigen, mit dem Gewehr in der Hand.«

Die Vorstellung, meinen halbblinden und nahezu tauben Schwiegervater mit einer Flinte in der Hand zu sehen, ist in der Tat erschreckend. Und unwirklich. Das einzige Familienmitglied, bei dem ich mir solch ein Verhalten vorstellen kann, ist meine Schwägerin Gloria.

»Und dann gab es noch ein Unglück«, setzt Jim hinzu. »Einer unserer Panzer ist über ihre Kartoffelernte gefahren.«

»Was?«

Jim runzelt die Stirn, als ich lache. »Für die Leute ist das nicht lustig«, beharrt er. »Eine Fliegerbombe, ein Blindgänger, ist auf ihrem Feld explodiert. Zum Glück gab es keine Verletzten, aber der Erntewagen stand im Weg, als eine Einheit nach dem Rechten sehen und die Stelle sichern wollte. Solche Missverständnisse können wir hier überhaupt nicht brauchen. Wir wollen das Vertrauen der Einheimischen; sie sollen vergessen, dass wir als Besatzer gekommen sind. Jetzt sind wir Verbündete gegen die Sowjets.« Er streicht großzügig Butter auf seinen Toast. »Diese Familie steht im Moment vor dem Nichts. Sie könnte das Einkommen sicher gut gebrauchen, wenn ihre Tochter bei uns angestellt ist, um wieder auf die Füße zu kommen.«

Das ist mein Mann. Er kann mir stundenlang erklären, dass jeder Mensch seines eigenen Glückes Schmied und das Ideal einer klassenlosen Gesellschaft ohne Arm und Reich im besten Fall eine naive Utopie ist – im schlimmsten aber eine geistige Falle, in die die Kommunisten die Menschheit locken wollen, um sie in Abhängigkeit zu bringen, um den Leuten jede Eigeninitiative auszutreiben und sie schwach und degeneriert werden zu lassen. Würde man von Staats wegen dafür sorgen, dass es allen Leuten gut geht, würde das Jims Meinung nach den Untergang des Abendlandes und das Ende von Fortschritt und Zivilisation einläuten.

Und dann geht er hinaus und schleppt mir den erstbesten Obdachlosen ins Haus, um mir treuherzig zu verkünden, dass man dem armen Kerl unbedingt eine Chance geben müsse.

Verstehe einer die Amerikaner.

»Du möchtest dem Mädchen helfen?«, halte ich fest. Er nippt an seiner Tasse und nickt.

Dass er damit einen zweiten Gedanken verfolgt, wissen und verschweigen wir beide.