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Isa und Mücke, so wird Isas Freundin genannt, bewohnen ein kleines Gartenhäuschen bei Tante Gundula. Eigentlich ist es nur ein kleines Zimmer, aber es liegt etwas abgelegen und die beiden Mädchen fühlen sich ganz wohl in dieser Bleibe. Tante Gundula ist Mückes Patentante. Sie ist eine liebevolle Person, die sich ganz selbstverständlich um die beiden Mädchen kümmert, ihnen aber trotzdem alle Freiheiten lässt. Die beiden Mädchen stehen kurz vor dem Abitur. Isa fällt alles in der Schule ganz leicht. Mathematik ist für sie gar kein Problem und Mücke erkennt sogar ein leichtes Leuchten in Isas Augen, wenn es um die Hausaufgaben geht. Bei Mücke ist das leider anders. Sie kämpft sich mühselig durch die Hausaufgaben und will eigentlich nur lesen. Bücher sind ihre große Leidenschaft und sie nutzt jede freie Minute zum schmökern. Leider lässt sich aus diesem Hobby kein Berufswunsch formen. Mücke hat einfach keine Idee für ihre Zukunft. Doch dann trifft sie Gerd...-
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Seitenzahl: 96
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Lise Gast
Ein Mädchenroman
Saga
Die Mücke und der Bücherwurm
© 1955 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711509098
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
„Warum lachst du eigentlich dauernd?“ fragte Mücke mißtrauisch. Die ganze Zeit über hatte sie schon beobachtet, wie Isa mit bebenden Schultern lautlos lachte. Jetzt wurde es ihr zu bunt. „Was ist denn los? Nun sag schon.“
„Gar nichts ist los.“ Isa senkte ihren Kopf wieder über das Buch. Sie saß auf dem Fensterbrett, die Füße auf einem Stuhl, der bunte Rock fiel in dichten Falten bis auf die hellen, schon ein wenig abgetretenen Schuhe herab. Auf den Knien hielt sie ein Schulbuch. Aber Mücke wußte genau, daß sie nur so tat, als lernte sie. Diese Isa! Man konnte an ihr verzweifeln.
„Hast du die dritte Aufgabe raus?“ fragte Mücke und nahm sich vor, das Lachen vollkommen zu übersehen. So kindisch und albern Isa manchmal auch sein konnte, in Mathematik war sie einfach großartig. Übrigens ohne viel zu arbeiten. Das hieß, sie arbeitete, aber nicht so wie die anderen in der Klasse. Isa spielte mit der Mathematik wie andere mit drei oder vier bunten Bällen. Sie erfaßte die Zahlen, wirbelte sie durcheinander und griff immer die richtige wieder auf. Es war erstaunlich und erweckte Bewunderung und Neid, wenn man es mit ansah. An Stelle einer Antwort angelte sie jetzt nach ihrer Mappe, fischte aus dem sagenhaften Durcheinander ein Heft heraus und warf es vor Mücke auf den Tisch. Es entfaltete sich dabei, und einige Blätter flatterten heraus, die darin gelegen hatten, aber zweifellos nicht hinein gehörten. Ein Brief, ein Schülerrückfahrschein – „ach, da bist du ja, du kleiner Ausreißer!“ sagte sie gleichmütig anerkennend und hob ihn auf, „dich hab ich lange vermißt!“ Auch ein Kinoprogramm mit über- und durcheinander fotografierten Leinwandhelden war herausgefallen. Mücke schob das Heft von sich weg.
„Ich will gar nicht“, murrte sie düster. Isa sprang von ihrem erhöhten Sitz herab.
„Wie solltest du auch. Es wäre das erste Mal, daß du wolltest. Aber so kommst du nicht weiter“, sagte sie erstaunlich vernünftig und fern jeder Alberei. „Komm, los. Integralrechnung ist keine schwarze Kunst. Fangen wir an!“
Und nun erlebte Mücke wieder einmal das Feuerwerk, das Isa einem vor den Augen abbrennen lassen konnte, und das den Zuschauer immer wieder fesselte. Nach einer Stunde hatten sie es geschafft.
„Schön ist es aber doch“, sagte sie aufatmend und verstaute ihr Heft sorglich neben dem Mathematikbuch im Ranzen. Mücke besaß noch einen Schulranzen, zwar zur Mappe umgearbeitet, aber deutlich noch als solcher erkennbar. Er war abgestoßen und durch das jahrelange Öffnen und Schließen an der Klappe weich wie Sämischleder. Eigentlich war er zu klein für eine Oberprimanerin und gar nicht standesgemäß. Auch jetzt sträubte er sich und wollte einfach nicht zugehen.
„Was hast du denn da wieder für Schwarten drin“, sagte Isa und schob ihr eigenes Heft mit dem Ellbogen beiseite. Es wäre heruntergefallen, wenn Mücke es nicht im letzten Augenblick aufgefangen hätte.
„Gib her. Sonst ist es morgen wieder sonstwo, und wir können uns totsuchen. Kannst du eigentlich keine Ordnung halten!“ Sie nahm das Heft und verstaute es selbst in Isas Mappe. Mitunter war es unerträglich, mit solch einem liederlichen Menschenkind zusammen zu hausen. Sie sagte dies auch unmißverständlich. Aber Isa machte sich nichts draus.
„Mit jemand anderem hieltest du es ja gar nicht aus. Du mußt stets jemanden haben, den du bessern kannst, oder doch wenigstens zu verbessern suchst. Du bist die geborene Fürsorgeerzieherin.“ Sie brach ab. Mückes Augenbrauen hatten gezuckt. Das war das sicherste Anzeichen dafür, daß man zu weit gegangen war. Isa wollte es aber nicht darauf ankommen lassen.
„Fürsorgeerzieherin! – so’n Quatsch. Es ärgert mich einfach, wenn du deine kostbare Zeit völlig sinnlos vertust. Mit Kino und solchem Klimbim.“ Mücke redete sich immer mehr in Wut. „Da, lohnt sich so was? Wieder solch ein Film mit Liebe, Mondschein und dem beliebten Heidegrab –“, sie wies auf das liegengebliebene Programmheft. Isa nahm es gleichmütig an sich.
„Freilich nicht, wenn du es dem Inhalt nach beurteilst. Aber das Spiel, die Darstellung der Einzelnen – – übrigens möchte ich dir den Hieb zurückgeben. Lohnt sich vielleicht das ewige Schmökern? Deine Leserei von früh bis spät? Darum, meine Teure, lachte ich auch vorhin. Du beliebtest, danach zu fragen, und ich teile es dir hierdurch mit. Du saßest über der Mathematik und schautest immerfort sehnsüchtig nach diesem Schmöker.“ Sie hatte ein Buch aufgenommen, das neben Mückes Bett auf dem Nachttisch lag. Dieser Nachttisch bestand zwar nur aus einer Kiste, über die ein Tuch gebreitet war, aber er erfüllte seinen Zweck. Mücke schoß auf Isa los.
„Gib her!“
„Ich will es ja gar nicht haben“, lachte Isa. „Ich bin überhaupt viel duldsamer als du. Ich gönne dir deine Leidenschaft. Du liest, während ich mich eben für anderes interessiere. Gut. Jedem sein Steckenpferd.“
„Sicher.“ Mücke wollte noch etwas sagen, schwieg dann aber. Es hatte keinen Zweck. Daß der Ausdruck „Steckenpferd“ wahrhaftig für manches nicht passe, und daß – ach nein, lieber den Mund halten. Sie seufzte.
Im Grunde vertrugen sich die beiden aber sehr gut.
*
Isa – eigentlich hieß sie Isawett und noch eigentlicher und ganz richtig und bürgerlich Elisabeth Arenz – war ihre Klassengenossin seit Untertertia. Voriges Jahr nun zog Isas Mutter aus der Stadt fort; damals hatte Tante Gundula vorgeschlagen, Isa könnte ihre allerletzte Schulzeit doch bei Mücke wohnen. Bisher hatte Mücke mit in ihrer winzigen Wohnung gehaust, dann aber hatte Tante Gundula den Einfall gehabt, die beiden Mädel könnten das alleinstehende Zimmer neben dem Gewächshaus herrichten und beziehen. Mücke und Isa waren begeistert auf diesen Vorschlag eingegangen und hatten sich ihr eigenes Reich geschaffen.
Diese Tante Gundula, Mückes Patentante, hatte vor einigen Jahren ihren damals schon leidenden Mann geheiratet. Der frühere Gartenarchitekt betrieb diese kleine Gärtnerei am Stadtrand. Eine Zeitlang war es ihr vergönnt gewesen, mit ihm zusammen hier zu leben, zwischen Blumen und Kräutern, vor allem aber inmitten des sanften Bunt seiner so sehr geliebten und gehegten Blütenstauden. Es war, als sei diese Zeit, von der sie beide wußten, daß sie bemessen war, unendlich hell und leuchtend gewesen. Dann hatte Tante Gundula ihren Mann verloren und war in ihren Beruf zurückgekehrt. Für die Gärtnerei hatte sie sich einen alten Mann und zwei Lehrmädchen genommen, und nun schrieb sie, neben ihrer Tätigkeit als Fürsorgerin, ab und zu für Zeitungen. Die eigenartige Mischung von leidgewohnter Erfahrung und stiller Freude an Blumen und Farben gab ihren Plaudereien eine besondere, tröstliche Note, so daß größere Zeitungen ihre Essays nicht nur gern nahmen, sondern sie sogar anforderten. Auf diese Weise konnte Tante Gundula manches für ihre Gärtnerei tun, wozu sie sonst nicht das Geld gehabt hätte. Die beiden Lehrmädchen wählte sie aus milieugefährdeten oder ärmsten Verhältnissen und half ihnen später zu ordentlichen Stellen, wenn sie sich bewährt hatten. Mücke bewunderte ihre Patentante, und alles, was diese tat, war in ihren Augen vorbildlich.
Das kleine Zimmer hinten im Garten war winzig klein, aber die Mädels waren hier ganz unter sich, und es hatte zudem den Vorteil, daß es auch im Winter warm war. Die Heizung für das Gewächshaus stand direkt nebenan. Ach, und es hatte so viel Spaß gemacht, die Wände selbst zu tünchen, alte Möbel neu zu streichen und Vorhänge zu nähen. Mücke meinte, seit sie von Zuhause fort war, sei sie nicht mehr so glücklich gewesen wie jetzt.
Tante Gundula ließ die beiden völlig in Ruhe. Wenn man sie wirklich einmal brauchte, war sie trotzdem immer da. Mücke staunte darüber. Sie hatte auch einmal mit Isa darüber gesprochen. Tante Gundula mochte noch so viel zu tun haben, wenn man sie etwas Dringendes fragen wollte, hatte sie immer Zeit zum Zuhören.
„Keine Kunst“, hatte Isa geantwortet, in der erstaunlich klaren und überlegten Art, die sie dem Leben gegenüber zeigte, „sie verlangt überhaupt nichts für sich. Leute, die für sich selbst nichts wollen, haben unerschöpflich viel Zeit für andere. Mit dem Geld ist es übrigens meist auch so.“
Dieser Ausspruch hatte Mücke lange beschäftigt; denn er schien sich mit ihrer Erfahrung zu decken. Mücke verlangte nämlich etwas für sich selbst. Nicht die üblichen Ansprüche, die den heutigen jungen Mädel so gerne nachgesagt werden: schicke Pullover, hauchdünne Strümpfe, Handtaschen in allen möglichen Farben oder jeden zweiten Abend ein Café- oder Kinobesuch. Sie verlangte noch mehr, sie war anspruchsvoller. Sie verlangte vom Leben Zeit, Zeit für sich, was soviel hieß wie: Zeit für ihre Bücher.
Ein Tag ohne Lesen war für sie unvorstellbar, war ein verlorener Tag. Seit sie bewußt lebte, war solch ein Tag auch noch nie vorgekommen.
Man lebte, um zu lesen, man stand früher auf, um das Zimmer zu richten, die Schularbeiten zu erledigen und sich um das bißchen Essen zu kümmern, um dadurch Zeit zum Lesen zu gewinnen. Man las in jeder freien Minute. Man fuhr auch nie ohne ein Buch ins Freibad oder in den Wald; denn das Lesen war für den Geist so wichtig, wie das Essen für den Körper.
Mitunter hatte Mücke ihrer Freundin gegenüber ein etwas schlechtes Gewissen. Daran war Isa mit schuld. Isa stichelte manchmal und meinte, jeder habe nun einmal seinen Vogel, doch gäbe es ausgewachsenere, und auch Mücke werde, wenn sie einmal erst so alt wie sie sei, einsehen, daß Bücher zwar zum Leben gehörten, aber nicht das Leben selbst wären.
Mücke hörte dann nur halb hin. Was wußte Isa schon von Büchern? Isa, die für die Schule gerade das las, was nötig war, und sonst nur, was ihr gerade zufällig in die Finger kam. Für Isa war die Deutschstunde eine Stunde, auf die man sich eben vorbereiten mußte wie auf andere auch. Für Mücke jedoch war der Literaturunterricht das Tor zu einer anderen, zur eigentlichen Welt des Erlebens.
*
Nein, nicht Isa war schuld daran, daß sie mitunter zweifelte, ob ihre Ansicht recht sei. Die Schuld trug Gerd. Gerd war ein Bücherwurm, aber gleichzeitig ein Mensch, der wußte, was er wollte. Er hatte natürlich mit ihr auch über die Zukunft gesprochen.
„Du bist jetzt in Oberprima“, hatte er gesagt, „und du weißt auch einiges. Schön und in Ordnung. Durchs Abitur wirst du nicht gerade fallen. Mit der Mathematik hapert es ein bißchen, die Sprachkenntnisse sind leidlich, aber Deutsch gleicht alles aus. Nun sag mal: was wird aus dem Ganzen, wenn du das Abitur hinter dir hast? Allmählich mußt du dir doch darüber klar werden.“
„Ich will studieren, Germanistik, wie du“, hatte Mücke geantwortet. Und dann hatte sie etwas hinzugefügt, was sie gleich danach bereute. Es war ja auch kindisch, dies so auszudrücken. Sie hatte gesagt: „Ich will dorthin, wohin ich gehöre. Zu den Büchern.“ Hier hakte Gerd ein.
„‚Zu den Büchern‘, das ist doch kein Ziel“, sagte er spöttischer als sie ihn je hatte sprechen hören. „Was willst du werden? Vielleicht Lehrerin?“
„Lehrerin – nein“, antwortete Mücke schnell und mit einem derart gequälten Gesichtsausdruck, daß er schwieg. Er ahnte wohl, warum diese Antwort so rasch kam und warum sie so lautete, obwohl Mücke nie mit ihm darüber gesprochen hatte.