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Der Muminvater will sein Leben ändern und zieht mit seiner Familie in einen Leuchtturm. Das ist spannend, aber auch ziemlich unheimlich. Es geschehen seltsame Dinge: Nachts wandern die Bäume über die Insel, der kleine Mumin kann die hübschen Seepferdchen am Strand beobachten und manchmal wartet die böse Morra auf ihn!
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Seitenzahl: 220
Tove Jansson
MUMINS WUNDERSAME INSELABENTEUER
Aus dem Schwedischen neu übersetzt von Birgitta Kicherer
Mit Bildern von Tove Jansson
Lies auch die anderen Abenteuer mit den Mumins von Tove Jansson: Die Mumins. Mumins lange ReiseDie Mumins. Komet im Mumintal Die Mumins. Eine drollige Gesellschaft Die Mumins. Muminvaters wildbewegte JugendDie Mumins. Sturm im MumintalDie Mumins. Winter im Mumintal Die Mumins. Geschichten aus dem Mumintal Die Mumins. Herbst im Mumintal
Tove Jansson (1914–2001) ist über die Malerei zur Schriftstellerei gekommen. Für ihre in zahlreiche Sprachen übersetzten Bücher
1. Auflage 2017 Die originalausgabe erschien 1965 unter dem Titel »Pappan och Havet«bei Schildts Förlags Ab, esbo, Finnland © Tove Jansson 1965 Moomin Characters ™ © für die deutschsprachige Ausgabe: Arena Verlag GmbH, Würzburg 2003 Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer Alle rechte vorbehalten umschlag- und Innenillustrationen: Tove Jansson ISBN 978-3-401-80728-7
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INHALT
Erstes Kapitel
DIE FAMILIE IN DER GLASKUGEL
Zweites Kapitel
DER LEUCHTTURM
Drittes Kapitel
WESTWIND
Viertes Kapitel
NORDOSTWIND
Fünftes Kapitel
NEBEL
Sechstes Kapitel
NEUMOND
Siebtes Kapitel
SÜDWESTWIND
Achtes Kapitel
DER LEUCHTTURMWÄRTER
Erstes Kapitel
DIE FAMILIE IN DER GLASKUGEL
Irgendwann an einem Nachmittag Ende August lief der Muminvater in seinem Garten herum und kam sich überflüssig vor. Er wusste nicht, was er mit sich anfangen sollte. Alles, was es zu tun gab, war nämlich schon erledigt oder jemand anders war gerade damit beschäftigt.
Der Muminvater trottete ziellos durch seinen Garten und sein Schwanz rasselte melancholisch über die trockene Erde. Die Hitze lastete brütend im Tal, alles war reglos, verstummt und ein wenig staubig. Große Waldbrände waren in diesem Monat möglich, große Vorsicht war nötig.
Er hatte seine Familie gewarnt. Immer wieder hatte der Muminvater erklärt, wie vorsichtig man im August sein musste. Er hatte das brennende Tal beschrieben, die glühenden Stämme, das Feuer, das unterm Moos angekrochen kommt. Leuchtende Feuersäulen, die in den Nachthimmel hinaufgeschleudert werden! Feuerwogen, die im Tal über die Hänge brausen und weiter zum Meer hinabziehen …
»Um sich zischend in die Fluten zu stürzen«, endete der Muminvater mit düsterer Befriedigung. »Alles ist schwarz, alles ist verbrannt. Auf jedem ruht eine ungeheure Verantwortung, auf dem kleinsten Wuseltier, auf jedem noch so winzigen Hopsel, das irgendwie zu Streichhölzern Zugang hat!«
Die Familie unterbrach ihre Beschäftigungen und sagte: »Ja, klar. Doch, natürlich.« Dann machten sie weiter.
Sie waren immerzu beschäftigt. Still, unentwegt und voller Interesse widmeten sie sich lauter kleinen Dingen, die ihre Welt ausfüllten. Ihre Welt war abgesteckt und privat, da ließ sich nichts hinzufügen. Wie eine Landkarte, wo alles entdeckt und bewohnt ist und auf der keine weißen Flecken mehr vorhanden sind. Und sie sagten zueinander: »Im August redet Vater immer von Waldbränden.«
Der Muminvater verzog sich auf die Veranda. Wie immer blieb er mit den Pfoten am Fußbodenfirnis kleben, der ganze Weg die Treppe hinauf und zum Korbstuhl hinüber wurde von kleinen, klickenden Lauten begleitet. Sein Schwanz blieb auch kleben, es war, als würde jemand daran ziehen.
Der Muminvater setzte sich in den Korbsessel und schloss die Augen. Der Verandaboden müsste frisch lackiert werden. Natürlich kam das von der Hitze. Aber ein guter Firnis löst sich nicht einfach auf, bloß weil es heiß ist. Vielleicht hatte er die falsche Sorte erwischt. Es war sehr lange her, dass er die Veranda gebaut hatte, und sie müsste dringend frisch lackiert werden. Aber vorher musste man den Boden mit Sandpapier abschmirgeln, eine scheußliche Arbeit, die von niemand bewundert wurde. Ein neuer weißer Fußboden, den man mit breitem Pinsel und glänzendem Firnis anstreicht, das ist doch was!, dachte er. Dann muss die Familie die Hintertür benützen und sich fernhalten. Bis ich sie hereinlasse und sage: »Bitte sehr. Eure neue Veranda …« Es ist zu heiß. Am liebsten würde ich jetzt segeln. Einfach lossegeln, weit hinaus …
Der Muminvater fühlte, wie der Schlaf in seinen Pfoten angekrochen kam, er schüttelte sich und zündete seine Pfeife an. Das Streichholz brannte im Aschenbecher weiter, er beobachtete es interessiert. Kurz bevor es erlosch, riss er ein paar Zeitungsfetzen ab und legte sie auf die Flamme. Es war ein hübsches, kleines Feuer, fast unsichtbar in der Sonne, aber es brannte ganz schön. Er bewachte es aufmerksam.
»Jetzt geht es wieder aus«, sagte die kleine Mü. »Leg noch was drauf.« Sie saß im Schatten des Verandapfostens auf dem Geländer.
»Bist du schon wieder da«, sagte der Muminvater und schüttelte den Aschenbecher, bis das Feuer erlosch. »Ich habe soeben die Technik des Feuers studiert. So was ist wichtig.«
Die kleine Mü lachte und sah ihn unverwandt an. Da zog er sich den Hut über die Augen und versteckte sich im Schlaf.
»Vater!«, sagte Mumin. »Wach auf. Wir haben einen Waldbrand gelöscht.«
Jetzt klebten beide Pfoten am Firnis. Mit einem starken Gefühl von Missmut und Ungerechtigkeit riss er sie los.
»Wovon redest du?«, sagte er.
»Ein richtiger kleiner Waldbrand!«, berichtete Mumin.
»Gleich hinterm Tabakbeet. Das Moos hat gebrannt und Mutter hat gemeint, dass es vielleicht ein Funken aus dem Schornstein war …«
Der Muminvater schoss aus dem Korbsessel hoch, innerhalb einer Sekunde wurde er zu einem Vater voll ungeheurer Tatkraft. Sein Hut kullerte die Treppe hinunter. »Es ist gelöscht«, schrie Mumin hinter ihm her. »Wir haben es sofort gelöscht. Du brauchst dir gar keine Sorgen zu machen!«
Der Muminvater blieb wie vom Donner gerührt stehen. Ihm wurde ganz heiß im Hals. »Habt ihr es gelöscht? Ohne mich?«, sagte er. »Warum hat mir keiner was gesagt? Ihr habt mich schlafen lassen und nichts gesagt!«
»Liebling«, sagte die Muminmutter durchs Küchenfenster. »Wir fanden es unnötig, dich zu wecken. Es war ein ganz kleines Feuer, hat nur leicht geraucht. Ich bin zufällig mit dem Wassereimer vorbeigekommen und brauchte bloß im Vorbeigehen etwas rüberzuschwappen …«
»Im Vorbeigehen!«, rief der Muminvater aus. »Bloß rüberschwappen! Schwappen, wenn ich das schon höre!
Und dann den Brandherd unbewacht lassen! Wo ist er? Wo ist er?«
Die Muminmutter ließ sofort alles stehen und liegen und hastete voraus zum Tabakbeet. Mumin blieb verwundert auf der Veranda stehen. Der schwarze Fleck im Moos war sehr klein.
»Manche glauben vielleicht«, sagte der Muminvater schließlich langsam, »ein solcher Fleck sei ungefährlich. Weit gefehlt. Unterm Moos kann es nämlich weiterbrennen. Im Boden. Es kann Stunden dauern, sogar Tage, und dann – plötzlich – poff!, schlägt das Feuer an einer ganz anderen Stelle hoch. Verstehst du?«
»Ja, Liebling«, sagte die Muminmutter.
»Und darum bleibe ich hier«, fuhr der Muminvater fort und scharrte verdrossen im Moos. »Ich werde es bewachen. Wenn nötig, halte ich die ganze Nacht Wache.«
»Meinst du wirklich«, begann die Muminmutter. Dann sagte sie: »Doch, das ist lieb von dir. Mit Moos kann man nicht vorsichtig genug sein.«
Der Muminvater blieb den ganzen Nachmittag sitzen und bewachte den schwarzen Fleck. Ringsum riss er große Stücke Moos heraus. Er wollte nicht zum Abendessen kommen. Er wollte gekränkt sein.
»Glaubst du, dass er die ganze Nacht draußen bleibt?«, fragte Mumin.
»Schon möglich«, sagte die Muminmutter.
»Wenn man sich ärgert, dann ärgert man sich eben«, stellte die kleine Mü fest und schälte ihre Kartoffel mit den Zähnen. »Manchmal muss man sich ärgern, selbst das kleinste Drecksl hat das Recht, sich zu ärgern. Aber so, wie er sich ärgert, ist es falsch, er lässt es nicht raus, sondern frisst es in sich rein.«
»Liebes Kind«, sagte die Muminmutter. »Vater wird schon wissen, was richtig ist.«
»Das glaube ich nicht«, sagte die kleine Mü aufrichtig.
»Das weiß er überhaupt nicht. Wisst ihr es denn?«
»Nicht so recht«, gab die Muminmutter zu.
Der Muminvater bohrte die Schnauze ins Moos und roch den sauren Rauch. Die Erde war nicht einmal mehr warm. Er leerte seine Pfeife in dem Loch aus und pustete die Funken an. Sie glühten eine Weile, dann erloschen sie. Der Muminvater stampfte die elende Stelle zu und begab sich langsam in den Garten hinunter, um in die Glaskugel zu schauen.
Die Dämmerung war wie immer aus dem Boden heraufgestiegen und hatte sich unter den Bäumen verdichtet. Um die Glaskugel herum war es ein bisschen heller. Wunderschön lag sie da auf ihrer Säule aus Meerschaum und spiegelte den ganzen Garten. Die Kugel gehörte dem Muminvater, ihm ganz allein, es war seine eigene magische Kugel aus leuchtend blauem Glas, der Mittelpunkt des Gartens und des Tales und, warum nicht, der ganzen Welt.
Der Muminvater schaute nicht sofort hinein, sondern betrachtete seine verrußten Pfoten und versuchte, seine ganzen undeutlich umherflatternden Kümmernisse einzusammeln. Als er sein Herz so schwer wie möglich gemacht hatte, schaute er rasch in die Kugel, um getröstet zu werden. Die Kugel tröstete ihn immer, er war jeden Abend heruntergekommen, um in sie hineinzuschauen, den ganzen endlosen, warmen, unbeschreiblich schönen und wehmütigen Sommer lang.
Die Kugel war immer kühl. Die blaue Farbe war tiefer und klarer als das Meer und malte die ganze Welt neu – kühl, fern und fremd. Im Zentrum der Welt sah der Muminvater sich selbst, seine eigene große Schnauze, und darum herum spiegelte sich eine verwandelte, traumhafte Landschaft. Der blaue Boden lag tief unten, weit drin in der Kugel, und dort, im Unerreichbaren, begann der Muminvater, seine Familie zu suchen. Sie tauchten immer auf, er brauchte bloß zu warten. Die Glaskugel spiegelte sie jedes Mal.
In der Dämmerung hatten sie alle so viel zu tun. Mit irgendetwas waren sie immer beschäftigt. Früher oder später lief die Muminmutter von der Küche zum Keller hinüber, um Teewurst oder Butter zu holen. Oder sie lief zum Kartoffelbeet. Oder zum Holzschuppen. Dabei sah sie jedes Mal so aus, als wäre sie auf ganz neuen, spannenden Wegen unterwegs. Aber man konnte nie wissen. Genauso gut war es möglich, dass sie irgendetwas Geheimnisvolles vorhatte, irgendein lustiges Spiel, das sie sich selbst gerade ausgedacht hatte. Oder sie lief einfach so durch die Gegend, bloß um sich lebendig zu fühlen.
Und da kam sie auch schon angesaust wie eine weiße, emsige Kugel, ganz hinten, wo die Schatten besonders tiefblau waren. Und dort wanderte Mumin vorbei, fern und privat, jetzt tauchte auch die kleine Mü auf, fast unsichtbar schlüpfte sie den Hang hinauf. Man ahnte nur, dass sich da etwas Entschlossenes und Selbstständiges bewegte, etwas, das so unabhängig war, dass es sich nicht aufzuspielen brauchte. Im Spiegelbild wurden sie alle miteinander unglaublich klein und ihre Bewegungen wirkten seltsam verloren und ziellos.
Das gefiel dem Muminvater, das war sein abendliches Spiel. Es gab ihm das Gefühl, dass sie seinen Schutz brauchten, während sie in einem tiefen Meer versanken, das außer ihm niemand kannte.
Inzwischen war es fast dunkel. Und plötzlich geschah etwas Neues im Innern der Glaskugel: Ein Licht ging an. Die Muminmutter hatte auf der Veranda Licht gemacht, zum ersten Mal in diesem Sommer. Das Licht kam von der Petroleumlampe. Plötzlich konzentrierte sich die Geborgenheit auf einen einzigen Punkt, nämlich ausschließlich auf die Veranda, und auf der Veranda saß die Muminmutter und wartete mit Tee auf ihre Familie.
Die Glaskugel erlosch und das ganze Blau verwandelte sich in Dunkelheit, außer der Lampe war nichts zu sehen. Der Muminvater blieb kurz stehen, ohne zu wissen, was er eigentlich dachte, dann machte er kehrt und ging nach Hause.
»So«, sagte der Muminvater, »ich glaube, jetzt können wir ruhig schlafen. Für diesmal ist die Gefahr überstanden. Aber sicherheitshalber werde ich im Morgengrauen noch einmal kurz dort unten nachschauen.«
»Ha«, sagte die kleine Mü.
»Vater!«, rief Mumin. »Hast du denn gar nichts bemerkt? Die Lampe ist an!«
»Ja, jetzt, wo die Abende lang werden, dachte ich mir, es könnte an der Zeit sein, die Lampe anzuzünden. Heute Abend war mir ganz danach«, sagte die Muminmutter.
»Aber damit sorgst du ja dafür, dass der Sommer zu Ende ist«, wandte der Muminvater ein. »Die Lampe macht man doch erst an, wenn der Sommer zu Ende ist.«
»Und dann kommt der Herbst«, sagte die Muminmutter friedlich.
Die Lampe gab beim Brennen ein summendes Geräusch von sich. Sie machte alles nah und sicher, erzeugte einen engen Kreis, der aus der Familie und den vertrauten Dingen ihrer Umgebung bestand, draußen dagegen war alles fremd und unsicher, die Dunkelheit wuchs und wuchs und erstreckte sich immer weiter fort, bis ans Ende der Welt.
»Es gibt ja Väter, die bestimmen selber, wann es Zeit ist, die Lampe anzuzünden«, murmelte der Muminvater in seine Teetasse.
Mumin hatte seine Brote in der üblichen Reihenfolge geordnet, zuerst Käse, dann zwei mit Wurst, danach kalte Karoffeln und Sardinen und als letztes Marmelade. Er war vollkommen glücklich. Die kleine Mü aß nur Sardinen, sie fühlte nämlich, dass dies ein sehr ungewöhnlicher Abend war. Nachdenklich starrte sie in den dunklen Garten, mit Augen, die immer schwärzer wurden, je länger sie nachdachte und aß.
Das Licht der Lampe fiel auf das Gras und den Flieder und kroch schwach zwischen die Schatten, wo die Morra saß und mit sich selbst allein war.
Die Morra saß schon so lange auf ein und demselben Fleck, dass der Boden unter ihr inzwischen gefroren war. Als sie sich erhob und näher ans Licht hinglitt, zersplitterte das Gras, als wäre es aus Glas. Ein Flüstern des Entsetzens zog durchs Laub, ein paar Ahornblätter rollten sich zusammen und fielen zitternd über ihre Schultern. Die Astern bogen sich, so weit sie konnten, zur Seite. Die Heuschrecken hörten auf zu fiedeln.
»Warum isst du nicht?«, fragte die Muminmutter.
»Ich weiß nicht«, antwortete Mumin. »Haben wir keine Rollos?«
»Die sind oben auf dem Dachboden. Wir brauchen sie erst, wenn wir unseren Winterschlaf halten.« Die Muminmutter drehte sich zum Vater um und sagte: »Willst du nicht ein bisschen an deinem Leuchtturm-Modell weiterbauen, jetzt, wo die Lampe an ist?«
»Ach was«, sagte der Muminvater. »Das sind doch nur Kindereien. Der Leuchtturm ist ja gar nicht echt.«
Die Morra rutschte noch ein Stück näher. Sie starrte ins Lampenlicht und schüttelte langsam ihren großen, schweren Kopf. Weißer Kältenebel wogte um ihre Füße. Jetzt glitt sie auf die Lampe zu, ein riesiger grauer Schatten aus Einsamkeit. Die Fensterscheiben klirrten schwach wie bei fernem Donner, der Garten hielt den Atem an. Nun hatte die Morra die Veranda erreicht, vor dem erleuchteten Viereck auf dem nächtlichen Boden hielt sie an.
Dann trat sie mit einem raschen Schritt dicht an das Fenster, das Licht der Lampe fiel ihr direkt ins Gesicht. Der friedliche Raum wurde plötzlich von Schreien und flatternden Bewegungen erfüllt, die Stühle fielen um, die Lampe wurde fortgetragen, nach wenigen Augenblicken lag die Veranda im Dunkeln. Alle hatten sich ins Haus gerettet, irgendwohin in den innersten geborgenen Winkel, dort hatten sie sich mit ihrer Lampe versteckt.
Die Morra blieb eine Weile stehen und atmete Frost auf die leere Fensterscheibe. Als sie wieder davonglitt, war sie nur ein Teil der Dunkelheit, unter ihren Füßen klirrte und splitterte das Gras immer noch, schwächer und schwächer und immer weiter entfernt. Der Garten warf schaudernd Blätter ab und atmete wieder auf: Die Morra ist vorbeigegangen, jetzt ist sie verschwunden.
»Aber es ist wirklich unnötig, sich zu verbarrikadieren und die ganze Nacht Wache zu halten«, sagte die Muminmutter. »Wahrscheinlich ist ihr wieder etwas im Garten zum Opfer gefallen. Aber gefährlich ist sie nicht. Du weißt, dass sie nicht gefährlich ist, nur unheimlich.«
»Natürlich ist sie gefährlich!«, rief der Muminvater.
»Sogar du hast Angst vor ihr gehabt! Du hast ganz fürchterliche Angst gehabt, aber das ist unnötig, solange ich im Haus bin …«
»Ach, weißt du«, sagte die Muminmutter, »man fürchtet sich doch nur vor der Morra, weil sie so durch und durch kalt ist. Und weil es niemanden gibt, den sie gernhat. Aber sie hat noch nie etwas getan. Ich finde, wir gehen jetzt alle schlafen.«
»Schön«, sagte der Muminvater und stellte den Feuerhaken wieder in seine Ecke. »Na schön! Wenn sie kein bisschen gefährlich ist, brauche ich euch ja auch nicht zu beschützen. Großartig!« Er stürmte auf die Veranda, packte im Vorbeirennen den Käse und die Wurst und stürzte weiter hinaus in die einsame Finsternis.
»Oho«, sagte die kleine Mü beeindruckt. »Er ist wütend. Er lässt es raus. Jetzt wird er das Moos bis morgen früh bewachen!«
Die Muminmutter sagte nichts. Sie trottete hin und her und traf ihre gewohnten Vorbereitungen für die Nacht, sie kramte in ihrer Tasche, sie schraubte die Lampe herunter und die Stille war ganz und gar verkehrt. Schließlich staubte sie zerstreut Muminvaters Leuchtturmmodell ab, das auf dem Regal über der Kommode in der Ecke stand. »Mutter«, sagte Mumin.
Aber die Muminmutter hörte nicht zu. Sie trat an die große Wandkarte hin, auf der das Mumintal, die Küste und die Inseln davor zu sehen waren. Sie kletterte auf einen Stuhl und presste die Nase dicht neben einen kleinen Punkt mitten in der weißen Leere des Meeres.
»Das ist sie«, murmelte die Muminmutter. »Dort werden wir wohnen und es wird schön und anstrengend sein …«
»Was sagst du da?«, fragte Mumin.
»Dort werden wir wohnen«, wiederholte die Muminmutter. »Das ist Vaters Insel. Vater wird für uns sorgen. Dort werden wir hinziehen und für immer dort wohnen und alles wieder von vorn anfangen.«
»Ich hab immer geglaubt, das sei ein Fliegenschiss«, sagte die kleine Mü.
Die Muminmutter kletterte wieder vom Stuhl. »Manchmal dauert es lang«, sagte sie. »Manchmal dauert es sehr lang, bis man klarsieht.« Damit ging sie in den Garten.
»Ich sage lieber nichts über Väter und Mütter«, bemerkte die kleine Mü gedehnt. »Dann sagst du nämlich bloß, Mütter und Väter können nie Dummheiten machen. Sie spielen irgendein Spiel, aber ich fress eine Schaufel Guano, wenn ich begreife, was für eins.«
»Das sollst du auch gar nicht begreifen!«, fuhr Mumin sie an. »Die werden schon wissen, warum sie so komisch sind. Manche Leute fühlen sich immer obenauf, bloß weil sie adoptiert sind!«
»Ja, ganz recht«, sagte die kleine Mü. »Ich bin immer obenauf!«
Mumin starrte den einsamen Punkt draußen im Meer an und dachte, dort will Papa wohnen. Dort will er also hin. Sie meinen es ernst. Das hier ist ein ernstes Spiel. Und plötzlich kam es Mumin so vor, als würde das Meer mit weißer Brandung an die Insel schlagen, er hörte es rauschen, und die Insel wurde grün und hatte rote Felsen, sie wurde die einsame geheimnisvolle Insel aus allen Bilderbüchern, die Insel der Schiffbrüchigen, die Insel in der Südsee. Mit einem Kloß im Hals flüsterte er: »Mü! Das ist ja fantastisch!«
»Von mir aus, alles ist fantastisch«, sagte die kleine Mü.
»Mehr oder weniger. Besonders fantastisch wäre, wenn wir mit viel Hallo und allen unseren Siebensachen dort ankämen und feststellen müssten, dass es tatsächlich nur ein Fliegenschiss war.«
Am nächsten Morgen gegen halb sechs folgte Mumin der Spur der Morra durch den Garten. Der Boden war wieder aufgetaut, aber er konnte trotzdem erkennen, wo sie gesessen und gewartet hatte. An der Stelle war das Gras ganz braun. Wenn eine Morra mehr als eine Stunde auf demselben Fleck sitzt, kann dort nie mehr etwas wachsen, der Boden stirbt vor Schreck. Im Garten gab es mehrere solche Stellen, die ärgerlichste lag mitten im Tulpenbeet.
Ein breiter Weg aus dürrem Laub führte bis an die Veranda. Dort hatte sie gestanden. Direkt außerhalb des Lichtkreises hatte die Morra gestanden und in die Lampe geschaut. Dann hatte sie es nicht lassen können und war noch näher herangerückt und da war alles erloschen. So war es immer. Alles, was sie berührte, erlosch.
Mumin stellte sich vor, er sei die Morra. Er schlurfte langsam und geduckt durchs tote Laub, er blieb regungslos stehen und wartete und verbreitete dabei Nebel um sich, er seufzte und starrte sehnsüchtig das Fenster an. Er war der Einsamste auf der ganzen Welt. Aber ohne Lampe war das alles nicht überzeugend. Stattdessen kamen kleine fröhliche Gedanken angeflogen, Gedanken an Inseln im Meer und an große Veränderungen, er vergaß die Morra und begann, zwischen den langen morgendlichen Schatten zu balancieren. Man durfte nur auf den Sonnenschein treten, alles andere war das abgrundtiefe Meer. Für den Fall, dass man nicht schwimmen konnte.
Im Holzschuppen pfiff jemand. Mumin schaute hinein. Die Morgensonne beschien die gelben Hobelspäne hinten am Fenster, es roch nach Leinöl und Harz. Der Muminvater fügte gerade eine kleine eichene Tür in die Wand des Leuchtturms.
»Schau dir mal diese Eisenkrampen an«, sagte er. »Die sind im Felsen verankert, daran klettert man zum Leuchtturm hinauf. Bei Sturm muss man ganz schön aufpassen. Das Boot gleitet auf einem Wellenkamm auf den Felsen zu – man springt rüber, klammert sich fest, klettert hinauf –, währenddessen stößt das Boot sich wieder ab … wenn die nächste Welle kommt, ist man in Sicherheit. Man kämpft sich durch den Wind, hier, siehst du, am Geländer entlang – man wuchtet die Tür auf, die ist ganz schön schwer. So, jetzt fällt sie wieder zu. Man ist drinnen, im eigenen Leuchtturm. Das Meer hört man durch die dicken Mauern nur noch ganz fern.
Draußen tost es rings um die Insel und das Boot ist schon weit weg.
»Sind wir auch drin im Leuchtturm?«, fragte Mumin.
»Natürlich«, sagte der Muminvater. »Ihr seid hier oben im Turm. Schau mal, jedes Fenster hat richtiges Glas. Ganz oben befindet sich das Leuchtfeuer, das Licht, das abwechselnd rot und grün und weiß ist und die ganze Nacht lang in regelmäßigen Abständen aufleuchtet, damit die Schiffe wissen, wo sie fahren müssen.«
»Baust du auch noch ein richtiges Licht ein?«, fragte Mumin. »Unten könnte man die Batterien reintun und dann vielleicht noch etwas erfinden, damit es blinkt.«
»Kann ich schon«, sagte der Muminvater und schnitzte eine kleine Treppenstufe vor der Tür des Leuchtturms.
»Aber jetzt hab ich keine Zeit. Das hier ist übrigens nur ein Spielzeug, eine Art Übung.« Der Muminvater lachte verlegen und begann, im Werkzeugkasten zu kramen.
»Gut«, sagte Mumin. »Bis nachher.«
»Bis dann«, sagte der Vater.
Inzwischen waren die Schatten kürzer. Ein neuer Tag war unterwegs, genauso schön und genauso warm. Die Muminmutter saß auf der Treppe, ohne irgendwas zu tun. Das sah seltsam aus.
»Heute sind alle schon so früh auf«, sagte Mumin. Er setzte sich neben sie und schloss die Augen in der Sonne.
»Hast du gewusst, dass es auf Vaters Insel einen Leuchtturm gibt?«, fragte er.
»Klar weiß ich das«, antwortete die Muminmutter. »Er spricht schon den ganzen Sommer darüber. In dem Leuchtturm werden wir wohnen.«
Es gab so viel zu bereden, dass nichts gesagt wurde. Die Treppe war warm. Alles war in Ordnung. Jetzt pfiff der Muminvater den Seeadlerwalzer, den konnte er besonders gut.
»Ich gehe gleich Kaffee kochen«, sagte die Muminmutter. »Will bloß noch ein Weilchen hier sitzen und überlegen, wie ich mich fühle.«
Zweites Kapitel
DER LEUCHTTURM
An dem großen, wichtigen Abend zog der Wind sachte nach Osten, kurz nach zwölf hatte es eine ordentliche Brise gegeben, aber die Abfahrt sollte bei Sonnenuntergang stattfinden, das war ausgemacht. Das Meer war warm und hatte eine tiefblaue Farbe, genauso blau wie das Blau in der Glaskugel. Der ganze Steg stand voller Gepäck, bis hinaus zum Badehaus, wo das Boot mit gehisstem Segel vor sich hin dümpelte. An der Mastspitze brannte die Sturmlaterne. Mumin zog noch den Fischkasten und die Rollbalken über die Hochwasserlinie an Land hinauf. Am Ufer dämmerte es bereits.
»Natürlich riskieren wir, dass es nachts abflaut«, sagte der Muminvater. »Wir hätten schon nach dem Frühstück aufbrechen können. Aber in diesem Fall müssen wir auf den Sonnenuntergang warten, eine gelungene Abfahrt ist genauso wichtig wie die ersten Zeilen in einem Buch. Sie entscheiden alles.« Er setzte sich neben die Muminmutter in den Sand. »Schau dir das Boot an, schau dir das ›Abenteuer‹ an«, sagte er. »Ein Boot in der Nacht ist etwas Wundervolles. Genauso muss man ein neues Leben anfangen, mit einer brennenden Sturmlaterne an der Mastspitze, hinter einem verschwindet die Küstenlinie in der Dunkelheit, die ganze Welt schläft. Nachts reisen ist das Schönste, was es überhaupt gibt.«
»Da hast du bestimmt recht«, sagte die Muminmutter.
»Tagsüber macht man Ausflüge, aber nachts reist man.« Nach der ganzen Packerei war sie ziemlich müde, außerdem machte sie sich Sorgen, sie könnte vielleicht etwas Wichtiges vergessen haben. Wie das Gepäck so auf dem Badesteg lag, sah es sehr groß aus, aber sie wusste, wie klein es beim Auspacken sein würde. Eine Familie braucht so entsetzlich viel, um auch nur einen einzigen Tag auf die richtige Art zu verbringen.
Aber jetzt war natürlich alles anders. Diesmal war es genau richtig, dass sie ganz von vorn anfingen und dass der Muminvater sich um alles kümmerte, was sie benötigten, und für sie sorgte und sie beschützte. Wahrscheinlich hatten sie es zu gut gehabt. Seltsam, dachte die Muminmutter bekümmert. Seltsam, dass es Leute gibt, die melancholisch und zornig werden, wenn es ihnen zu gut geht. Aber wenn es so ist, dann ist es eben so.
Und dann ist es bestimmt am besten, irgendwo von vorn anzufangen, wo es ihnen nicht so gut geht.
»Glaubst du nicht, dass es jetzt dunkel genug ist?«, fragte sie. »Deine Lampe zeichnet sich sehr schön gegen den Himmel ab. Vielleicht könnten wir jetzt ablegen?«
»Einen Moment noch. Ich muss mich bloß richtig innerlich ausrichten«, sagte der Muminvater, rollte die Karte im Sand aus und betrachtete die einsame Insel, die weit draußen mitten im Meer eingezeichnet war, er war sehr ernst. Schnupperte lange gegen den Wind und versuchte seinen Orientierungssinn auszurichten, den er schon so lange nicht mehr benützt hatte. Für seine Vorfahren war es nie ein Problem gewesen, den richtigen Weg zu finden, das war von selbst gegangen. Aber mit der Zeit stumpft der Instinkt ab, leider.
Nach einer Weile fühlte der Muminvater, dass er genau auf das Ziel eingestellt war. Die Richtung war klar, sie konnten segeln. Er rückte seinen Hut zurecht und sagte: »Jetzt kann’s losgehen. Aber du darfst nichts tragen. Wir übernehmen alles, was schwer ist. Du gehst nur an Bord, ja?«
Die Muminmutter nickte und krabbelte aus dem Sand hoch. Inzwischen war das Meer violett und der Waldrand ein einziges weiches Dunkel. Sie war sehr schläfrig und plötzlich kam ihr alles irgendwie unwirklich vor, das Licht, die Langsamkeit, das war wie im Traum, man ging durch schweren Sand und kam nicht vom Fleck.
Jetzt verstauten sie draußen auf dem Steg das Gepäck.
Die Sturmlaterne schwankte hin und her, die Silhouetten des Stegs und des Badehauses zeichneten sich wie ein langer gezackter Drache am Abendhimmel ab, sie hörte die kleine Mü lachen und hinter sich Nachtvögel rufen, die im Wald aufwachten.
Es ist schön, sagte sie sich. Schön und seltsam. Wenn ich es mir jetzt in aller Ruhe überlege, ist das Ganze ziemlich fantastisch. Aber ich frage mich, ob es ihn wohl kränkt, wenn ich im Boot ein Nickerchen mache.