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Muse, Künstlerin, Geliebte.
Klimt war ihre erste Liebe, für Gustav Mahler wird sie zur Muse – Alma Schindler wächst inmitten der Wiener Boheme auf, ist in den Salons der schillernden Metropole zu Hause, verfolgt den Aufstieg der Secession, inspiriert und verführt. Und sie ist Künstlerin, ihre Leidenschaft gehört dem Klavierspiel, vor allem der Komposition. Bis sie Gustav Mahler trifft und sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Gustav erwidert ihre Liebe, jedoch zu einem hohen Preis: Für ihn soll sie ihre Kunst aufgeben …
Die Geschichte einer der faszinierendsten Frauen im Wien der Jahrhundertwende.
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Seitenzahl: 607
Caroline Bernard ist Literaturwissenschaftlerin und wurde 1961 in Hamburg geboren. Noch vor dem Abitur machte sie ihre erste Reise nach Paris und verlor ihr Herz an die Stadt. Es folgten längere Aufenthalte als Au-pair, als Sprachschülerin und Stipendiatin. Heute sind Reisen nach Paris, in die Provence oder in die Normandie aus ihrem Leben nicht wegzudenken. Caroline Bernard lebt als freie Autorin in der Nähe von Hamburg. »Rendezvous im Café de Flore« ist nicht ihr erster Roman.
Muse, Künstlerin, Geliebte
Klimt war ihre erste Liebe, für Gustav Mahler wird sie zur Muse – Alma Schindler wächst inmitten der Wiener Boheme auf, ist in den Salons der schillernden Metropole zu Hause, verfolgt den Aufstieg der Secession, inspiriert und verführt. Und sie ist Künstlerin, ihre Leidenschaft gehört dem Klavierspiel, vor allem der Komposition. Bis sie Gustav Mahler trifft und sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Gustav erwidert ihre Liebe, jedoch zu einem hohen Preis: Für ihn soll sie ihre Kunst aufgeben …
Die Geschichte einer der faszinierendsten Frauen im Wien der Jahrhundertwende
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Caroline Bernard
Die Muse von Wien
Roman
Inhaltsübersicht
Über Caroline Bernard
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Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
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Kapitel 26
Kapitel 27
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Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Epilog
Nachwort
Anmerkungen zu den Quellen
Impressum
War sie falsch abgebogen? Alma wurde es jetzt doch ein bisschen mulmig. In diesem Viertel von Wien war sie noch nie gewesen. Sie hielt sich fast ausschließlich im 1. Bezirk auf, dem Zentrum, das von der Ringstraße umschlossen wurde. Dort, innerhalb der ehemaligen Befestigungsanlage, befanden sich die großen Palais, die Oper, das Burgtheater, die noblen Geschäfte und glänzenden Caféhäuser, in denen die künstlerische Boheme der Stadt, ihre Freundinnen und die Freunde ihrer Eltern wohnten und verkehrten. Unwillig schüttelte sie den Kopf. Bloß nicht an die Eltern denken! Ihre Mutter Anna Sofie Moll war früher Sängerin gewesen und konnte sich einfach nicht entscheiden, ob sie noch Künstlerin war oder im Gegenteil alles tat, um möglichst kleinbürgerlich zu wirken. Und ihr Stiefvater Carl Moll war ein Perpendikel, der sich einbildete, über ihre Erziehung bestimmen zu dürfen. Als ihr Vater noch lebte, war alles besser gewesen. Aber Emil Schindler war gestorben, als Alma dreizehn war. Kurz darauf hatte Anna Carl Moll geheiratet. Er war Maler wie ihr Vater, aber bei Weitem nicht so begabt, und Alma empfand ihn immer noch als einen Eindringling in ihrem Leben.
Noch einmal schüttelte Alma den Gedanken an ihre Eltern ab und konzentrierte sich auf ihr Vorhaben. Sie war auf dem Weg zu Gustav Klimt. In den letzten Wochen hatte er sie immer wieder angefleht, sich von ihm malen zu lassen. Sie hatte lange gezögert, schließlich war sein Ruf nicht der beste. Und dann hatte sie auch noch eine Ausrede für ihre Mutter erfinden müssen, denn die hätte niemals erlaubt, dass sie allein in sein Atelier ging. Aber heute hatte alles geklappt. Sie hatte ihre Freundin Else Lanner eingeweiht, die ihr ein Alibi gab. Ihre Mutter glaubte, sie würden zusammen einen harmlosen Besuch bei Elses Tante machen.
Alma eilte weiter. Die Häuser in der Josefstädter Straße im 7. Bezirk, an denen sie vorüberging, waren eher einfache, mehrstöckige Gebäude, dazu gedacht, möglichst vielen Menschen ein Dach über dem Kopf zu bieten. Pilaster, von Karyatiden gestützte Balkone und Beletagen suchte man hier vergebens. Alma hielt sich im Schatten der großen Bäume, die den Fußweg von der Straße abgrenzten. Ein Arbeiter in einer weiten, an den Knien geflickten Hose kam ihr entgegen und starrte sie unverblümt an. Alma packte ihren Maulwurfmuff fester und marschierte an ihm vorbei. Hier musste es doch irgendwo sein! Endlich, da war die Hausnummer 21. Hatte Klimt nicht 21 gesagt? Oder doch 23? Nein, jetzt aber genug. Es war die 21! Alma spürte ein Kribbeln im Bauch, als sie sich gegen das schwere Tor stemmte, um es aufzustoßen. Krachend fiel es hinter ihr wieder ins Schloss, und sie stand im Dämmerlicht eines Hausdurchgangs. Rechts und links führten ausgetretene Stiegen zu den Etagen hinauf. Sie brauchte ein paar Wimpernschläge, um wieder etwas zu erkennen. Am Ende des Durchgangs trat sie auf einen Innenhof hinaus und sah direkt vor sich das weiße, lang gestreckte Gebäude, das Klimt ihr beschrieben hatte: sein Atelier.
Der eingeschossige Bau mit dem niedrigen Schindeldach sah aus wie ein Gartenpavillon. Unschlüssig blieb sie vor der Doppeltür, deren obere Hälfte verglast war, stehen, und versuchte, ins Innere zu sehen. Sollte sie einfach klopfen? Schließlich waren sie verabredet.
Ja, dachte sie voller Stolz, ich habe eine Verabredung mit dem Malergenie Gustav Klimt. Halb Wien riss sich darum, von ihm porträtiert zu werden. Tatsächlich halb Wien, denn es waren die Frauen, die davon träumten, in seinen großformatigen Bildern in voller Schönheit und mit Goldlack bedeckt für die Ewigkeit abgebildet zu werden. Die andere Hälfte von Wien, die Männer dieser Frauen, bezahlten ein Vermögen dafür. Eines der letzten Modelle war die Industriellengattin Sonja Knips gewesen, die nur ein paar Jahre älter als Alma war. In einem rosa Tüllkleid hatte Klimt sie gemalt, mit Augen, die einen aufzufressen schienen. Die Knips war einer der Stars der Wiener Boheme. Nicht nur, weil sie berühmt für ihren exzentrischen Lebensstil war. In Wien wurde gemunkelt, dass Klimt die Schönheit der Frauen nicht nur auf seinen Bildern feierte, man sagte ihm auch nach, dass es während der Sitzungen zu intimen Handlungen kommen sollte. Auf dem Gemälde hielt die Knips ein rotes Notizbuch in der rechten Hand. Böse Zungen waren der Ansicht, sie würde in diesem Notizbuch ein Foto von Klimt aufbewahren. Alma versuchte sich die Situation vorzustellen: Ein Mann und eine Frau, wenig bekleidet, die Blicke des Mannes gleiten über den Körper der Frau, die sich als Verführerin präsentiert … Ja, der Klimt hatte etwas, dem sich die Frauen reihenweise hingaben, auch wenn ihre Mutter ihn abfällig einen Weiberhelden nannte.
Bei diesen Gedanken kamen ihr doch Zweifel. War es tatsächlich eine gute Idee, allein in Klimts Atelier zu gehen und ihm Modell zu sitzen? Wenn ihre Mutter das wüsste, sie würde sie umbringen. Der einzige Mann, zu dem sie allein, ohne Anstandsdame, gehen durfte, war Josef Labor, ihr Klavierlehrer. Weil Labor alt und blind war.
Aber Klimt wollte sie, Alma Schindler, malen. Und zwar ohne dass irgendwer ihn dafür bezahlte!
Plötzlich wurde die Tür von innen aufgerissen. »Da sind Sie ja endlich!«
Alma zuckte zusammen. Jetzt war es zu spät, um kehrtzumachen.
Klimt trug wie üblich einen seiner Kittel, die grau und ungebügelt an ihm herunterhingen. Und darunter sollte er nichts tragen, keine Unterwäsche! Bei dem Gedanken wurde Alma gleich wieder ungemütlich.
»Wollen Sie nicht hereinkommen?«, fragte er und entließ die Katze, die sich schnurrend in seine Armbeuge schmiegte, auf den Boden.
»Sehr gern.« Jetzt konnte und wollte Alma nicht mehr zurück.
Er hielt ihr die Tür auf und ließ ihr den Vortritt.
Im Inneren des Ateliers war es kühl. Dennoch zog Alma den Mantel aus und nahm ihren Hut mit der kleinen Krempe ab. Sie strich sich mit der Hand über den Nacken und fühlte eine feuchte Haarsträhne. Klimt beobachtete ihre Geste genau. Sie tat, als bemerkte sie es nicht.
Im Vorraum stand ein dunkler Bücherschrank. An der Stirnseite führte eine Tür in den eigentlichen Arbeitsraum, links davon hing ein großformatiges Bild einer Frau, die sich selbst umarmte. Alma schluckte. Die Frau war nackt und sah den Betrachter auf eine einladende Weise an. Wer mochte sie sein? Bestimmt keine Frau der Wiener Gesellschaft, ihr Ruf wäre ruiniert, wenn jemand sie so sehen würde. Oder vielleicht doch, und das Bild hing genau aus diesem Grund hier und nicht in einem Salon?
»Gefällt Ihnen das Gemälde?«, fragte Klimt.
»Sehr«, sagte Alma, hob das Kinn und ging an dem Bild vorbei.
Der angrenzende Raum hatte auf der zum Garten liegenden Seite große Fenster, die jetzt halb mit Gardinen verdeckt waren, um das Sonnenlicht auszusperren. Mitten im Raum standen zwei große Staffeleien, auf ihnen noch unfertige Bilder. Weitere Gemälde in den verschiedensten Stadien des Entstehungsprozesses lehnten an den Wänden. Durch einen Spalt zwischen den weißen Vorhängen konnte Alma in den Garten sehen. Niedrige Büsche, Obstbäume, die einen Schnitt vertragen könnten, die ersten bunten Krokusse in Gelb und Lila. Der Garten war ein Abbild von Klimt, ein bisschen unordentlich, zum Widerspruch reizend, faszinierend.
Auch im Atelier standen funktionale Möbel aus schönen Materialien, an denen jedes Detail durchdacht war. Sie glaubte in ihnen Stücke von Josef Hoffmann und Koloman Moser zu erkennen. Besonders ein hüfthoher Utensilienschrank mit Schubladen in unterschiedlichen Größen auf allen vier Seiten fiel ihr auf, weil er handwerkliche Perfektion zeigte. Einige Laden standen offen, und Alma sah, dass sie Pinsel und Farbtuben enthielten.
»Ein wunderschönes Möbel, perfekt, um alles bei der Hand zu haben«, sagte sie und fuhr mit ihrer Hand über die Oberfläche.
»Ja, Hoffmann hat ihn für mich entworfen.«
Klimt, Josef Hoffmann und Kolo Moser gehörten zu den Freunden ihres Stiefvaters Carl Moll. Aber Alma verstand nicht, was diese außergewöhnlichen Männer ausgerechnet mit ihrem Stiefvater verband, für den Alma nur Verachtung übrighatte. Dagegen für Klimt … zwar war er viele Jahre älter als sie, er könnte sogar ihr Vater sein. Aber er war so anders als alle anderen Männer, die sie kannte. Nicht so glatt und wohlerzogen. Klimt redete wie ein Bierkutscher. Mindestens hundert Frauen sollte er gehabt haben und derzeit ein Verhältnis mit seiner Schwägerin pflegen. Und dann wurde gemunkelt, er habe diese schlimme Krankheit … Alma fand das alles abstoßend und anziehend zugleich. Und ausgerechnet jetzt durchzuckte sie wieder der Gedanke, wie es wohl wäre, Klimts hunderterste Geliebte zu sein.
Alma lief ein wohliger Schauer über den Rücken, wenn sie daran dachte, dass sie hier ganz allein mit einem stadtbekannten Verführer war. Sie wusste, dass sie damit eine Grenze überschritt und mit dem Feuer spielte. Das machte es ja gerade so abenteuerlich! Sie betrachtete die Bilder von wunderschönen Frauen in aufreizenden Posen, die hier hingen. Bald würde sie zu ihnen gehören. Vielleicht dürfte auch ihr Bild nicht öffentlich gezeigt werden, sondern würde hier im Atelier hängen, wo nur er es sehen könnte …
Hinter ihr räusperte sich Klimt, und Alma zuckte zusammen. Sie war in ihren Gedanken sehr weit abgeschweift.
»Alma, ich bin so froh, dass Sie endlich gekommen sind.«
Er kam auf sie zu und nahm ihre Hände in seine. Sein Haar wurde an der Stirn bereits schütter, an den Schläfen umspielte es ihn lockig wie ein Heiligenschein. Und dabei war er alles andere als ein Heiliger. Wider Willen musste Alma bei dem Gedanken kichern.
»Ich weiß schon genau, wie ich Sie malen will. Als Hintergrund auf jeden Fall der Garten, um Ihre Natürlichkeit zu betonen …«
Komisch, auf Klimts Frauenbildern sieht man doch nie einen Hintergrund, dachte Alma. Höchstens mal eine einzelne Blüte, meistens aber Gold. Aber immerhin tat er professionell, und ihre Nervosität legte sich.
» … aber ich möchte zuerst ein paar Skizzen machen, für die Proportionen.« Er richtete die eine der Staffeleien aus und ließ sie vor dem Fenster posieren. Sie sollte sich so hinstellen, dass er sie im Profil sah. »Heben Sie die Arme«, sagte er. »So, als würden Sie Ihr Haar richten.«
Alma nahm die Arme hoch und erhaschte dabei einen Blick auf ihr Spiegelbild in der verglasten Schranktür. Sie sah ihre schmale, in das Korsett geschnürte Taille und die üppige Brust darüber. Als sie wieder zu Klimt sah, entdeckte sie Bewunderung in seinem Blick. Ich gefalle ihm, dachte Alma glücklich. Viele Männer hatten ihr schon gesagt, dass sie schön sei, es hatte ja sogar nach einem Ball in der Zeitung gestanden: Sie sei das schönste Mädchen von Wien. Neben ihrem Aussehen wurden in dem Artikel ihr Charme und ihre Bildung gepriesen. Ihre Mutter hatte ihr die Sätze vorgelesen, und Alma hatte die Genugtuung in ihrer Stimme gehört. Schon als Kinder hatte Anna Alma und ihre Schwester Gretl dazu erzogen, zu gefallen. Bisher hatte Alma Komplimente eher gleichgültig hingenommen, aber bei Klimt war das etwas ganz anderes.
Ein Ärmel ihrer hellen Bluse rutschte über den Ellenbogen hinauf, die Frühlingssonne wärmte ihre Haut. Sie schloss die Augen, um die Wärme noch intensiver im Gesicht zu spüren. Draußen sangen die ersten Drosseln des Jahres im alten Obstbaum. Plötzlich hatte sich etwas in der Stimmung um sie herum verändert. Sie öffnete verwirrt die Augen und sah zu Klimt hinüber, der sie anstarrte.
»Nein, nicht so! Weicher! Warten Sie!« Seine Stimme hatte sich verändert. Sie klang gepresst. Er kam auf sie zu und führte ihre Hände über den Kopf, die Ellenbogen leicht gerundet. »Schon besser, aber immer noch nicht so, wie ich es brauche. Ziehen Sie die Bluse aus.«
Alma zögerte. Sie sah sich um. Konnte jemand von den umliegenden Häusern hereinsehen? Nein, die Bäume verdeckten sie. Mit zitternden Fingern öffnete sie die Knöpfe ihrer Bluse. Schließlich ging es hier um Kunst. Sie hatte schon viele Bilder gesehen, auf denen Frauen nur im Unterkleid dastanden. Erneut hob sie die Arme.
Klimt kniff die Augen zusammen und fixierte sie, er stand ganz nah bei ihr, sie konnte seinen Atem an ihrem Schlüsselbein spüren. Mit einer überraschend zarten Geste nahm er ihre Hände in seine und brachte sie in eine andere Position. Dann riss er sie plötzlich in seine Arme und küsste sie. Seine Hände wanderten über ihren Oberkörper, umfassten ihre Brüste, fuhren an ihrem Rücken entlang. Zu überrascht, um reagieren zu können, überließ sich Alma einen Augenblick lang dieser Umarmung und dem unbekannten, aufregenden Gefühl, das sie in ihr auslöste. Als seine Hände sich auf ihren Po legten, löste sie sich aus ihrer Erstarrung. Das ging alles viel zu schnell! Mit einem Schnauben machte sie sich los, griff nach ihrer Bluse und lief zur Tür.
»Alma«, rief Klimt ihr nach. »Alma, ich bitte Sie. Kommen Sie zurück. Das wird nicht wieder geschehen.«
Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Ich muss nachdenken. Auf Wiedersehen.«
Auf der Straße atmete sie ein paarmal tief durch und eilte zur nächsten Station der Stadtbahn. Während der Fahrt rief sie sich immer wieder Klimts Berührungen in Erinnerung, Röte legte sich über ihr Gesicht. Da, wo Klimts Hände gewesen waren, brannte ihre Haut. Dieses prickelnde Gefühl mochte sie, aber Klimt war ihr zu drängend gewesen. So hatte sie es nicht gewollt.
Zu Hause angekommen, zog sie sich gleich in ihr Zimmer zurück. Ein Gespräch mit ihrer Mutter hätte sie jetzt nicht ertragen. Womöglich hätte sie ihr ihre Verwirrung angesehen.
Den Rest des Nachmittags verträumte sie an ihrem kleinen Schreibtisch, war aber nicht fähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Wie lange hatte sie auf einen Kuss von Klimt gewartet, und am Anfang war auch alles schön gewesen. Aber dann war etwas anderes hinzugekommen. Etwas, das sie nicht beherrschte. Seufzend stellte sie fest, dass es richtig gewesen war, zu gehen. Dennoch stellte sie sich immer wieder die Szene in seinem Atelier vor. Die Bilder, aber vor allem dieses wunderbare Gefühl, das sein Kuss in ihr hervorgerufen hatte, gingen ihr nicht aus dem Kopf. Als wäre ihre gesamte Energie in diese Sache geflossen. Ob sie zum Klavier gehen sollte, um ein paar Takte zu spielen? Die Musik hatte ihr immer schon geholfen, zu sich zu finden, aber sie ahnte, dass das heute völlig nutzlos sein würde. Wäre sie ein Mann, würde es ihr vielleicht gelingen, den Aufruhr, der in ihr herrschte, in Noten oder in ein Gedicht zu fassen. Männer konnten das. Männer konnten den Po einer Frau berühren und gleichzeitig ein Lied komponieren oder ein Bild entwerfen. Klimts schönste Porträts waren die von Frauen, in die er unglücklich verliebt war. Ihr Stiefvater malte seine kraftvollsten Bilder, wenn er sich mit ihrer Mutter gestritten hatte. Männer konnten kreativ sein, auch wenn sie verliebt waren. Den Frauen blieb nur das Gefühl. Das war es, was Frauen daran hinderte, Genies zu sein, dachte Alma, auch wenn sie es noch so sehr wollten.
***
Als ihre Mutter einige Stunden später an ihre Tür klopfte, weil Alma sie am Klavier begleiten sollte, war sie beinahe dankbar, obwohl sie sich sonst davor zu drücken versuchte. Aber es war immer noch besser, für ihre Mutter ein paar Schubert-Lieder zu spielen, als hier weiterhin in sinnlosen Grübeleien zu versinken. Jetzt hatte sie lange genug über Klimt nachgedacht. Und anstatt ernsthaft zu arbeiten oder zu komponieren, hatte sie den kompletten Nachmittag vertrödelt.
»Ich komme gleich«, antwortete sie und suchte nach den Noten, die zwischen den anderen auf dem Klavier lagen.
Ob sie gelernt hätte, ihre Gefühle besser im Griff zu haben, wenn sie eine öffentliche Schule besucht hätte? Ihr Unterricht hatte immer nur darin bestanden, dass sie stundenlang bei ihrem Vater im Atelier saß und ihm beim Malen zusah. Emil Schindler war ein bekannter Landschaftsmaler gewesen. Hans Makart, der in seinem pompösen Stil beinahe die gesamte Ringstraße eingerichtet hatte und für seine legendären Atelierfeste, auf denen die Damen originale Renaissance-Kostüme trugen und Franz Liszt musizierte, berühmt war, hatte sein Talent erkannt und ihn protegiert, und so wurde er erfolgreich.
Während ihr Vater an der Staffelei stand, sang er mit wunderschöner Stimme oder er erzählte Alma den Inhalt von Büchern. Vor Almas Augen entstanden auf der Leinwand detailgetreue, elegische Landschaften, die von traurigen oder lustigen Geschichten und Gesängen begleitet wurden. Von Kindesbeinen an waren für Alma diese Stunden voller Harmonie und Geborgenheit mit Musik verbunden. Die Lieder ihres Vaters, dieses Zusammenspiel von Farben, Worten und Tönen, legten den Grundstein für ihre Liebe zur Musik.
Als Alma sechs war, kaufte ihr Vater ein großes Haus mit Park vor den Toren von Wien, wo die Familie fortan die Sommer verbrachte. Das kleine Barockschloss Plankenberg lag zwischen Neulengbach und Tulln. In der überbordenden Natur erfuhr Almas kindliche Seele weitere Anregungen. Ihre Liebe zu langen Wanderungen und verträumten Spaziergängen hatte hier ihren Ursprung. Von Wien aus fuhr Alma mit ihren Eltern und Gretl eine knappe Stunde mit dem Zug, die letzten Kilometer legten sie in einer Kutsche zurück. Als das dreigeschossige Haus zum ersten Mal vor ihnen auftauchte, riss Alma die Augen auf, weil es so groß war. Emil Schindler hatte ihr erzählt, dass es zwölf Zimmer hatte, viel mehr als die Wohnung in Wien. Aber es war nicht das Gebäude, das Almas Entzücken erregte. Sie hatte nur Augen für den Park, der das Schloss umgab. Sie packte Gretls Arm und wies sie darauf hin. Alles war verwildert, hier war nichts gestutzt und geharkt, wie sie es aus den öffentlichen Gärten in Wien kannte. Hundertjährige Linden, Nussbäume und Platanen bildeten Alleen. Überall gab es Nischen und dicht bewachsene Jasminlauben. Jetzt, im späten Frühjahr, explodierte die Natur geradezu. Wie viel Spaß musste es machen, hier mit Gretl Verstecken zu spielen!
Am selben Tag noch entdeckte sie, halb verborgen hinter dichtem Grün, aus dem es verheißungsvoll raschelte und duftete, ein prächtiges barockes Kellerportal. Almas Neugier war sofort geweckt. Gemeinsam mit ihrer Schwester erkundete sie den nachtdunklen, nach Moder riechenden Raum, in dem vergessene Kartoffeln keimten und Flaschen mit Höllenlärm über den Boden rollten. Dabei entstand in ihrem Kopf ganz von allein eine Geschichte von einer Prinzessin, die hier schon seit Jahrhunderten eingekerkert war und die sie jetzt retten würden. Der Garten bot immer neue Möglichkeiten für Versteckspiele und Expeditionen, und mehr als einmal mussten die Mädchen sich durch grünes Dickicht aus Winden und Efeu zwängen. Alma und Gretl verschwanden für Stunden in dem Gelände.
Auch das Innere des Hauses bot tausend Möglichkeiten, um sich in fremde Welten zu träumen. So gab es in der Mitte des großen Stiegenhauses eine Art Altar in einer finsteren Nische. Dort standen goldene Barockleuchter und eine hölzerne Figur, die sie mit ihrem leidenden Blick verfolgte.
»Die hat mal hier gewohnt«, erzählte Alma Gretl, als sie zum ersten Mal davor stehen blieben.
Gretl fasste nach ihrer Hand. »Wie meinst du das?«
»Sie war die Tochter des ersten Besitzers, und als ihr Vater wieder geheiratet hat, hat die Stiefmutter, die sie hasste, sie in diese Holzfigur verwandelt.«
Gretl erschauerte und wollte mehr wissen, und Alma spann ihre Geschichte immer weiter, so lange, bis sie selbst daran glaubte und es mit der Angst zu tun bekam. Seitdem hielten die Mädchen immer die Luft an, wenn sie die Treppe nahmen.
»Hier wohnen Gespenster«, flüsterte Gretl am ersten Abend vor dem Einschlafen. Alma hätte gern die große Schwester gegeben, die vor nichts Angst hatte, aber sie hatte die Schatten auch schon bemerkt, die ihnen in der Dämmerung folgten. Ebenso wie das leise Knacken der Holzdielen, wenn sie durch das Zimmer huschten. In diesem Augenblick schlug die große Uhr, die auf der Höhe des Dachstuhls in der Fassade des Frontgiebels angebracht war, mit einem blechernen Klang, als würde jemand einen leeren Zinkeimer auf einen Steinfußboden fallen lassen. Alma stieß einen Schrei aus.
»Wir hätten nicht in den Keller im Wald gehen sollen. Ich nehme an, da haben wir sie aufgeschreckt«, sagte sie, als sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte.
Gretl nickte. »Wir hätten auf Mama hören sollen. Sie hat uns doch verboten, dorthin zu gehen.«
Aber auf die Verbote ihrer Mutter zu hören, war das Letzte, worauf Alma Lust hatte.
Das Verhältnis zu ihrer Mutter war schon immer angespannt gewesen, Alma und sie hatten oft Streit, ihren Vater dagegen liebte Alma abgöttisch. Nicht nur weil er sie vor der oft sprunghaften und ungerechten Mutter beschützte, sondern weil er mit ihr seine Liebe zur Musik und zur Kunst teilte. Er verlieh ihrer Seele Flügel und stärkte ihre Phantasie.
»Alma! Du bist nicht bei der Sache! Jetzt bitte den Erlkönig.« Die Stimme ihrer Mutter riss sie aus ihren Gedanken.
»Entschuldige, Mama«, sagte Alma.
Sie nickte ihrer Mutter für den Einsatz zu. Die Noten des Erlkönigs hatte sie schon Hunderte Male gespielt, sie waren keine Herausforderung mehr für sie, und so betrachtete sie lieber das Gemälde ihres Vaters, das gegenüber an der Wand hing. Es zeigte ein Mittelmeergestade mit hohen Zypressen. Das Bild war auf der mehrmonatigen Reise durch Dalmatien und Griechenland entstanden, wo Emil Schindler im Auftrag des Kronprinzen Rudolf Ansichten der Küstenstädte malen sollte. Auf der Reise hatte er als Honorar für ein Bild ein Pianino erhalten, das er Alma schenkte. »Für dich, meine Große, für dich und deine Musik.« Damals war sie neun gewesen. Mit dem Klavier hatte eine Leidenschaft begonnen, die seitdem ihr Leben bestimmte. Alma nahm regelmäßig Klavierstunden und studierte auch Komposition. Noch einmal sah sie auf das Bild und seufzte. Sie vermisste ihren Vater mehr als jeden anderen Menschen. Sein früher Tod war eine Katastrophe gewesen. Sie hatten damals zum ersten Mal Urlaub an der See gemacht und waren auf die Insel Sylt gefahren. Alma war fasziniert von dieser Landschaft, vor allem von den fast weißen Dünen, die im Sonnenlicht glänzten. Die Farben im Norden waren fast monochrom: Das Weiß des Sandes, darüber der blaue Himmel und sonst nichts. Sie und Gretl bauten Sandburgen und sammelten Muscheln. Es sollte ein unbeschwerter Urlaub sein, doch dann war das Unglück über sie hereingebrochen. Die Schwestern saßen im Speiseraum der Pension und aßen Milchreis mit Kirschen, als das Dienstmädchen mit rot geweinten Augen hereinkam.
»Ihr müsst sofort mitkommen. Es ist etwas passiert!«
Alma stand auf. Sie griff nach der Hand ihrer Schwester. Ohne zu ahnen, woher, wusste sie, dass ihr Vater gestorben war.
Vor ihrem Zimmer kam Carl Moll, der mit nach Sylt gefahren war, ihnen entgegen: »Kinder, ihr müsst jetzt sehr tapfer sein. Ihr habt keinen Vater mehr.«
Alma wollte in das Zimmer hineingehen, wollte ihren Vater umarmen, ihn noch einmal sehen, aber Carl Moll verwehrte ihnen den Zutritt. Und mit einem Mal begriff sie, dass ihre behütete Kindheit vorüber war. Ihr geliebter Vater, ihr Beschützer, der Mann, mit dem sie die innigsten Stunden verbracht hatte und der sie uneingeschränkt liebte, war nicht mehr da.
Wie so oft, wenn sie an ihren Vater dachte, kamen Alma auch jetzt die Tränen. Sie gab sich keine Mühe, sie zu verbergen. Ihre Mutter sah sie überrascht an. Sollte sie doch glauben, die Musik bringe sie zum Weinen.
Damals war ihre Mutter unfähig gewesen, Alma und Gretl zu trösten. Sie reisten sofort ab, jedoch konnte Emil Schindlers Leichnam nur heimlich in einer Klavierkiste nach Wien gebracht werden, denn in Hamburg wütete die Cholera, und sie hätten niemals einen Toten durch die Stadt bringen dürfen. Als Tage später ihr Vater auf dem riesigen Wiener Zentralfriedhof beigesetzt wurde, war Alma immer noch wie versteinert. Auf dem Weg nach Hause sah sie, wie Carl Moll die Hand ihrer Mutter nahm. Sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, aber es verstörte sie. Alma zog sich zurück und wurde aufsässig, besonders gegenüber Carl Moll, der seine Beziehung zu ihrer Mutter nicht länger verheimlichte. Eines Sonntags weigerte sie sich, gemeinsam mit ihm zum Grab ihres Vaters zu gehen, weil sie den Anblick von Carl nicht ertrug, wie er andachtsvoll dort stand, wo er doch nichts zu suchen hatte. Es kam zum Eklat. Moll drehte sich zu ihr herum und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige. Alma hielt sich die schmerzende Wange und starrte ihn hasserfüllt an. Hilfe suchend drehte sie sich zu ihrer Mutter um, die sie jedoch nur mit einem kühlen Blick bedachte: »Geh mir aus den Augen.«
Alma stürzte aus dem Zimmer. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so einsam und verletzt gefühlt. Wie konnte ihre Mutter ihr so etwas antun? Wie sollte sie weiter mit ihr und Moll unter einem Dach leben?
Wenig später hörte sie die Wohnungstür ins Schloss fallen. Ihre Familie war ohne sie gegangen. Almas Blick glitt durch das Zimmer. Am liebsten hätte sie aus lauter Wut und Verzweiflung etwas kaputt gemacht. Aber dann zog sie etwas ans Klavier, und sie hämmerte ihre Wut in die Tasten. Augenblicklich spürte sie, wie es ihr besser ging. Sie erzählte dem Instrument von ihrer Verlassenheit und ihrer Trauer, und das Klavier hörte ihr zu und schien sie zu verstehen. Es war wie eine Offenbarung.
Als ihre Mutter Stunden später nach ihr sah, saß sie immer noch am Klavier. Statt Wut und Verzweiflung war da nur noch Trauer, aber auch so etwas wie Trost. Voller Erstaunen und Glück stellte Alma fest, dass sie in diesen einsamen Stunden mit der Musik zur Ruhe gekommen war. Am Klavier hatte sie sich in eine bessere Welt geträumt. Sie hatte ihre Bestimmung gefunden. Von nun an suchte und fand sie Trost in der Musik. Sie nahm Unterricht bei Adele Radnitzky-Mandlick, einer renommierten Lehrerin und Professorin am Konservatorium, die mit ihr Schumann, Schubert und vor allem Wagner, den Alma bald für einen Gott hielt, einstudierte. Sie übte täglich stundenlang und konnte rasch sicher vom Blatt spielen. Wenn sie Klavier spielte, träumte sie sich in andere, bessere Welten.
Zwei Wochen nachdem sie Klimt in seinem Atelier besucht hatte, war einer dieser schönen Tage, die es nur in Wien gab, wenn es schon im Februar urplötzlich frühlingshaft warm wurde. Alma kam von der Klavierstunde nach Hause. Sie war froh, den Mantel ausziehen zu können, der ihr zu warm geworden war. Aus dem Arbeitszimmer ihres Stiefvaters hörte sie erregte Stimmen. Das Haus in der Theresianumgasse war ein beliebter Treffpunkt moderner Maler und Künstler, Literaten, Musiker und Architekten. In Molls Arbeitszimmer, zwischen den antiken Möbeln, war vor zwei Jahren die Wiener Secession gegründet worden, dessen Vizepräsident er war. Und in diesen Tagen schmiedeten die Herren Pläne zur Gründung einer Künstlerkolonie vor den Toren Wiens. Endlich konnte ihre Mutter ihr Talent als Gastgeberin ausleben, an der Seite des umtriebigen Carl Moll, den sie im Gründungsjahr der Secession geheiratet hatte. Alma hatte ihrer Mutter diesen Verrat noch nicht verziehen. Sie seufzte, als sie an ihren Vater dachte, diesen großherzigen Mann voller Charakter. Kein Vergleich zu diesem gschaftlhuberischen Kleinbürger, der jetzt das Sagen im Haus hatte. Am meisten störte es sie, dass man in diesem Haus nie mehr ungestört sein konnte. Alma hätte sich jetzt gerne gleich wieder ans Klavier gesetzt. Sie hatte eine Melodie im Kopf, die sie spielen und niederschreiben wollte, aber das konnte sie nur, wenn sie allein war. Sie brauchte absolute Ruhe dafür, aber die Besucher ihres Vaters lärmten und lachten. Außerdem konnte man im Arbeitszimmer alles hören. Alma seufzte noch einmal. Sie legte ihre Noten neben der Garderobe ab und betrachtete ihre leuchtend blauen Augen und die dunkle Haarmähne im Spiegel. Sie hatte ihr Haar am Morgen locker am Hinterkopf zusammengenommen, so dass es in einer weichen Welle ihr Gesicht umspielte. Den Rest hatte sie zu Schnecken gedreht, die sie am Hinterkopf zu einem Knoten legte, eine der Sängerinnen in der Oper hatte diese neue Frisur getragen. Sie drehte sich vor dem Spiegel hin und her und dachte, dass sie für offen getragenes Haar mit ihren neunzehn Jahren inzwischen zu alt war.
»Alma, du bist schon zurück? Setz dich zu uns.« Ihre Mutter kam mit einem Tablett voller Erfrischungen aus der Küche. »Klimt ist auch da. Es geht um die nächste Ausstellung der Secession.«
Alma zuckte zusammen. Klimt war hier! Seit sie vor zwei Wochen derart kindisch – sie war in der Zwischenzeit zu dem Schluss gekommen, dass ihr Verhalten wenig erwachsen gewesen war – aus seinem Atelier geflüchtet war, hatte sie ihn nicht mehr gesehen, aber umso mehr an ihn gedacht. Sie musste sich erst sammeln, bevor sie ihn begrüßte. »Ich komme gleich«, sagte sie hastig. »Ich mach mich nur schnell frisch.«
Mit raschen Schritten ging sie den Flur entlang in das Zimmer, das sie mit ihrer Schwester teilte. Zum Glück war Gretl nicht da. Alma musste nachdenken. Wie sollte sie Klimt gegenübertreten? Sie ließ sich auf ihr Bett fallen, ihre Gedanken flogen zu ihrem ersten Treffen. Es war auf der Eröffnungsausstellung der Secession vor einem Jahr gewesen. Alma war mit Gretl und ihrer Mutter hingegangen, Carl wartete dort bereits auf sie, und neben ihm hatte Klimt gestanden. Alma hatte ihn sofort an seiner ungewöhnlichen Kleidung erkannt. Er hatte so männlich neben ihrem Stiefvater ausgesehen. Als der sie vorgestellt hatte, hatte Alma in Klimts Augen etwas aufblitzen sehen, etwas Wildes, Gefährliches. Klimt war offensichtlich keiner dieser Männer, die einer Frau nach dem Mund redeten oder nichtssagende Komplimente säuselten. Das zog sie sofort an.
»Sie sind schön, Alma«, hatte er zu ihr gesagt und dabei ihren Kopf in seine beiden Hände genommen und ihn nach rechts und links gedreht, um ihr Gesicht besser betrachten zu können. Noch nie hatte ein Mann sie so angefasst. Er hatte sie nicht gefragt, seine Hände hatten nach Ölfarbe gerochen, sie hatte seine Körperlichkeit direkt vor sich gespürt. In diesem Augenblick hatte sie sich in ihn verliebt.
Nach der Ausstellung hatten ihre Mutter und Carl ein Souper gegeben, und sie hatte in ihrer Aufregung seinen Namen falsch auf eine Tischkarte geschrieben, Klimpt. Er hatte die Karte mit einem vielsagenden Lächeln in seine Jackentasche gesteckt. Von da an suchte er ihre Nähe. Immer wieder ertappte sie ihn dabei, wie er sie nachdenklich anstarrte.
Ob er sie als Modell für seine Bilder oder als Frau betrachtete? Wenn sie wusste, dass er ins Haus kam, machte sie sich besonders hübsch, und er bemühte sich darum, unter vier Augen mit ihr zu reden. In der Folgezeit war ihr Verhältnis immer enger geworden, Klimt nahm sie mit in Museen, wo sie stundenlang über die ausgestellten Bilder und Kunst diskutierten. Er erklärte ihr seine eigenen Werke, zeigte ihr sogar Skizzen und Vorstudien und fragte sie nach ihrer Meinung. Alma fühlte sich wohl in Klimts Gesellschaft, ihre Gespräche erinnerten sie an die glücklichen Stunden im Atelier ihres Vaters. Schon damals hatte sie ein geübtes Auge für Bildkompositionen entwickelt, und durch ihre Lektüre wusste sie, was gemeint war, wenn auf den Gemälden Szenen aus der Mythologie dargestellt waren. Bald hatte Alma nur noch Augen für Klimts Bilder. Und sie träumte davon, von ihm so gesehen zu werden wie die Damen der Wiener Gesellschaft oder die Frauen der Sagenwelt, die er in wahren Räuschen von Gold und Schönheit zeigte.
Zu den Gesprächen über Kunst kam schnell noch etwas anderes: eine zufällige Berührung mit der Hand, ein Blick oder ein Seufzer, ein Kompliment. Bei der Erinnerung daran huschte ein Lächeln über ihre Lippen. Zwischen ihr und Klimt war etwas Besonderes entstanden. Sie war sich sicher, dass jede kleine Geste ein Zeichen seiner ernsthaften Liebe war. Wie sehr hatte sie sich die ganze Zeit danach gesehnt, dass er sie küsste!
Vor einigen Wochen dann hatten sie wieder einmal alle im Atelier ihres Stiefvaters gesessen und sich die Köpfe heißgeredet. Wie immer hatte Klimt es so eingerichtet, dass er neben ihr saß, und sie nicht aus den Augen gelassen. Alma hatte von einem besonders hartnäckigen Verehrer erzählt, den sie bei einem Tanzvergnügen am Vorabend kaum wieder loswerden konnte. Plötzlich bemerkte sie Klimts Blick, der sie zu verzehren schien. Sie zog die Ärmel ihrer Bluse, die sie bis zu den Ellenbogen hinaufgeschoben hatte, wieder herunter, aber dann überlegte sie es sich anders und schob sie wie zufällig wieder hinauf, um die wunderbare zarte Rundung ihrer Unterarme zur Geltung zu bringen. Ihrer Mutter blieb all das nicht verborgen. Sie machte Alma Vorwürfe. »Pass auf, die Leute machen Bemerkungen über den Klimt und dich.« Alma fand diese Warnungen eher schmeichelhaft. Dass ihre Mutter dagegen war, machte Klimt für sie nur noch interessanter. Und dann hatte er sie angefleht, zu ihm in sein Atelier zu kommen, allein. Und sie war hingegangen und hatte sich von seinem Drängen in die Flucht schlagen lassen wie ein Backfisch!
Puh! Und nun lag sie hier auf ihrem Bett und wusste nicht, was sie ihm sagen sollte.
»Alma«, rief ihre Mutter. »Wo bleibst du denn?«
»Ich komme.« Alma stand auf. Sie sah noch einmal in den Spiegel, dann ging sie den Flur entlang, hob das Kinn und setzte ein Lächeln auf, bevor sie das Arbeitszimmer ihres Stiefvaters betrat. Sie fing den Blick ihrer Mutter auf, die unmerklich nickte. Anna hatte in den letzten Jahren nicht mit Ratschlägen und Anweisungen gespart, wie Alma sich zu geben hatte. Als ihre Schönheit immer offener zutage trat, setzte sie ihre ältere Tochter ins rechte Licht und schmückte sich mit ihr. Alma sollte bezaubern. So ein Auftritt in einem Zimmer gehörte zu ihren leichteren Übungen. Auch wenn sie nervös war, so wie jetzt. Wider Willen war sie ihrer Mutter dafür dankbar.
Carl Moll saß wie üblich in einem der großen Pfauensessel. Kolo Moser war da, der gut aussehende Alfred Roller, Josef Hoffmann und einer seiner Schüler und Max Burckhard. Olbrich war auch anwesend, der Architekt des neuen Secessionsgebäudes, das im November eröffnet worden war. Die Männer trugen schwarze Anzüge und Krawatten. Sie saßen in den tiefen Ledersesseln, die Beine übereinandergeschlagen, die Zigarette in der Hand. Zwischen ihnen, auf einem Schemel, hockte, mit dem Rücken zu ihr, Klimt. Alma starrte ihn an, allein der Anblick seiner Schenkel machte sie nervös. Er trug heute einen Anzug, der allerdings zu groß und zudem verknittert war.
Als sie das Zimmer betreten hatte, war Max Burckhard, der ehemalige Direktor des Wiener Burgtheaters, aufgesprungen, um sie zu begrüßen. Nach dem Tod ihres Vaters war er so etwas wie ein väterlicher Lehrer für sie gewesen und hatte ihr die Literatur nahegebracht. Eines Tages hatte es an der Tür geklingelt, und ein Bote hatte zwei große Körbe mit Büchern geliefert, die sie lesen sollte. Nietzsche und Schnitzler waren dabei. Alma hatte sich in die Lektüre gestürzt, auch wenn sie am Anfang nicht alles verstand. Damals hatte sie damit begonnen, einzelne Sätze, die ihr besonders gefielen, in ein Heft zu schreiben, und mit der Zeit bekam sie ein sicheres Gefühl dafür, welche Texte sie mochte und welche nicht. Von den Büchern war es nur ein Schritt zur Dramatik: Max Burckhard schenkte ihr auch Theaterkarten und besprach mit ihr die Stücke. Theater- und Opernbesuche waren zu einer lieb gewonnenen Gewohnheit für sie geworden, während der Saison verging kaum eine Woche, in der sie nicht mindestens ein Stück sah.
»Alma«, rief Max Burckhard jetzt und kam ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen. Auch in seinem Blick las sie in der letzten Zeit mehr als nur freundschaftliche Gefühle. Strahlend begrüßte sie ihn und die übrigen Gäste. Als Letzter drehte sich betont langsam Klimt um. Alma spürte, wie sie rot wurde, als er sie mit einem intensiven Blick ansah. Er beugte sich über ihre Hand, und sie sah seine angespannten Kiefermuskeln. Mit angehaltenem Atem wartete sie darauf, dass er irgendetwas sagen würde, aber ohne ein weiteres Wort wandte er sich wieder Kolo Moser zu. Mit klopfendem Herzen setzte sie sich auf ein Sofa neben Burckhard.
Die Männer führten ihr lautstarkes Gespräch über die nächste Ausstellung der Secession fort, die im nächsten Monat eröffnen sollte. In den zwei Jahren ihres Bestehens hatte die Wiener Secession den Kunstbetrieb umgekrempelt und sich mit dem Bau des Secessionsgebäudes am Karlsplatz ein eigenes Haus geschaffen, über das in Wien viel gespottet und geschimpft wurde. »Krauthappel« oder »assyrische Bedürfnisanstalt« nannten sie es. Das Gebäude wie auch die moderne Kunst, die dort gezeigt wurde, war vielen einfach zu fremd. Und jetzt sollte Klimt dort seine Nuda Veritas ausstellen, eine absolute Provokation. Klimt hatte das Bild mitgebracht. Er stand auf und hielt es hoch, damit alle es sehen konnten. Es zeigte eine stehende nackte Frau mit roten Haaren von vorn. Rot waren auch ihre Schamhaare. Klimt hatte darauf verzichtet, sie irgendwie zu verdecken. Und als wäre das alles noch nicht genug, hatte das Bild eine Inschrift: Kannst du nicht allen gefallen durch deine That und dein Kunstwerk, mach es wenigen recht. Vielen gefallen ist schlimm. Schiller.
»Das wird die Leute verstören«, sagte Klimt.
»Aufrütteln soll es sie!«, rief Roller.
»Wenn wir Pech haben, wird es verboten«, sagte Moll.
»Dann hätte das Bild die Aufmerksamkeit, die es verdient!«, polterte Klimt.
Alma suchte Klimts Blick, aber er war zu sehr in das Gespräch vertieft, als dass er es bemerkte. Burckhard sah sie fragend an, Eifersucht blitzte in seinen Augen auf.
Nach einer Weile hielt Alma Klimts Missachtung nicht mehr aus. Möglich, dass sie es sich mit ihm verdorben hatte, aber das war kein Grund, derart unhöflich zu sein. Wenigstens ein Lächeln hätte er ihr doch schenken können! Erschrocken merkte sie, dass ihr die Tränen in die Augen traten, und stand schnell auf. Das fehlte noch, dass sie hier anfing zu weinen! Den strafenden Blick ihrer Mutter ignorierte sie.
Im Hausflur lehnte sie sich an die Wand.
»Alma, ich habe da etwas für Sie.«
Sie hielt den Atem an. Sie hatte nicht bemerkt, dass Klimt ihr gefolgt war. Rasch wischte sie sich über die Augen und drehte sich zu ihm um. Er überreichte ihr einen Fächer, den er bemalt hatte. Alma sah viel dunkles Rot und Violett, wie Mohnblumen und Hornveilchen. Lächelnd sah sie zu ihm hoch. Sein Haar stand ihm wild um den Kopf, der Bart war struppig. Wie konnte ein Mann in einem derart unvorteilhaften Aufzug nur so anziehend sein?
»Dass Sie daran gedacht haben«, rief sie aus. Sie hatte ihn ein paar Wochen zuvor gebeten, einen Fächer, den sie von einem Verehrer bekommen hatte, zu bemalen, und Klimt hatte gesagt, dass er auf keinen Fall den Fächer eines anderen bemalen wolle, sondern ihr einen eigenen schenken werde.
»Und wegen neulich …«, begann er.
»Ach, das war ein Missverständnis, mehr nicht. Ich habe mich dumm benommen.« Sie warf Klimt einen langen Blick unter ihren dichten Wimpern zu und hörte ihn schwer atmen. Sie spürte, wie ihr warm wurde.
Er kam auf sie zu und nahm sie in die Arme. Er war vorsichtig, zärtlich. Sie spürte seine Lippen auf ihren und dazwischen das Kitzeln seines Bartes. Diesmal wehrte sie sich nicht. Seine Küsse wurden fordernder, er presste sie an sich, zwischen Almas Schenkeln pulsierte das Blut, ein berauschendes Gefühl. Ohne weiter darüber nachzudenken, öffnete sie ihre Lippen, Klimt stöhnte auf.
»Alma? Wo bleibst du denn?«
Sie fuhren auseinander, als sie Almas Mutter hörten, die den Flur betrat.
»Bin schon da«, rief sie und ließ Klimt einfach stehen.
Abends in ihrem Bett fand sie keinen Schlaf. Sie fuhr sich mit der Fingerspitze über die Lippen, um Klimts Kuss noch einmal nachzuempfinden. Wie sehnlich wünschte sie sich mehr davon. Dieses Gefühl war himmlisch! Seine Hände auf ihren Hüften hatten sich so gut angefühlt. Sie konnte es nicht erwarten, ihn wiederzusehen.
Abscheulicher, wo gehst du hin? Alma summte die Arie aus dem Fidelio, den sie am Vorabend in der Oper gesehen hatte. Lilli Lehmann hatte so schön gesungen, Gretl und sie hatten sich angesehen und mussten sich zusammennehmen, um nicht vor Rührung zu weinen. Alma war immer noch ganz hingerissen von der Schönheit der Musik. Schon den ganzen Morgen sang sie die Arie vor sich hin. Komm, oh, komm… Sie wollte es vor Gretl nicht zugeben, aber ihre Gefühle für Klimt ließen sie die Melodie noch einmal mit ganz anderen Ohren hören. Sie konnte nur noch an ihn denken, und sie fieberte der nächsten Gelegenheit entgegen, bei der sie mit ihm unter vier Augen sein konnte.
Für ihre Mutter war so ein Opernbesuch ein willkommener Anlass, dass ihre Töchter von den heiratsfähigen Männern und deren Müttern gesehen wurden. Almas Interesse galt der Musik. Wenn das Orchester zu spielen begann, vergaß sie alles um sie herum. Natürlich war sie mit ihren neunzehn Jahren in einem Alter, in dem einige ihrer Freundinnen bereits verlobt oder verheiratet waren, und sie hatte auch selbst schon Heiratsanträge bekommen, allerdings ohne sie ernst genommen zu haben. Ja, wenn Gustav Klimt sie fragen würde! Sie störte es nicht, dass er deutlich älter war als sie. Er hatte Erfahrung, dagegen waren die Torheiten der Jüngeren doch einfach lächerlich! Sie machten ihr Geschenke und Eifersuchtsszenen, schrieben ihr Gedichte. Natürlich genoss auch sie es, zu tanzen und zu flirten. Und wenn die jungen Männer dann noch gescheit über Kunst reden konnten, machte ihr die Sache erst recht Spaß. Was sie nicht leiden konnte, waren Dummköpfe und fade Langweiler. Was hatte sie mit jemandem zu reden, der weder Hofmannsthal noch Schnitzler gelesen hatte und an dem die Theatersaison ungesehen vorübergegangen war?
Gestern nach der Oper waren sie noch auf ein Tanzvergnügen bei Lanners, der Familie ihrer besten Freundin Else, gegangen. Weil sie durch die Musik so aufgewühlt war, hatte sie mehr Champagner als üblich getrunken und jeden Walzer getanzt. Auf der Kommode in ihrem Zimmer lagen die Blumenbouquets, die sie erhalten hatte. Sie zählte sie durch, zwanzig, einundzwanzig … Die Tanzkarten ihrer Schwester lagen daneben, es waren nicht einmal halb so viele.
Immer noch den Fidelio summend, ging sie ins Esszimmer und freute sich, dass alle anderen schon fertig waren mit dem Frühstück. So konnte sie sich ungestört der neuen Ausgabe der Ver sacrum widmen, die auf dem Tisch lag. Ver sacrum, heiliger Frühling, nannte sich die Zeitschrift, die die Secession herausgab. Alma zog das Blatt zu sich heran, während sie in eine Brioche biss. Das Titelblatt hatte wie so oft Alfred Roller gestaltet. Sie erkannte die Ornamente, die die Schrift umrankten. Beim Blättern stieß sie auf ein Brustbild einer Dame der Gesellschaft in einem weißen Pelzcape, porträtiert von Klimt. Alma seufzte. Klimt hatte sie immer noch nicht gemalt, und das war zum Teil ihre eigene Schuld. Dabei würde sie sich so fesch auf einem Bild machen. Wenn sie das nächste Mal zu ihm ging, würde alles gut gehen, nahm sie sich vor. Allerdings würde es schwierig werden, ihn noch einmal allein in seinem Atelier aufzusuchen, denn ihre Mutter witterte etwas und war misstrauisch.
Sie blätterte weiter. Hinten im Heft wurde die neue Ausstellung der Secession angezeigt. Darüber wusste Alma ja schon bestens Bescheid. Eine Abbildung zeigte das Secessionsgebäude. Für Alma war es eines der schönsten Gebäude von Wien, weil es so klar und schlicht war. Aber jedes einzelne Dekorationsstück war von überwältigender Schönheit. Während der Bauphase waren die Wiener Arbeiter und Handwerker zu spät zur Arbeit gekommen, weil sie an der Baustelle stehen blieben, um zu schauen. So etwas hatten sie noch nicht gesehen: klare Linien, blendendes Weiß und Grün, keine Schnörkel, bis auf die bronzene Doppeltür und die sechs in Stein gehauenen Eulen in der Fassade. Und über allem die meterhohe Kugel aus Lorbeerzweigen, die sich golden auf dem Dach erhob und die die Wiener mit einem Kohlkopf verglichen. Alma beeindruckte das abfällige Gerede der Leute nicht. Sie besuchte jede Ausstellung mehrfach, und der Besucherandrang bewies, dass die Künstler der Secession absolute Könner waren.
Nachdem sie sich noch eine zweite Brioche genommen hatte, setzte sie sich ans Klavier. Eigentlich sollte sie eine besonders schwere Schumann-Etüde üben, was ihr Adele Radnitzky-Mandlick aufgegeben hatte, aber dann suchte sie die Fidelio-Noten heraus, und am Ende blieb sie doch wieder bei ihrem geliebten Wagner hängen. Ach, diese Musik war einfach erhebend, dramatisch, göttlich! Und sie passte so gut zu ihrer momentanen Stimmung. Wenn sie doch auch so etwas schaffen könnte!
Gretl platzte geräuschvoll ins Zimmer. »Jetzt langt es aber mal. Ich muss auch üben. Du hast das Klavier schon lange genug belegt«, rief sie wütend. Alma sah auf die Uhr, die neben dem Klavier an der Wand hing, es war tatsächlich schon drei Uhr nachmittags. Sie nahm die Hände aber nicht von der Tastatur und sah Gretl kühl an.
»Ich werde meinen Platz nicht räumen. Mir geht gerade etwas im Kopf herum, und das muss ich aufschreiben. Hör mal, es ist die Melodie zu einem Gedicht von Heine:
Nicht lange täuschte mich das Glück
Das du mir zugelogen.
Dein Bild ist wie ein falscher Traum
Mir durch das Herz gezogen.
Der Morgen kam, die Sonne schien,
Der Nebel ist zerronnen.
Geendigt hatten wir schon längst
Eh’ wir noch kaum begonnen.«
Die Melodie dazu war auf einmal in ihrem Kopf gewesen. So etwas passierte ihr häufig, wenn sie nur lange genug am Klavier sitzen blieb. Irgendwann stellten sich ihre eigenen Melodien ein, und dies waren die Momente, die ihr die liebsten waren und die sie herbeisehnte. Sie konnte jetzt nicht aufstehen, ohne sie einige Male gespielt und aufgeschrieben zu haben. Alma sang sich die ersten Zeilen des Liedes leise vor, bis ihre Schwester türenschlagend das Zimmer verließ. Am späten Nachmittag hatte sie die Komposition fertig. Sie ging damit zu Gretl, die in ihrem Zimmer auf dem Sofa lag und las.
»Deshalb musste ich am Klavier bleiben«, sagte sie und hielt ihr das Blatt hin. Dann sang sie ihr das kleine Lied vor.
Gretl ließ sich besänftigen. »Wo du nur immer die Texte herhast, die so auf deinen Zustand passen. An wen hast du denn dabei gedacht? Doch wohl an Klimt?«
Alma schlug mit dem Blatt nach ihr. Aber sie war froh, dass ihre Schwester wieder gut mit ihr war. Zumindest dachte sie das. Denn als die Klavierlehrerin am nächsten Tag zur Stunde zu Gretl kam, hörte sie durch die geschlossene Tür, wie ihre Schwester sich unter Tränen bitter beklagte. Als dann auch noch ihre Mutter mit ihr zankte, bei der Gretl sich über sie beschwert hatte, konnte auch Alma ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Einfach niemand verstand sie!
Einige Tage später bat ihre Mutter Alma und Margarethe, sich zu ihr zu setzen, sie habe ihnen etwas zu sagen. Sie hatte dabei diesen seltsamen Gesichtsausdruck, den Alma überhaupt nicht mochte, etwas zwischen überheblich und kleinmädchenhaft.
»Habt ihr nichts bemerkt? Ihr werdet in nicht allzu langer Zeit einen Bruder oder eine Schwester bekommen.« Bei diesen Worten strich sie sich über den Bauch, der sich tatsächlich leicht rundete. Mit einem aufmunternden Lächeln blickte sie ihre Töchter an, offensichtlich erwartete sie, dass Alma und Gretl sich mit ihr freuen würden.
Aber Alma freute sich nicht, ihr traten Tränen der Wut in die Augen. »Was sagst du da?« Sie starrte ihre Mutter mit offenem Mund an. Ihre Mutter war doch schon vierzig Jahre alt, viel zu alt, um ein Kind zu bekommen. »Du kriegst ein Kind von Moll?« Sie spie diese Worte geradezu aus. Sie wartete darauf, dass Gretl etwas sagte, aber sie zeigte wie üblich keine Reaktion. Gretl ließ immer alles über sich ergehen. Das machte Alma noch wütender. Wollte ihre Schwester denn nicht begreifen, was das bedeutete? Sie und Gretl würden keine Rolle mehr in der Familie spielen. Alle Liebe, alle Aufmerksamkeit würde auf dieses neue Kind gerichtet sein. Sie waren abgeschrieben, nun hatten sie auch keine Mutter mehr. Wollte sie sie loswerden? Freute sich ihre Mutter deswegen so über ihre zahlreichen Verehrer, weil sie hoffte, ihre Töchter möglichst schnell zu verheiraten, damit sie aus dem Haus wären, um mehr Zeit für das neue Baby zu haben? Alma bekam einen regelrechten Weinkrampf, sie konnte sich nicht wieder beruhigen.
Ihre Mutter stand auf und wies mit dem Finger zur Tür. »Geh mir aus den Augen«, sagte sie mit einer Stimme wie aus Glas.
In den folgenden Tagen war Alma nervös und schlechter Laune. Mehr als je zuvor sehnte sie sich nach Klimt. Aber ihre Mutter ließ sie nicht aus den Augen, sondern betraute sie mit lauter kleinen Aufgaben. In zwei Wochen würden sie für einige Zeit nach Italien reisen, und vorher gab es tausend Dinge zu erledigen, in erster Linie Anproben. Anna Sofie brauchte Schwangerschaftskleider, und sie bestand darauf, dass Alma und Gretl sie zu den Anproben begleiteten. Alma freute sich sehr auf die Reise, aber bevor sie für einige Wochen Wien den Rücken kehrte, musste sie wissen, was mit ihr und Klimt war.
Heute Abend würde sich vielleicht eine Gelegenheit ergeben. Hugo und Mie Henneberg wollten sie an diesem Abend auf eine Gesellschaft im Camera-Club, einer Vereinigung von Amateur-Fotografen, mitnehmen. Die Hennebergs waren Freunde der Familie. Hugo Henneberg war Fotograf und ein Förderer der Secession. Seine Frau Marie wurde von Alma und Gretl zärtlich Tante Mie genannt. Ach, warum konnte ihre Mutter nicht sein wie Tante Mie! Sie war so verständnisvoll, hatte immer ein offenes Ohr für sie und schenkte ihr Theaterkarten oder schöne Accessoires, die immer der neusten Mode entsprachen. Alma war selig, dass sie endlich für ein paar Stunden den Fängen ihrer Mutter entfliehen konnte, mit der sie den ganzen Nachmittag bei Wilhelm Jungmann und Neffe gegenüber der Hofoper Spitzen für einen Hut ausgesucht hatte.
Kaum hatte sie den festlich geschmückten Raum betreten, als sie Klimt entdeckte. Er stand im Kreis einiger Herren, stach aber durch seinen nachlässigen Aufzug deutlich heraus. Außerdem war er größer als die anderen.
Almas Herz schlug heftig.
»Entschuldige mich einen Augenblick«, sagte sie zu Tante Mie und ging kurz entschlossen auf ihn zu.
»Alma«, rief er laut, als er sie erblickte.
Sie setzten sich in eine Fensternische, die ihnen ein wenig Privatheit gab, Alma hatte so sehr auf eine Gelegenheit zur Aussprache gewartet, dass sie jede Vorsicht vergaß.
»Ich fahre bald nach Italien und werde einige Wochen fort sein«, begann sie. »Ich dachte nur, weil wir uns dann nicht sehen können.«
Klimt sah sie fragend an.
»Ich … ich wollte fragen, wie es um uns steht? Und was ist das eigentlich mit Ihrer Schwägerin?«, fragte sie. »Stimmt es, dass Sie ein Verhältnis haben?« Sie neigte den Kopf und sah ihn aus großen Augen an.
Klimt zog die Mundwinkel nach unten. »Soso, Sie denken ans Heiraten. Ich hatte geglaubt, dass Sie anders sind als die anderen jungen Mädel.«
Alma wurde rot und wusste nicht weiter. »Aber ich dachte … Ich weiß, dass ich Sie glücklich machen werde.«
Klimt sah sie mit unübersehbarem Spott an. »Ach du meine Güte. Weil ich Sie ein paarmal angesehen und Ihre Hand gehalten habe? Ein Kuss, und schon ist man verheiratet? Alma, ich hätte Sie nicht für so naiv gehalten. Was glauben Sie denn, wie viele Frauen mir Avancen machen? Ich will mich aber nicht binden. Ich bin Künstler. Ich werde niemals heiraten!«
»Aber ich habe geglaubt, Sie lieben mich!«, rief sie aus. Als sie sein amüsiertes Lächeln sah, wäre sie vor Scham am liebsten im Boden versunken. Wie hatte sie sich nur so in ihm täuschen können?
»Natürlich liebe ich Sie, ja, aber so, wie man ein schönes Bild liebt. Schließlich bin ich Künstler. Aber ich will Sie nicht mit in meinen Dreck hinunterziehen. Das verdienen Sie nicht. Und das würde Ihnen auch nicht liegen. Sie sollen glücklich werden, mit einem anderen, der kommen wird. Ich kann Ihnen nichts bieten.«
Almas Wangen glühten vor Empörung. Wie konnte er es wagen, so mit ihr zu reden? Erst machte er ihr Hoffnungen, und jetzt ließ er sie so kaltblütig fallen? Und was sollte das heißen, er könne ihr nichts bieten? Sie suchte nach einer scharfen Erwiderung, aber ihr fiel nichts ein. Ihre Lippen zitterten vor Wut und Enttäuschung, als sie aufstand und ohne ein Wort des Abschieds ging. Sie musste Tante Mie finden, keine Sekunde würde sie es hier länger aushalten.
In der Nacht, während sie sich schlaflos im Bett wälzte, bekam sie eine andere Sicht auf die Dinge. Klimt wollte ihr nicht schaden, weil er sie liebte. Wie hatte er gesagt? Er wollte sie nicht in seinen Dreck hinunterziehen, in dem er drohte zu ersticken. Dafür war ihm Alma zu schade. Je länger sie darüber nachdachte, je mehr kam sie zu dem Schluss, dass Klimt sie nicht heiraten wollte, um sie nicht unglücklich zu machen. Auch wenn das bedeutete, dass er sich selbst unglücklich machte, weil er auf ihre Liebe verzichtete.
So herum hörte sich das alles schon viel besser an. Alma schniefte und drehte sich auf die andere Seite. Jetzt würde sie erst mal nach Italien fahren. Pah! Dann würde Klimt schon merken, wie öde es ohne sie in Wien war. Hoffentlich.
***
Eine Woche später, Anfang März, fuhren sie los. Venedig, Florenz, Neapel und Pompeji, der Vesuv, Capri und schließlich Rom, dann wieder Florenz, Lucca, Venedig und die anderen Städte des Nordens; Michelangelo, Botticelli, Raffael, die Sixtinische Kapelle, eine Papstmesse …
Fast zwei Monate würden sie unterwegs sein und erst im Mai nach Wien zurückkehren. Carl Moll hatte ihnen eine klassische Bildungsreise versprochen. Alma hatte keine Ahnung, woher er das Geld dafür nahm, es war ihr auch egal. Sie freute sich einfach unbändig. Endlich kam sie mal aus Wien und Österreich heraus! Endlich konnte sie die Kunstschätze Italiens mit eigenen Augen sehen. Und dass Tante Mie und Onkel Hugo sich ihnen zeitweilig anschließen würden, machte ihr Glück perfekt.
Alma saugte Italien vom ersten Tag in sich auf. Sie fühlte sich auf den Spuren ihres geliebten Goethe, den sie immer bei sich trug. Mit Klimt hatte sie über den Faust gesprochen und konnte ihn inzwischen fast auswendig. Mit der Lektüre in der Tasche fühlte sie sich Klimt nahe, obwohl es ihr sogar zeitweise gelang, ihn über all den neuen Erfahrungen zu vergessen.
Manchmal wusste sie nicht, wohin sie zuerst schauen sollte. Schönheit und Perfektion an jeder Ecke. Wenn sie nicht in den Museen war, dann ließ sie sich von der Landschaft verzaubern. Sogar die Friedhöfe mit den alten Steinen und geharkten Wegen hatten ihren unbekannten, magischen Reiz. Und vor der Würde eines uralten Olivenbaums, in dessen ausgehöhltem Stamm drei Personen Platz hatten, kamen ihr die Tränen. Die Gärten der Villa Hadrian mit ihren ansteigenden Terrassen, den Hainen und Wasserbecken, den aufgereihten Zypressen und den noch intakten Mosaiken kamen ihr vor wie ein Märchenland. An einem Nachmittag, als sie hier spazierten, kam ein kräftiger Wind auf, und unzählige Samen der Pusteblumen, die hier zu Tausenden auf den Wiesen wuchsen, tanzten in Wolken um sie herum. »Sieh nur, die Elfen«, rief Gretl. Alma wusste genau, was sie meinte, als Elfen hatten sie die zarten Gebilde immer in Plankenberg bezeichnet und versucht, sie einzufangen. Es war einfach zauberhaft! Sie fühlte sich in eine glückliche Kindheit zurückversetzt. Solange sie in Rom waren, kam Alma so oft wie möglich hierher, bis sie jeden einzelnen der mit giftgrünem Moos durchsetzten Wege kannte.
Vor dem Schlafengehen saßen sie und Gretl in ihrem Zimmer beisammen, das so ganz anders war als ihr Zimmer in Wien. Der große Raum war auch tagsüber dämmrig, nur wenige Möbel standen hier, der alte Boden knarrte unter ihren Schritten, die Fensterläden waren wegen der Hitze geschlossen, es roch ein wenig muffig. Auf das riesige Bett gekuschelt, versuchten sie, die Erlebnisse des Tages, ihr Staunen, die Bewunderung, ihr Glück in Worte zu fassen und ihrem Tagebuch anzuvertrauen, aber oft quoll ihr Herz vor Begeisterung einfach über, und sie träumten vor sich hin. Italien, seine Landschaften und seine Menschen, würde für immer in Erinnerung bleiben. In ihrer Begeisterung für die absolute Schönheit der italienischen Kunst fanden die beiden Schwestern zueinander wie schon lange nicht mehr. Ihre Euphorie ließ sie zuweilen tänzeln wie junge Pferde.
Weil Alma ihr übervolles Herz irgendwo ausschütten musste, setzte sie sich ans Klavier, sobald sie die Möglichkeit dazu hatte. Nach einem wunderbaren verträumten Tag fielen ihr die Melodien, die ihre schwärmerische Stimmung und ihre Sehnsucht nach Klimt ausdrückten, einfach so zu. Sie schrieb in diesen Wochen viele Lieder, mit manchen wurde sie nicht ganz fertig, weil sie abreisen musste, aber sie hatte die Themen im Kopf. Nach ihrer Rückkehr nach Wien würde sie sie ausarbeiten. Darauf freute sie sich jetzt schon.
An diesem Tag wartete schon wieder eine neue Stadt darauf, entdeckt zu werden. Venedig! Alma und Gretl spazierten, versehen mit allerlei Ermahnungen ihrer Mutter, allein über die Plätze und bestaunten die Kanäle und die prunkvollen Palazzi. Anna war wegen ihrer fortschreitenden Schwangerschaft einfach auf der Terrasse ihres Hotels sitzen geblieben und wartete ungeduldig, bis sie zurück waren. Die Schwestern vermissten ihre strenge Mutter nicht, die jede ihrer Regungen, jedes Wort auf die Goldwaage legte. Sie erlaubten sich Blickkontakte mit feurigen Italienern, kauften giftgrüne Pistazieneiscreme bei einem Straßenhändler und wagten sich in Gassen, in die ihre Mutter mit Sicherheit nie einen Fuß gesetzt hätte.
Am Nachmittag standen sie auf der Seufzerbrücke. Unter ihnen fuhren die Gondeln hindurch. Als sie von zwei Herren eingeladen wurden mitzufahren, willigten sie ein.
»Lass das bloß Mama nicht wissen«, flüsterte Alma Gretl zu, als sie zum Wasser hinuntergingen.
»Spinnst du?«, fragte Gretl und nahm die Hand des einen Mannes, der ihr ins Boot half.
Die beiden Herren stellten sich als Brüder aus Deutschland vor, Oskar und Willi Schulz. Es wurde sehr fidel. Sie ließen sich durch die Kanäle fahren, tranken Champagner und kicherten. Als sie sich zwei Stunden später verabschiedeten, nannte Gretl ihnen den Namen des Hotels, in dem sie wohnten. Abends kam dann Oskar Schulz, ein Ingenieur, in ihr Hotel und bat um ein Gespräch mit Anna und Carl Moll. Alma wurde dazugerufen und musste erfahren, dass er in aller Form um ihre Hand angehalten hatte. Anna war fuchsteufelswild, und Gretl und Alma schworen Stein und Bein, dass sie ihm keinen Grund gegeben hatten, anzunehmen, dass Alma ihn heiraten würde.
Die beiden kicherten, als sie ins Bett gingen. Das war gerade noch mal gut gegangen! Und dann kam wieder eine dieser italienischen Nächte. Die Düfte, die durch das Fenster in ihr Zimmer strömten, die laue Nachtluft und die Sterne am samtblauen Himmel trugen Alma erst spät in ihre Träume davon. Sie war so von dem Zauber Italiens gefangen, dass sie sich gegen den Schlaf wehrte, und als er dann doch kam, fing sie an schlafzuwandeln, als könnte sie immer noch keine Ruhe finden. Carl Moll fand sie eines Nachts auf dem Flur und führte sie zurück in ihr Bett, und von da an mussten die Läden vor ihrem Fenster zu ihrem großen Verdruss geschlossen bleiben.
Am nächsten Tag ging es nach Florenz. Von den Künstlern, die in den Uffizien ausgestellt wurden, liebte sie Botticelli am meisten. An seiner Anbetung der Heiligen Drei Könige konnte sie sich nicht sattsehen. Vor einer Ruine standen etwa zwanzig Männer und beteten. Die Gestalt am rechten Bildrand, die sie mit einem merkwürdigen Ausdruck ansah, spöttisch und arrogant, zog ihren Blick auf sich.
»Das ist der Künstler selbst«, sagte ihr Stiefvater.