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Ein in all seiner Kürze emotional ergreifendes Werk Wiecherts:Eine alte Frau schildert ihren Töchtern den selbst erlebten Alltag in einem Konzentrationslager der Nationalsozialisten. Als ihren Erzählungen auch drei anwesende junge Soldaten lauschen, beginnt ein moralisch-bedrückendes Schauspiel...-
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Seitenzahl: 28
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Ernst Wiechert
Saga
Die Mutter
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1948, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726927603
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Zu beiden Seiten der Straße stand hoch und schwarz der Wald, und die Straße war wie eine mit Silber gefüllte Schlucht, weil der volle Mond über ihr hing. Auf dem Grunde der Schlucht ging die Frau. Sie war ganz verhüllt. Das schwarze Kopftuch, wie die Bäuerinnen es dort trugen, bedeckte ihr weißes Haar und fiel eng an den Wangen herunter, und das zweite, große Tuch reichte bis zu den dunklen Stoffschuhen, in die ihre Füße gekleidet waren. Sie ging gebückt, wie alte oder müde Menschen gehen, langsam und lautlos, und auch ihr schwarzer Schatten ging gebückt und lautlos hinter ihr her. Nur der Stock mit der Eisenzwinge, den sie bei jedem Schritt vor sich hinsetzte, stieß mitunter an einen Stein auf der Straße. »Tapp . . . tapp .. . tapp. . . » machte der Stock, und es hallte weit in der schweigenden Nacht und viel zu laut für die große Stille, die unter den Sternen hing.
Es war ein dunkles und fast unheimliches Bild, wie sie aus dem Grunde der Silberschlucht langsam auf das freie Feld hinausglitt. Der Schäfer, der über dem Zaun seiner Hürde lehnte, schlaflos, weil die Nächte nun so erschreckend still waren nach dem dröhnenden Feuerschein des Großen Krieges, bekreuzigte sich, und der amerikanische Soldat, der mit seinem Mädchen unter der blühenden Weißdornhecke saß, griff nach seiner Pistole. Aber das Mädchen hielt seine Hand fest. «Der Tod geht um», flüsterte es und erschauerte in dem Arm, in dem es lag.
Die Frau aber sah weder den Schäfer noch das Liebespaar. Unter dem tiefen Kopftuch suchten die grauen, wie blind erscheinenden Augen nach dem Vertrauten und seit mehr als fünf Jahren Verlorenen. Und das Vertraute waren nicht die Menschen sondern die Erde. Die Hekken um die Felder, von fließendem Silber gesäumt, das Wäldchen auf dem Hügel, wo ein Bild der Mutter Gottes stand, der weiße Nebel über dem Wiesental, wo die Tränke für die grauen Kühe lag. Und mitunter blieb sie stehen und sah sich rings in der Weite um, wie ein Mensch im Nebel, und einmal hob sie das graue Gesicht zu den Sternbildern auf und erschrak vor der strahlenden Vielfalt des Glanzes, der auf sie niederbrach.
Dann ging sie ohne anzuhalten weiter, bis sie vor dem Hoftor stand. Sie glitt mit ihren etwas zitternden Händen über das graue Holz und sah, daß es sich in den Angeln gesenkt hatte und daß Brennesseln um die schweren Pfosten wucherten. Sie dachte, daß das nicht zu sein brauchte, aber der Gedanke ging schnell wieder fort, wie alle ihre Gedanken nur mit Mühe zu halten und mit einem anderen Gedanken zu verbinden waren. Sie richtete sich auf und legte die Arme unter dem schwarzen Tuch auf das Tor. In den niedrigen Fenstern unter dem schwarzen Dach schimmerte noch Licht, und ein verwehter Stimmenklang ging mitunter über den Garten hin. Sie lauschte, aber sie konnte die Stimmen nicht erkennen oder unterscheiden. Sie war der Menschenstimmen fast völlig entwöhnt.