Die Nachbarin von gegenüber - Ellen Theis - E-Book

Die Nachbarin von gegenüber E-Book

Ellen Theis

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Beschreibung

Als Jasmin mit ihrem Freund in das Haus gegenüber einzieht, ahnt die Nachbarin Gesine, dass dies ein Fehler ist. Es erinnert sie an ihre Ehe mit Dietrich, die von Ohnmacht und Gewalt geprägt ist. Die Ahnung bestätigt sich, als Jasmin eines Tages verschwindet und niemand etwas darüber weiß. Zusammen mit Jasmins Großmutter geht Gesine jedem Hinweis nach, um das Rätsel des Verschwindens aufzuklären. Dass es der jungen Frau noch immer gut geht, will niemand der Seniorin glauben.

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Seitenzahl: 483

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Ellen Theis

Die Nachbarin von gegenüber

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

Epilog

Impressum neobooks

Prolog

Ellen Theis

Die Nachbarin von gegenüber

Ellen Theis

Die Nachbarin von gegenüber

Roman

Impressum

Texte: © 2020 Copyright by Ellen Theis

Umschlag: © 2020 Copyright by Ellen Theis

Verantwortlich

für den Inhalt: Ellen Theis

Wiener Straße 42

48145 Münster

[email protected]

Druck: neobooks – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Prolog

In den frühen Morgenstunden schob die junge Mutter mit der Holzkarre zu dem kleinen Verschlag hinüber, den sie bisher gemieden hatte. Der Tau auf dem Gras war zu Kristallen gefroren, die die Sonne schnell verschwinden ließ, wenn sie erst einmal über die Berge geklettert war. Das Erste, wonach ihre Mutter sie fragen würde, wenn sie aus dem Krankenhaus zurückkam, war der Gast. Ob sie in die Hütte geschaut hätte. Ein unangenehmer Geruch wehte ihr entgegen. Sie kannte ihn. Entschlossen zog sie an dem Holzgriff, die Tür schwang auf. Ein Schwall Luft quoll aus der Hütte, mit ihm nur wenige Fliegen. Sie wich hinter die Tür zurück. Es stank bestialisch. Mit einem Tuch um Mund und Nase betrat sie den kleinen Raum. Auf der Pritsche lag eine Gestalt, die vollständig bekleidet war. Durch das kleine Fenster auf der Rückseite fiel genug Licht hinein, um zu erkennen, dass die Gestalt ein Mann war. Er hatte einen grauen Bart, eine Brille und trug noch einen Hut auf dem Kopf. Warum er nicht aus der Hütte herausgekommen war, verstand sie nicht. Sie trat näher an die Pritsche und sah, dass der Mann nicht sehr groß und nicht sehr dick war. Insekten krabbelten über sein Gesicht in den Hemdkragen und die Kleidung. Die junge Mutter wandte ihren Blick zum Ende des Bettes. Der Mann hatte noch seine Schuhe an den Füßen. Sie musste ihn in die Karre zerren, um ihn vom Hof zu transportieren. Sie hoffte, dass die Kleidung nicht zerriss, wenn sie daran zog. Sie wollte ihn nicht anfassen müssen. Dann fiel ihr ein, wie ihr Onkel das Tuch zusammenraffte, auf das er sie die gesammelten Münzen hatte werfen lassen. Das konnte sie ausprobieren. Sie hob die Karre durch die Tür und stellte sie hinter der Pritsche ab. Dann zerrte sie die Zipfel der Decke an den Enden heraus und zog die unteren beiden über den Rand der Karre. Der Körper bewegte sich mit dem Laken, die Beine glitten über den Rand. Mit aller Kraft zerrte sie den Unterkörper in die Karre, dann hielt sie erschöpft inne. Eine gelbweiße Made wand sich aus einem Nasenloch hervor und fiel in den grauen Bart des Mannes. Sie erschrak und trat einen Schritt zurück. Kurz wandte sie sich zur Tür, versuchte, einen Hauch der kühlen Morgenluft einzuatmen. Sie musste es erledigt haben, bevor ihre Kinder aufgestanden waren. Sie sollten das nicht sehen. Sie drapierte ihr Tuch fest um Mund und Nase. Sie würde die oberen Zipfel anfassen und sie hinüberzerren, bis sie an die unteren heranreichten. Damit würde auch die obere Hälfte in die Karre rutschen. Einige Fliegen flogen auf, als sie an das obere Ende der schmalen Pritsche trat. Sie wedelte mit der Hand durch die Luft, was die Insekten kurz verscheuchte, nicht aber den Gestank. Sie wandte den Blick ab, um dem Mann nicht ins Gesicht zu schauen, als sie nach den oberen Zipfeln griff. Je näher sie an den Mann herankam, desto bestialischer stank es. Sie musste den Kopf zum Fenster heben, durch das ein Luftzug strich. Sie fühlte die Kühle auf ihrer Stirn. Mit angehaltenem Atem nahm sie die oberen Lakenenden und zog sie gerade über den Körper zum hinteren Ende der Pritsche, wo die Karre stand. Der Oberkörper hing im Laken und sie durfte nichts falsch machen, weil er sonst von der Holzbank rutschte. Aufheben wollte sie den Mann nicht. Konzentriert legte sie die Zipfel übereinander, wickelte sie um ihre Hände. Sie stemmte die Oberschenkel gegen den Rand der Karre und ruckte heftig das Laken zu sich. Wie von allein rutschte der Körper in die Karre und bog sich zu einem runden Häuflein. Schnell schlang sie die Enden des Lakens umeinander und knotete sie fest zusammen. Sie nahm die Karre auf und zog sie rückwärts zur schmalen Tür. Doch sie passte nicht hindurch. Ihr traten Tränen in die Augen. Wut und Verzweifelung machten sich in ihr breit. War es das, was ihre Brüder sich gedacht hatten? Wo war all das Geld, das sie für einen solchen Gast bekamen? Warum war dieser Mann nicht wie so viele andere einfach weggegangen? Warum hatte er auf der Pritsche gelegen und auf den Tod gewartet? Sie biss die Zähne zusammen und riss mit aller Gewalt die Karre nach hinten, so dass sich die Bretter rechts und links der Tür nach außen bogen. Sollte die Tür doch kaputt gehen, der Mann musste aus der Hütte verschwinden! Das Holz splitterte und die Karre rutschte aus dem Durchgang. Jetzt stand sie auf dem Hof. Sie stellte die Karre ab und wischte sich über die Stirn, wedelte ein paar Fliegen fort. Sie betete, dass die Hunde den Gestand vom verwesenden Fleisch nicht witterten. Es würde ausreichen, wenn sie den Kadaver später irgendwo ausgraben würden. Rasch hob sie die Karre wieder auf, überquerte den Hof. Der nasse Boden saugte sich am Rad fest, so dass sie alle Kraft brauchte, um vom Haus weg zu kommen. Hinter dem Gemüsegarten begann eine Wiese, in der ihre Füße zwar nass, aber das Schieben leichter wurde. Mit jedem Schlag des Körpers gegen die Karre stieg aus dem Laken eine Wolke von Gestank auf. Sie hob den Kopf, um die frische Luft zu atmen. Über die Wiese stieg das Gelände stetig an. Sie würde den Hang hinaufschieben und zwischen den aufsteigenden Felsen nach einer Kluft suchen, in die sie die Karre entleeren konnte. Der Schweiß rann ihr über den Körper, sie keuchte jetzt bei jedem Schritt. Sie würde es nicht bis zu den Felsen schaffen. Nach einigen weiteren Schritten lenkte sie die Karre zum Wald, der in gut hundert Metern begann. Es war einfacher, die Leiche unter dem Laub des Waldes zu verstecken. Die Wildschweine würden den Mann noch vor den Hunden finden.

Teil 1

Vielleicht sollte ich dieses Mal etwas sagen, dachte Gesine Kassen, als sie die Gardine zur Seite schob und durch den schmalen Spalt zwischen Fensterrahmen und Gardinensaum hindurchblickte. Auf der gegenüber­liegenden Seite der Straße ging ein junges Paar über den mit Unkraut überwucherten Plattenweg auf das Haus Nummer sieben zu. Sie hielten sich an den Händen und blieben kein einziges Mal stehen, bis sie die Haustür erreicht hatten. Ohne sich umzusehen, schlossen sie auf und gingen hinein. „Das geht nicht gut aus“, murmelte die Frau mit den zerzausten grauen Haaren und ließ die Gardine sinken. Sie wandte sich ab und setzte sich wieder in ihren Sessel. Statt den Stickrahmen aufzunehmen und die rote Mohnblüte zu vervollständigen, die die Tischdecke zieren würde, versank sie in Gedanken an den Tag vor fast 40 Jahren, an dem Dietrich und sie in ihr Haus in W. eingezogen waren, in dem sie noch immer lebte.

Es ist ein sonniger Tag im April, der Wind wirft die leichten Möbelstücke um, die die Umzugshelfer auf dem Gehsteig abgestellt haben. Gesine will ihnen helfen, aber Dietrich scheucht sie ins Haus. Sie soll darauf achten, dass jedes Möbel und jeder Karton in das richtige Zimmer getragen werden. So steht sie stundenlang im Flur und gibt Anweisungen: zweites Zimmer links, drittes Zimmer links, erstes Zimmer rechts. Hinterher stellt sich heraus, dass Gesine die Zimmer auf der linken Seite verwechselt hat: Das letzte Zimmer ist Dietrichs Hobbyraum, das mittlere das Schlafzimmer und das erste, gegenüber der Küche, der Hauswirtschaftsraum. Dietrich hat es das Bügelzimmer getauft, weil Gesine dort ihr Bügelbrett aufstellen kann. Nun stehen die Kartons mit der Modelleisenbahn neben dem neuen Heißwasserspeicher und die Waschmaschine in Dietrichs Hobbyraum. Zum Glück sind die Umzugshelfer noch nicht abgefahren, als Dietrich den Fehler entdeckt. Er rennt aus dem Haus und lässt die Männer wiederkommen. Sie schleppen die Waschmaschine über den Hausflur in das vordere Zimmer und platzieren sie neben dem Wasserhahn. Dietrich steckt ihnen einen extra Fünf-Mark-Schein zu und bedankt sich. Kaum ist der Umzugswagen weggerollt, stellt er Gesine zur Rede. Damals ist sein dunkelbraunes Haar noch voll und dicht, seine schmale Gestalt wirkt sehnig und trainiert. Seine grauen Augen werden immer dunkler, je mehr er sich Gesine gegenüber ereifert: Es sei doch so einfach, sich die Aufteilung der Zimmer zu merken, wieso sie dazu nicht in der Lage sei, eine so einfache Aufgabe richtig im Kopf zu behalten, ob es ihr immer Mühe mache, sich die einfachsten Dinge zu merken, gerade bei der Aufteilung der Räume habe sie doch mitsprechen dürfen …

Es ist der erste der unzähligen Monologe, der auf Gesine einströmt. Als junge Ehefrau sagt sie nichts, sie ist sich sogar ihrer Schuld bewusst. Sie hat auch nicht den Mut, ihn zu unterbrechen, weil Dietrich ja Recht hat. Auf die Idee, dass er aus seiner Sicht immer Recht hat, kommt sie nicht.

Mit einem Seufzen nahm Gesine ihre Stickarbeit auf und zog einen Faden leuchtendes Rot durch das Nadelöhr. Sie schaltete die Beleuchtung ihrer Lupe ein und widmete sich der Mohnblüte, setzte einen Stich neben den anderen und glättete den Faden mit dem Finger, während sie ihn strammzog. Als die Wanduhr aus dem gegenüber liegenden Wohnzimmer zur halben Stunde schlug, war der Mohn fast vollständig erblüht und Gesine beendete ihre Arbeit. Sie legte den Stoff in den Korb zurück, stand auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Auf der gegenüber­liegenden Seite rührte sich nichts, das Auto der jungen Leute parkte noch immer am Straßenrand. Sie waren wohl mit der Besichtigung ihres neuen Zuhauses noch nicht fertig. Gesine zog sich Schuhe und Mantel an und verließ kurz darauf ihr Haus. Ihr Ehrenamt war mehr als nur eine sinnvolle Beschäftigung.

„Hallo Gesine, schön, dass du da bist!“, rief Jutta über die Schulter und drehte sich in der Tür zum Verkaufsraum des Sozialen Kaufhauses noch einmal um. „Kannst du bitte die Säcke ausleeren? Das ist die Lieferung aus dem Container von letzter Woche!“ Sie zeigte in eine Ecke neben der Eingangstür und verschwand.

„Das musst du nicht, das mache ich schon“, wisperte eine Stimme neben Gesine. „Du willst bestimmt erst mal die Jacke ausziehen.“ Sie wandte sich der Stimme zu, die Gustav gehörte. Gustav war der einzige Mann in ihrer Kaufhaus-Truppe. So nannte der Pfarrer sie, wenn er einen Scherz machen wollte. „Du solltest das auch nicht schleppen, so ein Sack ist schwer“, sagte Gustav und hievte sich das Plastikungetüm auf die Schulter. Er wankte ein wenig, so dass Gesine automatisch den Arm ausstreckte, um Gustav zu stützen. „Du kannst mir am Kaffeetisch einen Platz neben dir freihalten“, schnaubte er, während er sich vornüber beugte und gebückt die wenigen Meter zum großen Tisch in der Mitte des Raumes schlurfte. Dort ließ er den Kleidersack auf die Tischplatte sinken und rollte ihn in die Mitte. Die Hände der Frauen griffen danach und zerrten Kleidungsstücke hervor.

Gesine verließ den Sortierrraum, um durch die Verkaufsräume des Kaufhauses zum Aufenthaltsraum zu kommen. Dort hängte sie ihre Jacke an die Garderobe, nahm die Mütze ab und warf einen Blick in den Spiegel, der neben der Garderobe an der Wand hing. Ihr graues Haar stand störrisch nach allen Seiten ab, obwohl sie es heute morgen sorgsam geföhnt hatte. Mit jeder Kopfbedeckung zerstörte sie ihre Frisur, aber so lange noch der kalte Märzwind wehte, würde sie nicht ohne Mütze aus dem Haus gehen. Sie zog einen Kamm aus der Tasche und fuhr sich durch das Haar, versuchte die Strähnen dorthin zu legen, wo sie sie haben wollte. Erst nach einer Weile war sie mit dem Ergebnis zufrieden. Sie kehrte zurück in den Sortierraum, in dem drei Frauen um einen großen Tisch herum standen und die Kleidungs­stücke aus dem Haufen wühlten, der sich beim Leeren der Plastiksäcke aufgetürmt hatte. Gesine grüßte in die Runde und stellte sich neben eine pummelige Frau in Jeans und Bluse, die einen hellblauen Pullover kritisch in die Höhe hielt. Sie kannte Doris schon lange.

„Ob der noch gut ist?“, fragte Doris und hielt Gesine den Pullover hin.

Sie griff danach und schaute prüfend auf die Vorderseite. „Da ist ein Fettfleck“, sagte sie und zeigte auf eine Stelle.

„Dachte ich's mir doch“, sagte Doris und warf den Pullover in einen Karton hinter sich. „Das werden viele Putzlappen dieses Mal.“

„Lohnt es sich nicht?“, fragte Gesine und griff nach einer weißen Bluse. „Die sieht doch gut aus!“, sagte sie und kontrollierte die Innenseite des Kragens. Dann griff sie nach den Ärmeln. „Auch keine abgestoßenen Kanten, keine Flecken. In Ordnung!“ Sie griff nach einem Kleiderbügel und hängte die Bluse auf eine Kleiderstange. Dann angelte sie sich die nächste aus dem Haufen. „Hedwigs Haus gegenüber ist verkauft worden“, sagte sie zu Doris und musterte kritisch die bunte Bluse, die sie in der Hand hielt. „An ein junges Paar.“

„Ach, wirklich? Ich dachte, das würden sie abreißen!“, meinte Doris. „Das ist doch meistens billiger als so einen Karton zu renovieren!“

„Nenn es nicht nicht Karton!“, widersprach Gesine heftig, „das heißt Bungalow!“ Sie hängte die bunte Bluse ebenfalls auf die Kleiderstange.

Doris grinste. „Ja, ja. Aber von weitem sehen sie aus wie Schuhkartons! Wann ziehen sie ein?“ Sie beugte sich über die Tischkante, um mit ihren kurzen Armen in die Mitte des Kleiderhaufens zu greifen und einen Teil der Sachen zu sich heranzuziehen.

„Das wird wohl eine Weile dauern“, sagte Gesine. „Die werden sicher renovieren müssen. Seit Hedwig vor fünf Jahren ins Heim gegangen ist, ist da nichts passiert.“

„Bist du sicher, dass das nicht eine der Töchter ist?“ Doris zupfte sich ihre hochgerutschte Bluse wieder zurecht. Dann griff sie energisch nach einem Ärmel, der vor ihr lag, und zog daran.

Gesine schüttelte den Kopf. „Nein, die Frau ist zu jung. Und die Töchter kommen nicht zurück. Sie haben es ja auch nicht geschafft, Hedwig regelmäßig zu besuchen. Die hat jedes Mal gejammert, wenn ich bei ihr im Altenheim war. Dass keins ihrer Kinder sie jemals besucht.“ Mit Schwung warf sie zwei Pullover gleichzeitig in den Karton für die Putzlappen.

„Was nicht stimmt“, widersprach Doris, „der Junge, der war öfter da.“

„Ach was“, widersprach Gesine, „der war auch nie da. Woher willst du das denn wissen?“

Doris zuckte die Schultern. „Das hat mein Sohn gesagt. Er kennt ihn aus dem Handballverein. Der spielt alte Herren.“

„Dein Sohn spielt alte Herren? Wie alt ist er denn?“ Gesine konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie hielt die nächste Bluse so hoch, dass Doris ihr Gesicht nicht sehen konnte.

„Nein, der Sohn von der Hedwig. Der spielt alte Herren. Mein Rainer spielt in der dritten Mannschaft.“ Der Stolz in Doris' Stimme war nicht zu überhören.

„Ihr Lieben, es gibt Kaffee und Kuchen!“, ertönte eine Stimme aus dem Verkaufsraum.

Mit Schwung beförderte Gesine die Bluse in den Putzlappen-Karton. „Wenn es Kaffee und Kuchen gibt, sollte man nicht bummeln“, sagte sie und stupste Doris in die Seite. „Komm mit.“

„Wir reißen die Wand ein und dann haben wir eine Wohnzimmer-Küchen-Lounge“, sagte Krystof Foreniak. Der junge Mann musterte die Wand kritisch und verschwand in der dahinter liegenden Küche. „Das geht, die Anschlüsse sind alle an der anderen Seite!“, rief er.

Jasmin Müller verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr war nicht klar, wie dieses Wohnzimmer aussehen würde, wenn es die Wand zur Küche nicht mehr gab. Sie blickte von dem bodentiefen Fenster des Wohnzimmers zur Wand und wieder zurück. Durch das Küchenfenster würde es auf jeden Fall noch mehr Licht im Wohnzimmer geben. Wobei das bei dem großen Fenster zur Terrasse gar nicht nötig war. „Wo ist eigentlich Süden?“, rief sie zurück und drehte ihren Oberkörper zum Fenster und wieder zurück.

„Na da!“ sagte Krystof, der neben sie getreten war. Er zeigte auf die Terrasse vor dem Wohnzimmer. „Terrassen zeigen doch immer nach Süden!“, behauptete er.

„Wirklich?“, sagte Jasmin zweifelnd, „bei meinen Eltern ist das nicht so. Da zeigt der Balkon nach Westen.“ Sie machte ein paar Schritte zum Bodenfenster, um in den Garten zu blicken.

„Südwesten“, verbesserte Krystof sie.

„Okay“, sagte Jasmin und musterte den verwilderten Garten. „Das sieht furchtbar aus!“, sagte sie. „Wie wir das schaffen sollen ...“

„Mach dir keine Sorgen!“ Krystof war ihr gefolgt und legte ihr den Arm um die Schultern. Er pustete zärtlich auf ihren Hals. „Mein Tato kann alles. Der hilft uns und Viktor ist auch noch da.“

Jasmin lehnte sich an ihren Freund und nickte. Wenn sie an die Familie von Krystof dachte, dann musste sie sich wirklich keine Sorgen machen. Bei ihnen war alles organisiert. Wenn Krystofs Vater mal den Überblick verlor, dann wusste seine Mutter Elsie was zu tun war. Leszek teilte die Arbeit zwischen sich und seinen Söhnen auf. Erst wenn Elsie zum Essen rief, ließen die Männer ihre Werkzeuge fallen und setzten sich an den üppig gedeckten Tisch. Ihre Familie hatte dagegen wenig zu bieten. Ihr Vater war kein Handwerker, er war Kaufmann. Im Großmarkt würde er allenfalls Haushaltsgegenstände besorgen können. Oder Lebensmittel. Jasmin zog ihr Mobiltelefon aus der hinteren Hosentasche und warf einen Blick auf die Uhrzeit. „Wir sollten so langsam nach Hause fahren“, sagte sie. „Es wird bald dunkel und wir haben hier noch keinen Strom.“

„Ab nächste Woche haben wir welchen“, versicherte Krystof, der sich noch immer an Jasmins Schulter festhielt. „Das hat Mama geregelt. Sie hat bei den Stadtwerken angerufen und sich erkundigt. Ohne Strom können wir hier gar nichts machen!“, sagte er, löste sich von Jasmin und schritt quer durch das Wohnzimmer in Richtung Küche.

„Zuerst einmal müssen die Möbel raus“, sagte Jasmin und sah sich um. Sie musterte die Sitzgarnitur mit Couchtisch und Stehlampe. „Das ist alles noch aus dem letzten Jahrhundert.“

„Das kommt alles raus“, bestätigte Krystof. Nun lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand zur Küche und beschrieb einen weiten Kreis mit seinem Arm. „Wir haben eine Mulde bestellt, da schmeißen wir das Zeug rein und dann ist es weg. Viktor bringt seine Kumpels mit. Du wirst sehen, ein Samstag und die Bude ist komplett leer. Und dann reißen wir die Wand raus!“ Er löste sich von der Wand und sah sie begeistert an. „Das wird eine tolle Wohnzimmer-Küchen-Lounge!”

Jasmin nickte. Sie drehte sich wieder zwischen Boden­fenster und Wand. Wenn die Wand nicht mehr da war, konnte sie von der Küche in den Garten schauen. Und vom Wohnzimmer aus würde sie auf die nächste Wand gucken können. Das war die zum vorderen Zimmer. Daraus könnte irgendwann einmal ein Kinderzimmer werden.

Gesine starrte auf die verschiedenen Stränge grüner Baumwolle. Grün war nicht gleich grün und nur die genaue Farbwahl ließ die Blumen auf der Decke täuschend echt aussehen. Sie hielt drei Stränge verschiedener Grüntöne in das Tageslicht, als ein lautes Scheppern sie zusammenzucken ließ. „Was um Gottes willen!“, rief sie aus und sah aus dem Fenster. Ein Lkw hatte eine Mulde vor Haus Nummer sieben abgesetzt und der Fahrer löste gerade die Ketten aus den Verankerungen. Es beginnt, dachte Gesine und rief sich das Paar in Erinnerung, das sie vor einigen Tagen zum ersten Mal gesehen hatte. Ihr wurde mulmig bei dem Gedanken an die jungen Leute, die so erwartungsvoll den Weg hinuntergegangen waren. Der Mann war größer als die Frau, er wirkte kräftig und sportlich. Auf jeden Fall hatte er breite Schultern gehabt, während die junge Frau schmal und schlank ausgesehen hatte. Ihr Haar hatte sie offen getragen, es hatte den halben Rücken bedeckt. Auch wenn sie die beiden nur von hinten gesehen hatte, hatten sie den Eindruck eines hübschen jungen Paares gemacht, das seine Zukunft in Augenschein nahm. Doch bei dem Gedanken an die junge Frau hatte Gesine erneut das ungute Gefühl, dass es keine schöne Zukunft werden würde. Eines Tages würde sie ihr Haar kurz tragen, mit nach vorn gezogenen Schultern umherhuschen und jede Bewegung schnell, schattenhaft und stumm ausführen, um nur nicht aufzufallen. Jetzt war sie noch das genaue Gegenteil, zog die Aufmerksamkeit ihrer Mitmenschen auf sich. Ihre Schritte schienen federleicht, sie hielt den Kopf aufrecht und hatte entschlossen gewirkt, als sie neben dem jungen Mann über den Plattenweg gegangen war. Gesine warf die mittleren Grüntöne zurück in ihren Korb, zog einen Faden vom hellen Mattgrün heraus und schnitt ihn energisch ab. Nach dem Einfädeln nahm sie ihren Stickrahmen zur Hand. Ein halbes Jahr würde es gut gehen, dachte sie, länger nicht. Vielleicht sollte sie sobald wie möglich Kontakt zu ihren neuen Nachbarn auf­nehmen, um Schlimmeres zu verhindern. Wenn es ihr gelang, ein gutes Verhältnis zu der jungen Frau aufzubauen, konnte sie vielleicht Einfluss nehmen. Sie warnen, dass sie in diesem Haus nicht ihr Glück finden würde. Dass es das falsche Haus war, der falsche Partner. Dass ihre eigene Ehe nicht gut verlaufen würde, hatte Gesine erst später erkannt. Doch da hatte sie nichts mehr dagegen unternehmen können. Vielleicht würde es der jungen Frau gelingen, die Dinge zu verändern. Doch dafür war es nötig, dass sie das Leben zu zweit aus der richtigen Perspektive betrachtete.

Die ersten zwei Jahre mit Dietrich sind schön. Da ist Vera noch nicht geboren, Gesine arbeitet halbe Tage als Kindergärtnerin und eilt mittags nach Hause, um den Haushalt zu besorgen und das Abendessen vorzubereiten. Am meisten liebt Dietrich es, wenn sie ihn nachmittags mit einem noch backofenwarmen Kuchen begrüßt. Dann riecht es im Haus intensiv nach Äpfeln, Zimt oder Vanille und aus der Küche strömt die noch warme Luft des Backofens in den Flur. Dietrich wünscht sich eine gute Tasse Kaffee, das ist sein Lieblingsspruch: Und dazu eine gute Tasse Kaffee. Natürlich hat Gesine schon alles vorbereitet, wenn er heimkommt. Sie muss nur noch auf den Knopf der Kaffeemaschine drücken und in wenigen Minuten gesellt sich das Aroma von Kaffee zum Kuchenduft. Zehn Minuten später sitzt Dietrich in seiner Freizeitkleidung am Esstisch im Wohnzimmer und lässt sich den noch warmen Kuchen auf der Zunge zergehen. Gesine begnügt sich oft mit einer Tasse Kaffee. Kuchen am Nachmittag lässt sich sofort auf der Waage ablesen, wenn es am selben Tag noch ein Abendessen gibt. Und das gehört natürlich zur festen Tagesstruktur. Überhaupt liebt Dietrich feste Strukturen, er kann ohne sie nicht leben. Jeden Tag klingelt der Wecker um sechs Uhr, um Punkt sieben verlässt Dietrich das Haus. Um sechzehn Uhr dreißig ist er zurück. Um sechzehn Uhr fünfund­vierzig sitzt er am Kaffeetisch. Abendessen gibt es um neunzehn Uhr, danach ist noch genug Zeit bis zu den Nachrichten, so dass Gesine das Geschirr gespült hat und die Küche aufgeräumt ist. Die Abende mit seiner Frau sind für Dietrich das Beste am Tag.

Mit der Geburt von Vera ist sämtliche Struktur dahin. Gesine schafft es nur noch selten, rechtzeitig einen Kuchen zu backen und die Kaffeemaschine vorzubereiten. Dietrich bleibt geduldig, wenigstens das erste halbe Jahr. Er verzichtet auf seinen Nachmittagskuchen und sagt nichts, wenn das Abendessen erst kurz vor den Nachrichten auf den Tisch kommt. Aber das Chaos zerrt an seinen Nerven. Irgendwann reißt ihm der Gedulds­faden. Anschließend hat er keinen mehr. Aber dann liegt Vera schon in ihrem Bett und schläft.

Zweifelnd beäugte Jasmin die Möbel im Wohnzimmer. Zuerst war sie von Raum zu Raum gelaufen und hatte versucht, sich vorzustellen, was Krystof ihr in den letzten Tagen vorgeschwärmt hatte. Im Schlafzimmer sollte es einen Kleiderschrank mit Spiegeltüren geben, der die lange Seite des Zimmers ausfüllte, so dass der Raum gleich doppelt so groß wirkte. Das Zimmer nach vorne raus sollte das Arbeitszimmer werden, dort würden sie den Schreibtisch mit Computer und Drucker aufstellen und für die Ordner ein Regal an die Wand anschrauben. Vielleicht noch ein kleines Sofa dazustellen und den jetzigen Fernseher mit dem Medienbord. Weder im Schlafzimmer noch im Arbeitszimmer hatte Jasmins Phantasie ausgereicht, um sich die fertigen Räume vorzustellen. Nun stand sie im Wohnzimmer, das mit seinen hässlichen Möbeln klein und dunkel wirkte. Wenn sie die Wand zur Küche entfernt hatten, wollte Krystof dort einen Tresen aufbauen, der auch als Esstisch diente. Zugleich würde er wie ein Raumteiler wirken. Damit wäre die Küche in den Wohnbereich integriert und doch abgetrennt. Krystof war von seiner Idee so überzeugt, dass er Jasmins Fragen zum Tresen und passenden Stühlen gar nicht hörte. Er war gleich zum Wohnzimmer über­gegangen. An der Wand konnten sie einen großen Bildschirm befestigen. Krystof hatte mit ausgestreckten Armen vor der dunkelbraunen Schrankwand gestanden, um ihr die Ausmaße des Fernsehers deutlich zu machen. Dann war er einige Schritte vorgetreten, hatte sich zwischen dem hässlichen Couchtisch und dem Sofa platziert und ein großes Viereck in die Luft gemalt. Dort würde die zukünftige Sitzlandschaft stehen. Von all dem sah Jasmin in ihrer Phantasie nichts. Vielmehr wirkte die Einrichtung im Sonnenschein noch furchtbarer als im trüben Nachmittagslicht vom vergangenen Samstag. Die Vorbesitzer hatten die uralten Möbel stehen lassen und nur die Schränke geleert. Vielleicht würde ihre Vorstellungs­kraft mitspielen, wenn die Räume erst einmal leer waren und sie nur Decke, Wände und Böden sah.

Jasmin ging zurück in das Zimmer zur Straße. Neben einem alten Kleiderschrank und einer Kommode war der Raum bereits leer. Wenn diese Möbel draußen waren, war das Zimmer perfekt für die Aufbewahrung von Material, Werkzeug und allen anderen Sachen. Hatte Krystof gesagt. Also würde sie dort anfangen. Sie schob die Ärmel ihres Sweatshirts nach oben und öffnete den Kleiderschrank. An der Stange baumelten leere Kleiderbügel, die Fächer waren leer. Es roch muffig und abgestanden. Jasmin musterte die Scharniere, mit denen die Türen befestigt waren. Ohne Werkzeug konnte sie allein gar nichts ausrichten. Die Werkzeugkiste stand in Leszeks Auto, mit dem waren er und Viktor noch unterwegs. Krystof war zum Supermarkt gefahren, um Getränke zu kaufen. Auch er würde erst später kommen. Dass sie unbedingt schon hatte anfangen wollen, bevor die Männer da waren, kam Jasmin jetzt dumm vor. Sie hätte es sich einfacher machen können. Doch bevor sie untätig herumstand, konnte sie Kleinigkeiten erledigen. Sie zog die Bretter aus den Schrankfächern des Kleiderschranks und lehnte sie an die Wand. Anschließend schlug sie mit der Faust gegen die Kleiderstange, die sofort aus ihrer Halterung sprang und mitsamt den Bügeln auf den Boden des Schranks krachte. Jasmin presste sich die Hände gegen die Ohren. Der Lärm schallte unheimlich durch das Haus. Sie nahm ihr Mobiltelefon aus der Hosentasche, rief die Musik-App auf und stellte das Gerät auf Lautsprecher. Als die ersten Töne ihrer Lieblingsmusik erklangen, atmete sie tief ein und wieder aus. Damit ließ beklemmende Gefühl im Bauch nach. Jasmin summte den Song leise mit und wandte sich der Kommode mit ihren sieben Schubladen zu. Eine nach der anderen zog sie heraus und drehte sie nach allen Seiten um, bevor sie sie auf den Boden stellte. Sie würde so gern noch ein Geheimnis entdecken.

„Hallo?! Jemand zu Hause?“, rief eine laute Stimme und Jasmin ließ von der Kommode ab, die sie gerade von der Wand hatte rücken wollen.

„Ich bin da!“, sagte Krystof und trat ins Zimmer.

Jasmin stellte das Mobiltelefon leiser und zeigte auf den Schrank. „Ohne Werkzeug geht das nicht.“

„Das machen wir gleich, wenn Tato da ist. Ich werde erst einmal die Getränkekisten aus dem Auto holen!” Krystof musterte die aufgestapelten Schubladen. „Willst du im Wohnzimmer weitermachen? Auch da die Bretter aus den Schränken nehmen und die Schubladen rausziehen? Das ist ein guter Anfang. Du kannst sie auch gleich in die Mulde werfen. Die steht ja draußen!” Er nickte anerkennend. Dann fiel sein Blick auf den Boden. „Hier müssen wir auf jeden Fall den Teppich rausreißen. Stattdessen kommt Laminat rein.“ Er ließ Jasmin in dem zukünftigen Arbeitszimmer stehen und ging aus dem Haus. Kurz darauf trabte sein jüngerer Bruder Viktor mit einer Werkzeugkiste und einer Kabeltrommel über den Flur. Ihm folgten zwei weitere junge Männer, jeder schleppte einen Koffer mit Elektrogeräten und eine Papiertüte aus dem Baumarkt. Anstatt die Sachen zu Jasmin in das vordere Zimmer zu stellen, verschwanden sie im Wohnzimmer.

„Die Haustür lassen wir auf!“, rief Leszek, der nach ihnen im Flur erschien. „Erst einmal müssen alle Möbel raus!“ Leszek trug einen Arbeitsoverall und derbe Schuhe. Trotz seiner grauen Haare wirkte er nicht alt. Jasmin wusste, dass er sich bei der Gartenarbeit über Leitern in die Bäume schwang, sich wegen eines verstopften Abflussrohres in Schränke zwängte und bis zum Umfallen arbeitete, um seiner Familie ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Leszek, von Krystof liebevoll Tato genannt, konnte einfach alles. Nun sah er zu Jasmin ins Zimmer und runzelte die Stirn. Sie hatte die Bretter aufgestapelt und hielt sie vor dem Bauch, um sie in die Mulde zu tragen. Energisch umklammerte sie ihr Paket und trat Leszek entgegen.

„Ah, das ist doch nichts für dich!“, sagte Leszek und nahm ihr die Bretter weg, um sie wieder an die Wand zu lehnen. „Elsie hat einen Korb mit Verpflegung ins Auto gestellt. Du kannst ihn in die Küche bringen. Vielleicht hast du ja auch schon Hunger?“, neckte er sie. „Elsie kommt am Nachmittag mit Kaffee und Kuchen hat sie gesagt.“

Schon während des zweiten gemeinsamen Gulasch-Essens hatte Leszek Jasmin vorgeschlagen, das umständliche „Sie” und „Herr Foreniak”, „Frau Foreniak” wegzulassen und stattdessen die Vornamen zu benutzen. Nachdem Jasmin einen kurzen Blick mit Krystof gewechselt hatte, hatte sie sich bedankt und zugestimmt. Leszek war aufgesprungen, hatte eine Flasche Schnaps aus dem Schrank geholt und allen ein kleines Glas eingeschenkt. Leszek hatte einen polnischen Trinkspruch aufgesagt, den Jasmin nicht verstanden hatte, und mit ihr angestoßen. Dann hatten alle ihren Schnaps ausgetrunken. Am Abend hatte Krystof ihr erklärt, dass sie nun zur Familie gehörte und sie zärtlich geküsst.

Jasmin zögerte kurz, entschied sich aber, Leszek nicht zu widersprechen. Es hatte wenig Sinn, ihn gegen sich aufzubringen. Wenn er erst einmal mit wichtigeren Dingen beschäftigt war, würde es ihm nicht auffallen, wenn auch sie alte Sachen hinaustrug. Sie lächelte Leszek an und lief zum Auto. Krystof kam ihr entgegen, in jeder Hand eine Getränkekiste. Jasmin hievte den Korb von der Rückbank. Wie sie Elsie kannte, hatte sie für alle Brote geschmiert, Kaffee gekocht und diverse Schokoladen-riegel eingepackt. Als Jasmin ins Haus zurückkam, wurde in allen Räumen geredet und gelacht. Jetzt fühlte sich gar nichts mehr komisch an.

„Ja, da drüben geht es richtig zur Sache“, sagte Gesine und spähte durch die Gardine. Sie hielt den Telefonhörer ans Ohr gepresst und versuchte die jungen Männer auseinanderzuhalten, die immer wieder aus Hedwigs Haus herauskamen und hineinliefen. Ein Möbelstück nach dem anderen verschwand in dem Container. „Sie räumen das Haus aus, das ist ja verkauft“, ergänzte sie und betrachtete zwei junge Männer, die ein Sofa nach draußen schleppten und über den Rand der Mulde kippten.

„Was hast du gesagt? Um drei?“ Gesine drehte den Kopf und blickte auf die kleine mechanische Uhr, die auf der hohen Kommode stand. „Aber wir öffnen samstags doch schon um drei!“, wandte sie ein. „Soll ich da nicht doch früher kommen?“ Sie lauschte. „Ach so, ich bleibe dann länger und räume hinterher mit auf,“ sagte sie, „das ist mir eigentlich egal. An wen das Haus verkauft ist?“ Sie blickte wieder durch die Gardine und musterte die junge Frau, die nun mit Polstern beladen auf die Mulde zulief. Heute hatte sie ihr langes Haar hochgebunden und die Ärmel aufgekrempelt. „Ich habe keine Ahnung, wie die heißen“, sagte sie. „Aber ich würde das auch gerne wissen.“ Sie verfolgte, wie die junge Frau die Polster auf den Boden stellte und eines nach dem anderen in die Mulde schleuderte. Offenbar machte es ihr einen Heidenspaß, denn sie strahlte geradezu. Dann tauchte hinter ihr ein junger Mann auf, der einen Sessel umgekehrt auf dem Kopf balancierte. Als er sich wegdrehte, um die Rückenlehne auf der Kante der Mulde abzustellen, sprang die Frau ihm zur Seite und gemeinsam kippten sie den Sessel in den großen Container. Anschließend lagen sie sich in den Armen und hielten einander fest.

Gesine verzog das Gesicht. „Ja, Jutta, da hast du Recht, wer immer das Haus gekauft hat, es bleibt nicht lange ein Geheimnis.“ Sie nickte bei ihren Worten. Jutta bekam ihre Informationen von ihrer Schwester, die bei der Stadt arbeitete. Die wusste alles über Geburten, Todesfälle und Meldeadressen. Und natürlich Eheschließungen, Grundbucheinträge und Trennungsvermerke. Wenn Juttas Schwester ihren Computer befragte, gab es rasch eine Antwort. Doch das waren nur die Fakten. Die Geschichten hinter den Fakten kannte der Computer nicht. Die wussten Nachbarn, Verwandte oder gute Freunde, wobei jeder seine eigene Version erzählte, die umso näher an der Wahrheit war, wenn eine der betroffenen Personen sie ins Vertrauen gezogen hatte. Zwischen den Fakten und den tatsächlichen Ereignissen konnten sich jedoch auch unendliche Weiten mit diversen schwarzen Löchern entwickeln.

Gesine erzählt niemandem von Dietrichs Ausbrüchen. Obwohl sie schon am Nachmittag weiß, wie der Abend verlaufen wird, schafft sie nicht, irgendetwas zu ändern. Sie kann den Verlauf nicht aufhalten. Nie. Wenn Vera ihren Mittagsschlaf zu früh beendet, ist sie den Rest des Tages quengelig und laut. Vor allem abends ist es an solchen Tagen schwierig, sie ins Bett zu bringen und zum Schlafen zu animieren. Wenn sie weiß, dass Dietrich nebenan im Wohnzimmer in seinem Sessel sitzt und nur darauf wartet, dass sie hereinkommt, kann sie das Kind erst recht nicht beruhigen. Vermutlich überträgt sie ihre innere Unruhe auf Vera, die ihre Decke jedes Mal abstrampelt und ihren Schnuller ausspuckt. Gesine muss sich sehr anstrengen, das Schlaflied pausenlos von Anfang bis Ende zu singen, den Schnuller immer wieder in das kleine Mündchen zu stopfen und im Ton liebevoll zu bleiben. Sie wartet auf den Moment, in dem Vera die Augen schließt und ein oder zwei tiefe Atemzüge macht. Dann singt sie etwas leiser, zieht die Decke über den kleinen Körper, steht vorsichtig auf und geht rückwärts noch immer leise singend aus dem Zimmer. Erst, wenn die Türklinke von außen einrastet, hört sie auf zu singen. Sie bleibt noch einige Sekunden vor der Tür stehen und lauscht. Manchmal verfällt Vera schon beim Einrasten der Türklinke in ein lautes Brüllen, manchmal erst einige Sekunden später. Gesine hat lange überlegt, warum das Kind wieder aufgewacht sein könnte, hat aber nie einen Grund herausgefunden. In diesen Sekunden, in denen sie still vor der Tür des Kinderzimmers steht, spürt sie immer schon Dietrichs Blicke in ihrem Rücken. Er sitzt im gegenüberliegenden Wohnzimmer, die Tür ist geschlossen, damit der laufende Fernseher nicht das Gute-Nacht-Ritual für Vera zerstört. Und obwohl Dietrich sich die Nachrichten oder einen Film ansieht, weiß Gesine, dass er eigentlich nur auf sie wartet. Die Stunden am Abend sind die, die er allein mit seiner Frau verbringen kann. Also hat sie zu erscheinen, wenn das Kind schläft.

Gesine hat mehrfach versucht, nach dem Einschlafen des Kindes in die Küche statt ins Wohnzimmer zu gehen. Aber Dietrich merkt es und folgt ihr in die Küche, schließt die Tür zum Flur und faucht sie an, was ihr einfällt, ihn allein zu lassen. Auch wenn Gesine schon mit beiden Händen im Abwaschbecken steckt und Geschirr abspült, erklärt Dietrich ihr lang und breit, was es ihm bedeutet, den Abend mit seiner Frau zu verbringen. Dabei wird er nicht laut, sondern immer leiser und seine Stimme geht in ein Zischen über, das Gesine Gänsehaut verursacht. Er kommt ihrem Gesicht immer näher, sie spürt die Wärme, die von seinem Körper ausgeht und dann fliegen die ersten Speicheltröpfchen in ihr Gesicht. Dietrich hört nicht auf, seinen Vortrag zu halten. Über die Pflichten einer Ehefrau, über die harte Arbeit, die er jeden Tag im Büro leistet, um seine Familie zu ernähren, dass er dafür mehr verdient hat als nur ein warmes Abendessen. Gesine hört ihm nie richtig zu. Die Hitze seiner Wut springt auf sie über, ihr treten die ersten Schweißtropfen auf die Stirn, sie schwitzt. Dabei hat sie das Gefühl zu schrumpfen, immer kleiner zu werden, was daran liegt, dass Dietrich sie in die Ecke zwischen Kühlschrank und Arbeitsfläche drückt. Je fester er sie gegen Seitenwand und Arbeitsplatte drückt, desto deutlicher spürt sie den Hängeschrank über ihrem Kopf. Wenn er herunterfällt, ist es vorbei. Ihre Versuche, sich am Spülbecken festzuhalten, Dietrich einen gespülten Teller entgegenzustrecken oder genug Kraft gegen seinen Körper aufzubringen, reichen nicht aus. Dietrich ignoriert es, presst sich gegen sie und schiebt ihren Körper in diese Ecke. Sie kann nichts anderes als ihn ansehen. Seine graue Augen blitzen zornig, werden immer dunkler und mit jedem seiner Worte schleudert er ihr seinen heißen und feuchten Atem ins Gesicht. Sein Kopf ist feuerrot, die vollen Haare fallen ihm in die Stirn und er hält keinen Millimeter Abstand. Anfangs umklammert er mit seinen Händen ihre Schultern und schiebt sie nach hinten, bis sie in der Ecke festklemmt. Dann rutschen seine Hände hinauf zu ihrem Hals. Selten drückt er richtig fest zu. Wenn Gesine vor Angst die Augen schließt, rückt er von ihr ab und nimmt die Hände herunter. Es dauert lange, bis Gesine die Angst zulässt, die Augen verschließt und nichts mehr sehen will. Danach geht Dietrich zur Tagesordnung über, wendet sich ab. Gesine sieht nur noch seinen Rücken, hört das Murmeln einer Entschuldigung und schon ist er verschwunden. Manchmal greift er aber auch zum Geschirrtuch und trocknet das gespülte Geschirr ab. Die Töpfe und Teller räumt er in den Schrank und wischt über den Herd. Erst dann lässt er sie allein. Erst dann kann sie befreit atmen und sich bewegen. Gesine weiß nie, wie es endet.

„Ja, das ist in Ordnung. Ich bleibe bis zum Schluss“, sagte Gesine in den Telefonhörer, nachdem sie Jutta längere Zeit zugehört hatte. Die Kollegin klagte gern über die Organisation der Ehrenamtlichen für die Öffnungszeiten des Kaufhauses, die Langsamkeit der Verwaltung, das Abstürzen des Computerprogramms für die Anmeldung der Einnahmen. Immer wieder schlug Jutta dem Pfarrer eine neue Idee vor, um ihre Arbeit effizienter zu gestalten. Er war nur schwer von Neuerungen zu überzeugen. Gesine hatte sich an Juttas alltägliche Klagen gewöhnt. Eigentlich machte Jutta ihre Arbeit gern und war stolz auf das Team der Ehrenamtlichen. Und auf den Pfarrer. Aber sagen würde sie das nie. „Wir sehen uns dann“, schloss Gesine das Gespräch und legte auf. Gegenüber in Nummer sieben stand die Haustür noch immer offen, aber es passierte gerade nichts.

„Und wenn wir diese Wand rausreißen“, sagte Krystof und klopfte gegen die Mauer zur Küche, „dann haben wir viel mehr Platz.“

Leszek wiegte den Kopf hin und her, als würde er zum ersten Mal von der Idee hören. Tatsächlich hatte Krystof diesen Wunsch schon mehrfach seinem Vater vorgetragen und seine Meinung hören wollen. Doch Leszek hatte ihn immer vertröstet. Ohne die Wand gesehen zu haben, wollte er keine Meinung dazu abgeben.

Jasmin trat zu den Männern, die nebeneinander in einer Reihe standen und die Wand begutachteten. Das Tageslicht ließ den Schmutz an den kahlen Wänden deutlich hervortreten. Wo vorher die Schrankwand gestanden hatte, hingen jetzt lange Spinnweben herunter, in denen sich Staubflocken gesammelt hatten. An der Wand, die von allen angestarrt wurde, waren die Schmutzränder einiger Vierecke zu erkennen. In den Vierecken war die Tapete deutlich heller als an der übrigen Wand.

Jasmin stellte sich neben Krystof, der den Arm um ihre Schultern legte. Sie hatte keine Ahnung von Renovierungsarbeiten, lediglich beim Tapezieren hatte sie ihrem Opa mal geholfen. Aber sie vertraute auf die handwerklichen Fähigkeiten von Krystof, seinem Vater und seinem Bruder Viktor. Der hatte gerade eine Ausbildung als Kraftfahrzeugmechatroniker begonnen und war sehr begabt, wenn es um alle möglichen Reparaturen ging. Einer seiner Freunde lernte Elektriker und kümmerte sich um die Steckdosen. Es fühlte sich gut an, wenn man sich keine Sorgen machen musste. Irgendwie würden sie alles schaffen. Sie lehnte ihren Kopf an Krystofs Schulter, der begeistert von seiner Theke sprach. Leszek hielt seinem Sohn einen großen Hammer entgegen. „Dann mach erst mal die Wand weg!“, sagte er und grinste.

Krystof ließ Jasmin los und griff nach dem schweren Werkzeug. Er sah seinen Vater unsicher an, aber der lächelte noch immer. Wie die jungen Männer verschränkte er die Arme vor der Brust und machte eine aufmunternde Kopfbewegung. Alle standen da und warteten. Jasmin beäugte Krystof mit gemischten Gefühlen. Wenn er ein Loch in die Wand schlug, dann war das tatsächlich der Anfang ihrer gemeinsamen Zukunft. Sie beobachtete, wie er den Stiel des schweren Hammers fester umfasste und ihn nach hinten schwenkte, um ihn dann gegen die Wand fallen zu lassen. Ein dumpfes Geräusch ertönte. Alle starrten gebannt auf die Stelle, an der der Hammer aufgeprallt war. Lediglich der viereckige Abdruck des Hammerkopfes zeichnete sich leicht auf der Tapete ab. Die jungen Männer brachen in lautes Gelächter aus, was Krystof dazu animierte, den Stiel fest zu packen und erneut auf den Fleck an der Wand einzuschlagen. Wieder und wieder ließ er den Metallkopf gegen die Mauer sausen, was jedes Mal mit einem dumpfen Geräusch belohnt wurde. Erst nach einer Weile platzte der Putz ab, die Mauer wurde sichtbar und es gelang ihm, einen Ziegelstein zu zerstören. Krystof hielt inne, atmete schwer und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Beobachter applaudierten jetzt heftig und johlten, als hätte Krystof gerade die gesamte Wand niedergerissen.

Eine Stunde später kehrte Jasmin die Steine und den Putz zusammen. Sie wischte sich unablässig durch das Gesicht, weil der Staub ihr die Tränen in die Augen trieb. Es roch wie in einem alten Keller und sie musste husten.

„Du musst ein Tuch über das Gesicht ziehen“, sagte Leszek und hielt ihr ein Geschirrtuch entgegen. „Das machst du vielleicht so.“ Er hielt sich das Tuch vor Nase und Mund und versuchte die Enden hinter dem Kopf zu verknoten.

„Du kannst doch nicht Elsies gutes Geschirrtuch nehmen!“, protestierte Jasmin, „dafür ist das nicht da!“

„Och, ist für vieles da“, sagte Leszek, nahm es wieder herunter, so dass sie sein Lächeln sehen konnte. „Kannst du ruhig nehmen“, sagte er und drückte es Jasmin in die Hand. Dann wandte er sich um und verschwand wieder im Keller, aus dem Krystof und die Jungen neben diversen Kartons noch alte Regale und eine Esszimmereinrichtung herausholten.

Jasmin bedachte das Geschirrtuch mit einem zweifelnden Blick und knotete es sich hinter dem Kopf zusammen. Der Duft von Weichspüler und Bügeleisen gefiel ihr. Sie kehrte den Schutt zusammen und füllte ihn in die Eimer, die man ihr hingestellt hatte. Immer, wenn einer der anderen bei ihr vorbeikam, nahm er einen vollen Eimer mit und brachte ihn ihr leer zurück. Jasmin hatte das Gefühl, dass sie schon bald einziehen könnten, wenn es in diesem Tempo weiterging.

Gesine konnte es nicht lassen, die Straßenseite zu wechseln, als sie um halb drei aus dem Haus trat, um ihren Samstagsdienst im Sozialen Kaufhaus anzutreten. Sie wollte wenigstens einen Blick in den abgestellten Container werfen und, wenn sie Glück hatte, einen der jungen Leute ansprechen, die in den letzten Stunden so emsig hin und her gelaufen waren. Sie ging an der Ladekante der Mulde entlang und blieb kurz stehen, um einen Blick hineinzuwerfen. Da lag die Einrichtung eines langen Lebens: Stühle, Sessel, Tisch, Bretter, Schranktüren. Über und über mit Steinbrocken und Mörtel übersät. Auf manchen der Sitzmöbel hatte sie selbst des öfteren gesessen. Gesine seufzte. Ob Vera das später mit der Einrichtung ihres Hauses genauso machen würde? Einfach alles wegwerfen? Wenn sie darüber nachdachte, war ihr die Entsorgung im Container viel lieber als dass die Dinge im Sozialen Kaufhaus landeten. Bei den Möbeln, die manchmal ungefragt vor der Eingangstür des Kaufhauses abgestellt wurden, musste man automatisch an den Sperrmüll denken. Das gleiche galt auch für die Kleiderspenden, die abgegeben wurden. Es gab Leute, die hatten keinen Respekt für die Arbeit, die das Soziale Kaufhaus leistete. Gesine riss sich von dem Anblick der alten Möbel los. Sie konnte nicht noch länger hier herumstehen. Keiner der jungen Leute war heraus­gekommen. Also war dies keine Gelegenheit, die neuen Nachbarn kennenzulernen. Sie wandte sich um und lief in Richtung Hauptstraße. Von dort brauchte sie noch gute zehn Minuten, um zum Kaufhaus zu gelangen. Zu früh kommen konnte man immer.

„Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der Herr allein gibt, dass er fortgehe“, zitierte der Pfarrer, der an den Tisch im Aufenthaltsraum getreten war. Samstags besuchte er seine Ehrenamtlichen, die für ihn das Herz im sozialen Engagement seiner Kirchengemeinde ausmachten. „Sind denn alle zufrieden heute?“, fragte er und blickte in die Runde, die sich mit Keksen und Kaffee auf den bevorstehenden Nachmittag vorbereitete. Ein undeutliches Gemurmel erhob sich als Antwort auf seine Frage. „Dann wünschen wir uns, dass alle, die heute hierherkommen, das finden, was sie suchen“, sagte der Pfarrer und lächelte wieder.

„Und brauchen“, ergänzte Gustav, der sich stets über jene wunderte, die immer wieder auftauchten und Mengen von Geschirr und Kleidung kauften, was man seiner Meinung nach niemals alles brauchen konnte.

„Und brauchen“, ergänzte der Pfarrer. „Schön, dass Sie frei von Sorgen und Kummer an diesem heutigen Nachmittag für die Gemeinde zur Verfügung stehen ...“, sagte er und wartete einige Sekunden, bevor er fortfuhr. „Am übernächsten Donnerstag haben wir einen Vortrag in der Frauenhilfe über häusliche Gewalt“, sagte er. „Die Leiterin einer Einrichtung kommt zu uns und berichtet über dieses Phänomen in unserer Gesellschaft. Ich kann Ihnen diesen Vortrag sehr ans Herz legen, ein bestimmt sehr interessantes Thema.“

„So was tut doch keiner“, murmelte Doris, die neben Gesine saß und ihre Kaffeetasse so weit vor die Lippen gehoben hatte, dass man die Bewegungen ihres Mundes nicht sehen konnte.

Die meisten Frauen aus dem Team des Sozialen Kaufhauses besuchten die Treffen der Frauenhilfe. Jedes Mal begann der Nachmittag mit einem Referat über ein aktuelles Ereignis oder ein allgemeines Thema, denn als Hirte seiner Schafe, wie der Pfarrer zu sagen pflegte, fühlte er sich für die Frauen verantwortlich. Im Anschluss daran blieb bei Kaffee und Kuchen viel Zeit, um das Gehörte zu besprechen oder sich um den wirklich interessanten Tratsch zu kümmern.

Gesine sah ihre Freundin an und runzelte die Stirn. Offenbar war Doris bei diesem Thema ein sehr dummes Schaf. Was sie sich wohl unter häuslicher Gewalt vorstellte? Aber Gesine würde sie nicht fragen. Die Vorträge in der Frauenhilfe wurden immer interessant, wenn jemand Fragen stellte oder es gegensätzliche Meinungen in der Runde gab. Beim Thema Gewalt war damit nicht zu rechnen, denn die meisten in ihrer Runde dachten bestimmt wie Doris. Und Gesine wäre die letzte, die sich dazu äußern würde. Vertreter kirchlicher Einrichtungen verbanden ihre Referate häufig mit dem Wunsch nach Spenden oder ehrenamtlicher Arbeit. Ob es die in einem Frauenhaus auch gab? Gesine konnte es sich nicht vorstellen.

„Es ist fast drei“, sagte Jutta und erhob sich.

Der Pfarrer blickte ebenfalls auf die Uhr an der Wand und lächelte. „Ich danke Ihnen für Ihre aufopferungsvolle Arbeit“, sagte er und stellte seine Kaffeetasse auf den Tisch. „Vielleicht sehen wir uns ja morgen im Gottesdienst.“ Dann nickte er noch einmal freundlich und verließ den Raum.

„Tür aufsperren!“, kommandierte Jutta und verließ den Aufenthaltsraum in Richtung Eingangstür. Gesine folgte Doris in die Abteilung für Bekleidung. Nicht nur, dass sie die Kleidersäcke ausleerten und entschieden, was verkäuflich war und was nicht. Auch die Frage, wer die Kleidung kaufte, war immer interessant. Darüber hinaus warf Gesine gerne einen zweiten Blick auf die Auswahl, bevor die Kundinnen alles durcheinanderbrachten. Sie ging am Ständer mit den Blusen vorüber und betrachtete einige. Ihr fehlte noch eine farbige Bluse mit kurzen Ärmeln, die sich gut zu einer dunklen Hose tragen ließ.

Nach der ersten halben Stunde, in der es den üblichen Ansturm gegeben hatte, erschien Gustav zwischen den Drehständern. „Habt ihr schon gesehen, wer gekommen ist?“, rief er und bahnte sich einen Weg.

„Wer?“, fragte Gesine, nachdem sie einige T-Shirts unter dem Drehständer mit der Frühjahrskollektion hervor­gezogen hatte. Sie stöhnte leicht, als sie das Ziehen in ihrem Rücken bemerkte.

„Geht es dir nicht gut?“, fragte Gustav besorgt. „Soll ich dir Pferdesalbe mitbringen? Ich hab noch welche übrig von ...“

„Wer ist gekommen?“, mischte sich Doris ein, die mit einigen Hosen über dem Arm zu ihnen trat.

„Presse!“, raunte Gustav und senkte seine Stimme ein wenig. „Steht vorne im Verkaufsraum und will einen Bericht über uns machen. Mit Kamera!“

„Kamera!?“ Doris riss die Augen auf. „Das hätten sie einem aber doch vorher sagen sollen!“, rief sie und legte die Hosen über den Drehständer neben sich. Sie griff sich mit beiden Händen ins Haar, strich es sich aus dem Gesicht und schob einzelne Strähnen vor und zurück.

„Du siehst gut aus“, sagte Gesine, die bei dem Gedanken an ihre störrischen Fransen unruhig wurde.

„Wir können in den Sortierraum gehen“, bot Gustav großzügig an, „dann kommt ihr nicht mit aufs Bild.“

„Was wollen sie denn?“, fragte Gesine.

„Da waren doch neulich die aufgebrochenen Container. Auf dem Recyclinghof.“, sagte Gustav. „Ich habe gehört, wie sie zu Jutta gesagt haben, dass sie eine Geschichte darüber machen wollen. Sie wollen den Leuten zeigen, wo diese Kleider hinkommen, wenn sie sie in den Container werfen.“

„Auf jeden Fall nicht nach Afrika“, sagte Doris und zog an ihrem Pullover.

„Sehr interessant“, meinte Gesine und blickte zum Durchgang, der in den Hauptverkaufsraum führte. „Warum kommen die denn dann nicht einmal zum Sortieren? Dann können wir zeigen, wie viele von den Spenden Müll sind und wie wenige wir überhaupt verkaufen.“

„Pscht!“, machte Gustav und deutete nach vorn. „Das hört man doch, wenn du so laut sprichst.“

„Na und?“, fragte Gesine und griff nach den Hosen, die Doris über den Ständer geworfen hatte, wo sie nicht hingehörten. „Ich lege die mal wieder weg.“ Sie ließ Gustav und Doris stehen, die neben den Verkaufsständern verharrten und erwartungsvoll auf den Durchgang blickten. Gesine trat vor die Regalwand mit den Hosen, faltete die mitgebrachten auf und legte sie in die Fächer zurück, in die sie gehörten. Um die Zeit zu überbrücken, kontrollierte sie, ob sich auch die anderen Hosen im richtigen Regalfach befanden. Hinter ihrem Rücken hörte sie, wie Menschen in den Raum traten, Kleiderbügel klirrten und leise gesprochen wurde. Dann ertönte die klare Stimme eines Mannes, der laut über Kleidercontainer und Spenden redete.

„Alles aussortierte Kleidungsstücke, zu klein geworden, zu groß. Aber nicht zu alt, oder etwa doch?“ Es entstand eine Pause von einigen Sekunden.

Dann war Doris zaghafte Stimme zu hören: „Nein, das nicht.“

„Sie sind als Ehrenamtliche in diesem Bereich tätig. Wie lange schon?“

„Oh, einige Jahre. Ich glaube, es sind fast zehn.“ Doris Stimme klang jetzt schon ein wenig fester.

„Und Sie?“

„Drei oder vier.“

Gesine erkannte Gustavs Stimme, die weder entschlossen noch begeistert klang.

„Und auch für die Bekleidung zuständig?! Ich meine, so als Mann braucht man ja auch mal einen guten Tipp!“ Die Stimme des Mannes hatte einen vertraulichen Ton angenommen.

„Mmm. Nein.“, sagte Gustav, „Möbel, ich bin Möbel.“

„Okay, das schneiden wir dann raus“, sagte der Reporter. „Wer kauft bei Ihnen Kleidung?“

Gesine umklammerte die Hose, die sie gerade in der Hand hielt. Sie konnte sich vorstellen, wie Doris nun ein Schwall Röte in die Wangen schoss und sie aufgeregt mit den Händen wedelte.

„Viele Menschen“, sagte eine Stimme, die vorher nicht zu hören gewesen war. Gesine sah über ihre Schulter und erkannte Jutta, die nun neben Doris stand und Gustav in den Hintergrund drängte. „Sozialhilfeempfänger, Arbeit­suchende, Flüchtlinge. Rentner und vor allem Mütter. Im Bereich Kinderkleidung sind wir sehr gefragt. Wobei diese Dinge oft auch auf Flohmärkten in Kindertages­einrichtungen verkauft werden.“

„Und Sie verkaufen alle Spenden?“

„Keinesfalls!“, sagte Jutta nun sehr betont. „Wir verkaufen das, was man noch anziehen kann.“

„Da hatte mal jemand alle Knöpfe an den Hemden abgeschnitten!“, mischte Doris sich ein. „So etwas werfen wir dann weg.“

„Wir sortieren vor“, erklärte Jutta, „das ist wichtig. Die Kleidung muss tragbar sein.“

„Wenn Sie den Leuten, die ihre Kleidung spenden wollen, etwas empfehlen möchten, was wäre das?“ Die Stimme des Reporters klang ebenso geschäftsmäßig wie die von Jutta. Gesine runzelte die Stirn. Diese Frage war eigentlich schon beantwortet.

„Wenn Sie Ihre Kleidungsstücke selber nicht mehr tragen möchten, dann verpacken Sie sie und werfen sie in unseren Container. Wir kümmern uns darum und sorgen dafür, dass Menschen, die Kleidung brauchen, auch welche zu günstigen Preisen bekommen können.“ Juttas Statement klang wie auswendig gelernt.

„Haben Sie vielen Dank für Ihre Zeit!“, sagte der Reporter. Es entstand eine kurze Pause. Dann sagte er: „Fertig! Danke, das haben Sie gut gemacht“.

Jetzt drehte Gesine sich um und beobachtete, wie drei Personen ihre Ausrüstung zusammenpackten und wieder im Hauptraum verschwanden. Doris stand neben Jutta und hielt sich mit einer Hand am Drehständer fest. Gustav war nicht mehr zu sehen. Nun folgte auch Jutta dem Reporterteam und Gesine entschied, dass Doris jetzt jemanden brauchte, der sich ihre Geschichte des Fernsehauftritts anhörte.

„Oh, das sieht aber sehr groß aus!“, rief Elsie aus, als sie in den Wohnbereich trat. Sie hielt sich an Leszeks Arm fest und betrachtete den leeren Raum. „Was ist dies?“, fragte sie und wies auf den Streifen Putz, der zwischen zwei unterschiedlichen Fliesen auf dem Boden zu sehen war. „Das ist nicht schön.“

„Das war mal eine Wand!“, sagte Leszek, befreite sich aus Elsies Arm und zeigte an die Decke. Dort war derselbe Streifen Putz zu sehen.

„Eine Wand?“, wiederholte Elsie. Sie trat stirnrunzelnd neben den Betonstreifen. „Warum habt ihr denn die Wand weggemacht? Da kann man doch besser ein Loch reinmachen, wenn man etwas durchreichen möchte.“ Sie schüttelte missbilligend ihren sorgfältig frisierten Kopf.

„Nein Mama!“, sagte Krystof und legte ihr den Arm um die Schulter. „Das wird die Küche,“ er drehte seine Mutter so, dass sie auf die gegenüberliegende Wand sehen musste. „Das wird das Wohnzimmer.“ Nun drehte er sie zur anderen Seite, so dass sie aus dem Bodenfenster auf die Terrasse schaute.

„Und ich stehe jetzt im Esszimmer?“, fragte sie und blickte auf den Streifen Putz neben ihren Füßen.

„Genau“, sagte der junge Mann stolz.

„Dann wirst du immer Gesellschaft beim Kochen haben, weil alle gucken dir zu“, sagte Elsie mit einem traurigen Blick zu Jasmin. „Da bleibt deine Küche kein Geheimnis.“ Ihre Stimme klang, als wäre dies der erste große Fehler. Sie löste sich aus der Umarmung ihres Sohnes und ging zu Jasmin hinüber. „Krystof kann dir immer helfen“, sagte sie tröstend und legte ihren Arm um die Schultern der jungen Frau, die nur ein wenig kleiner war als sie selbst. Sie drückte Jasmin an sich. Die lächelte dankbar.

Wenn es ums Kochen ging, hatten weder Krystof noch sie viel Erfahrung. Nach dem ersten Jahr ihrer Beziehung waren sie gemeinsam in die erste eigene Wohnung gezogen. Jasmins Mutter hatte ihre Küchenschränke ausgeräumt und ihnen alles überlassen, was doppelt und dreifach vorhanden war. Von anderen nützlichen Dingen im Haushalt hatte sie ihrem Mann eine Liste gemacht und der hatte die Haushaltswaren günstig besorgt. Jasmin war ihren Eltern überaus dankbar gewesen und hatte sich selbst ein Kochbuch gekauft, um bei Fragen nicht jedes Mal ihre Mutter anrufen zu müssen. Seitdem auch sie ihr Elternhaus verlassen hatte, hatte ihre Mutter eines der Kinderzimmer in ein eigenes Zimmer umgewandelt und frönte ihren Hobbys: stricken und fernsehen. Und dabei ließ sie sich nur sehr ungern stören.

Krystof und sie hatten meistens zusammen überlegt, was es zu essen geben sollte und es auch gemeinsam zubereitet. Falls Krystof nicht nach Feierabend bei seinen Eltern vorbeigefahren war und eine Mahlzeit mitgebracht hatte. Elsie hatte immer etwas zu essen übrig, das sie nur zu gern an ihren Ältesten weitergab, damit er auch richtig satt wurde. „Das wird schon!“, sagte Jasmin jetzt mit Überzeugung in der Stimme.

„Gut!“ Elsie ließ die junge Frau los und drehte sich einmal um die eigene Achse. „Wo ist das Kinderzimmer?“, fragte sie.

„Elsie!“ Leszek hob ein wenig die Stimme und schüttelte den Kopf. „Wir müssen Kaffee trinken und Kuchen haben!“, erklärte er nachdrücklich. „Du hast es mitgebracht?“

Elsie hob die Schultern ein wenig und richtete sich sehr gerade auf. „Natürlich!“, sagte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. „Aber vorher will ich sehen, wo es noch ein freies Zimmer gibt!“

„Wir holen den Kuchen aus dem Auto“, sagte Viktor und stupste seine Freunde an. Bisher hatten sie im Flur gestanden, auf ihre Mobiltelefone gestarrt und sich nicht an der Besichtigung der Mutter beteiligt. Erst die laute Stimme seines Vaters hatte Viktor aufhorchen lassen. Schnell liefen sie aus dem Haus.

„Hätten wir nicht den Pfarrer anrufen sollen?“, fragte Gustav. Das Kaufhaus war jetzt geschlossen und die Ehrenamtlichen saßen gemeinsam im Aufenthaltsraum. Nach den Ereignissen des Nachmittags gab es viel Gesprächsstoff und keiner war früher nach Hause gegangen.

„Auf gar keinen Fall, das können wir doch auch ohne ihn“, bestimmte Hilde, die über die Haushaltswaren wachte und eigentlich gar nichts von dem Fernsehteam mitbekommen hatte.

„Jutta hat das sehr professionell gemacht“, meinte Regine, „das hätte der Pfarrer auch nicht besser gekonnt.“

„Natürlich hätte er das besser gekonnt. Der Mann ist Profi, der redet öfter mit der Presse“, verteidigte Doris ihn. „Aber ich finde, wir haben das auch gut gemacht“, schloss sie und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Jetzt komme ich im Fernsehen, das habe ich mir schon immer gewünscht.“

„Wenn sie dich nicht auch rausschneiden“, sagte Gustav und stieß sie sacht in die Seite. „Ich werde ja rausgeschnitten.“

„Ich habe mich sehr gut an Juttas Beitrag angeschlossen“, sagte Doris selbstbewusst. „Das können die gar nicht rausschneiden.“

„Aber du hast ja schon ein bisschen übertrieben“, wandte Gesine ein, „das mit den Knöpfen entsprach nicht der Wahrheit.“

„Du musst übertreiben, wenn du willst, dass sie deinen Beitrag senden“, behauptete Doris.

„Gut, dann bin ich mal gespannt, ob sie dich heute Abend senden“, sagte Gustav und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wer hält dagegen?“

Doch keine der Frauen hatte Interesse, eine Wette mit ihrem einzigen männlichen Kollegen einzugehen. Gustav wartete noch ein wenig, dann zuckte er mit den Schultern. „Dann eben nicht“, sagte er. „Wobei die ja nicht gesagt haben, dass es heute Abend gesendet wird.“

„Wieso?“, fragte Doris und drehte sich zu ihm. „Ich denke doch, dass es heute Abend gesendet wird.“ Sie blickte sich suchend um. „Wo ist Jutta? Die muss das doch wissen!“

„Sie macht die Abrechnung“, sagte Hilde von den Haushaltswaren, schob ihren Stuhl geräuschvoll über den Boden und stand auf. „Ich bin dann für heute durch. Wir sehen uns nächste Woche. Ich bin aber erst wieder am Samstag da, unter der Woche habe ich keine Zeit. Die Enkelkinder kommen und da bin ich voll im Stress. Ihr Lieben, macht es gut.“ Sie klopfte kurz auf den Tisch, dann verließ sie den Raum. Als hätte sie damit ein Aufbruchssignal gegeben, standen nacheinander alle auf, nahmen ihre Jacken und Mäntel von der Garderobe und verabschiedeten sich. Doris hatte sich auf die Suche nach Jutta begeben und Gustav hielt Gesine ihre Jacke hin. „Wenn ich helfen darf?“, fragte er.