Die Nacht nach Betti Hagen - Gerrit Bekker - E-Book

Die Nacht nach Betti Hagen E-Book

Gerrit Bekker

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Beschreibung

Gerrit Bekker ist zuerst als Lyriker hervorgetreten, und dies sind lyrische Erzählungen, in denen im Grunde das Meer, die Küste, die Weite die Hauptrolle spielen – und sei es auch nur als Sehnsucht. So führt Gerrit Bekker fort, was er mit dem Gedichtband ›Wachsflügels Furcht‹ und der Erzählung ›Petersens Meerfahrt‹ begann: eine erzählerische Darstellung seiner Heimat, ein Portrait von Menschen und Landschaften in Schleswig-Holstein. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 202

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Gerrit Bekker

Die Nacht nach Betti Hagen

Erzählungen

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Jens Jensen [...]Sie kennen doch sicher Ferdinand WeißDie EinwirkungWarten auf die DreizehnDer Mönch von MaltaDer strenge Winter 47GeschäftslebenDie Nacht nach Betti HagenMeister WiechmannEin Portrait: Alwin

Für Jens Jensen

Sie kennen doch sicher Ferdinand Weiß

Ich dachte darüber nach, ob sich der Wittling mit dem Fleisch der schwarzen Olive locken ließe. Über die Stickenhörn ging ein böiger Wind, und das Wasser wühlte am Molenkopf. Ich befestigte den Senker, ihn gegen Luv zu werfen, als ich hörte, daß sich hinter mir ein Mensch räusperte. Es war so dicht, daß ich erschrak und mich schnell umwandte – er war ein Mann so um die Fünfzig.

Er hatte da wohl schon eine Weile gestanden, denn seine Tasche lag neben ihm, und beide Hände waren tief in seiner Marinejacke vergraben. Er zog die Hände heraus, ließ sie herunterfallen, die Handflächen mir zugewandt, und nickte freundlich.

»Gutentaggutentag!«

»Guten Morgen«, sagte ich.

»Guten Morgen«, sagte der Mann, und ich hatte das Gefühl, daß er mich nicht ansah, sondern an seiner Nase entlang – er hatte den Kopf ein wenig zurückgelegt – in das Leere hinter meinem Kopf.

Die größeren Nereiden findet man im schlammigen Sand der Häfen und Buchten der Ostsee. Die Fische mögen’s und beißen wie toll, allerdings muß Fisch da sein, sonst wird nur der Köder gebadet. Und ich drückte den Stein aus der schwarzen Olive und dachte, man könne es versuchen, vielleicht daß der Wittling nur darauf lauerte, auf das schwarze Fleisch zu beißen, wand es über den Haken und warf es aus.

»Darf ich mich ein wenig dazusetzen, Chef?«

Ich machte das Gesicht des gestörten Anglers, sagte aber nichts und wies wortlos neben mich.

»Danke sehr, Chef«, sagte der Mann und setzte sich, sorgfältig die Knie angezogen.

»Sie haben sich einen feinen Platz ausgesucht, Chef«, und er räusperte sich leise. »Beißt’s?«

»Noch nicht«, sagte ich und hatte das Gefühl, etwas liefe an meinem Hals hinunter, und ich fuhr mit der Hand hinterher.

»Soso«, sagte er und lachte leise auf und sagte: »Jaja«. Wenn einer anbeißt, geht die Sehne rein wie ein dünner, scharfer Wasserstrahl, und wenn er mit dem Köder abgeht im Zickzack, sieht’s aus, als würde der Gärtner wild beim Sprengen. Aber nicht der Wittling, der ergibt sich leicht.

Wir schwiegen miteinander. Ich nahm mir vor, nicht zu reden, gleichmütig die Sehne zu ordnen, nach dem Köder zu sehen, daß mir der Sand nicht austrocknete. Wollte mit mir sein – wer nicht aus Hunger angelt, weiß, was ich meine.

Ich sah eine Hurly 22 querab vor der Brücke, wo Reusenbergs ewig halbgetakelter Schoner liegt, in den Wind schießen, die Segel killten, klatschten und standen schließlich schlagend in der Bö, sie rissen das Tuch runter, gingen ran, einer legte eine Spring aus, dann turnten sie noch eine gute Weile an Deck herum, knallten die Klappe zu, und ich sah, wie sich die gelben Jacken trollten.

Die Lust, die Sehne an der Hand zu führen, verließ mich, und ich sah, daß der Mann mich ansah, und als ich zurücksah auf das Vogelgesicht über dem langen Hals, da lächelte er und nickte und sagte »ja« und leise noch mal »jaja«.

Ich hätte wohl zusammengepackt, aber dann bemerkte ich die alte Tasche, die er sich auf den Schoß gestellt hatte, die Beine nun gestreckt, die altmodische Hose sorgsam runtergezogen. Vom Gebrauch dunkel geworden, eine große Dameneinkaufstasche aus Naturkalbsleder mit eingezogenen Enden, zwei mächtigen Schnappverschlüssen aus Messing mit langen Griffen, Leder wohl um einen Tampen genäht oder so was …, bestimmt einige zehn Jahre alt, mit tiefen Narben, aber so gepflegt, als hätte einer eine Woche drauf verwendet, und ich sah ihn wieder an, denn die Tasche war wirklich ein schönes Stück, und er lächelte und nickte mir zu, faltete die Hände, legte sie ungefähr in die Mitte zwischen die beiden Messingverschlüsse, klein und spitz, als gehörten sie einer alten Frau in der Straßenbahn.

»Ja, ja«, sagte er leise, und in den Augenwinkeln hielt sich sein Lächeln, und ich blieb sitzen.

Eine kleine Pose trieb vorüber, mit roter Wasserlinie, und brachte mich aus meinen Gedanken. Wär ich allein gewesen, hätt ich sie geborgen, aber ich schämte mich, weiß nicht warum, und blieb stumm und folgte ihr mit den Augen, den Schwimmer auf Zug. Und ich wünschte mir den scharfen Biß, ihm mit schnellem Anhieb zu antworten, und er dann ab mit dem Köder, und mein Blick fiel auf das Handnetz neben meinen Füßen, und ich sah mich schon den Silberleib ins Gras kehren.

»Möchten Sie eine Zigarette?« sagte ich.

»Wenn Sie rauchen, Chef, rauch ich mit«, sagte der Mann, und ich nahm meine Schachtel Eckstein und hielt sie ihm hin, und er löste seine Hände von der Tasche, zog eine Zigarette heraus, brach sie in der Mitte durch und legte die eine Hälfte vorsichtig auf einen Stein, der mehr auf meiner Seite lag als auf seiner. »Ich kann nicht soviel auf einmal«, und er steckte die andere Hälfte in den Mund und zog Streichhölzer aus der Tasche. Die Hand hielt er ganz ungeschickt, um den Wind abzuhalten, aber die Flamme ging nicht aus, und er gab mir Feuer und hielt dann das Streichholz an seine halbe Zigarette, und ich sah, daß er einen Lungenzug nahm.

Der Wind schlug mir ins Gesicht, daß das Haar verzwirbelte und mir Rauch ins Auge kam, es brannte, aber ich machte nichts, auch als es anfing zu tränen.

Wir rauchten. Ich sah ihn von der Seite an. Seine Haare dicht und fettig, wohl Pomade, es lag so straff am Kopf nach hinten, und einige lange graue Barthaare, die der Elektrorasierer seit einiger Zeit nicht mehr zu fassen gekriegt hatte. Alles kann mich bewegen, kaum ist etwas, werde ich planlos und hänge ihm nach, und ich zog am Schwimmer und holte ihn in kleinen Bewegungen gegen den Wind, hatte den größten genommen bei dem Wetter. Seine Haare glänzten eng am Kopf, und ich mußte wieder hinsehen, weil man so was in Schleswig-Holstein selten sieht, jedenfalls zur Zeit. Ich griff in die Tasche und holte meinen Zeichenblock heraus, und mir fiel ein, daß ich was zu essen mithatte, und holte es heraus und schlug das Tuch vom Holtseer Käse und den Oliven und legte meine Bleistifte ins Gras.

»Brot hab ich leider nicht«, sagte ich, »ich hab vorhin auf Weißbrot geangelt.«

Er öffnete vorsichtig die großen Verschlüsse, griff hinein und brachte ein gutes Stück Schwarzbrot heraus, an dem er wohl schon mehrere Male rumgebrochen hatte, und eine Flasche algerischen Rotwein, und mir war auch schon der Gedanke gekommen, daß zu den schwarzen Oliven und dem hellen Holtseer Käse gut ein Schluck Wein stehen konnte.

»Hab ich heute morgen geschenkt gekriegt, Chef, in Kiel ist Markt auf dem Exerzierplatz, und dem Möller, der ganz rechts steht zum Knooper Weg hin, der ist voriges Jahr aus Niedersachsen gekommen und wird wohl nicht lange bleiben, dem hab ich heute morgen beim Abladen geholfen. Ich mein nur, Chef, wenn Sie mal nicht weiter wissen, der gibt immer Essen, auch ohne Arbeit.«

Ich dachte, wie er darauf käme und ob ich im Moment so aussah, als müßte ich jemand auf dem Markt um Essen anhauen.

»Ich mein’s nur gut, Chef, es kann immer mal was sein«, und als ich den Olivenkern gerade ausspucken wollte, hörte ich, wie er den Korken mit dem Taschenmesser klar machte, und dann reichte er mir die Flasche rüber, und ich nahm mit der anderen Hand den Kern aus dem Mund und legte ihn neben mich.

Ich dachte, daß ich im Grunde auch hätte weiterschweigen können, aber es wär mir komisch erschienen, so allein zu rauchen, und ich griff nach dem Käse und wär fast mit seiner Hand zusammengestoßen, und er lächelte – er lächelte vorwiegend, und ich fragte mich, was dem Typ wohl so Laune machte.

Er reichte mir einen Kanten Brot und dankte für den Holtseer, und mir war plötzlich, als finge mich was ein, daß ich mein Herz als Druck spürte und das Heiße beim Atmen in der Kehle. Ich aß eine Olive und wollte den Stein ausspucken, nahm ihn wieder mit den Fingern aus dem Mund und legte ihn zu dem anderen und sah es wie im Osternest eines schwarzen Vogels, der schwarze Eier brütet. Den Schwimmer immer noch auf Zug, nahm ich mir vor, nach dem Essen wieder richtig einzusteigen – vielleicht ging er ja, trank noch einen Schluck, wischte mir im Gras die Oliven und den Käse von den Händen, nahm den Block und den Bleistift und sah hinüber nach Lindenau, wo sie einen Frachter in der Mangel hatten, und ich bog an den flüchtigen Strichen herum, versuchte, gerade zu lassen, aber alles rundete sich, und so riß ich mit dem Stift einen Rahmen darum, setzte ein paar Vögel in den Himmel wie gestürzte Dreien, und zwei setzte ich außerhalb des Rahmens, und die innen zählte ich mit sieben und schrieb unter die Zeichnung: zwei draußen. Ich überlegte, ob ich die Zigarettenhälfte nehmen sollte, die der Wind vom Stein gestoßen hatte, zog aber doch die Packung, nahm eine, ohne ihm anzubieten, und er griff nach der Hälfte im Gras und sagte leise: »Bin so frei, Chef.«

Floß, Pose oder Schwimmer sollen den Köder in einer bestimmten Wassertiefe halten, daß er nicht ins Kraut fährt, und durch Eintauchen den Biß anzeigen. Die Pose wird gebraucht, wo der Köder nah über dem Grund schwimmen soll oder wo’s schlammig ist, und man wählt sie so klein wie möglich, weil man alles vermeiden muß, was den Fisch stört. Man unterläßt das Reden und das Herumtrampeln am Ufer, weil der Fisch es merken kann und seinen Stand aufgibt – bei Wind ist es nicht so schlimm. Ich sah den Köder drei Fuß über dem Grund, bewegt in der Unterströmung, und die Bleipyramide träge unter der Sturmpose mit dünner Antenne nach oben, wenig Widerstand gegen den Wind, und wie der Fisch am gesalzenen schwarzen Fleisch stand, in der Lust zu beißen – dann ich mit leichtem Anhieb, ihn an den Haken zu bringen, auf meine Seite zu reißen, den Schreck von Atemnot und Schwerkraft zu nutzen, dann der schnelle Schnitt, aus das Leid, und ich stieß das Filiermesser neben meinen Absatz in den Grasgrund. Ich kam wieder ins Gefühl für das Angeln, vielleicht, daß er wirklich bald ging.

»Sie sind Maler, stimmt’s?«

»Ja«, sagte ich.

»Ein Maler, der angelt!« Er schüttelte ein wenig den Kopf, aber sein Lächeln war durchgängig. Wir saßen eine Zeit, und ich sah aufs Wasser, und die Bewegung der Wellen machte leichten Schwindel, bewegt sich Land oder Meer? und ich spürte das leichte Federn des Rutenauslaufs, ließ die Schnur von der Hand, daß die Sehne glatt anschlug und sich straffte, und bewegte ein wenig die Rolle. Ich sah zur Seite, und der Mann sah mich an, als hätte er mir irgend etwas erzählt und wartete nun vergnügt auf meine Antwort, und als ich ihn so vornübergebeugt dasitzen sah, lachte ich ein wenig und wollte was sagen, aber dann bewegte ich nur den Kopf, und er sagte sein »Jaja«, und mich überkam eine Heiterkeit wie aus dem Nichts. Und ich wollte lachen, fürchtete aber plötzlich, es könnte in etwas anderes umschlagen, und atmete ein paarmal tief. Die Büsche bogen sich nickend in den Spitzen, und ich fühlte Ruhe an mir, als entschliefe alle Anforderung.

»Ich würd Ihnen gern mal was erzählen, Chef«, sagte der Mann, »und mich würd auch interessieren, ob man so was malen kann, denn erzählen kann man’s.«

»Na ja«, sagte ich zögernd, weil ich es schon etwas oft von mir selbst gehört hatte, »man kann im Grunde alles übersetzen und zu Malerei werden lassen, und anmalen kann man alles, was man als Ding bezeichnet.«

»Das ist ja ein Ding, Chef«, sagte er und lachte zum ersten Mal, daß man es richtig hörte, und es war mir, als sei er hocherfreut. »Sie sind wirklich gut, Chef«, sagte er, »Sie sind gut«, und neben Ratlosigkeit kam mir Ärger auf.

»Was woll’n Sie mir denn erzählen?«

»Ich komm aus Rendsburg«, sagte er, »ich bin da nicht geboren, hab aber meine Schulzeit dort schon verbracht.«

»Ich wohn auch in Rendsburg«, sagte ich, aber er ging darauf nicht ein, nicht mal mit einer Geste, so als hätte er es nicht gehört, und fing an, von sich zu erzählen, von Breslau, woher die Familie an sich komme, und an dem Tag, an dem die Stadt zur Festung erklärt wurde, sei er mit seiner Mutter und Geschwistern geflohen. Einige aus der Nachbarschaft noch dabei. Die Schwester seiner Mutter, glaub ich, hätten sie in Pommern irgendwo getroffen und dann ab den ganzen Weg nach Rendsburg, und in der Oder sei er fast ertrunken, und der Vater nicht zurückgekehrt aus dem Krieg. Die Mutter habe in einer Druckerei gearbeitet, weil sie in Breslau auch eine Druckerei hatten, das heiße der Vater seines Vaters, und er sei dann zur Herderschule gekommen, und später habe er eine Lehre gemacht bei der Albingia, und dann sei er zur Allianz gegangen, weil er sich verbessern konnte. Aber, sagte er, das sei nur, damit ich etwas über den Anfang wüßte, und eines Tages vor neun Jahren habe man ihn nach oben gerufen, weil er eine Vertretung oder so etwas kriegen sollte, habe gesagt, daß man ihn fördern wolle, und dann mußte er noch zum Personalchef, der ihm gesagt habe, ob er nicht auf seine zehn Tage Urlaub verzichten könne im Moment und ob er nicht abbummeln wolle, immer mittwochs ab zwölf frei, zwanzig Wochen lang, er habe nichts dagegen gehabt, »und nun, Chef«, sagte er, »nun beginnt die Geschichte erst, ich muß nur noch mal überlegen«, und er legte seine Hand an meinen Arm, daß ich die Berührung durch das Tuch kaum spürte.

In die Hörn bog Karl Machled mit seinem 16 Fuß GfK-Kutter Quatze, dem früher die Memel gehörte mit den grünen Segeln, ziemlich untertakelt, und wenn man’s ihm sagte, lachte er: »Braucht auch nicht soviel oben, Hauptsache, der Diesel spuckt.« Er galt als Spaßvogel in der Stickenhörn. Immer die alte Peterson de luxe in den Zähnen, mit dem Sterlingsilberstück, das angelaufen war vom Salzwasser, und mit dem dicken Zeigefinger nachgestopft und ab und zu mal den Kopf an der Nase gewienert. Als er auf Höhe der Brücke war, nahm er die Fahrt weg und tuckerte langsam weiter in die Hörn rein zu seinem Liegeplatz. Ich folgte der Spur des grauen Spitzgatters im Wasser mit den Augen, und der Mann sah mir gespannt ins Gesicht. »Was ist nun?« sagte ich und wunderte mich, wie barsch es rauskam, »wollten Sie nicht was erzählen.«

»Ja ja, Chef«, sagte er. »Ich hatte also die Mittwochnachmittage frei.« Dann schwieg er wieder. Eine Wespe kam mir bedenklich nahe, daß ich ein paar Mal den Kopf duckte und sie wegschleuderte, und wär ich allein gewesen, hätte ich ihr sicherlich einen mit dem Ketscher verpaßt, aber mir war es plötzlich peinlich, wegen einer Wespe so einen Aufstand zu machen, und er räusperte sich und fing wieder an.

»Angefangen hat alles, als ich zum Kanal ging. Erst Ria«, und mir fiel Ria Schneider ein, die ich mal kannte und die immer so tat, als sei jeder Tag geeignet, zum Standesamt zu kommen, »dann Helen und dann Waltraut, Ria, Helen und Waltraut. Ich mein die Schiffsnamen, Chef«, sagte der Mann, »ich stand am Kanal da beim Minigolfplatz und sah den Schiffen zu. Das hatte ich vorher schon oft gemacht, am Sonntag vormittags. Die Leute von den Schiffen winken, obwohl sie einen nicht kennen, und die Farben an den Schornsteinen und die Flaggen sind schön. Aber was sag ich, Sie sind ja selbst von Rendsburg«, und sah mich an, als wollte er etwas Bestimmtes an mir feststellen. »An sich sind das ja nur drei Frauennamen«, sagte er, »aber vor der Währungsreform haben die Kochs über uns gewohnt, und die älteste Tochter hat den ältesten Sohn von Burmeister geheiratet, der später seinen Schornsteinfegermeister machte.« Er unterbrach sich und wies mit der Hand auf die Pose, die an die Steine der Mole trieb, und ich zog sie vorsichtig etwas zurück, auch wenn ich dachte, daß es den Fisch nicht schrecken würde, weil da noch einiges andere an der Mole herumdümpelte.

»Ria war die zweite Tochter von Kochs. Ria Koch. An sich sind das ja nur drei Frauennamen«, wiederholte er, »aber plötzlich hab ich gedacht, Heinrich, kneif dich, sieh dir das an, drei Schiffe hintereinander, Ria, Helen und Waltraut«, und während er das sagte, ließ er bei jedem Namen einen Finger aus seiner Hand, die er über den Kopf hielt, herausspringen.

»Die drei Schiffe waren ungefähr gleich groß«, und er schüttelte den Kopf, »wie kann’s angehn, Chef, können Sie sich vorstellen?« und er sah mich mit zurückgelegtem Kopf an, die Nase entlang, daß man denken konnte, er sehe in Wirklichkeit auf seinen Nasenrücken. »Ich möchte nicht Chef genannt werden«, sagte ich, weil es mir plötzlich zuviel wurde.

»Lassen Sie’s man gut sein, Chef, den Namen hat man bei mir weg. Können Sie sich vorstellen, wie erstaunt ich war«, und er schüttelte wieder den Kopf, als wär es gestern gewesen.

»Na ja, Schiffsnamen«, sagte ich.

»Ria Koch kannte ich aus dem Haus, wir hatten ein Stück Schulweg zusammen über die weiße Brücke mit dem Fisch von Jeckel aus Sandstein, wissen Sie? Der alte Jeckel ist ja nun auch schon ein paar Jahre tot«, und er sprach, als fiele ihm bei der Geschichte immer noch was Neues ein, was an sich auch damit zu tun hatte. »Ria Koch war meine erste Flamme, und sie hat dann später im Sauerland einen Herbert Engels geheiratet, verzeihen Sie, Chef«, sagte er und machte ein besorgtes Gesicht, »Sie werden sehen, daß es wichtig ist, die Namen zu behalten. Ria Koch heiratete Herbert Engels. Helen Weimer heiratete Ferdinand Weiß, und Waltraut Irmel Günther Göttsche. Sehen Sie, Chef, ich stand ja nur am Kanal, weil ich meinen Urlaub abbummeln mußte, und als es Mittag war, ein Uhr, hörte ich die Turmuhr vom Paradeplatz und sah auf meine Uhr, um zu vergleichen, das hab ich immer so gemacht«, sagte er mit Nachdruck, als hätte ich es angezweifelt, und ich sah auf das Handgelenk, das er freigelegt hatte, um zu zeigen, wie er es anstellte beim Uhrenvergleich, aber ich sah nur einen Arm, und wo sie bei den meisten sitzt, eine Narbe wie ein Dreieck.

»Das war ein Zaun«, sagte er, hatte wohl meinen Blick bemerkt.

»An diesem Mittwoch nun«, er sagte es fest, als wolle er nicht mehr über Unwichtiges reden, »kamen Ria, Helen und Waltraut vorbei, und Sie verstehen jetzt vielleicht, Chef, warum ich so verwundert war. Alles drei Namen, die in meinem Leben Bedeutung hatten. In so kurzer Folge, wem wär’s nicht aufgefallen? Ich war den ganzen Tag und den Abend dazu in Aufregung. Alle drei hab ich leiden mögen, sehr, Chef, Sie wissen, was ich mein, nicht? Und dann hab ich abends bei Helen angerufen. Ich hatte sie ja Jahre nicht gesehen, aber ihre Nummer auf einem Foto entdeckt, auf dem sie zu sehen ist, wie wir zusammen nach Scharbeutz waren. Aber es meldete sich niemand, und nach einiger Zeit hab ich an den Vorfall mit den Schiffsnamen nicht mehr so gedacht, es war auch viel bei der Versicherung.« Und er machte eine Pause und zog die Beine in den Schneidersitz.

»Haftpflicht, Hausrats- und Lebensversicherung undsoweiter, und ich dachte noch manchmal zum Wochenende dran. Am nächsten Mittwoch bin ich dann aber an die gleiche Stelle gegangen, einmal, weil ich wirklich gern da stand, dann aber auch, weil mich was zu der Stelle zog. Können Sie sich vorstellen, daß es einen wo hinziehen kann, Chef?«

»Nicht direkt«, sagte ich. Der Wind hatte noch ein bißchen zugelegt und trieb die Wolken auseinander, daß das Blaue oben zunahm.

»Ich glaub, wir kriegen noch Regen«, sagte der Mann.

»Nö, es klart auf«, sagte ich und wies nach oben. »Bei dem Wind nicht.« Er rückte die Weinflasche und saß mit unbewegtem Gesicht und sah auf das Wasser.

»Bißchen reichlich Wind allerdings«, sagte ich und wies auf die Pose, der Wind drückte den Federkiel fast ins Wasser.

»Wer was fängt, soll was fangen«, sagte er und sah wieder hinaus, und ein Stückgutfrachter aus Dänemark hieß Kierkegaard, und auf Deck war eine Dampflok gezurrt und zwei Kohletender, alte Dinger, wie man sie auf den Bahnhöfen, als ich Kind war, mit einem Groschen zum Laufen bringen konnte. Er hatte wohl schon eine Weile gesprochen, als ich wieder hinhörte.

»Die letzten hundert Meter lief ich fast, Chef«, sagte er, »und ich war noch nicht an der Stelle, an der ich immer stand und wo ich auch Ria, Helen und Waltraut gesehen hatte, mit nur einem Kümo Glücksburg dazwischen, und alle in Richtung Kiel, Holtenau, ich war also noch nicht mal ganz da, da seh ich ein Motorschiff Richtung Brunsbüttel laufen, Chef, und das hieß Ferdinand Valkoinen und kam aus Helsinki.« Er machte eine Pause, schon das Letzte hatte er mit ziemlich tonloser Stimme gesagt.

»Und was ist mit Ferdinand?« sagte ich.

»Aber Helen«, sagte der Mann und bewegte sich, daß ich dachte, er wollte aufstehen, aber er blieb sitzen. »Helen Weimer heiratete Ferdinand Weiß«, sagte er dann streng, und ich spürte Gras in meiner Linken, zog am Gras, daß schon ein paar Halme rissen, und als ich dachte, warum ich mich am Rasen festhielt, wurde mir einen Moment schwindlig.

»Und?« sagte ich.

»Nun, den Rest kann man sich an sich denken«, sagte er und nickte mir aufmunternd zu. »Chef?« und sah mich erwartungsvoll an.

Ich sagte nichts.

»Ich kam wieder an die Stelle, wo ich Ria, Helen und Waltraut gesehen hatte, und wer, meinen Sie, kam vorbei?«

»Weiß ich doch nicht«, sagte ich, und er sah mich wieder mit zurückgelegtem Kopf an, als betrachte er mich aus bedeutender Entfernung mit großer Anspannung, und ich spürte etwas wie leichtes Fiebern an mir, und ich setzte hinzu: »Ferdinand – das haben Sie doch selber gesagt.«