Petersens Meerfahrt - Gerrit Bekker - E-Book

Petersens Meerfahrt E-Book

Gerrit Bekker

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Beschreibung

Broder Petersen, der lange Friese von der Westküste Schleswig-Holsteins, ist einer der vielen, die vom eigenen Schiff träumen, vom Wind, der in das Segel fällt, von der Weite hinter dem Horizont. Doch das erste Schiff, das er sich in Heide kauft und durch den Nord-Ostsee-Kanal führt, versinkt am Anleger der Stickenhörn in Kiel, und mit dem zweiten, dem stabilen Zweimaster ›Nordwind‹, läuft er auf ein Riff vor der Insel Fehmarn. Gerrit Bekker erzählt diese Geschichte von der Sehnsucht nach Freiheit und von der Suche nach Freundschaft in einer malerischen, lyrischen Sprache. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 202

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Gerrit Bekker

Petersens Meerfahrt

Erzählung

FISCHER E-Books

Inhalt

I.II.III.

I.

Berger ist an sich unser Mann, wenn es darum geht, Holzboote zu schätzen. Anruf genügt, und Berger, der alles weiß vom Lateralplan und der Luvgierigkeit der Schiffe, turnt an Deck, reißt den Marlspieker aus dem Gürtel, sticht wahllos hierhin und dorthin ins Kielschwein, nickt oder sagt sein »das hätten wir also«, was soviel bedeutet wie: das, worauf wir stehen, schwimmt noch, aber es ist kein Schiff, sondern ein Torfbeet, tauglich vielleicht zum Wohnen auf dem Trockenen. Wehe aber, wenn der See gezeigt …

Was Berger sagt, ist Gesetz.

Struve dagegen ist einer, der auf ein Wrack springt, daß er bis zu den Hacken im Morschholz versinkt, dem verschämten Eigner, der sein Boot abdrängeln will, auf die Schulter schlägt, ihn beglückwünscht, ausgehalten und auf ihn, Struve, gewartet zu haben. Denn gleich in welchem Zustand das Schiff, mochte es auch eine 90-Fuß-Galeasse sein, gaffelgetakelt und von den Masten nur noch der Besan stehend, halb gesunken, (ich war dabei, vor Svendborgsund): er schrie »heben und aufriggen!«, wenn ich ihn auch beschwor, unseren Neun-Meter-Ausgleicher nicht zu tauschen gegen die Galeasse Glomar mit dem borstigen Besan, mit durchbranntem Schanzkleid gescheitert und auf Grund gelagert.

Bei Struve nun war Broder Petersen in die Lehre gegangen, bei ihm hatte er den Umgang mit dem Wasser geübt. Broder, gut an die zwei Meter hohe alte Landarbeiterrasse, in Niebüll aufgewachsen, am gymnasialen Aufbauzweig gelitten, in die Hauptstadt Kiel gebracht, den Namen Petersen in der evangelischen Kirche als Pastor zu Wohlklang zu bringen und später im Kirchspiel Tellingstedt die verratzte Gemeinde zu wecken.

Dieser Petersen, den die Türen des heimatlichen Friesenhauses zwangen, einen tiefen Diener zu machen, der nur auf der Tenne ein Stück fand, wo er erhobenen Kopfes in einem Geviert von vier mal drei Metern gehen konnte, war indessen vom Studium der Theologie enttäuscht in das Nullsemester der Mathematischen Fakultät abgewandert, bis er schließlich, vom Sanskrit angezogen, Wahlheimat in der Indologie fand.

In der Zeit wohnte ich mit einigen anderen in einer abgetakelten Villa in Kiel-Dietrichsdorf über dem Urstromtal der Schwentine. Broder Petersen und ich waren in den Monaten zuvor ein wenig voneinander abgerückt. Ich saß vor meinem Skizzenblock verzagt wie selten, weil mir einiges an Erlebnis die Sprache verschlagen hatte, und ich war dabei zu stückeln und zu kitten.

Der Wind hatte aufgeklart, und über dem Fluß standen dunkel unterzogen blaugraue Burgen am Himmel, wes Ritters Haus? und in der Ferne ein Tor wie geweht, Sonnengleiß an den Rändern, eine Landschaft aus Atem gemacht, darin ein Meister in Andacht wie aus einer chinesischen Zeichnung. Tusche, die fließt wie man denkt, vom Ziegenhaar gelassen, die feinen Teile verkohlten Elfenbeins auf die Seide gebracht, und das Pigment bewegt in der Feuchte.

Ich saß auf der Terrasse, bog an dem gleißenden Tor, schlug an die Öffnungen der Wolkenburgen, daß mir die Kreide brach und über das Papier stob, da stieg Broder die zerfallene Treppe herauf, das wuchernde Holundergebüsch mit den Händen teilend.

Hatten wir lange kein Wort getauscht, so kam er an diesem Tag auf mich zu, stellte sich neben mich, sah an der Krähe auf dem Schornstein vorbei in den Himmel, als gäb es da was zu entdecken, und sagte endlich: »Ich hab ein Schiff gekauft, Gün.«

Und als ich nicht antwortete: »Hörst du nicht, Gün, ich hab ein Schiff gekauft, ein Schiff in Heide.«

»Hast du Berger gefragt?«

»Nein.«

»Hast du den Riß dabei?«

Er schüttelte den Kopf: »Kein Riß.«

»Unvermessen? Dann zeig die Besitzurkunden.«

»Es war nichts dabei«, sagte Broder.

Ich bewegte den Kopf, und wir schwiegen eine Weile. Ich hatte das Gefühl, daß er etwas erwartete, und ich sagte: »Typ, Takelung und Maße?«

Er sah mich an, als hätte er was abzuschätzen.

»Achtfuffzig mal einsfünfundsiebzig und Tiefgang etwa so«, und er zeigte auf eine Handbreit überm Knie.

»Ohne Kiel«, sagte ich.

»Ja, ohne Kiel«, sagte Broder, »aber er ließe sich bestimmt segeln«, und ich mochte nichts mehr sagen. Ich kannte das: ruckzuck einen Kiel untergebolzt, ein paar Arbeiten an Deck, Struve hat Ahnung von Schiffen, und er sagt, daß man jedes Schiff segeln kann.

»Ja ja, Broder, ich weiß«, sagte ich nach einer langen Pause. »Am Fischmarkt liegt einer, der will aus einem Torpedoboot einen Dreimaster mit Lateinersegel machen und hat auch noch ganz andere Pläne.«

Er blieb stumm, ich hielt noch den Zeichenblock und das Stück der geborstenen Kreide und sah, wie der Abend in den Garten trat, saß da und träumte den Traum eigener Planke, einmal das Kommando zu führen und zu sehen, wie der Wind in das Kissen am Mast fällt. Eine zweite Krähe landete auf dem Schornstein, und gemeinsam flog man auf, ich dachte, sie wollten in die Buche, aber dann zogen sie runter zum Fluß, und an den Schwingen war es wie schwarze Fingerspitzen.

»Du mußt mitkommen, Gün«, sagte Broder. »Komm mit.«

»Weißt du Broder«, sagte ich, »ich hab im Moment eigentlich ’n bißchen viel im Kopf.«

»Mensch, Gün«, sagte er und faßte sich an den Kragen, und nachdem wir eine Zeitlang geschwiegen hatten, versprach ich ihm, zur Stelle zu sein.

 

Wir trafen uns an einem Freitagmorgen. Meine Ferse spannte sich bei jedem Schritt, und das Knacken im Knie hörte nicht auf.

Ich sah eine blitzweiße Gelenkkugel vor einem indigoblauen Horizont und eine Schale, auch weiß, in der sich das Gelenk bewegte. Schwarzer Sand wehte ab und zu an das Gelenk, und ich dachte an Vulkanasche, und daß der Knochen sich aufriebe am Bimsmehl, und ich schließlich gehbehindert (das Knacken sich zu Bersten gebracht) – und wurde an dem Gedanken traurig: ich sah mich im Heiligengeist-Stift untergebracht zwischen den Mergeltanten, mit vulkanpuderbestäubten Gelenken, nicht mehr fähig, Palette und Stichel zu halten, der Wohlfahrt anheim und gemieden von allen.

»Träum nicht«, sagte Broder. »Mach mal was!«

Und er meinte damit, ich solle mich an der Organisation beteiligen. Lange, der Lkw-Fahrer, war mit Zugmaschine und Freundin da, gestern erst kennengelernt. Rollo, der Mechaniker, war mit seinem neuen Motorrad gekommen. Ove saß auf einer Kühltasche mit Getränken und hielt den Kopf zwischen den Händen und schwieg.

»Laßt uns los«, sagte Broder mit der Geste des Hauptmanns, der auf Staub und Getümmel zeigt.

»Nun mach«, sagte Lange, der Fahrer, und ich stieg ein. Rollo vorweg mit seiner 500er Mensch-ärger-dich-nicht und wir hinterher. Ich stimmte einen Shanty an: »My name is Edward Hollander …«, weil mich Schunkeln und Unterhaken leicht aus der Trauer führt.

»Halt auf«, sagte Ove, und ich dachte an etwas anderes, um mich abzulenken.

Wir fuhren. Fuhren Nebenwege, weil der Lastwagen nur für drei zugelassen war. Broder saß neben dem Fahrer, aber sein Arm auf der Lehne umfaßte die ganze Reihe, und seine Hand spielte an meinen Haaren, und mir kam das Bild, die Tür würde sich öffnen, und ich würde hinausstürzen an das Mädchen geklammert, das Mädchen an Ove, Ove an Broder, Broder an den Fahrer, und alle würden auf den Asphalt fallen, und der führerlose Lastwagen sich erst auf dem lehmigen Feld beruhigen und in der Gerste zum Stehen kommen.

Das Brummen schläferte mich ein, und ich döste und hörte, wie man ein Motorboot mit wenigen Handgriffen in zumindest einen Motorsegler umfixen könne, wie von weither.

»Hier ist an sich schon Heide«, sagte Broder, und ich fuhr hoch. Gärten, wie grün angekachelt, Johannisbeerbüsche im Stechschritt und Kohl in der Ecke. Ein Mann kam uns entgegen, ein Lehrer, dachte ich.

»Das ist Kriminalobermeister Schult von der Heider Kriminalpolizei.« Das saß. Broder sah verstohlen zu mir rüber, und ich war beeindruckt. Eine Frau trat aus dem Haus, ein Kind eng an den Beinen. Man gab sich die Hand, wir wurden vorgestellt.

»… und das ist Frau Schult«, und ich hörte mich »angenehm« sagen. Erst mal ins Haus. Ruckzuck das Bier auf den Tisch, eine Flasche kippt um, Frau Schult Lappen auf den Tisch, kann jedem passieren, und nach einiger Zeit über berittener Polizei und zu wenig guten Nachwuchs in Deutschland standen wir auf, »danke fürs Bier«. Broder suchte immer noch meinen Blick, ein wenig Triumph auf seiner Seite.

»Wat’n Dach«, sagte Ove und zeigte ins Wolkenlose.

Die Schuppentür war mit großem Schloß ordentlich gesichert.

Schlüssel aus der Tasche, Herr Schult, sehr freundlich, öffnete das Tor und trat zurück.

Auf einem riesigen Trailer, groß genug, einen Fischkutter oder eine Hafenbarkasse zu tragen, ein Eicheboot mit hohem Kajütaufbau.

»Ehemaliges Rettungsboot«, sagte Ove, und Obermeister Schult nickte.

»Die Kojen sind natürlich noch nicht fertig, aber das ist für Sie ja nur günstig, dann können Sie alles noch so gestalten, wie Sie Lust haben und vor allen Dingen«, sagte er augenzwinkernd, »wie Sie’s brauchen«.

Wir nickten alle. Das Boot hoch über unseren Köpfen in blauweißrot. Wir staunten noch. Rollo, der Mechaniker, war schon die Leiter hoch. Broder stand neben mir.

»Na, Gün«, er freute sich.

»Laß uns ihn erstmal zu Hause haben, Broder«, sagte Ove.

Broder ging an die Leiter, wagte aber nicht, Rollo nachzusteigen, als müsse er erst etwas Ermunterndes hören, Bericht, daß alles in Ordnung sei, reckte den Kopf und wartete, bis Rollo über die Bordwand guckte.

»Mercedes Diesel, der alte 170er Diesel, da ham sie ’n Bootsmotor draus gemacht. – Wendegetriebe hat er nicht?«

»Hat er nicht«, sagte Herr Schult, »ist aber leicht zu besorgen – er hat das Autogetriebe, der Schaltstock ist abgebrochen, Sie müssen ihn mit der Kombizange schalten, vier Vorwärtsgänge und ein rückwärts. Gut auch, daß er abgebrochen ist, weil der Schalthebel immer den Niedergang in die Kabine versperrte, und wenn man abends mal einen nimmt, kann man leicht außenbords gehen.«

Nun lachte Herr Schult, und wir lachten alle mit. Auch Broder, und er sah dabei auf, daß viel von seinem Augenweiß blinkte.

»Weißt du, Gün, ich dachte, im Sommer ’n bißchen im Watt, und Herr Schult hat auch gesagt, daß er zweimal nach Pellworm rüber ist, und daß er sich zutraut, damit auch nach Helgoland zu kommen. Ich dachte nur so mit Frauke. Weißt du, es brauchen ja keine Touren zu sein, nur son bißchen vor der Küste oder so. Die Eider hoch, weißt du, Friedrichstadt ist ungewöhnlich schön, man kann da überall ankern, und dann dacht ich hier vor der Küste, in den Prielen, weißt du, wenn es Abend wird, die Dämmerung überm Watt, und du weißt ja, wie verzagt Frauke ist, und wenn’s ’n bißchen hübsch ist, weißt ja, mit Gardinen und so. Und mit meiner Mutter, weil sie immer sagt, vom Munde das Studium nur für mich. Ich könnte sie zum Beispiel abholen, und dann läge das Schiff plötzlich da, blitzsauber, Frauke würd vorher nochmal durchhecheln und alles wienern. Schön Kaffee und Kuchen an Bord. Ich zeig dir die Route, ich hab die Seekarte dabei«, und warf sich herum wie ein junges Pferd.

Himmel wie ein blaues Tuch. Ich sah am Pflaumenbaum ein Seil in Bewegung und hörte die Kinder hinter dem chinesischen Holunder über ein Kippermodell verhandeln.

»Meinen kann man dafür steuern«, und eines Kindes Kipper war ganz gelb und konnte nur geradeaus.

»Sie haben viele Insekten hier, Frau Schult.«

»Hörst du, Karl Heinz, was der junge Mann hier sagt. Recht haben Sie, besonders viele Mücken und Spinnen, und der Kellerraum ist so feucht. Wir hatten schon den Kammerjäger hier, der auch auf Ratten ging, und wissen Sie, was er gefangen hat, einen Iltis. Das wär ihm noch nie passiert, hat er gesagt, und fast hätt’s in der Zeitung gestanden. Karl Heinz, der feuchte Keller zieht das Ungeziefer und das kommt …«

»Elisabeth, das interessiert den jungen Mann doch nicht.«

Ich sagte, »dochdoch« und nickte, und eine braune Taube setzte sich auf das Geländer.

»Wir haben hier einen hohen Grundwasserstand, müssen Sie wissen, einige von den Älteren meinen, es liegt an der Neulandgewinnung, die Köge halten das Wasser fest, andere sagen, daß hier eine Wasserader liegt, der alte Christiansen ist die Strecke schon mit der Haselrute abgelaufen und hat das Gelände ausgependelt, der meint, daß das Wasser hier hochliegt, genau mit der Baumführung«, und er wies mit beiden Händen ausgestreckt die Linie, als wollte er einen Verkehrsstrom leiten. Ich spürte meine Ferse, und bei jedem Schritt knackte mein Kniegelenk.

Der Kriminalbeamte winkte mich heran und wies auf ein Loch, das er an die Grundmauer seines Hauses gegraben hatte.

»Sehen Sie,«, sagte er und lächelte, wie man nur Eingeweihten Lächeln schenkt, »hier leg ich die Grundmauer frei. Immer ein Stück, und dann Black Varnish drauf, das haun die Fischer auch an ihre Kutter. Bombenfest.« Und zwinkerte mir zu.

»Da haben Sie ja reichlich was zu tun«, sagte ich und legte mein Gesicht in Zweifel.

»Aber nein, das mach ich in zwei Tagen. Natürlich nur eine Seite. Außerdem seh ich’s als Sport. Der Kaiser hat ja auch in Holland Holz gehackt. Ob sie’s auch verbrannt haben, ist noch die Frage«, sagte er und lachte. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß Holz verbrannt wird, das ein Kaiser gehackt hat. Hier treib ich Sport und spare obendrein, das ist mir nützlich und dem Haus, und natürlich auch der Familie.«

Broder drängte sich wieder heran. Herr Schult öffnete noch eine Flasche Bier, und er war mir schon mit zweien voraus, beugte sich mit über die Karte, stand zwischen uns, folgte mit dem Ringfinger dem Kurs, den Broder mit einem Fettstift als Route aufgezeichnet hatte, verharrte bedenklich an einem Punkt, schüttelte den Kopf, sagte »Gezeitenkalender« und nach einer Pause: »zu flach« und legte Broder eine Hand auf die Schulter.

»Kommt doch, wir haben ihn schon angehängt«, rief das Mädchen.

Broder nahm einen Schluck aus der Flasche des Polizisten, dann noch einen großen, ließ nur noch ein wenig drin. Herr Schult sah es, zögerte einen Moment zu trinken oder nicht, und goß es auf den Weg. Wir stiegen alle ein, der Fahrer wieder mürrisch über den Andrang. Das Mädchen saß halb auf meinem Schoß, und ich wußte, daß mir das Bein einschlafen würde. Der Lastwagen zog an, das Boot schwankte bedenklich, ich hörte, wie die Räder durchdrehten und dann Herrn Schult »halt« rufen und dann noch einmal »halt« – die Bremsklötze. Der Wagen zog wieder an, das Schiff schwankte in seiner Höhe, die Räder griffen endlich und langsam, ganz langsam kam der riesige Trailer mit dem Schiff aus dem Tor. Wir bogen in die Straße ein, und Frau Schult rief »Aufwiedersehn« und der Polizist nickte und winkte mit der Hand, als wischte er an der Scheibe.

»Wir können nur im ersten fahren und müssen sowieso vorsichtig sein, weil der Trailer nicht versichert ist. Wenn’s die Schmiere sieht, kann mich das den Lappen kosten.«

»In Heide? Ausgeschlossen«, sagte Ove. »Die freuen sich über jedes Schiff, das sie sehn.«

Das schien ihn zu beruhigen. Wir fuhren.

»Die Kupplung wird heißlaufen«, sagte Lange, der Fahrer, »ich muß den Wagen um viertel nach zwei abgeben.«

Broder sah unverwandt aus dem Rückfenster auf den schwankenden Kahn, und ich wünschte, der Apparat auf dem Trailer möge nicht runterkegeln, auch wegen der Nichtversicherung. Wir mahlten durch Nordhastedt und dann die Grüne Küstenstraße runter nach Albersdorf. Ein langes Feld, eine Brücke, endlich Masten.

»Das Schiff muß zu Wasser«, Broder sagte es wie eine Beschwörung.

»Kommt ja auch«, sagte ich, »aber er ist rank, hab ich dir gesagt, rank ist er.«

»Kann das Gerede nicht aufhören?« sagte Ove, »ich krieg Kopfweh.«

Wir fuhren an den Anleger Prinzenmoor am Gieselaukanal. Eine Betonrampe – von der Bundeswehr Panzer gebaut – führte ins Wasser hinein und auf der anderen Seite wieder hinaus. Lange steuerte den Trailer vorsichtig rückwärts heran, Zentimeter um Zentimeter, er konnte fahren. Keiner von uns hätte den Vierradhänger so nahe ans Wasser gebracht.

»So das hätten wir«, sagte er langsam und rieb sich die Hände, als hätte er schweres Eisen getragen.

»Und jetzt?« fragte das Mädchen.

»Geduld«, sagte er und reckte die gespreizten Hände gegen den Boden.

»Wir müßten«, sagte Broder und hielt die Hände flach aneinander und stieß sie in Richtung aufs Wasser, »den Trailer zusammen mit dem Schiff in den Kanal fahren. Das Schiff schwimmt auf, und dann ziehen wir den Trailer unter ihm weg wieder raus.«

»Das werd ich nicht machen«, sagte Lange, »auch wenn’s mein eigner Wagen wär, ich bin doch nicht verrückt, mit dem Säbel hintendran, wenn der nach unten geht, hebelt er mir die Anhängerkupplung auf, wenn nicht sogar die Ladefläche perdü geht, wenn er abreißt.«

»Was? Das ist doch einfach wie ’ne Straße ins Wasser rein«, Broders Stimme kam etwas in Not, »wenn sie plötzlich aufhörte, würd doch auch’n Panzer kapeister gehn.«

»Kannst du den Grund sehen?« die Stimme des Fahrers hob sich, »woher willst du wissen, wie ’n Panzer ausgelegt ist, oder habt ihr zu Hause einen an der Kette? Aber daß dies Geschütz hier mit der ollen Barkasse aufm Schemel abreißt, wenn er irgendwie abkommt, das weiß ich und zwar genau.«

Wir standen betreten, aber bevor die Drohung, die plötzlich aufgekommen war, noch Gestalt annahm, sagte das Mädchen in die Stille: »Und ’n Band? Wenn ihr das mit’m Band macht?«

Das war’s. Das Risiko für Lange gleich null, das Mädchen ging auf ihn zu und stellte sich neben ihn, er hellte sich auf und zeigte ein Gesicht, als wäre der Ausweg von ihm gekommen, wenn auch in Wirklichkeit durch das Mädchen, das wiederum er mitgebracht hatte, genau genommen. Als Rollo mit dem Motorrad ankam – er hatte noch Bier gekauft – hatten wir die Keile, die das Schiff hielten, gelöst und es mit einer Leine gesichert, weil wir uns ausrechneten, daß es mit zwei, drei Mann wohl nicht zu halten war. Broder stand auf dem Schiff, eine Aluminiumschüssel auf dem Kopf wie ein englischer Stahlhelm. Ove gab das Signal. Der Laster rollte an, der Fahrer Lange sah seitlich rückwärts aus der Tür, und der Trailer berührte das Wasser, die Hinterachse tauchte ein, das Boot schwankte. Schlüssel polterten auf Holz. Einige, die an ihren Schiffen arbeiteten, sahen zu, und ich hörte, daß es nicht klappen könnte und wir den Hafenmeister nicht gefragt hatten. Die Hinterachse verschwand im Wasser, das Seil spannte sich wie eine Baßsaite, Keile schwammen auf der Oberfläche, der Laster stoppte, als müßte er sich neu entschließen, ruckte wieder an, und das Heck des Schiffes schwamm auf, wie mir schien. Die Vorderachse verschwand langsam, und die Deichsel ragte unnatürlich auf wie ein Stück niedergewalzten Zaunes. Die Seitenstützen des Trailers hatten das Schiff am Bug noch eingeklemmt, hinten war es frei. Ich sah, wo Broder hinsah. Da war der Rest eines rostigen Eisenpfahls, an dem wohl mal eine Schranke gehangen hatte, die Rampe zu sichern. Der Laster konnte nicht weiter zurück, er hatte noch drei Zentimeter oder so. Lange sah das auch, man hörte das kurze harte Schaben, mit dem er den Vorwärtsgang einlegte, und ich las in Broders Gesicht: wenn Lange vorwärts fuhr, würde das Heck nie wieder so aufsetzen wie vorher, sondern seitlich verschoben, und der ranke Kahn würde sofort kippen und auf die Betonrampe poltern.

Da sprang Broder, den ich nie in so geschmeidiger Bewegung gesehen hatte, denn ein Mensch seiner Länge bewegt andere Hebel, über den Bug auf den Querholm des Trailers, von dort mit drei, vier schnellen Schritten über die runde Deichsel, in der Faust die rostige Zimmermannsaxt, direkt vor die Anbindung und hieb das Seil, das sich straff auf dem Beton rieb, mit einem einzigen Schlag durch. Der Trailer riß das Boot nach hinten, die Deichsel schlug gegen den Bootskörper, daß es sich anhörte, als fiele einem Kind die Mandoline vom Schoß, und versank gurgelnd, das Schiff tauchte einmal tief ein und schüttelte sich, als wollte es das Land abwaschen, und schwamm auf.

Die Stimmen waren wieder da. Broder warf sich gegen sein Boot, das durch die Leine gehalten und von dem Ruck eine Winzigkeit auf die Betonkante aufgelaufen war, drückte es vom Stein weg und sprang an Bord. Er hob die Arme, tanzte von einem Bein aufs andere und schüttelte die Fäuste in der Luft, selber Lebenszeichen geworden. Ich freute mich plötzlich unbändig. Hatte er doch als einziger erkannt, daß Lange den Wagen nicht weiter hätte zurücksetzen können. Er stand immer noch mit erhobenen Fäusten da. Aber nun beugte er sich vornüber, starr nach unten den Blick.

»Gün, er sinkt«, sagte er – gar nicht laut, aber ich hörte ihn. Dann nach einer Pause fast geflüstert: »Wahrhaftig, Gün, er sinkt.«

»Du mußt pützen, Broder.« Ich sagte es, und mein trockener Mund ließ meine Stimme noch verzagter scheinen. Broder erwachte wie aus einem Traum. Noch einmal wuchs die Behendigkeit an ihm, er griff die Aluminiumschüssel.

Ein Mann mit weißer Mütze, wie Zeitungsverkäufer im Sommer tragen, bahnte sich einen Weg durch die Menschen, denn es hatten sich inzwischen zwanzig bis dreißig angesammelt, Kinder natürlich auch.

»Was ist hier los?«

»Das Schiff«, sagte Rollo. »Wir haben das Schiff zu Wasser gebracht.«

Der mit der weißen Mütze ging bis zu dem Stück von dem Eisenpfahl, der uns zum Schluß fast ein Bein gestellt hätte, der Lastwagen stand noch davor, und trat mit dem Fuß gegen das durchgeschlagene Tau und sah auf Broder.

Ich ging ihm nach und hörte ihn »soso« sagen.

»Wie sieht’s aus?« rief er dann zu Broder hinüber. Broder sagte nichts, schöpfte wie wild. Gleich macht er mit dem Ding ’ne Eskimorolle, dachte ich.

»Mannomannomann, ist der rank«, sagte der Hafenmeister, »die reinste Bachforelle.«

»Aber wenn man ihn mit Beton ausschüttet, daß er unten mehr Gewicht kriegt?« sagte ich.

Der Hafenmeister bewegte den Kopf: »Gewicht kriegt ist gut – Ballast hat er genug. Liegt ja jetzt schon wie ’ne Schute. Und Aufbauten wie die Queen Mary.«

Broder hatte einen Moment aufgehört zu pützen, er stand in gebeugter Haltung und sah mich an. Er machte mich betroffen, wie damals, als ich Karen kennenlernte, wie sie mit ihrem überfahrenen Hund in den Trenchcoat gehüllt vor meiner Tür stand mit verzerrtem Gesicht.

»Es steigt«, flüsterte er, direkt an mich gewandt.

»Er zieht zu Anfang immer Wasser, wenn er auf Land gelegen hat«, sagte der Hafenmeister in die Stille, und eine Woge von Zuneigung erfaßte mich.

»Du mußt schöpfen, Broder, schöpf weiter«, sagte ich nochmal.

»Eine Dose«, sagte der Hafenmeister, »eine Dose braucht er.«

Von irgendwoher fiel eine Dose zwischen uns.

»Mensch, der Motor, Rollo«, sagte Broder, und Rollo griff sich die Dose und kletterte an Bord. Ove und das Mädchen hielten, ins Ende gelehnt, den Bug dicht an der Rampe.

Ich hörte Broder flüstern. »Wir sinken – er säuft ab«, da stürzte ich zum Bug und sprang an Bord. Das Wasser stand handbreit über den Bodenbrettern, Broders Stiefel waren vom Wasser umspült, seine Hose zog naß und schwer nach unten.

»Der Junge braucht auch’ne Dose«, sagte der Hafenmeister wieder, »noch eine. Die Schüssel bringt noch nichts.«

Hatte er »noch« gesagt? Ich wurde plötzlich ganz müde. Broder und Rollo putzten beide. Das Klappern, Schöpfen und Ausgießen wurde rhythmisch, und ich dachte an Berger und warum alles so kommen mußte.

Broder ließ die Schüssel fallen und krempelte an seiner Hose.

»Er sinkt, Gün«, sagte er, und seine Stimme war dumpf und verzweifelt. Rollo, die Motorradkombination bis zu den Schenkeln naß, kam mit der Dose in der Hand herüber.

»Da ist nichts mehr zu machen, Broder. Er sinkt, er muß ’n Leck haben. Das mit der Maschine kriegen wir später wieder hin. Los. Komm Broder.«

Aber Broder hörte nicht. Er stand und schöpfte wieder mit der flachen Schüssel. Ich spürte den tiefen Kummer in ihm, daß der Spaß, bevor er recht deutlich wurde, schon zu Ende sein sollte.

»Mach was, Gün«, sagte er, seine Stimme tonlos. Aber ich konnte nicht, es war zu offensichtlich, daß nichts mehr zu machen war, schwammen doch schon die Bodenbretter auf, und das Schiff schien sich zu neigen. Ich sprang zurück auf die Rampe, hauptsächlich wohl, um mich nicht lächerlich zu machen, wenn es unterging. Ich setzte mich irgendwohin auf den Boden und sah nur noch Broders dunkles Haar über das Schanzkleid wippen, wenn sich eine Schüssel voll Kanal zurückergoß.

Die Leute sprachen wieder. Der Hafenmeister schüttelte den Kopf und spielte mit dem Fuß an dem Tauende, das den Trailer gehalten hatten.

»Wo habt ihr denn den Slipwagen?« fragte er plötzlich, und sein Fuß hörte auf, mit dem Tau zu spielen. Einige, die auf das Schiff gestarrt hatten, wandten sich ihm zu.

»Wo ist der Slipwagen?« Er sagte es, und eine Welle der Aufmerksamkeit in der Umgebung brachte ihn dazu, es zu wiederholen, und seine Stimme hob sich, als hätte er feine Witterung aufgenommen, jetzt kurz und drängend: »der Slipwagen!«

Nun schwieg alles gespannt, hatten doch einige mitangesehen, daß der Trailer ertrunken war, und erinnerten sich nun wieder. Aber keine Stimme erhob sich.