Farbe der Schatten - Gerrit Bekker - E-Book

Farbe der Schatten E-Book

Gerrit Bekker

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Beschreibung

›Farbe der Schatten‹ ist ein Roman über das Heranwachsen im Nachkriegsdeutschland, im zerstörten Hamburg, und zugleich ein Künstlerroman. Er schildert in dem für Gerrit Bekker typischen impressionistischen Stil die Kindheit und Jugend eines künstlerisch begabten Jungen bis zu dem Punkt, an dem er sich endgültig entschließt, ein bürgerliches Leben aufzugeben und sich ganz der Malerei zu widmen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Gerrit Bekker

Farbe der Schatten

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Ich danke dem Deutschen [...]IIIIII

Ich danke dem Deutschen Literaturfonds für ein Jahr der Unterstützung.

I

Damals lag der Schnee schon so lange, daß der weißgestreckte Wall im Vorgarten mir wie für immer erschien und ich nicht mehr daran dachte, daß er einmal grüner Liguster gewesen war.

Die Lüge sei einem auf die Stirn geschrieben, hatte Frieda gesagt. Das Schlimmste aber war, ein Ehrenwort zu brechen, und ich dachte, ein Zeichen würde dann sichtbar, deutlicher als ein Axthieb …

Die Wolken wie gewebt – blickte man nach oben, sah es aus, als fiele die Sonne durch ein Sieb, als streute das Licht durch die Tülle einer Gießkanne. Gelb leuchteten die bauschigen Unterseiten, dicht an dicht, wie paniertes Brot, und dazwischen, gleichmäßig ausgeworfen das Muster, wie gestanzt das löchrige Blau im fliegenden Brot.

Aus geschnitztem Buchenholz hatte mein Vater einen Hafen gebaut. Speicher und Kontorhäuser auf alte Bauklötze gemalt, Schuten, Barkassen, Dückdalben aus Stuhlbein und Wäscheklammer geschnitzt, Schlepper mit hohem Aufbau und langem Schornstein, Kriegsschiffe mit steilem Steven, grau, ohne Hoheitszeichen. Und setzte man sie ins Wasser, kippten die Kriegsschiffe gleich. Die Schlepper sanken so tief, daß niemand sich vorstellen konnte, sie schleppten noch. Und mein Vater sagte, sie seien auch für die Tischdecke gemacht und nicht für den Löschteich.

In Teufelsbrück war der Elbanleger Glas von gefrorenem Wasser, und der Raddampfer war an Deck mit Asche bestreut gegen das Eis, der Wind drückte den Rauch, daß man den Namen nicht sah. An einem langen Faden warf ich ein Kriegsschiff aus, der Atem als Eis auf dem Schal, nahm den Verlust in Kauf, eines, von dem ich wußte, daß es nicht schwimmen würde. Der Faden riß, es verschwand im bewegten Wasser nahe der Schaufel, und der Raddampfer nach Waltershof entließ hellgrüne Bögen, Elbe schwappte über eisblaue Kanten, mit glattem glänzenden Rund über die Breite des Randes. Und mein graues Kriegsschiff verschäumte. Und Frieda sagte: »Siehst du, hat Frieda gleich gesagt. Knopfseide geht nicht.«

Der Papagei von Tante Hanna machte mir Angst, Schnabel vom Adler und die Geschichten, er könne einen Fünfzoll-Nagel zerbeißen mit seiner Schnabelschere, wie leicht da einen Kinderfinger, und Ara hörte sich an wie Uhu. Einmal, sagte Tante Hanna, habe er einem, der ihn geärgert mit »Lora, Lora«-Rufen, in die Unterlippe gehackt, daß er eiligst per Automobil ins Hafenkrankenhaus geschafft werden mußte, wo seine zerrispelte Lippe über eine Stunde lang genäht wurde. Tante Hanna sagte: »Hingstberg, Sie wissen doch, Frieda, der Weißrusse.« Am liebsten sagte der Papagei: »Gefroren hat es heuer, noch gar kein festes Eis.« Lora sei alt wie der Stein, und über den Ara ginge nichts, klüger sei er als mancher Mensch. Ansonsten war Tante Hanna ausgebombt, die Uhlenhorster Wohnung hin. »Den Faden am Leib. Aus Uhlenhorst und jetzt in Waltershof.« Und auch der Studienrat, ihr Bruder, habe alles im großen Brand lassen müssen. Den Schreibtisch von Ernst Heinrich, ihrem Mann, habe die Feuerwehr, weil sie Papiere darin vermuteten, durch das geschlossene Fenster geworfen, aus der vierten Etage. Und Ernst Heinrich noch draußen. Aber Frieda sagte, der Herr Ernst Heinrich käme wohl wieder, vermißt zwar, aber wie klug er doch sei.

Sie stand auf, dünn im engen schwarzen Kleid, trat ans Fenster, und weil die Teerpappe nicht dicht war, lief es bei Regen die Wand herunter, braun die Streifen bis zum Boden. Frieda zündete vier Kerzenstummel an, Vierter Advent, und sagte: »Nur für den Jungen. Einen Augenblick.« Blies sie wieder aus und steckte die Streichhölzer ein: »Sünde ist es, so kurz vor den Tagen …«

Wenn der Winter vorbei sei, wolle sie mit dem Jungen nach Cuxhaven, sagte sie, die Kugelbake ansehen. Mit der Alten Liebe rüberfahren, so hieß die Anlegestelle und auch das Schiff. Und vielleicht gab es dann einen Sturm, dachte ich, Spritzwasser am Bug, daß sich das Schiff schüttelte, und übel sollte es mir nicht werden. Tante Hanna machte Grießmarzipan. Bittermandeln und Rum, es schmeckte wie bei niemandem sonst, den ich kannte. Die süßen Kugeln in Kakao von den Engländern gerollt. Marzipankartoffeln. »Fast Friedensware«, sagte Frieda. Und Tante Hanna füllte in eine Tüte. »Aber nicht vorher essen«, sagte sie.

Am nächsten Tag war der Himmel gelb und dicht. Der Schnee fiel schnell und gerade in dicken, ineinandergehakten Flocken, kaum daß sie den Boden berührten oder die Scheibe, schmolzen sie. Die Erwachsenen sagten, daß der Altschnee deshalb doch bliebe, zu lange habe es gefroren. Nach dem Essen schien die Sonne, und wir trafen uns auf dem Platz an der Straße.

»Das größte Pferd ist nicht das stärkste«, sagte Jörn Glasmacher. Alfred Wunderlich überragte uns kopfhoch. An diesem Tag war er in aller Munde, wir umstanden ihn. Sein Vater war erst einen Tag aus dem Lager in Gorodok zurück, und sie hatten ihm das Bein abgenommen, gerade unterm Knie, ein deutscher Arzt hätte es gemacht, mit einem Taschenmesser, und der Russe hätte es erlaubt: »Nurn Taschenmesser, warm Wasser und zerrissene Unterhosen, jawoll.« Und Helge Jakobsen, dem die gut erhaltene Mauser gehörte, hielt die Waffe lose in der Hand. »Wehe, du erzählst es deinem Vater«, hatte er zu mir gesagt und dabei auf meinen Kopf gezielt. Immer schon hatte er versprochen, Munition zu bringen, zum Beweis, daß die Mauser noch ging. Jörn Glasmacher war fünf Jahre älter als ich, aber er war oft mit mir zusammen, nahm mich mit zu sich nach Hause, schmierte mir Schwarzbrot mit Margarine und Zucker. Er kippte das Brot über die Zuckerdose, streute vorsichtig mit dem Teelöffel den Zucker, und alles, was nicht auf der Margarine klebte, rollte in die Dose zurück. Jedesmal stellte er das Radio an. Die Wasserstandsmeldungen. Der Neckar bei Plochingen, sagte die Frauenstimme, und die Tauchtiefen für die Elbe. Er ging auf das Stoppelfeld mit mir, und er baute den besten Malaier, den schwanzlosen Drachen, die Querleiste mit einem Band nach hinten gebogen, und war man auf einer Seite zu üppig mit dem Mehlkleister, mußte man auf der anderen mit Troddeln Gegengewicht schaffen, damit der Malaier ruhig stand. Ging es gar nicht, mußten wir doch mit einem kurzen Schwanz arbeiten, einer Grassode oder Zeitungspapier. Und damals, die anderen waren auch dabei, an einem Spätnachmittag, stand der Malaier schwanzlos über dem Nebel, der drüben auf der Kleingartensiedlung lag, eine riesige Bucht das durchhängende Band, und Jörn Glasmacher rief: »Der Drachen steht über dem Sumpf.« Und der Malaier ganz hinten und klein.

Ich sollte Reiter sein und versuchte, Alfred Wunderlich als Pferd zu kriegen. Jörn Glasmacher war auch Pferd, und Dieter Mertens sein Reiter. Dieter und Jochen Mertens, die über uns wohnten. Ich stieg auf. Alfred Wunderlich untergriff meine Kniekehle, ruckelte mich zurecht, daß es schmerzte, bis ich ihm bequem auf dem Rücken lag. Dieter Mertens sprang Jörn Glasmacher auf den Rücken. Helge Jakobsen zielte mit der Mauser auf uns, zog den Schlitten zurück, sagte »zack«, was heißen sollte, die Patrone war in die Kammer gerutscht, und er machte ein Geräusch, die Lippen straff, stimmloses Fauchen aus der Kehle: »Pchch!« Dann das verhallende Schußgeräusch, jaulendes Zirpen des Querschlägers an Eisen oder Stein. Als ich zu ihm hinübersah, zielte er erst auf mich und auf Alfred Wunderlich, der mein Pferd war. Als ich ihn länger ansah, drückte er den Abzug immer wieder.

»Jetzt«, sagten die anderen, und die Pferde stürmten aufeinander los. Ich mußte Dieter von oben greifen, weil ich höher saß als er, und Jörn Glasmacher drängte, kleiner aber stämmiger, vorwärts. Am Kopf von Alfred Wunderlich vorbei, hielt ich die Turnbluse von Dieter Mertens fest, stumpf der schwarze Stoff. Alfred Wunderlich ging Schritt für Schritt zurück, mit dem Unterarm drückte ich ihm auf den Kehlkopf, er konnte nichts sagen, machte nur kurze Geräusche aus der Kehle, versuchte sich gegenzulehnen, mein Zerren zu unterstützen und sein Kinn zwischen meinen Unterarm und seine Kehle zu bringen. Ich wollte nicht loslassen, nur nicht loslassen. Jörn Glasmacher stemmte sich dagegen, Dieter Mertens hatte den Halt am Hals von Jörn Glasmacher schon fast verloren, ich hatte ihn weit runtergezogen, er war nur noch gehalten durch die Knieklemme von Jörn Glasmacher, daß er schon Schmerzenslaute von sich gab und waagerecht in der Luft hing, die Beine geradeausgestreckt, die Hose straff gezogen. Plötzlich drehte sich Jörn Glasmacher halb um und machte ein paar kurze, schnelle Schritte auf uns zu, rammte die Schulter gegen Alfred Wunderlich, und ich sah den Schopf von Dieter Mertens auf mich zukommen, das helle Licht, das sich ausweitet, der Schlag auf den Rücken, atemlos, und ein Fall, als käme er, der eine, der Abgrund.

»Klack«, machte es, und es war der Schlagbolzen, Helge Jakobsen hielt mir den Lauf an den Kopf, und noch einmal machte es »klack« und stieß. Der Schatten der Mauser im verschwommenen Augenwinkel. Ich blieb liegen wie einer, mit dem es zuendegeht, der warten muß, daß es sein kann und darf. Werner Klostermann beugte sich über mich, weit abstehender Nackenschutz, das Auge halb verdeckt, der Stahlhelm über seinem schmalen Gesicht. Er hatte ihn nun schon zwei Tage auf. Meine Helme hatte mein Vater weggenommen und gesagt, daß von nun an für alle Kinder der Straße Kriegsgerät verboten sei. Auch Gasmasken und Helme, ausgenommen nur Motorradfahrten und Kappenfeste. »Verboten«, so was noch mal aufzusetzen, und dann erzählte er die Geschichte von dem Helm, den man findet. Von oben sieht man nichts, aber wenn man ihn umdreht, dann ist da noch Gehirn drin mit Haaren und Knochen. Und wir drehten von da an die Helme, die wir fanden, mit einem Stock um. Und die Älteren tönten, daß sie mehrere Helme gefunden hätten, in denen noch was drin war.

Ilona sagte: »Er stirbt. Ich hol seinen Vater.« Aber die Mertens’ sagten: »Nicht!« und hielten Ilona fest, daß sie anfing zu weinen.

Fünf Eingänge hatten die Häuser am Sternecker Weg. Ein Eingang fehlte, auf unserer Seite, die Nummer neun. Da war eine Brandbombe reingefahren. In das gegenüberliegende Haus mit der geraden Zahl war auch eine Bombe gefallen: »Die Engländer«, hatte Frieda gesagt. »Das ist beim Terrorangriff auf Hamburg passiert.« Nur ein Eingang stand da drüben noch. Da wohnten Ilona und Rita Eichholz, Ilona, mit der ich im Sommer noch zusammen in einer Zinkwanne gesessen hatte, den Wasserschlauch über unseren Köpfen.

Jörn Glasmacher sagte: »Steh auf«, und zog mich hoch und versuchte mich abzuklopfen. In den Trümmerwinkeln hielt sich hoher Schnee. Ilona faßte auch meinen Mantel an und weinte immer noch, und ihre ältere Schwester, die mich früher in der Karre spazierengefahren hatte, zerrte an mir und drängte Ilona beiseite. Sie zog mir den Mantel aus, versuchte ihn auszuschütteln, klopfte auf ihm herum, und dann half auch Helge Jakobsen, ihn mit Wasser aus der Pfütze und mit Schnee sauberzumachen. Und er fand die Marzipankartoffeln, gequetscht und ans Taschenfutter geklebt, und die anderen kamen schnell heran, als er »Hier, hier« rief, die aufgerissene Tüte schwenkte und auf die Reste im Mantel zeigte. Einzelne Schneeflocken legten sich auf meinen Hals, und ich spürte sie als Wasser, wenn sie schmolzen. Helge Jakobsen steckte eine Marzipankartoffel in den Mund und dann Dieter Mertens und Ilona und ihre Schwester, nur Jörn Glasmacher nicht.

»Die sind für Weihnachten«, sagte ich, und Dieter Mertens sah mich kauend an. Sein Vater war vermißt, und mein Vater paßte auch auf ihn und seinen Bruder auf. Seit der richtige Blockwart im Gefängnis war, achtete mein Vater auf alles. Daß keiner in den Trümmern spielte und in den verbrannten Häusern mit den überhängenden Balken und freistehenden Mauerresten, die Kamine wie Säulen. Mein Vater war der einzige Mann in der Straße, der überhaupt ganz überlebt hatte, das heißt ohne schwere Verwundung. Und wann immer es Schwierigkeiten oder Streitereien gab in den vaterlosen Haushalten, wurde er geholt.

Wenn der Postbote kam, liefen die Frauen aus den Häusern, und einmal fiel Frau Niese um, den Brief in der Hand geknüllt, zappelte drehend auf dem Pflaster, und zwei Kinder schrien. Ich stand hinter Herrn Dose, dem Mann von Frau Dose, dem neuen Stiefvater von Horsti Dose, wie er richtig hieß, wußten wir nicht. Die Männer wurden nach den Frauen benannt, bei denen sie lebten, bei Frauen, deren Männer tot, vermißt oder in Kriegsgefangenschaft waren. Ich sah an Herrn Doses Jackentasche vorbei auf Frau Niese, ich krallte mich an ihn, und er griff meinen Kopf und drehte ihn mit der Rechten, und ich spürte den Uniformstoff an der Stirn, sein linker Ärmel war leer und mit einer Sicherheitsnadel festgesteckt. Mein Vater hatte bei Tisch darüber gesprochen, es Frieda und Frau Dietrich erzählt, meine Mutter war im Nebenzimmer, er habe den Arm verloren, als er jemanden in Dänemark gerettet habe, während der Besatzungszeit. Und als er merkte, daß ich zuhörte, sah er auf und rief: »Der Tellerrand, du Knecht!«, und ich sah auf meinen Tellerrand. Beim Essen sprechen Kinder nicht, sehen auch nicht von einem zum anderen, legen eine Hand auf den Tisch, und was es gibt, ist nur: Löffel und Teller. Der Rand sei nun mal das Ende des Tellers, sagte er, und hörte man nicht, gab es etwas zu gewinnen, die Hand schnellte über den Tisch, traf, daß die Haare flogen. »Mit Essen spielen, als gäb’s keine Not auf der Welt.«

»Herr Dose hat’s schwer mit nur einem Arm, er ist Linkshänder wie ich selber«, und Herr Dose habe beim Stapellauf, als er den Dänen wegriß, das Schiff lief schon, einen springenden Holzkeil so unglücklich an den Kopf gekriegt, daß er fiel und mit dem Arm auf die Slipschiene kam, »das Schiff ging drüber und der Arm ab wie mit’m Messer.« Es habe mächtig was gegeben auf der Kommandantur.

»Den Teller leer!« sagte mein Vater.

»Vielleicht sollte er noch ein bißchen raus. Er ist doch so aufgeregt wegen morgen«, sagte Frieda. Sie stand mit auf und half mir in den Mantel, und wo Helge Jakobsen und Rita Eichholz gerieben hatten, roch es jetzt nach Kernseife. »Er ist noch naß am Kragen, mein Junge«, sagte Frieda leise. Als ich rausging, kam Frau Mertens von oben. »Er kann mit uns essen, ich ruf Dieter und Jochen.«

»Hörst du«, sagte Frieda, »geh ruhig hoch, auch wenn du keinen Hunger hast, und iß mit Dieter und Jochen bei Tante Gine«, und stieß mich aufmunternd an. Die Kinder trafen sich immer an derselben Stelle. Im ausgebrannten Parterre rechts hing ein schwarzes Bild an der Wand, und die Badewanne hielt sich in der Luft in dem Zimmer ohne Boden. Von der zerbrochenen Maierschen Brücke sangen wir. Ich dachte auf einmal, irgendwo zu sein, aber wo es war, wußte ich nicht. Schnee am Abend, und ich starrte in die Lichter eines langsam auf uns zufahrenden Wagens. Wir liefen an die Straße. Wir spielten Bäumchen, Bäumchen, wechsel dich, Mutter, Mutter, darf ich reisen, eine Tasse Tee, keiner will murmeln, Kippel-Kappel fällt aus, die schmollende Mädchenabteilung beim Völkerball, Märchenball an der Wand. Ball unter dem Bein durch. Von hinten werfen, über den Rücken rollen, an die Wand boxen und köpfen, und wenn der Ball fiel, erzählte der nächste weiter und bewegte den Ball. Einer sprach von Reisen, und eine von einem gutherzigen König, und eine saß an des Herrlichen Tafel, nur Gold und Zierat, Stuhl und Tisch aus Gold, auch die Spiegel aus Gold. Tante Gine rief aus dem Fenster: »Dieter und Jochen!« Ich ging mit hoch, weil Frieda es gesagt hatte, auf dem Tisch dampften die Teller mit dem Rübenmus, das Trockengemüse gequollen und ledrig, eingestreut.

»Iß«, sagte Tante Gine, »sieh zu, daß die beiden dir nicht alles wegessen.«

Ich aß, mochte gar nicht so recht, aber als ich die beiden anderen essen sah, hielt ich mit.

»Kaiser!« rief Dieter, stieß den Teller weg und klopfte mit dem Löffel auf den Tellerrand.

»Der ist aber noch nicht sauber«, sagte Tante Gine, und Dieter kratzte mit dem Löffel schnell auf und ab, daß das Metall über das Porzellan fiepte.

»Hat Mutti die Hose selber gemacht?« fragte sie.

»Ja«, sagte ich.

»Du bist hingefallen und hast dich schmutzig gemacht?« fragte sie.

»Ja.«

»Und was hat Vati gesagt? Hat er nichts gemerkt?«

»Nein, Frieda hat den Mantel wieder sauber gemacht.«

»Du bist auf den Rücken gefallen, nicht?«

»Ja, Tante Gine.«

»Weißt du denn schon, was du werden willst?«

Als ich nein sagte, und sie noch mehrmals nachfragte, hörte ich mich schließlich »Henker« sagen, weil die Erwachsenen gerade darüber sprachen, daß die Engländer unseren Blockwart wohl aufhängen würden. Es klingelte, und ich hörte die Stimme meines Vaters an der Tür und Tante Gines Lachen im Flur. Sie kam noch einmal zurück und schloß von außen die Küchentür.

Ein Tag noch bis Weihnachten, und Frieda sang: »Morgen, Kinder, wird’s was geben …«, und sie kannte auch »Eine Muh, eine Mä«, sang mit hoher Stimme, schob die Brille in die Stirn, wischte sich mit einem karierten Taschentuch die Augenwinkel und schneuzte sich.

»Du singst so hoch«, sagte ich.

»Alle Frauen singen hoch«, sagte Frieda.

Und als meine Mutter mich am Abend auszog, fing es richtig an zu schneien: groß und weiß und schwer. Und ich dachte an Frau Holle, und an die Schwere der vollen Kissen, den Wunsch der Marie im Glück, wie sie das Brot zum rechten Zeitpunkt herausholte, hörte doch jeder, daß die Laibe stöhnten wie Musik aus der Luft.

Was willst du werden? dachte ich noch, und »Henker« hatte ich gesagt, Plätzchenjäger, braune Kuchen, für mich einen mehr. Und der Schnee kam herunter, wie an Fäden gehalten, trieb gegen die Scheibe, ich drehte das Gesicht dagegen. Eine Nacht noch …

Frieda und mein Vater sagten am Morgen, sie hätten ihn schon getroffen, und er habe mein Geschenk gezeigt, mein Vater beschrieb es. Das eine mit weit ausholenden Armbewegungen, das andere klein, schmal, aber schwer. Ich versuchte zu raten, was darin sein mochte. Die beiden sahen mich an.

»Heut abend kommt er«, sagte mein Vater. »Ich hau ab, ich hab Angst. Ich geh lieber zu Schönfelder und bleib da, solange er hier ist.«

Und ich dachte, wie gewaltig der Weihnachtsmann sein mußte, wenn mein Vater, den ich oft fürchtete, Angst vor ihm hatte. Irgendein riesiger Schreck würde sich zeigen, dachte ich, der mir barsch befehlen würde, aufzudecken, was ich alles getan.

Mein Vater stand auf: »Ich geh schon mal rüber, Schönfelder fragen, ob ich da heut abend unterkriechen kann. Ich hab Angst.«

Schönfelder wohnte auf der anderen Seite der Washington-Allee, deren Kantstein mir so hoch vorkam – viel höher als die Stufe der Treppe.

Draußen der gelbe Himmel, und schön und warm war’s drinnen, und Lieder und Licht. Der Blechkasten mit dem Christbaumschmuck wanderte vom Schlafzimmer auf den Tisch im Wohnzimmer, der Baum wurde hereingeholt, noch Kälte in den Zweigen und würziger Geruch. Der Deckel des Blechkastens mit dem bleichgepreßten Flechtmuster, gestoßen, blind, Metall darunter, Rostflecken an den Scharten, ein Lamettarest im Blechfalz.

»Viel ist es nicht«, sagte Frieda, aber mein Vater habe auf dem schwarzen Markt ein bißchen was dazubekommen, und dafür daß sie ausgebombt seien, sei es ein Glück, überhaupt etwas zum Schmücken zu haben. Bei Brummers habe sie den Baum gesehen, nur bunte Wolle in den Zweigen, und eine Leberwurst und ein Stück Speck.

Über meinem Bett hing ein Geige spielendes Zigeunerkind. Auf dem Lampenschirm die Ansicht eines Flusses, ein Schatten ins Glas gelegt, und die glatten Schalen mit den dunklen Adern, und auf einer Schale der Fluß. Im Wohnzimmer hing das Bild eines Hirten in weitem, schwarzem Mantel, die Herde um ihn gedrängt, drohend das Wetter über der Heide, gezauste Birken.

Um die Mittagszeit wurden die vier Kerzenstummel noch einmal kurz angezündet. Oh, wie ich mich fürchtete. Die Furcht vor dem Weihnachtsmann und die Furcht meines Vaters. Ich wurde umgezogen, ließ es über mich ergehen, ohne ein Wort zu sagen, die langen wollenen Strümpfe, die an den Waden kribbelten, und der Zug am Leibchen. Lametta wurde ausgebügelt. Bronze. Dukatengold in Magermilch, um die Nüsse zu vergolden. Und das Gelb am Himmel. »Weiße Weihnacht«, sagten die Erwachsenen.

Ein Kerzenhalter war zu reparieren, mein Vater hantierte mit Blumendraht. Er riß das Schwarze am Docht mit dem Daumennagel ab, die neuen Kerzen schnitt er in der Mitte durch, »aus eins mach zwei«, und formte mit dem Messer neue Kerzenspitzen, lächelte.

Ich sah ihn sitzen, mit dem Kartoffelschälmesser die Spitzen ziehend, über einem winzigen Stummel, der brannte, gedreht: »Auch Friedensware«, und sie lachten am Tisch.

»Ja, geh ruhig zu Glasmachers.«

Ich lag halb auf dem steilen Sofa, großblumiges, rotes Samtrelief, und Jörn Glasmacher hatte mir eine Scheibe Schwarzbrot mit Zucker gegeben, und ich hörte die Wasserstandsmeldungen: »… zwei bis drei Meter höher eintreten als das mittlere Hochwasser … die Mosel bei Konstanz … Deutsche Bucht«, und ich sah vor mir das trübe Wasser an der Spundwand sich heben, leises Klicken in der kleinen Bewegung, und das steigende Kreiseln am Poller.

Jörn Glasmacher stand am Fenster und fragte: »Willst du noch Brot?« Er schenkte mir den roten Malaier vom letzten Herbst, und ich sagte, ich würd ihm auch was geben, aber später. Ich brachte den Drachen nach Hause, und Frieda sagte: »Für nächsten Herbst.«

Ich durfte nicht mehr ins Wohnzimmer, und hinter der Tür war Geraschel und Schritte, und aus dem Radio klang »Eine Muh, eine Mä, eine Tätärätätä«, und ein Mann sang nebenan tief und laut: »Kooomm inn unser Hahahaahaus.« Ich schob die Decke, die gegen Zug und Kälte vor dem Fenster hing, zur Seite und sah das Landen des Schnees auf dem Fenstersims, er schmolz an den glänzenden Spitzen der Kristalle, und der Wind härtete die Reste, bis die Flocke verging und sich in das feine Geniste der Eisblumen vergrößerte. Ich ging mit dem Fingernagel daran entlang, daß das Kalte feingetürmt ans Nagelbett schmerzte, als hätte ich mich geklemmt.

»Vorsicht«, hörte ich Frieda sagen, und ein Stuhl rückte, meine Mutter sagte: »Jajaja«, und ich dachte daran, daß der Weihnachtsmann nun bald käme, weil es draußen schon dämmerte. Frieda öffnete die Tür und sagte: »Du lauschst doch nicht?« Und ich sagte: »Nein.« Ich erinnerte mich an die Angst vom vorigen Jahr, als ich mich hinter Frieda gestellt hatte, und ich wollte sie fragen, woher und wann und wie er käme, aber sie legte den Finger auf die Lippen und lächelte und schloß die Tür. Ich blickte wieder hinaus, und das Gelb am Himmel wurde grau.

Ich hörte noch, wie ruhig und artig ich sei, »und daß der Weihnachtsmann das sicher auch wüßte und anrechnen würde«, und ich nahm mir vor, noch mehr zu tun, was ihm Freude machen müßte, so kurz vor dem Fest. Dämmer der tiefen Wolken, das Verschwinden im Dunkel, und ich hörte noch einmal »Weiße Weihnacht«, und daß es ein Geschenk sei, Weihnachten in der schlechten Zeit.

Fünf Uhr schlug es auf dem Flur, und ich hörte Kinderweinen im Nebeneingang und schwere Schritte. Kniete auf dem Stuhl, den Hals gereckt, das Kissen unter den Knien, mir schauderte. Sah die Flocken fallen, zögernder jetzt in der Dunkelheit, als müßten sie erst sehen …

Und dann die große Gestalt, Geschenke, gebeugt der Rücken von der Last. Poltern der Haustür nebenan, es klang, als wär’s das metallene Tor einer riesigen Halle, und als er nach einer Weile wieder herauskam und auf die andere Seite des Sternecker Wegs hinüberstapfte, sah er zu unserem Fenster herüber, ging die Schritte, bis er uns gegenüberstand, nur durch den kleinen Vorgarten von mir getrennt, hinter dem kleinen, weißen Wall, und meine Mutter stand hinter mir. Und sie sah es auch, auf Schulter und Bart Glitzer vom Eis, Kristall, Diamant und Brillant, Edelsteingewitter, Saphir und Rubin über und über, der Purpurmantel aus Brokat, in der Farbe ein wenig wie der Morgenmantel meiner Mutter. Gebeugt von den Gaben nicht nur, gekrümmt auch vom Ewigkeitsalter, drohte er mit der Rute, schüttelte sie, und das Licht um ihn war wie gewunden, gekörnt, alles Silber, und er rief laut, ob ich es sei und ob ich hier wohne.

Ging über den Gehsteig, lärmte an der Tür und trampelte, als bräche Eis unter dem Stiefel, und schlug an die Tür wie mit Eisen. Und fragte wieder, wer hier wohne und ob ich es denn sei. Nichts konnte ich sagen, das Gedicht nicht und keine Auskunft, aber als er fragte, wo mein Vater denn sei, sagte ich, er sei zu Schönfelder, dem Kaufmann. Und warum er nicht da sei, und ich schwieg von der Angst meines Vaters.

Er sagte: »Du verschweigst etwas!«

»Nein«, sagte ich leise.

»Und wo hast du den Mantel schmutzig gemacht, Kamerad?« fragte er, die Stimme so tief wie aus einer Regentonne.

»Wo ist das Marzipan aus Waltershof?« Und dann grollte die Stimme. Wie in den Trümmern, wenn einer aus dem zerrissenen Keller sprach: »Auf dein Ehrenwort! Was! willst! du! werden! wenn du groß bist!«

Und Frieda bewegte sich, daß ich einen Schritt tun mußte. Aber ich bemerkte es kaum, Nebel lag über der Kleingärtnersiedlung, und ich hörte, wie Jörn Glasmacher sagte: »… der Drache steht über dem Sumpf.«

*

Erster Weihnachtstag, und im Hellen der Baum so fremd und das Zimmer. Tuffe Kugeln und oben die größeren wie mit rosa Salz bestreut, auf der gekappten Spitze den blankschlanken Hut, glatte Kanten nach oben heraus, geordnete silberne Fäden, wie Federn wippen, nur buschig und rund.

»Mit dem Gedicht soll es ja gar nicht geklappt haben«, sagte mein Vater, und Frieda: »Der Junge war so aufgeregt«, und: »Aber er hat es gekonnt!« Und ich fragte, wie es bei Schönfelder gewesen war.

»Der Junge hat ja geweint dabei, da kann er ja auch nicht sein Gedicht aufsagen«, sagte Frieda. Und ich dachte an den Schritt, den ich tat und fühlte Friedas Hand auf der Schulter. »Alles war blank und hat geglitzert am Mantel«, und ich zeigte zum Fenster, »an der Straße, wo der Schnee so hoch ist.« Und ich zeigte so hoch, wie ich saß.

»Er meint die Hecke«, sagte Frieda.

»Nun iß endlich und red nicht soviel, bei Tisch wird nicht gesprochen«, sagte er und zeigte auf den Teller.

»Wir sind alle fertig.« Meine Mutter kam durch die Tür.

»Er will Henker werden«, sagte mein Vater und schüttelte den Kopf. Meine Mutter ging langsam und hatte braunen Stoff über dem Arm. Sie sagte wenig, konnte nicht richtig sprechen. Sie kam aus einem anderen Land.

Als sie etwas von der Straße hörte, ging sie ans Fenster und sagte: »Juni Lindmann.«

Der kam mit der Zündapp, meine Mutter sagte: »A – uto«, und das war falsch, weil das eigentlich Motorrad hieß, auch wenn Frieda es Kraftrad nannte.

»Warum spricht sie so komisch?« hatte ich Frieda einmal gefragt, und Frieda hatte gesagt, die Mutter wär noch nicht lange hier und käme von weit. Da wo sie zu Hause sei, gebe es keinen Winter. Und die dort würden so sprechen wie die Soldaten draußen, eine andere Sprache, nur noch ganz anders, und ich fragte ängstlich, ob sie aus Rußland sei. Aber Frieda sagte, das sei ja der Osten, und meine Mutter käme von Süden, jenseits der Alpen, und beschrieb die Berge höher als alle Türme und Häuser, höher wohl noch als die Wolken manchmal, und darum, wenn sie sänge, würde sie niemand verstehen.

»Wenn ich dich kauen seh, kommen mir die Tränen«, sagte mein Vater, und Frieda sagte: »Nun ist ja auch Christfest.« Und Onkel Jonni kam rein. »Auf der Washington-Allee macht der Tommi Kontrollen«, sagte Onkel Jonni, und es sei die reinste Schlitterpartie mit der schweren Maschine, und er gab meiner Mutter die Hand, und mich fragte er, ob ich mitfahren wollte auf dem Motorrad, und mein Vater sagte, ich sei noch zu klein, und wenn, dann im Sommer, wenn er wieder den Beiwagen hätte, und ich freute mich.

»Wenn ich kurze Hosen anzieh«, sagte ich. Und mein Vater: »Der Teller. Gleich ist genug.«

Onkel Jonni fragte meine Mutter, wie ihr das Christfest in Deutschland gefiele, und sie sagte: »Gutt«, und sah gleich auf den Boden. Ging an die Nähmaschine, sah aus dem Fenster, wo die Flocken wieder auf das Glas trafen, und als sie den schweren Stoff an sich zog, rutschte er zu einem Teil auf ihren Schoß, und sie schob ihn mit dem Arm auf den Nähtisch zurück und sah wieder hinaus.

»Komm, wir gehen zu Gine«, sagte mein Vater, und als er aufstand, schurrte der Stuhl über die Dielen. Onkel Jonni ging an den Nähtisch, und als er meiner Mutter die Hand gab, sah sie kaum auf. Mein Vater trat auch zu ihr.

»Wir gehen zu Gine«, sagte er, »wegen Silvester.« Die Tür ging, und er wies mit dem Finger auf meinen Teller, daß ich gleich auf die gestampften Kartoffeln mit der weißen Soße sah, und der Rand mit der blauen Linie schien größer zu werden, je länger ich den Strich im Auge behielt.

»Vergiß das Kauen nicht«, sagte mein Vater, »wenn ich wiederkomm, und du sitzt immer noch hier, Kamerad, und hast die Backentaschen voll, dann ist der Teufel los.« Und Frieda bewegte die Hände, die dicht an meinem Teller lagen.

Er ging, und Onkel Jonni fuhr mir mit der Hand durch die Haare. »Schön essen«, sagte er, »hörst du? Und im Sommer fahren wir Motorrad.« Die Tür schloß sich hinter ihnen.

Frieda stand auf. »Wir gehen nach nebenan«, sagte sie, und ich sah zu meiner Mutter. Die rührte sich nicht, und Frieda nahm mein Besteck und den Teller und öffnete mit dem Ellenbogen die Tür. Wir gingen in Friedas Zimmer, in dem es immer nach Bügeleisen roch. Wenn es die Stärke sengte, über dem weißen Hemd oder Laken hin- und herfuhr und dampfte. Da stand auch der Eßzimmerschrank an der Wand, mit seinen hohen verdrehten Säulen, wie in das gezähnte Gesims gebohrt, dem drohend landenden Adler, die steifen Türen wie Tor, seidenmatt und schwarz, wie das Haus in der Nacht, das die Wege versperrt.

Wenn wieder das Holz ausging, wollte mein Vater mit der Axt daran. »Das Luder hat mich lange genug gestört«, und würde zudem das halbe Zimmer fressen, hatte er gesagt. »In den Ofen mit dem Kasten«, und wenn Tage waren, an denen die großen Türen sich öffneten, kamen Gäste, und das Geschirr, das man so selten sah, von Speisen gefüllt, daß es nur so dampfte, genau wie am Waschtag, und während die Wohnung sich füllte, blieb der Schrank geöffnet, an den Türen das knarrende Schwingen des dickdunklen Holzes. In der Tiefe gestapelt, die großen Teller, und vom Wenigen, das die Bombennächte gelassen hatten, die schweren Gabeln und Löffel und die Messer, die Frieda immer putzte, die rissigen Griffe aus richtig gelbem Elefantenzahn in Holzkästen zu klemmen, die innen leuchtblau mit Samt ausgeschlagen waren, die hohen Terrinen mit geschwungenen Füßen. Und Frieda war erst ruhig, wenn sich mit dumpfem Anschlag die Burg wieder schloß und die Gäste gegangen waren.

»Das ist noch aus Kaisers Zeiten«, hatte Frieda oft schon gesagt, und ich stellte mir dann die Tische vor in endlos langer Reihe, der Kaiser am Tischende mit hoher goldener Mütze, der allen freundlich zunickte, nie schimpfte und die Kinder anlächelte. Frieda hatte auch von einem erzählt, der alle kannte und alle einließ an einem Tag, weil er die Schlüssel hätte, und käm man über einen dornigen Pfad, daß einem die Füße blutig würden, mehr noch als in den Trümmern, so stünd er da und sehe in ein Buch, in dem, was jeder je gemacht, aufgeschrieben sei, aufgezeichnet bis ins Kleinste, und der würd den Himmel ordnen und gleichzeitig auch das Wetter. Der wachte darüber, daß die Störche den Störchen klapperten, der Hund dem Hunde bellte, und er ließ nur ein nach seinem Buch. Und wenn es ihm nicht gut genug war, wie es darin aufgeschrieben stand, ging es gradeab in die Hölle, wo es andauernd brodelte und kokelig zischte, und selbst das Böseste verkochte in gußeisernen Kesseln, von hoher blauer Flamme geheizt.

»Und die Schweine, kommen die da auch rein?« hatte ich gefragt. Frieda sagte nach einer Weile: »Die nicht. Die wohl nicht.« Und als sie weiter erzählte, merkte ich, daß alles, was man essen konnte, nicht in den Himmel kam. Das im Wasser, auf der Wiese, die Schwimmer und Suhler, die Springer und Läufer. Auch die Schenkel der Pferde, die am Haken baumelten, das Fleisch in Därme gezwängt – alles, was gegessen wird, kann den Himmel nicht finden. Und Frieda sagte, daß in dem Land, aus dem meine Mutter kam, sogar die Esel und Kamele gegessen wurden, und ich schämte mich für das Land meiner Mutter. Und als ich fragte, ob auch die chinesische Nachtigall des Kaisers nicht in den Himmel käme, da bewegte Frieda den Kopf und sagte: »Die doch. Das glaub ich schon.«

Und ich fragte Frieda, ob die Engländer den Blockwart aufhängen würden, wenn er Fehler machte. Am Abend sprach ich mit meiner Mutter, die das Wort Kamel nicht verstand, und als sie es wußte, sagte sie mir, sie kenne es nur aus dem Zoo, zusammen mit Löwe und Tiger. Und mein Vater schimpfte mit Frieda und sagte, das sei alles Unsinn, und ich sah Pfahl und Zaun brechen und alles Viehzeug unter einem Himmel bewegt.

Mein Vater saß am Tisch, als ich morgens ins Zimmer trat. Er sah nicht auf. Links von ihm lag ein großes dickes Stück Karton, und das Papiermesser schliff er an dem ausgerundeten Stein, die große Pappschere daneben, allerlei Draht, Bunt- und Kopierstift, und er schnitt aus dem grauen Karton eine runde Scheibe am Rand des Tellers entlang und malte etwas an den Rand und bohrte mit einem Nagel ein Loch in die Mitte. Dann schnitt er mit der Schere zwei schmale Streifen, einen etwas kürzer, spitzte sie zu, daß sie wie Pfeile waren, und wo sich das Rund halbierte und viertelte, machte er die Zahlen größer und in anderer Farbe, befestigte die Pfeile mit Draht in der Mitte und sah mich an.

»Frühstück«, sagte Frieda, und mein Vater beugte sich wieder über die Pappe, und ich sah viel von seiner Schulter und den Kopf nur halb.

»Was willst du essen?« fragte Frieda. Mein Vater sagte, ohne sich umzusehen: »Was fragst du, gegessen wird, was auf den Tisch kommt.« Da hätte man viel zu tun, die Kinder in so einer Zeit auch noch zu fragen, und ich sah, daß er den Kopf schüttelte, und Frieda ging an die Hexe und blies in die Glut, nachdem sie die Feuerringe auf den Haken gespießt hatte, und legte noch ein paar Reiser nach, ging zum Handstein, und als sie den Wasserhahn aufdrehte, kamen nur ein paar Tropfen, und sie sagte: »Wasser ist weg«, und ging zum Eimer, der neben der Speisekammer stand, hob die Emailleschüssel an, die den Eimer abdeckte, damit kein Staub ins Wasser kam, schöpfte mit dem Maßbecher, gab es in die eckige Porzellanschüssel, auf der sich der Reichsadler auf dem Hakenkreuz hielt, und rührte vorsichtig.

»Damit nichts verlorengeht«, sagte sie und lächelte mir zu. Mein Vater drehte den Kopf hinter seiner Schulter hervor und sah mich ernst an, und ich sah auf den Tisch. Frieda sagte, sie sei gleich fertig, »nur noch Grieß dazu«. Mein Vater stand auf, nun ganz nach vorn gebeugt, daß der Kopf überhaupt nicht mehr zu sehen war, bewegte den Arm und ich hörte ein Geräusch, als würde etwas besonders langsam zerrissen, und dann wie er den Teller abstellte, und ich dachte, daß ich gerne zugesehen hätte, wie das Scharfe am Tellerrund entlang fuhr und in den Karton biß.

»Vielleicht gibt’s heute wieder Nudelsuppe, beim Schwedenessen«, nickte Frieda. »Die magst du doch so gerne.« Und sie stand bei der Hexe und schwang den kleinen Topf über dem vergrößerten Feuerloch, denn die Ringe und das Mittelstück lagen neben dem Topf und der lange Feuerhaken dazwischen, der Handgriff auf Fassung, wohl damit er nicht zu heiß wurde, und die Fassung ging als Messingrohr ganz um die Hexe herum, daß sie wie ein Geländer aussah. Die Geschirrhandtücher hingen daran, und Feuerhaken und Feuerzange. »Sooo«, sagte Frieda und goß in den Teller, auf dessen Grund der gestiefelte Kater mit weitausholender Bewegung den Hut zog. Und ließ aus der hohen Mokkakanne heißes Wasser in den kleinen Stutzen am Tellerrand laufen, verschloß den Stutzen mit einigen Drehungen und schob mir den Teller unter das Gesicht. »Erst beten«, sagte Frieda, »die kleinen Händchen werden gefaltet, sooo.« Und ich sagte »Amen«, nachdem Frieda es auch gesagt hatte.

»Komm«, sagte mein Vater, nachdem ich gegessen hatte. Er hatte die graue Scheibe nun vor sich. Es waren Blumen darauf und Verzierungen so wie bei Tante Gine auf dem Flur, wo der Vogel aus der Klappe sah und schrie, war der große Zeiger oben. »Das ist die Zwölf«, sagte mein Vater und zog meinen Stuhl mit einer Hand näher an den Rand des Tisches, daß ich ihn an der Brust spürte. »Warte, ich leg dir noch ein Kissen unter«, sagte Frieda, »dann sitzt er höher.« Sie war an der Feuerhexe, und in der Ecke darüber war die Sonne zum Trocknen angebracht, lauter runde Stäbe zum Fächer nebeneinander.

»Guck her«, sagte mein Vater, und als ich noch einmal zu Frieda sah, »hierher, hab ich gesagt.« Er legte die Scheibe vor mich, und ich sah die Blumen am Rand und sagte: »Wie bei Tante Gine, die Uhr im Flur«, und mein Vater sah mich an.

»Das Runde ist die Uhr. Daran kann man ablesen, wie spät es ist. Hast du verstanden?« Und ich nickte und dachte daran, daß ich um sieben immer ins Bett mußte und mein Vater meist vorher schon sagte: »Gleich ist es soweit«, oder »Jetzt wird es Zeit!«, und ich nickte noch einmal. »Oben ist es die Zwölf. Hast du das verstanden?« Und ich sagte: »Ja.« »Und unten die Sechs!«

Frieda kam an den Tisch und stützte sich auf die Lehne meines Stuhls, daß ich es spürte. »Du kannst doch schon bis tausend zählen«, sagte sie. »Und zwölf ist zwei Finger mehr, als du an den Händen hast. Zehn und zwei Finger mehr«, und sie hielt erst beide Hände hoch, seitlich von meinem Gesicht, und dann noch einmal Daumen und Zeigefinger direkt vor meine Augen. »Laß mal«, sagte mein Vater und sah Frieda an, und sie ging wieder an die Sonne und hing das Handtuch auf, das ich so gerne mochte, das mit dem breiten roten Rand.

»Hierher«, sagte mein Vater, und ich sah wieder auf die Scheibe. »Die roten Zahlen sind etwas größer, siehst du das?« Und ich nickte. »Ich hab gefragt, ob du das siehst!« Und ich sagte ja und nickte schnell. Frieda kam wieder herüber. »Soll er das nicht besser nach Weihnachten lernen?« Mein Vater sah sie an, und sie ging wieder zur Hexe und bewegte den Feuerhaken.

»Zwölf, Drei, Sechs, Neun und wieder die Zwölf, alles in Rot.«

»Und die Dreizehn?« fragte ich, aber mein Vater sagte, ich solle still sein, das komme noch und ich solle mich auf das konzentrieren, was er sage, und das Ganze sei aus zwei Hälften, eine links und die andere Seite rechts, und die Hälfte der Hälfte sei ein Viertel. Als er die bunten Zeiger bewegte, drehte er den längeren schnell, und wenn der größere einmal rum war, drehte er den kleineren zur nächsten Ziffer und nannte es Stunde, und die Stunde habe sechzig Minuten, immer fünf Minuten zur nächsten Zahl. »Das mit den Sekunden brauchst du dir nicht gleich zu merken.« Der ganze Tag aber habe vierundzwanzig Stunden und der halbe nur zwölf.

Nur, daß der größere Zeiger einmal rumgehe, und der kleinere nur dieses kurze Stück, vielleicht doch, weil er kleiner war, aber ich mochte es nicht behalten, und mein Vater erklärte es immer wieder, und als er die Hälfte der Hälfte zeigte, und der große Zeiger oben war, auf der Zwölf, und er den Finger auf die Drei legte, da sagte ich »drei«, und es war richtig. Aber alles, was dreizehn nach oder siebzehn oder vierzehn vor war, das konnte ich nicht sagen, obwohl ich es unterm Tisch mit den Fingern zählte, und irgendwann legte mein Vater die Scheibe in einen grünen Pappdeckel, stand auf, sah mich lange an und schüttelte den Kopf bedauernd, und ich sah, daß er traurig war, und er ging hinaus und schloß leise die Tür.

Ich saß noch länger am Tisch und sah auf die große Decke, Frieda hatte sie selbst gehäkelt, damals als sie noch jung war, und Frieda trat hinter mich, und ich blieb sitzen, und als mein Vater wieder hereinkam, ging Frieda an den Handstein, und als er sie ansprach, sagte sie etwas, und er erwiderte, daß ich’s nicht hören konnte, und lauter: »Soweit kommt es noch«, und Frieda ließ einen von den Löffeln fallen, daß es klirrte, und mein Vater ging, ohne mich anzusehen.

»Nicht traurig sein«, sagte Frieda und strich mir über das Gesicht und sagte, wie es gewesen sei, früher als sie selber noch Kind war, mit ihren Schwestern.

Und Frieda stand am Herd und erzählte von den Bomben der Amis und Tommis und daß ich gerade geboren worden sei in der Zeit, als die Engländer die Terrorangriffe auf Hamburg flogen. Schwarz sei der Himmel von Fliegern gewesen. Flügel an Flügel, nur brummendes, dröhnendes Drohen, und daß die ganze Stadt brannte im Sturm, und die Menschen und Dinge ins Feuer gezogen wurden von dem Orkan in den Straßen, den die Hitze gemacht, daß sie gebacken wurden in den dicken Bunkern, klein geschmurgelt zu Zwergen, das flüssige Menschenfett knöchelhoch in den Schutzräumen der Stadt. Wie das Lamm in der Tonform gart.

Und das scheuchende Feuer, der Sturmwind, so laut vom Ächzen der brechenden, platzenden Mauern und Balken, vom Schmelzen der Steine, dem brodelnden, kochenden Teer von den Straßen. Die Schreie der Menschen nicht hörbar, stumm vor dem Bersten der Bomben, dem Brand. Und dazwischen das Wummern der hilflosen Flak. Der Schrei der Sirenen. Das Heulen der Hunde wollte nicht enden. Billbrook und Rothenburgsort, als wär’s nie gewesen. Kein Fenster, kein Haus, keine Menschen, Bäume und Türme, die Kirchen verkohlt. Alle Plätze verschüttet. Die Schiffe auf der Elbe gesprengt und geschunden, alle Kräne und Docks verrutscht und die Brücken geborsten, gesunken. Der Hamburger Himmel blieb rot in den Nächten, »konnt man bis Dänemark sehn«, sagte Frieda.