Die nackte Wahrheit - Neil Strauss - E-Book

Die nackte Wahrheit E-Book

Neil Strauss

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Beschreibung

Neil Strauss ist Schriftsteller und Journalist. Und sexsüchtig. Auf seine smarte, direkte Art geht er den Themen nach, die Frau und Mann wirklich bewegen: Liebe, Sex, Partnerschaft. Sein Weg führt ihn von viagragetriebenen Orgien über hochseriöse wissenschaftliche Testserien bis in einen modernen Harem. Dabei bleibt Strauss immer schonungslos ehrlich. Jeder von uns hat seine eigene nackte Wahrheit – und falls nicht, werden Sie beim Lesen trotzdem eine verdammt gute Zeit haben …

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Das Buch

Neil Strauss ist Schriftsteller und Journalist. Und sexsüchtig. Auf seine smarte, direkte Art geht er den Themen nach, die Frau und Mann wirklich bewegen: Liebe, Sex, Partnerschaft. Sein Weg führt ihn von viagragetriebenen Orgien über hochseriöse wissenschaftliche Testserien bis in einen modernen Harem. Dabei bleibt Strauss immer schonungslos ehrlich. Jeder von uns hat seine eigene nackte Wahrheit – und falls nicht, werden Sie beim Lesen trotzdem eine verdammt gute Zeit haben …

Der Autor

Neil Strauss schreibt als Journalist für die New York Times und den Rolling Stone. Er war Co-Autor der beiden New York Times-Bestseller-Autobiographien »The Dirt« von Mötley Crüe und »The Long Hard Road Out of Hell« von Marilyn Manson. Aufsehen erregte Strauss mit seinem vieldiskutierten Sachbuch-Bestseller »Die perfekte Masche«, dem Vorläufer von »Die nackte Wahrheit«.

NEIL STRAUSS

DIE

NACKTE

WAHRHEIT

VON DER ERREGENDEN KUNST, TREU ZU SEIN

Aus dem Amerikanischen von Jan Schönherr

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe The Truth erschien 2015 bei Dey St./William Morrow, New York

Unter www.heyne-hardcore.de finden Sie das komplette Hardcore-Programm, den monatlichen Newsletter sowie alles rund um das Hardcore-Universum.

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Vollständige deutsche Erstausgabe 06/2017

Copyright © 2015 by Neil Strauss/Stately Plump Buck Mulligan

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickies

Umschlagillustration: Melville Brand Design GmbH, München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-20736-6V002

www.heyne-hardcore.de

OFFENE KARTEN

Dieses Buch deckt einen Zeitraum von etwa vier Jahren reinster Achterbahnfahrt ab, und ich musste einer Menge Leuten Anonymität versprechen – hauptsächlich Männern, die ihre Familien zerstört haben, und Frauen, deren Leben ich zerstört habe. Um all das auf einen lesbaren Umfang zu verdichten und nicht zu kompliziert zu machen, etwas Wahres über Beziehungen zu sagen und die gewünschte Anonymität zu wahren, habe ich Geschehnisse, Menschen, Orte und Situationen geändert, gestrichen, kombiniert und komprimiert. Auch Namen und besondere Merkmale der auftretenden Personen habe ich teilweise geändert. Wenn Sie also meinen, sich beim Lesen wiederzuerkennen, sind Sie schief gewickelt. Ihre Geschichte ist einfach nur dieselbe wie die der meisten anderen in diesem Buch: Sie sind fremdgegangen und wurden erwischt.

Für meine Mutter und meinen Vater.

Es heißt, Eltern lieben

ihre Kinder absolut bedingungslos.

Hoffen wir, das gilt auch noch,

nachdem ihr dieses Buch gelesen habt.

WIR BRAUCHEN

DEN ANDEREN,

ABER WIR HABEN

NICHT GELERNT,

MITEINANDER

ZU LEBEN.

Rainer Werner Fassbinder,

Die bitteren Tränen der Petra von Kant

WARNUNG

Die folgenden Seiten enthalten eines der furchterregendsten und obszönsten Wörter der Welt: Bindung. Genauer gesagt jene Art Bindung, die so oft mit Liebe und Sex einhergeht.

Zu wenig, zu viel, schlecht gewählte oder missverstandene Bindung hat im Lauf der Geschichte immer wieder zu Morden, Selbstmorden, Kriegen und jeder Menge Kummer geführt.

Und zu diesem Buch, das der Frage nachgeht, weshalb so viele Menschen in Sachen Beziehungen und Ehe immer wieder daneben greifen – und ob man nicht auch besser leben, lieben und Liebe machen kann.

Diese Entdeckungsreise trat ich jedoch nicht aus rein journalistischem Interesse an. Vielmehr ist sie der schmerzhaft ehrliche Bericht von einer Krise, die ich mir selber eingebrockt hatte. Wie die meisten derartigen Reisen begann sie in Finsternis, Dummheit und Verwirrung.

Es liegt in der Natur der Sache, dass ich viele Dinge erzählen muss, auf die ich nicht gerade stolz bin – und ein paar, die ich wohl sehr viel mehr bereuen sollte, als ich es tue. Denn dummerweise bin ich nicht der Held dieser Geschichte. Ich bin der Bösewicht.

DAS BESTE, WAS WIR FÜR UNSERE BEZIEHUNGEN MIT ANDEREN TUN KÖNNEN, IST, UNS DER BEZIEHUNG ZU UNS SELBST BEWUSSTER ZU WERDEN. MIT NARZISSMUS HAT DAS NICHTS ZU TUN. IM GEGENTEIL, ES IST DAS LIEBEVOLLSTE, WAS WIR FÜR DEN ANDEREN TUN KÖNNEN. DAS GRÖSSTE GESCHENK, DAS WIR ANDEREN MACHEN KÖNNEN, IST, SO GUT ZU SEIN, WIE WIR NUR KÖNNEN. PARADOXERWEISE MÜSSEN WIR ALSO, UM UNSEREN BEZIEHUNGEN ZU ANDEREN GERECHT ZU WERDEN, ALS ERSTES UNSEREN EIGENEN WEG ANNEHMEN.

James Hollis: The Eden Project

Ingrid,

bitte, wenn das immer noch du bist: Im Ernst, lies nicht weiter!

Willst du nicht lieber deine Mails checken oder so? Und hast du eigentlich schon dieses Video gesehen? Das mit der Katze, die irgendwas total Menschliches macht? Zum Totlachen, guck dir das doch lieber mal an. Das Buch taugt eh nicht besonders viel. Ich habe deutlich bessere geschrieben. Lies doch einfach eins von denen.

Ernsthaft, hör jetzt auf zu lesen! DAS IST DEINE

LETZTE CHANCE.

PROLOG

Verdeckte Karten

Jede Familie hat eine Leiche im Keller.

Vielleicht wissen Sie ja, wer das bei Ihnen ist. Vielleicht sind Sie sogar selbst die Leiche. Oder Sie glauben, Ihre Familie sei anders, die Ausnahme von der Regel, halten sich für ein Sonntagskind mit perfekten Eltern und lupenreiner Familiengeschichte. In diesem Fall haben Sie bloß noch nicht die richtige Kellertür geöffnet.

Auch ich hielt mich mein halbes Leben lang für vollkommen normal. Bis ich die richtige Tür fand.

Sie befand sich im Zimmer meines Vaters. Sie war weiß, die Farbe war an den Rändern abgesplittert, und sie hatte einen von seinen großen Pranken abgenutzten Messingknauf. Von der Hoffnung auf versteckte Pornos angespornt, machte ich sie auf.

Ich war Jungfrau, fast durch mit der Pubertät, hatte sturmfrei und sehnte mich nach der weiblichen Haut, die mir im wahren Leben grausamerweise verwehrt blieb. Vor einer Weile hatte ich unter den Zeitschriften meines Vaters einen Playboy und ein Penthouse entdeckt, und darum schien es nur logisch, dass mich in einem tieferen Winkel seines Zimmers eine noch viel bessere Form der Pornografie erwartete. Die, bei der die Bilder sich bewegen. Pornofilme.

Ganz hinten im Schrank, unter einer Reihe ehemals blauer, inzwischen aber beinah weißgewaschener Mischfaser-Hemden mit Monogramm auf der Brust, fand ich drei braune Papiertüten voll VHS-Kassetten. Auf dem Boden sitzend, nahm ich sie in Augenschein, wobei ich peinlich darauf achtete, sie exakt so wieder einzuräumen, wie ich sie herausgenommen hatte.

Auf keinem der Bänder stand etwas von Pornos, aber so blöd wäre mein Vater auch kaum gewesen. Also sortierte ich die unbeschrifteten Kassetten aus. Da meine Eltern mir keinen Fernseher erlaubten, trug ich sie ins Wohnzimmer, wo der kleine Apparat und der Videorecorder standen, die ein Onkel uns vor langer Zeit geschenkt hatte.

Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.

Auf dem ersten Band fand ich ein auf PBS gesendetes Jazzkonzert von Dizzy Gillespie. Enttäuscht spulte ich vor, in der Hoffnung, das Konzert sei bloß Tarnung für eine heiße Szene mit zwei scharfen blonden Lesben. Stattdessen kamen als nächstes je eine Folge Newhart und Masterpiece Theatre. Als Wichsvorlage geradezu spektakulär ungeeignet, ungeeigneter geht es nicht.

Das nächste Band enthielt eine Aufnahme von Die Nacht vor der Hochzeit, gefolgt von einem Tennismatch und jeder Menge weißem Rauschen.

Dann legte ich die dritte Kassette ein, sah zu, wie sie im Gerät verschwand, und drückte Play. Schon bei den ersten Szenen war meine Aufregung mit einem Schlag wie weggefegt. Mir wurde eiskalt. Das Bild meines Vaters als lammfrommer, duldsamer Geschäftsmann war auf ewig dahin.

Ich sah Dinge, von deren Existenz ich bisher nichts geahnt hatte.

Mit einem Mal, so als hätte ich aus Versehen einen Theatervorhang aufgerissen und die Bühnenaufbauten freigelegt, wurde mir klar, dass die Wahrheit über meine Familie mit der Fassade nicht besonders viel zu tun hatte.

»Versprich mir, dass du das keinem erzählst«, verlangte meine Mutter, als ich sie über meinen Fund befragte. »Nicht mal deinem Bruder oder deinem Vater.«

»Ich versprech’s«, versicherte ich.

Und tatsächlich habe ich nie irgendwem erzählt, was ich damals über das dunkle Geheimnis meines Vaters erfuhr.

Zumindest nicht, bis dieses Geheimnis zu einer Säure wurde, die meine Beziehungen und mein Moralgefühl zerfraß. Bis von mir nur noch ein einsamer, verschmähter Rest blieb. Bis es mich in eine psychiatrische Anstalt brachte, wo es hieß, ich müsse, um meines Glücks, meiner Freiheit und meiner geistigen Gesundheit Willen, meinen Schwur brechen und verraten, was auf diesem Band war.

Ich musste mich also entscheiden: Wie weit würde ich gehen, um meine Eltern zu schützen? Sollte ich die Menschen verraten, denen ich mein Leben verdankte, oder dieses Leben selbst?

Irgendwann stehen wir wohl alle mal vor dieser Wahl. Die meisten Leute wählen falsch.

Vielleicht führt Ihr Vater ein Doppelleben. Vielleicht Ihre Mutter. Vielleicht ist einer der beiden heimlich schwul, lesbisch oder ein Transvestit, geht zu Nutten oder in Stripclubs, zieht sich Pornos im Netz rein oder liebt den anderen schlicht nicht mehr. Vielleicht auch beide. Vielleicht nicht Ihre Eltern, sondern Sie, oder der Mensch, den Sie lieben. Irgendwo liegt immer eine Leiche. Und diese Leiche hat einen Penis. Und sie wird Ihr Leben ficken.

TÜR 1

Untreue

STUFE 1

Das verletzte Kind

WAS WIR NICHT WISSEN, DAS BEHERRSCHT UNS.

James Hollis, Im Schatten des Saturn

1

Auf dem Gangplatz gegenüber im Flugzeug sitzt eine schlanke Schwarzhaarige. Ungefähr zwischen siebzehn und dreiundzwanzig Jahre alt, mit dem gewissen Etwas: dunkler Eyeliner, falsche Wimpern, ein kleines, rundes Tattoo über dem Steiß, rosa Kopfhörer und das Dauerschmollen eines Mädchens, das sauer auf seinen Dad ist, aber sofort mit jedem rücksichtslosen Arschloch ins Bett geht, das es an ihn erinnert.

Neben mir, eine mittelalte Frau mit riesiger Fake-Designer-Sonnenbrille und einem Sommerkleid, das ein milchweißes Dekolleté offenbart. Eine zwanzigminütige Unterhaltung und eine geschickt drapierte Airline-Decke später könnte dort schon meine Hand liegen.

Vor mir eine magere, ziemlich abgefuckte Rothaarige. Wahrscheinlich Alkoholikerin.

Nicht wirklich meine Baustelle, aber von der Bettkante würde ich sie auch nicht stoßen.

In meinem Kopf ist eine Karte. Darauf markieren LEDs die Positionen aller halbwegs ansehnlichen oder auch nur im Mindesten sexuell interessanten Frauen um mich herum. Noch ehe das Flugzeug auf Reiseflughöhe ist, habe ich mir für jede einzelne ausgedacht, wie ich sie ansprechen könnte, mir vorgestellt, wie sie nackt aussieht und wie sie bläst, und sie in Gedanken entweder gleich auf der Bordtoilette oder später im Mietwagen oder im Hotelzimmer gefickt.

Das ist es also: das letzte Mal, dass ich so geil sein, dass ich auch nur mit dem Gedanken spielen darf, mit einer neuen Frau zu schlafen. Und mein Hirn spielt verrückt. Ich stehe auf alle und jede. Nicht, dass das je anders gewesen wäre, doch diesmal schmerzt es irgendwo tief in mir – im Kern meines Wesens, meines Selbst, meines Lebenssinns.

Ich reise mit leichtem Gepäck – ohne Computer, ohne Handy, überhaupt ohne technische Geräte. Wo ich hingehe, ist das alles nicht erlaubt. Mit meinen Gedanken so allein zu sein hat etwas Befreiendes – auch wenn sich die meisten dieser Gedanken darum drehen, ob ich eher die potenziell Minderjährige rechts von mir oder den pockennarbigen Rotschopf vor mir ansprechen soll.

Als das Flugzeug das Gate erreicht, steht ein Mann mit Brille auf und drängt sich zum Gang durch. Dabei mustert er die Schwarzhaarige eingehend von Kopf bis Fuß. Angraben wird er sie nicht; dafür hat er schon zu lang geglotzt. Er prägt sich das Bild ein, speichert es ab. Für später, wenn er es brauchen wird.

Ich frage mich, warum ich mir das überhaupt antue. Männer sind eben so. Der Typ da ist vermutlich noch viel schlimmer als ich.

Auf dem Weg durchs Terminal ziehe ich einen Zettel aus der Tasche: »Ihr Fahrer holt Sie am Gate ab. Er trägt ein Schild mit dem Buchstaben D, damit man nicht sieht, wohin Sie fahren.«

Plötzlich bleibt so ein Typ – Mitte zwanzig, locker eins achtzig, muskulös, breiter Kiefer, also ungefähr das Gegenteil meines Spiegelbilds – wie angewurzelt vor mir stehen. Die Kinnlade klappt ihm nach unten, als hätte er ein Gespenst gesehen. Ich weiß schon, was jetzt kommt, will ihn schnellstmöglich abwimmeln. Mein Fahrer ist das garantiert nicht.

»Hey, sind Sie nicht …«

Aus irgendeinem Grund kriegt er die nächsten Worte nicht über die Lippen.

Ich warte drauf, dass er sie ausspuckt, aber es kommt nichts mehr. »Ja«, antworte ich.

Schweigen.

»Also, hat mich gefreut. Ich muss mal weiter, ein Freund wartet auf mich.« Mist, das war gelogen. Dabei habe ich geschworen, das zu lassen. Manchmal gehen einem Lügen einfach viel leichter von der Zunge als die Wahrheit.

»Ich hab Ihr Buch gelesen«, sagt der Typ.

»Gerade erst?«, frage ich, warum auch immer. Mich von Leuten loszureißen, die sich für mich interessieren, ist nicht gerade meine Stärke. Darum bin ich ja hier. Und wegen der Lügen.

»Nein, vor drei Jahren.«

»Freut mich.« Er sieht nicht wirklich wie einer aus, der meinen Rat je nötig gehabt hätte.

»Mit Ihrer Hilfe hab ich meine Frau kennengelernt. Ich verdanke Ihnen alles.«

»Freut mich«, sage ich noch mal. Ich stelle mir vor, eine Frau zu heiraten, den Rest meines Lebens mit ihr zu verbringen, keine andere mehr vögeln zu dürfen, stelle mir vor, wie sie alt wird und die Lust auf Sex und mich verliert, und ich immer noch keine andere vögeln darf.

Die nächsten Worte platzen einfach so aus mir heraus: »Und sind Sie glücklich?«

»Oh, ja, absolut«, antwortet er. »Wirklich. Ich hab Die perfekte Masche gelesen, als ich mit der Army im Irak war. Hat mir echt geholfen.«

»Wollen Sie Kinder?« Keine Ahnung, was ich da mache. Ich glaube, ich will ihm Angst einjagen. Will, dass er ein bisschen Muffe zeigt, ein wenig Zaudern oder Zweifel, nur, um mir zu beweisen, dass ich nicht verrückt bin.

»Tatsächlich kommt bald unser Sohn zur Welt«, sagt er. »Bin extra hergeflogen, um bei meiner Frau zu sein.«

Seine Antwort trifft ins Schwarze: mitten in mein Selbstbewusstsein. Hier stehe ich, komplett unfähig, eine Beziehung zu führen, und dieser Kerl da liest mein Buch darüber, wie man Frauen abschleppt, und hat drei Jahre später sein gesamtes Leben auf der Reihe.

Ich entschuldige mich und lasse ihn stehen. Viel kleiner, als ich dachte, denkt er garantiert.

Nach der Sicherheitskontrolle erspähe ich einen Mann mit grauem Haarkranz und einem Schild mit einem Ddarauf. Er sieht jetzt alle Arten von Passagieren hier einrollen: entweder halbtot, zugedröhnt oder verzweifelt bemüht, wie normale Erwachsene zu wirken. Für mich gilt wohl Letzteres.

Ich komme mir vor wie ein Hochstapler. Es gibt Leute, die in diese Klinik müssen, weil sie sonst draufgehen würden. Sie würden sich zu Tode saufen, schnupfen oder spritzen.

Ich dagegen habe lediglich meine Freundin betrogen.

2

Los Angeles, sechs Monate vorher

Es heißt, wenn man jemanden kennenlernt und glaubt, es sei Liebe auf den ersten Blick, soll man die Beine in die Hand nehmen. In Wahrheit hat nämlich nur die eigene Gestörtheit sich mit der des anderen verstrickt. Das verletzte Kind in einem selbst hat das verletzte Kind im Gegenüber erkannt, und beide hoffen nun auf Heilung durch dasselbe Feuer, an dem sie sich verbrannten.

Im Märchen trifft einen die Liebe wie der Blitz. Im wahren Leben sorgt ein Blitz für Verbrennungen. Oder bringt einen sogar um.

Meine Freundin Ingrid sitzt auf dem Fußboden und packt für unseren Trip nach Chicago. Sie hat Geburtstag. Und soll meine Familie kennenlernen.

Ich sehe sie an, liebe einfach alles an ihr, die äußeren wie die inneren Werte. »Ich bin ganz schön aufgeregt, Babe«, sagt sie. Sie ist der reinste Sonnenschein, holt mich Tag für Tag aus meiner finsteren, eigenbrötlerischen Welt heraus. Sie wurde in Mexiko geboren, hat aber einen deutschen Vater, ist irgendwie in den USA gelandet und sieht aus wie eine zierliche, blonde Russin.

Alle vier Elemente finden sich in ihr verkörpert: die Leidenschaft des Feuers, die Festigkeit der Erde, das Spielerische des Wassers, die Zartheit der Luft.

»Ja, ich bin auch aufgeregt.«

Ich versuche, den gestrigen Abend zu verdrängen. Beweise gibt es nicht; dafür habe ich gesorgt. Ich habe gründlich geduscht. Das ganze Auto durchkämmt. Jedes Kleidungsstück nach fremden Haaren abgesucht. Das Einzige, was ich nicht sauberkriege, ist mein Gewissen.

»Soll ich diese Schuhe mitnehmen?«

»Sind doch nur fünf Tage. Wie viele willst du da denn anziehen?«

Manchmal nervt es mich, wie lange sie braucht, um sich fertig zu machen, wie viele Klamotten sie selbst für die kürzesten Ausflüge einpackt, wie ihre High Heels uns daran hindern, mehr als ein paar Blocks zu Fuß zu gehen. Aber letztlich liebe ich ihre Weiblichkeit. Sie verleiht mir altem Penner etwas Glanz. Als ich ihr gestern Abend erzählte, ich müsse Marilyn Manson treffen – einen Musiker, mit dem ich ein Buch geschrieben habe – , um ein neues Projekt zu besprechen, sah ich in ihren grünbraunen Augen nichts als Liebe, Unschuld, Glück und Frieden.

Und trotzdem habe ich’s getan.

»Wie war’s eigentlich gestern Abend?«, fragt sie, während sie sich mit dem Reißverschluss am Koffer plagt.

»Ging so. Haben nicht viel gearbeitet.« Das kann man laut sagen. Als Ingrid unverzagt die kleine Hand auf die pralle Tasche legt, um den Reißverschluss zusammenzudrücken, drängt sich mir das Bild zweier zusammengezwungener Leben auf – die komplett auseinanderfallen, sobald ein einziges Teilchen aus der Reihe tanzt.

»O je. Wenn du willst, kannst du im Flugzeug auf meinem Schoß schlafen.«

Sie lebt die Beziehung ihrer Mutter zu ihrem fremdgehenden Vater nach, ich das heimliche Sexualleben meines Vaters. Wir wiederholen das Muster von Generationen lügender, betrügender Arschlöcher und der armen Tölpel, die ihnen vertrauten. »Danke«, sage ich. »Ich liebe dich.« Glaube ich wenigstens. Aber kann man eine Frau wirklich lieben, wenn man gerade noch eine ihrer Freundinnen auf dem Parkplatz vor der Kirche gevögelt hat und ihr jetzt, sechs Stunden später, deshalb was vorlügt? Mein Kopf ist so von Schuld benebelt, dass ich mir da nicht mehr so sicher bin. Irgendwie habe ich meine Zweifel.

Irgendwann kommt jeder Mann mal an den Punkt, wo er kapiert, dass er den Karren in den Sand gesetzt hat. Er hat sich ein so tiefes Loch gegraben, dass er nicht bloß nicht mehr rauskommt, sondern nicht einmal mehr weiß, wo oben ist.

Für mich ist dieses Loch seit jeher mit Beziehungen verbunden. Nicht nur, weil ich Ingrid fremdgegangen bin, sondern weil wieder mal ein Märchen auf ein ganz und gar nicht märchenhaftes Ende zusteuert.

Das letzte endete damit, dass meine Ex sich mit einer Pistole in ihrer Wohnung einschloss und brüllte, sie würde gleich ihr Hirn über die Wand verteilen, und ich solle ja nicht zur Beerdigung kommen.

Diesmal ist es anders. Ingrid ist weder irre noch eifersüchtig oder klammernd und hat mich nie betrogen. Sie ist eine talentierte, unabhängige Frau, die tagsüber mit Immobilien handelt und abends Bademode entwirft. Dieses Märchen mache ich ganz allein kaputt.

Und zwar, weil ich der König der Zwiespältigkeit bin.

Bin ich Single, wünsche ich mir eine Beziehung. Habe ich eine, fehlt mir das Singleleben. Und das Schlimmste: Ist die Beziehung vorbei, und meine Geliebte/Kerkermeisterin wendet sich von mir ab, bereue ich alles und weiß überhaupt nicht mehr, was ich eigentlich will.

Diesen Kreislauf habe ich nun oft genug durchlaufen, um zu kapieren, dass ich, wenn ich so weitermache, einsam und allein sterben werde: ohne Frau, ohne Kinder, ohne Familie. Es wird Wochen dauern, bis der Gestank so schlimm wird, dass mich jemand findet. Und all der Krempel, den ich angehäuft habe, wird auf dem Müll landen, damit ein anderer den Platz einnehmen kann, den ich verschwendet habe. Ich werde nichts hinterlassen, nicht mal Schulden.

Aber was ist die Alternative?

Die meisten Verheirateten, die ich kenne, wirken auch nicht glücklicher. Manche sehen ganz zufrieden aus, gestehen aber nach ein wenig Bohren ihren Frust. Einige behelfen sich mit Seitensprüngen, andere beißen die Zähne zusammen, viele ergeben sich passiv in ihr Schicksal, und ein paar lügen sich schlichtweg in die Tasche. Selbst meine wenigen glücklich verheirateten Freunde geben auf hartnäckiges Nachhaken hin zu, mindestens einmal untreu gewesen zu sein.

Wir erwarten, dass Liebe ewig hält. Und doch werden fünfzig Prozent aller Ehen geschieden – bei Wiederverheiratungen ist die Zahl sogar noch größer. Nur achtunddreißig Prozent der Verheirateten beschreiben sich als glücklich. Neunzig Prozent der Paare berichten von sinkender Zufriedenheit mit ihrer Ehe nach der Geburt des ersten Kindes. Und apropos: Mehr als drei Prozent aller Babys sind nicht von dem Mann, der sich für den Vater hält.1

Und leider wird das immer schlimmer. Dank modernster Technik stehen uns heute mehr Flirt- und Abschleppmöglichkeiten zur Verfügung als je zuvor. Unzählige verzweifelte Männer und Frauen sind nur einen Klick oder ein Wischen entfernt und machen Treue – beziehungsweise Bindung als solche – noch schwieriger, als sie es ohnehin schon ist. Laut einer neueren Studie von Pew Research halten vier von zehn Befragten die Institution Ehe für überholt.

Vielleicht liegt es also doch nicht nur an mir. Vielleicht habe ich bloß versucht, mich einer altmodischen, unnatürlichen gesellschaftlichen Norm anzupassen, die in Wahrheit weder den Bedürfnissen der Männer noch der Frauen entspricht – und das auch nie getan hat.

So stehe ich nun also inmitten der Koffer für den Trip nach Chicago, gequält von Schuldgefühlen und Verwirrung, mit einem Bein in der besten Beziehung meines Lebens und dem anderen im Singleleben, und frage mich: Ist es überhaupt natürlich, einem Menschen das ganze Leben treu zu sein? Und wenn ja, wie bewahre ich Leidenschaft und Romantik davor, mit den Jahren zu verblassen? Oder gibt es Alternativen zur Monogamie, die zu besseren Beziehungen und mehr Lebensglück führen?

Vor einigen Jahren habe ich ein Buch namens Die perfekte Masche über die Community der sogenannten Pickup-Artists geschrieben, der ich mich angeschlossen hatte, um Antworten auf die größte, drängendste Frage meines damals fürchterlich einsamen Lebens zu finden: Warum stehen die Frauen, auf die ich stehe, nie auf mich?

Auf den folgenden Seiten will ich versuchen, ein viel schwierigeres Problem zu lösen: Was soll ich tun, wenn eine auf mich steht?

Der Weg zu einer Antwort auf diese Frage wird so unlogisch sein wie die Liebe selbst. Die ungewollten Folgen meiner Untreue werden mich in Freie-Liebe-Kommunen und moderne Harems führen, zu Wissenschaftlern, Swingern, Sexualanorektikern, Priesterinnen, Lederfamilien, ehemaligen Kinderstars, Wunderheilern, Mördern und – am schlimmsten von allen – zu meiner Mutter. Alles, was ich je über Beziehungen zu wissen glaubte, wird infrage und letzten Endes auf den Kopf gestellt werden – und ich gleich mit. Wenn Sie persönlich mehr Gewinn aus dieser Odyssee ziehen möchten, achten Sie darauf, welche Worte oder Standpunkte Sie am stärksten erregen oder abstoßen. Jedes Bauchgefühl erzählt eine Geschichte, die davon handelt, wer Sie sind und woran Sie glauben. Denn allzu oft sind es gerade die Dinge, gegen die wir uns am stärksten sträuben, die wir wirklich brauchen. Und die, die aufzugeben wir am meisten fürchten, müssten wir oft am dringendsten über Bord werfen.

Zumindest gilt das für mich.

Dies ist die Geschichte, wie ich herausfand, dass sämtliche Wahrheiten, an die ich mich verzweifelt klammerte, für die ich gekämpft, gevögelt und sogar geliebt habe, falsch waren.

Passenderweise beginnt sie in einer Art modernem Irrenhaus, kurz bevor ich gegen ärztlichen Rat ausbüxte …

3

Ein haariger Mann in grünem Kittel nimmt mir das Gepäck ab, streift sich Latexhandschuhe über die speckigen Pfoten und macht sich auf die Suche nach verbotenen Gegenständen.

»Bücher sind hier nicht gestattet.«

Meine Bücher hatte man mir bisher nur in Nordkorea abgenommen. Bücher zu kassieren ist eine gängige Taktik von Diktatoren und allen anderen, die eigenständiges Denken verhindern wollen. Selbst im Knast sind Bücher erlaubt.

Aber das geschieht mir nur recht, erinnere ich mich. Ich bin hier, damit man mich zähmt, damit ein anständiger Mensch aus mir wird. Ich habe Leuten wehgetan. Ich verdiene es, in dieser Klinik eingesperrt zu sein, diesem Gefängnis, dieser Anstalt, diesem Sanatorium für Willensschwache.

Alle nur vorstellbaren Süchte werden hier behandelt: Alkohol, Drogen, Sex, Essen, sogar Sport.

Im Übermaß kann alles schaden. Sogar Liebe.

Und auf Liebessucht sind die hier spezialisiert.

Ich aber bin nicht liebessüchtig. Schön wär’s. Das klingt viel sozialkompatibler. Für Liebessüchtige ist im Himmel bestimmt ein ganz besonderes Plätzchen reserviert, gleich neben den Märtyrern.

»Folgen Sie mir«, befiehlt mir eine ebenfalls grün gekleidete Frau – spindeldürr und sehnig, ungekämmtes blondes Haar, sonnenverbrannt. Sie stellt sich als MTA vor und führt mich in ein Einzelzimmer.

Dort wickelt sie mir eine Blutdruckmanschette um den Arm. »Während der nächsten drei Tage müssen wir vier Mal täglich Ihre Vitalfunktionen messen«, sagt sie. Ihr Blick ist leer, die Worte klingen mechanisch. Sie macht das rund um die Uhr, jeden Tag.

»Wieso?«, will ich wissen. Zu viele Fragen. Ich merke schon, dass die dafür hier nichts übrig haben. Dabei will ich doch nur verstehen. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Einmal habe ich einen Gitarristen, mit dem ich ein Buch geschrieben habe, beim Entzug besucht, und dort ging’s zu wie in einer Mischung aus Campingausflug und Country Club. »Viele unserer Patienten haben Entzugserscheinungen. Wir wollen nur sicher sein, dass es Ihnen gut geht«, erklärt die Schwester. Sie lauscht meinem Puls und teilt mir mit, mein Blutdruck sei ziemlich hoch.

Na logo ist der hoch, möchte ich rufen. So mies hab ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht gefühlt. Ihr nehmt mir meinen ganzen Kram weg und tut, als stünde ich kurz vorm Exitus. Sexentzug wird mich schon nicht umbringen.

Aber ich halte den Mund. Gebe nach. Wie es sich für einen braven Fremdgeher gehört.

Sie gibt mir einen Pager, den ich stets bei mir tragen soll, damit man mich jederzeit ins Schwesternzimmer bestellen kann. Dann legt sie mir ein Formular nach dem anderen vor – Patientenrechte, Privatsphäre, Haftungsausschluss und Hausregeln. Regeln, Regeln, Regeln. Ein Paragraf untersagt mir, mit anderen Patienten, den Pflegerinnen oder sonstigem Personal zu schlafen. Der nächste verbietet Bikinis, Tank Tops oder Shorts – und schreibt das Tragen von BHs vor.

»Dann soll ich also ’nen BH anziehen?«, scherze ich.

»Ja, ist schon ein bisschen albern«, räumt die Schwester ein, »aber wir haben hier auch Sexsüchtige.«

Eine Mischung aus Angst und Verachtung schwingt in ihren letzten Worten mit, fast so, als wären diese Sexsüchtigen keine normalen Patienten, sondern unheimliche Raubtiere, vor denen man sich hüten muss. Plötzlich wird mir klar, dass die Alkoholiker und Junkies ein Witz gegen mich sind: Schließlich schaden die sich ja nur selbst. Ich bin hinter anderen her. Ich bin das Übelste vom Übelsten. Andere Süchtige kommen im Entzug an ihren Stoff nicht ran, meine Versuchung ist auch hier direkt vor meiner Nase. Überall. Und jede Frau in Flirtreichweite muss wachsam bleiben, damit ich ihr nicht nachstelle.

»Denken Sie manchmal an Selbstmord?«, fragt die Schwester.

»Nein.«

Ein Mausklick ruft ein Formular mit dem Titel Versprechen, sich nicht umzubringen auf. Die Schwester schiebt mir ein kleines Eingabe-Pad und einen Computergriffel zum Unterschreiben zu.

»Und wenn ich mich doch umbringe? Schmeißen Sie mich dann raus, weil ich gelogen habe?«

Sie sagt nichts, aber ich bemerke, wie sie ihren Zeigefingernagel in den Daumen gräbt. Ich gehe ihr auf die Nerven. Bestimmt die verdammte Fragerei. Das können die hier nicht ab. Fragen sind nämlich mächtig: Die richtige Frage kann die Fehler im System aufdecken.

Aber ich unterschreibe. Gebe nach. Wie es sich für einen braven Fremdgeher gehört.

»Weshalb sind Sie hier?«

»Ich gehe fremd.«

Sie schweigt. Ich denke über das Wort nach. Fremdgehen. Klingt lasch. Ich bin in einer verfluchten Nervenklinik, weil ich den Schwanz nicht in der Hose behalten kann. Also füge ich den zweiten Grund hinzu: »Und wohl auch, um zu lernen, eine richtige Beziehung zu führen.«

Ich denke an Ingrid, der ich das Herz gebrochen habe, deren Freunde mir den Hals umdrehen wollen, deren einziger Fehler es war, mich zu lieben.

Zum ersten Mal sieht die Schwester mir direkt in die Augen.

Etwas in ihr wird sichtlich weicher. Ich bin nicht mehr nur ein Perverser. Ich habe das Zauberwort gesagt: Beziehung.

Ihre Stimme klingt sanfter, ihr ganzes Benehmen ändert sich. Sie will mir wirklich helfen. »Dafür«, sagt sie, »muss man natürlich erst mal die richtige Person finden.«

»Hab ich schon«, seufze ich. »Genau die richtige. Daher weiß ich ja, dass es nur an mir liegt.«

Sie lächelt mitfühlend und sieht weiter meine Akte durch. Ich frage sie, ob sie mich wirklich für süchtig hält. »Ich bin keine Suchtexpertin«, antwortet sie. »Aber wenn Sie Ihre Partnerin betrügen, Pornos im Internet ansehen oder masturbieren, ist das wohl Sexsucht.«

Auf ein rotes, quadratisches Stück Papier schreibt sie mit schwarzem Filzstift meinen Vornamen sowie den ersten Buchstaben meines Nachnamens. Das Ganze schiebt sie in eine kleine Plastikhülle, durch die sie ein langes Stück weißes Garn zieht. Die hässlichste Halskette, die ich je gesehen habe.

»Sie sind Rot zwei«, sagt sie. »Das Namensschildchen dürfen Sie nicht abnehmen.«

»Was bedeutet denn Rot zwei?«

»Die Schildchen sind farbcodiert. Rot ist für Sexsüchtige. Rot zwei hat Therapie bei« – sie hält inne und wirft mir ein gequältes Lächeln zu – »Joan.«

Ich bin unsicher, ob ihre Miene Mitleid oder Angst verrät, doch aus irgendeinem Grund jagt mir der Name einen eisigen Schauder über den Rücken.

Dann hält mir die Schwester ein großes Pappschild hin. Acht riesengroße Worte stehen darauf:

FREUDE

SCHMERZ

LIEBE

WUT

LEIDENSCHAFT

ANGST

SCHULD

SCHAM

»Das ist für den ›Check-In‹«, erläutert sie. »Vier Mal täglich kommen Sie hier vorbei und teilen uns mit, welche Gefühle Sie gerade haben. Welche sind es denn jetzt gerade?«

Ich suche das Schild nach kriechender Furcht ab, nach völliger Wertlosigkeit, kompletter Verwirrung, heftiger Reue, Hass auf Regeln und dem Impuls, aufzuspringen, wegzulaufen, mir einen falschen Namen zuzulegen und für immer nach Neuseeland auszuwandern.

»Meine Gefühle stehen nicht auf der Liste.«

»Das sind die acht Basisgefühle«, erklärt sie geduldig. »Jedes Gefühl passt in eine dieser Kategorien. Suchen Sie einfach die aus, die am ehesten zutreffen.«

Ich kapiere das nicht. Als hätte irgendwer sich diesen Mist einfach so aus den Fingern gesaugt. Völlig willkürlich. Das macht mich so was von …

»Wut.«

Sie vermerkt es in der Akte. Nun bin ich also offiziell eingewiesen. Ich spüre, wie ein weiteres Gefühl sich regt.

»Was ist der Unterschied zwischen Schuld und Scham?«, frage ich.

»Schuld bezieht sich nur auf Ihr Verhalten. Scham bezieht sich darauf, wer Sie sind.«

»Dann Scham.« Jede Menge Scham.

Sie begleitet mich zurück zum Empfang, wo gerade eine Frau mit blauem Gipsarm aus dem Schwesternzimmer geführt wird. Noch ein Neuankömmling. Sie hat käsige Haut, schwarzblaues Haar, massenweise Piercings und sieht aus wie eine Vampirin, die Männer zu ihrem Untergang verführt. Ich fühle mich sofort zu ihr hingezogen. Aus der anderen Richtung schlendert eine sogar noch größere Verlockung – langes blondes Haar unter einer rosa Baseballmütze – zum Empfangstresen. Ein enges schwarzes T-Shirt schmiegt sich an jede Wölbung ihres Körpers. Und ich denke, was ich immer denke. Was jeder Mann immer denkt. Wofür sollte man die Pubertät durchmachen, wenn nicht, um genau das zu denken? Wozu gibt es Testosteron, wenn nicht, um den plötzlichen biochemischen Rausch zu spüren, wenn die Neurorezeptoren in der medialen präoptischen Region ansprechen und mich zu sofortigem Handeln drängen?

»Warum sind Sie denn hier?«, frage ich die Blondine. Sie hat ein blaues Schildchen. »Liebessucht«, antwortet sie.

Perfekt. Ich frage sie, ob sie mit mir zu Abend essen will. Check-In: Schuld.

Und Leidenschaft.

4

Auch mein Zimmergenosse trägt ein rotes Schild. Bei seinem Anblick überkommen mich heftige Minderwertigkeitsgefühle. Er ist braungebrannt und muskulös, ich bin beides nicht. Seine Züge sind markant, meine weich und schwächlich. Sofern man seinem T-Shirt glauben darf, war er »Bester Spieler« bei einem Fußballturnier – ich wurde beim Schulsport grundsätzlich zuletzt gewählt.

»Ich bin Adam«, sagt er, während er mir die Hand zerquetscht. Seine Stimme strotzt vor Selbstvertrauen, ich klinge gehetzt und nervös.

»Neil«, sage ich und befreie meine Hand. »Und warum bist du hier?«, frage ich betont lässig. Mit Adams Aussehen hätte ich auf der High School garantiert eine Freundin gehabt – oder wenigstens mal Sex – und würde heute nicht jeder Frau auf der Straße, im Flugzeug, in der Klinik, ja im Umkreis von fünfzig Metern nachhecheln. Wenn ich so aussähe, wäre ich wenigstens ein kleines bisschen selbstbewusst, verdammt.

»Das werde ich dir sagen, Neil.« Seufzend setzt er sich aufs Bett. »Ich bin aus demselben Grund hier wie du und all die anderen Kerle. Ich hab mich erwischen lassen.«

Oder ich wäre trotzdem nicht selbstbewusst. Auf einmal wird er mir sympathisch. Er spricht meine Sprache.

»Eigentlich läuft bei mir alles super«, sagt er. »Nur meine Frau, die lässt sich gehen. Liegt den ganzen Tag auf der faulen Haut. Wenn ich von der Arbeit komme, sitzt sie rum und blättert in ’ner Zeitschrift. Ich frage, ob sie wissen will, wie mein Tag war, in Kurzfassung, und sie sagt: ›Nein danke.‹ Nicht mal Essen für die Kinder macht sie.« Er stützt das Kinn auf die Hände und zieht tief Luft in seine zweifellos makellose Sportlerlunge. »Sie soll ja nicht die Hausfrau für mich spielen, aber ich kann einfach nicht mehr. Ich mache Essen für alle, sie räumt nicht mal ab. Ich rufe jeden Nachmittag an, um ihr zu sagen, dass ich sie liebe, schicke ihr Blumen. Ich zeige ihr so gut ich kann, was sie mir bedeutet.«

»Aber bedeutet sie dir echt so viel, oder tust du das nur aus Pflichtgefühl?«

»Das ist es ja.« Nervös fummelt er an seinem Ehering herum. »Ich spiele Fußball und betreue die Ligen in der Gegend. Bei einem der Teams hat diese Frau als Trainerin angefangen, und irgendwas war da zwischen uns. Sieben Monate lang ist gar nichts passiert, aber dann – ich sag’s dir, Neil, ehrlich, das war der beste Sex meines Lebens. Echte Leidenschaft, und daraus wurde echte Liebe. Dann hat meine Frau einen Privatdetektiv angeheuert, und es war aus.«

Vielleicht ist Heiraten ein bisschen wie ein Haus zu kaufen: Man plant, sein ganzes Leben drin zu wohnen, aber manchmal möchte man doch wieder umziehen – oder wenigstens mal eine Nacht im Hotel verbringen. »Aber wenn du mit dieser anderen Frau so glücklich und mit deiner so unglücklich warst, wieso hast du dich dann nicht einfach scheiden lassen?«

»So leicht geht das nicht. Mit meiner Frau führe ich eine reife, stabile Beziehung. Und wir haben Kinder, an die muss man schließlich auch denken.«

In der Cafeteria bekommt man nichts mit Zucker oder Koffein, bloß Zeug, von dem garantiert keiner high wird. An einem Ecktisch sitzen sieben Frauen mit Essstörungen, neben einem Betreuer, der dafür sorgt, dass sie brav die zugewiesene Menge Kalorien schlucken und sich danach nicht sofort auf dem Klo entleeren.

Frauen mit roten Schildchen sind mir bislang nicht begegnet. Wie’s aussieht, haben Frauen Essstörungen, und Männer sind sexsüchtig. Am Ende sind aber wohl beide von derselben Sache besessen: dem weiblichen Körper.

Ich nehme neben der Liebessüchtigen und der gipsarmigen Vampirin von der Rezeption Platz. Wie sich rausstellt, teilen die beiden sich ein Zimmer. Die Liebessüchtige stellt sich als Carrie vor, die Vampirin als Dawn. Sie ist Alkoholikerin, sagt aber auch zu allen anderen Drogen nicht Nein. Wenn sie mehr zuckerfreie Nachspeise oder koffeinfreien Kaffee möchte, springt Carrie sofort für sie los. Bis der Betreuer vom Essgestörtentisch rüberkommt.

»Hören Sie auf, den Leuten Essen zu bringen«, rügt er. »Das ist Co-Abhängigkeit und gegen die Regeln. Schluss mit Fürsorge, verstanden?« Als er wieder weg ist, blickt Carrie mich hilflos an. »Aber ihr Arm ist doch gebrochen! Was soll ich denn tun?«

»Du unterstützt meine Gipsarmsucht«, witzelt Dawn. Wir lachen, als wäre alles in bester Ordnung. Dann fällt mein Blick auf das rote Schildchen, das auf meiner Brust baumelt wie der scharlachrote Buchstabe. Ich komme ins Zaudern, werde nervös, frage mich, ob ihnen aufgefallen ist, dass ich von all den Menschen, zu denen ich mich hätte setzen können, ausgerechnet sie erwählt habe: die jüngsten, die attraktivsten, die, bei denen ich definitiv nicht sitzen sollte.

Falls die beiden noch nicht wissen, was das rote Schild bedeutet, erfahren sie es sicher bald: Vorsicht! Dieser Mann ist ein Perverser.

5

Auf einer Infotafel im Empfangsbereich hängt eine Liste der Zwölf-Stufen-Meetings des heutigen Abends: die Anonymen Alkoholiker, die Anonymen Drogenabhängigen, die Anonymen Liebes- und Sexsüchtigen, die Esssüchtigen, Spieler, Methheads, Co-Abhängigen etc. Wie eine Speisekarte der Störungen, aus der man sich nach Herzenslust was aussuchen kann.

Ich war noch nie bei so einem Meeting, also nehme ich einfach das naheliegendste: das der Anonymen Liebes- und Sexsüchtigen. Das Treffen findet im Gemeinschaftsraum statt, der sonst vorwiegend als Bibliothek für Puzzlespiele dient, mit deren Hilfe Zwangsstörungspatienten gemütlich ihr Leben vergeuden können. In einem Kreis aus Sofas und Sesseln ganz hinten hat sich eine Gruppe aus drei Männern und drei Frauen eingefunden. Auch Carrie ist dabei. Den Vorsitz hat ein trauriger, aber ehrwürdiger Grauschopf mit einem Ordner auf dem Schoß. Er sieht aus wie ein gescheiterter Nachrichtensprecher.

»Mein Name ist Charles, und ich bin ein co-abhängiger, depressiver Sexsüchtiger mit posttraumatischen Belastungs- und Zwangsstörungen«, teilt er der Gruppe mit.

»Hallo, Charles.«

»Vor zehn Jahren war ich schon einmal in Behandlung wegen Sexsucht, vor zwei Monaten wurde ich rückfällig. Weil ich mit meiner Sucht keine Kinder wollte, haben meine Frau und ich nie welche gekriegt. Jetzt sind wir beide zu alt, und das bereue ich zutiefst. Und ich habe Angst davor, dass sie zur Familienwoche kommt, weil ich sie nicht verlieren will.«

Mit diesen letzten Worten sieht er Carrie an. Die ist inzwischen in ein anderes enges T-Shirt geschlüpft. DAMAGED GOODS steht darauf, beschädigte Ware.

»Ich heiße Carrie, und ich bin liebessüchtig und traumatisiert.« Hi Carrie. »Ich bin erst seit heute hier. Die letzten zwei Jahre bin ich einem Mistkerl nachgelaufen, dem ich vollkommen egal war. Sobald ein Mann mir auch nur ein kleines bisschen Aufmerksamkeit schenkt, drehe ich völlig durch. Ich finde mich nicht gerade hübsch und sehe ihn sofort als Herausforderung. Und weil ich so sehr nach Liebe und Anerkennung lechze, gehe ich viel früher mit ihm ins Bett, als ich sollte – und oft auch, wenn ich es überhaupt nicht sollte.«

Der Gedanke kommt, ehe ich ihn unterdrücken kann: Diese Gruppen sind spitze, um Frauen kennenzulernen. Da sitzt Carrie und kaut mir haarklein vor, wie ich sie rumkriege. Nichts hat ein Mann mit geringem Selbstbewusstsein lieber als eine schöne Frau, die nicht weiß, wie schön sie ist.

Ich muss diese Gedanken unbedingt unter Kontrolle kriegen. Deshalb bin ich ja wohl hier.

Plötzlich merke ich, dass alle mich ansehen.

»Ich heiße Neil.«

»Hi Neil«, antwortet die Gruppe hohl.

Dann komme ich ins Stocken. Oute ich mich jetzt als sexsüchtig, verdirbt mir das wohl meine Chancen bei Carrie.

Andererseits bin ich ja gerade hier, um mir meine Chancen bei Carrie zu verderben. Um mir meine Chancen bei allen Frauen zu verderben. Wenn ich selbst hier noch mit einer ins Bett steige, bin ich wirklich hoffnungslos verloren.

Doch Carrie hin oder her: Bin ich überhaupt sexsüchtig? Ich bin eben ein Mann, verdammt! Männer mögen Sex. Das ist unser Ding. Stellt man eine schöne Frau am Samstagabend in einem engen Kleid in eine Bar, ist das, als würde man ein rohes Steak in einen Wolfsbau werfen.

Ich allerdings habe mich auf dieses Steak gestürzt, während ich in einer Beziehung war. Habe jemanden, der mich liebt – oder liebte, da bin ich nicht sicher – belogen und verletzt. So ist das wohl bei Süchtigen: Sie wollen etwas so sehr, dass sie bereit sind, anderen dafür wehzutun.

»Ich bin sex- und liebessüchtig.« Gut, immerhin ein bisschen abgemildert.

Alle hören zu, niemand verurteilt mich. Sie haben ihre eigenen Probleme. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mal in so einer Klinik landen würde. Aber ich habe Mist gebaut und die Frau betrogen, die ich liebe. Jetzt bin ich hier, um rauszukriegen, wieso. Wie ich sie so verletzen konnte. Und weil ich gesund genug werden und eine ernsthafte Beziehung führen will, hoffentlich mit ihr. Ich will nicht irgendwann eine Ehe zerstören und meine Kinder traumatisieren, weil ich fremdgehe.«

Dabei lasse ich es erst mal bewenden. Die Alternative, die sich mir aufdrängt, unterschlage ich lieber. Nämlich einfach zu sagen: »Scheiß drauf, so bin ich eben«, mich nie wieder auf eine monogame Beziehung einzulassen und meinen Spaß zu haben, mit wem und wann ich gerade möchte.

Von Kindesbeinen an werden wir Männer von unseren Freunden, unserer Kultur und unserer Biologie darauf getrimmt, Frauen zu begehren. Zu erwarten, wir könnten das einfach abstellen, sobald wir verheiratet sind, kommt mir reichlich unplausibel vor. Beine sind lang, Brüste sind weich, die Ewigkeit ist eine lange Zeit.

Nachdem alle von sich erzählt haben, fragt Charles, ob irgendwer zum ersten Mal an einem Meeting teilnimmt. Ich hebe die Hand, und er lässt mir eine Plakette durchreichen. Ich kenne Junkies, die solche Abstinenzplaketten behandeln wie olympische Goldmedaillen. Jetzt habe ich auch eine. Mir bedeutet sie rein gar nichts, außer dass ich heute einer von ihnen geworden bin. Einen Tag clean.

Eigentlich habe ich mich immer für normal gehalten, schätzte mich glücklich, weil meine Eltern zusammengeblieben sind und mich nie geschlagen haben, glaubte, das Geheimnis meines Vaters habe nichts mit mir zu tun, fand, ich hätte weder Zeit noch Bedarf für Therapie. Schließlich war ich Journalist und schrieb über die Probleme anderer. Wie mir klar wurde, dass ich selbst in Wahrheit der Verrückte war, weiß ich nicht genau.

Möglicherweise verdanke ich das Rick Rubin.

6

Pazifischer Ozean, fünf Monate vorher

Okay, damit ich’s richtig verstehe: Du liebst deine Freundin, hast aber trotzdem mit einer anderen geschlafen?

Ja.

Und weil du wusstest, dass sie das verletzen würde, hast du sie belogen?

Genau.

Na, dann kann ich dich beruhigen: Falls sie’s rauskriegt und dich verlässt, ist das zumindest nicht das Ende der Beziehung. Dank all der Lügen warst du sowieso die ganze Zeit allein in deiner eigenen Welt.

Rick und ich gleiten auf Paddle Boards über den Pazifik. Er ist einer der besten Musikproduzenten der Welt und hat mich aus irgendeinem Grund unter seine Fittiche genommen.

Dann soll ich ihr einfach alles erzählen?

Na klar. Hättest du dir von Anfang an vorgenommen, ihr immer die Wahrheit zu sagen, hättest du dir zweimal überlegt, sie zu betrügen. Fang wenigstens jetzt damit an – vielleicht ist es noch nicht zu spät, sie in deiner Beziehung mitspielen zu lassen.

Ich glaub, das schaffe ich nicht. Das würde ihr zu sehr wehtun.

Und, war’s das wert?

Nein.

Seit einem Jahr paddeln wir alle paar Tage gemeinsam von Paradise Cove nach Point Dume und reden über unsere Leben. Rick ist älter als ich, aber schneller, mir immer ein paar Züge voraus. Mit dem nackten Oberkörper dem grauen Rauschebart und mir im Schlepptau sieht er aus wie ein Wasserguru mit seinem Jünger.

Noch vor ein paar Jahren sahen unsere Gespräche ganz anders aus. Damals war Rick gut sechzig Kilo schwerer und kam praktisch nie vom Sofa hoch. Nie zuvor habe ich jemanden so schnell sein Leben umkrempeln sehen. Heute will er mir wohl helfen, das auch mit meinem hinzukriegen.

Weißt du, wie man Leute nennt, die ein Verhalten nicht abstellen können, selbst wenn sie’s nicht mehr mögen?

Schwach?

Nein, süchtig.

Quatsch, ich bin doch nicht süchtig. Ich bin einfach ein Mann. Schließlich mach ich so was nicht ständig.

So spricht der wahre Junkie. Hast du mir nicht gerade noch erzählt, dass du für die nächste Dosis die Menschen anlügst, die du liebst? Dass du nicht mal mehr high wirst, aber trotzdem nicht aufhörst?

Ja, gut. Aber was, wenn Ingrid einfach nicht die Richtige für mich ist. Wenn sie’s wäre, würde ich sie vielleicht auch nicht betrügen. Manchmal geht sie mir gewaltig auf den Geist, und sie kann furchtbar dickköpfig sein.

Das Gleiche hast du über deine letzte Freundin gesagt. Wenn’s schwierig wird, schiebst du es deiner Partnerin in die Schuhe. Mit ihr hat das nicht das Geringste zu tun. Nur mit dir. Merkst du das nicht?

Ich weiß nicht …

Er verdreht die Augen.

Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich für Rick nur eine Art Versuchskaninchen, als stünde er drauf, den Leuten genau das Gegenteil von dem einzureden, was sie selbst für richtig halten. Als wäre das hier bloß ein sadistischer Versuch, den Typen, der Die perfekte Masche geschrieben hat, von seiner Masche abzubringen.

Ich wage mal die Hypothese, dass du noch nie im Leben eine echte Verbindung zu jemandem empfunden hast, egal ob sexuell oder platonisch. Eine Suchtklinik könnte genau das Richtige sein, um deine Angst loszuwerden.

Welche Angst?

Dass du in einer gesunden, monogamen Beziehung deiner Partnerin nicht genügen könntest.

Oder er versucht tatsächlich, mir zu helfen.

Darüber muss ich erst mal nachdenken.

Dafür hast du keine Zeit. Wenn du im Leben noch mal glücklich werden willst, musst du dir eingestehen, dass du Sex wie eine Droge benutzt, um damit eine Leere auszufüllen. Und diese Leere ist dein Selbstbewusstsein.

Tief drin glaubst du, man könne dich nicht lieben. Vor diesem Gefühl läufst du weg, indem du Frauen eroberst. Und wenn du zu weit gehst und Ingrid verletzt, bestätigt dir das nur, dass du es nicht wert bist, geliebt zu werden.

Ich versteh schon, was du meinst. Aber mich reizt eben das Unbekannte. Ich reise gern, entdecke gern neue Restaurants und lerne gerne Menschen kennen. Mit Sex ist das genauso: Ich mag es, Frauen kennenzulernen, zu sehen, wie sie im Bett sind, ihre Freunde und Familien zu treffen und alles Mögliche mit ihnen zu erleben.

Füll erst mal diese Leere aus, schlaf dann mit jemandem, und schau, wie sich das anfühlt.

Vielleicht hast du recht.

Kann’s ja mal probieren.

Ich kenne da eine Klinik für Sexsüchtige. Einen Monat dauert das Programm. Wenn du gleich gehst und Ingrid alles schreibst, könnte ich mir vorstellen, dass sie dir verzeiht.

Das ist gerade echt schlecht, ich hab ein paar sehr wichtige Deadlines vor mir.

Wenn du heute vom Auto überfahren würdest und einen Monat ins Krankenhaus müsstest, ging’s auch nicht anders.

Hm, gut, da ist was dran. Ich denk mal drüber nach und versuche, das Richtige zu tun. Aber ich glaube echt nicht, dass ich sexsüchtig bin. Schließlich schmeiß ich nicht mein ganzes Geld für Nutten raus oder begrapsche Ministranten.

Vielleicht bist du einfach noch nicht so weit. Als Junkie muss man eben erst ganz unten ankommen.

7

Zehn Stühle stehen zu einem U geformt entlang der Wände, auf jedem sitzt ein gebrochener Mann. Auch mein Zimmergenosse Adam ist da. Und Charles, der Leiter des Zwölf-Stufen-Meetings.

An der Wand hängt ein großes Diagramm mit dem Titel »Der Kreislauf der Sucht«: Vier Elemente – Getriebenheit, Ritualisierung, Ausagieren, Scham/Verzweiflung – sind darauf durch Pfeile zu einem endlosen Kreislauf verbunden.

Während ich es betrachte, geht die Tür auf, und eine birnenförmige Walküre betritt den Raum. Das braune, ungewaschene Haar hat sie zu einem strengen Dutt zurückgebunden. Zum schlabberigen Top mit Blumenmuster trägt sie weite, braune Hosen und flache Schuhe. Ihre Mundwinkel zeigen unentwegt zu Boden. Sie wirft einen Blick auf die Gruppe, ohne irgendwem in die Augen zu sehen oder überhaupt einen von uns als eigenständige Person anzuerkennen. Was immer das Gegenteil von Sex sein mag, diese Frau verkörpert es.

Schwerfällig lässt sie sich in einen Drehstuhl plumpsen. Ohne das leiseste Anzeichen von Güte, Menschlichkeit oder Humor geht sie einen Stapel Akten durch. Sie ist unsere Ärztin und Richterin, die gestrenge Mutter, der wir durch unsere Vögelei entfliehen wollten, und die verbitterte Ehefrau, die uns erwischt hat.

Ihr Name ist Joan. Ihre schiere Gegenwart kriecht jedem Mann im Raum unter die Haut wie beißender Frost.

»Haben Sie Ihre Hausaufgabe gemacht?«, fragt sie einen Mann Mitte dreißig. Er ist schlank und blond, sieht aus wie ein lieber kleiner Junge mit roten Bäckchen und zeigt Ansätze einer ziemlich unvorteilhaften Wampe.

»Ja«, antwortet er nervös. »Soll ich vorlesen?« Auf seinem roten Namensschild steht Calvin.

»Bitte.« Weder Wärme noch Anteilnahme liegen in ihrer Stimme, nur Autorität und ein Tick Herablassung. Tatsächlich ist sie in allem, was sie sagt und tut, derart beherrscht, dass es fast künstlich wirkt – wie eine Maske, die sie aufsetzt, ehe sie vor zehn sexsüchtige Männer tritt. Wenn sie diese Maske fallen lässt, so fürchtet sie wohl, wenn sie nur einen Zentimeter Boden aufgibt, verliert sie die Kontrolle über die Raubtiere, die sie bändigen und zähmen soll.

»Auf folgende Weisen hat meine Sexsucht mir geschadet«, liest Calvin vor. »Ich habe mein Haus und meinen Bruder verloren. Ich habe eine Weltreise mit ihm gebucht und mich in praktisch jeder Stadt, die wir besuchten, weggeschlichen, um Escorts zu treffen. Insgesamt habe ich im Laufe meines Lebens hundertfünfundzwanzigtausend Dollar für Escorts ausgegeben.«

»Haben Sie da auch wirklich alles eingerechnet?«

»Glaub schon.« Er verkrampft, als rechne er mit einem Angriff.

»Ist die Internetrechnung dabei?«

»Nein.«

»Haben Sie im Internet nach Escorts gesucht?«

»Ja.«

»Dann muss die Rechnung dazu. Und die fürs Telefon, falls Sie mit den Frauen, die Sie entwürdigt haben, auch telefonierten.« Diese letzten Worte speit sie aus wie eine Priesterin, die ihn zu Höllenqualen verdammt. »Außerdem das Geld, das sie für Taxifahrten zu diesen Frauen ausgegeben haben. Und für Kondome. Überhaupt alle Kosten, die Sie bei diesen Treffen hatten.«

»Okay, dann sind’s vielleicht doch eher zweihundertfünfzigtausend.«

Aber auch eine Viertelmillion reicht Joan noch nicht. Während sie Calvin drängt, jeden Penny einzurechnen, der im Entferntesten mit der Suche nach Sex zu tun hat, denke ich daran, wie ich mit meiner sogenannten Sexsucht meinen Lebensunterhalt verdient habe. Sie zahlt meine Miete, meine Telefonrechnung und meine Krankenversicherung. Sie bringt Frühstück, Mittag- und Abendessen auf den Tisch, finanziert mir Filme, Bücher und den Computer, an dem ich schreibe, verschafft mir das Geld für Strümpfe, Schuhe und Unterhosen. Scheiße, wenn sie nicht wäre, könnte ich mir nicht mal diese Therapie leisten.

Blicke ich zurück auf meine Kindheit, dann sehe ich einen dürren Nerd mit einer billigen Hornbrille aus Plastik, zu groß für sein Gesicht und doch zu klein für die riesigen Ohren. Und ich sehe fettiges braunes Haar, auf eigenen Wunsch unansehnlich kurz geschoren. Meine Locken konnte ich nicht leiden. Alle anderen hatten glattes Haar, und ich wollte dazugehören. Sogar meine Mutter nannte mich einen Mitläufer.

Meine Pechsträhne hielt nicht nur in der Highschool an – mein Date beim Abschlussball zog mit einem anderen ab, mit attraktiven Frauen hatte ich eigentlich nur beim Frisör zu tun – , sondern auch noch im College und lange darüber hinaus. Die anderen hatten Spaß, ich sah von außen zu. Irgendwann machte ich daraus einen Vollzeitjob und fing an, über Musiker zu schreiben. Wenn ich mich in den langen Durststrecken zwischen zwei Beziehungen besonders einsam fühlte und mich nach der Berührung einer Frau sehnte, ging ich in einen asiatischen Massagesalon. Sogar dort war ich überzeugt, dass die Masseurinnen sich hinter meinem Rücken über mich lustig machten.

Und dann, eines Tages, war plötzlich alles anders. Als embedded journalist war ich mit den selbsternannten größten Aufreißern der Welt unterwegs und hoffte, meiner Pechsträhne ein Ende zu setzen. Nachdem ich zwei Jahre mit diesen Männern verbracht hatte, traute ich mich endlich, Frauen anzusprechen, und schien erstmals in der Lage, sie auch für mich zu interessieren. Das Buch, das ich über meine Ausbildung in der Schule dieser merkwürdigen Lotharios schrieb, wurde so berühmt-berüchtigt, dass meine bisherige Arbeit daneben bedeutungslos wurde. Mein Streben nach Sex hat also keineswegs mein Leben zerstört, sondern meinen Erfolg begründet.

Dementsprechend frustrierend ist es nun, mir fünf Jahre später wieder abtrainieren zu sollen, was ich mir so mühsam draufgeschafft habe.

»Ist Ihnen klar, dass Sie diesen Frauen schaden, wenn Sie ihre Körper zum Masturbieren missbrauchen?«, mahnt Joan gerade Calvin. Sie spürt seine Tränen kommen und setzt zum Todesstoß an. »Die interessieren sich doch in Wahrheit gar nicht für Sie. Das sind verletzte, missbrauchte Frauen. Und Sie spielen deren Kindheitstraumata mit ihnen nach. Sie sind ihr Vater, ihr erster Freund und der Triebtäter, der ihnen die Unschuld aus dem Leib vergewaltigt hat.«

Das genügt. Calvin ist am Boden. Sein Kopf sinkt auf die Brust, er hält sich die Hände vors Gesicht, die Tränen sprudeln. Die siegreiche Joan dreht eine verbale Ehrenrunde durch den Raum und fragt nach Lust und Laune andere Patienten, was ihre Sexsucht sie gekostet hat, bricht bei einem nach dem anderen jeden Widerstand, entreißt ihnen die letzten Reste Stolz und Ego, die ihnen nach ihren Affären, Abenteuern oder sexuellen Transaktionen geblieben waren.

Als ein schlanker, lässiger Patient mit dichtem schwarzen Haar und vernarbtem Gesicht ein »Mädchen« erwähnt, mit dem er eine Affäre hatte, zuckt Joan angewidert zurück und hält ihm einen zehnminütigen Vortrag über das »M-Wort«. »Wenn Sie von einem ›Mädchen‹ sprechen, muss ich als Therapeutin davon ausgehen, dass Sie eine Minderjährige meinen. Und das muss ich melden.«

Unbehagen und Verwirrung erfüllen den Raum. Endlich erwidert der Beschuldigte: »Ich bin selber Sexsucht-Therapeut. In fünfzehn Jahren Praxis ist mir eine derart strikte Interpretation dieses Wortes nie untergekommen.«

Joan reckt den Kopf wie eine bissbereite Kobra. »Wenn ich es noch mal höre, werde ich Sie melden.«

Das bringt ihn zum Schweigen. Wieder einer weniger.

Abgesehen von Calvin, der noch nie eine ernsthafte Beziehung hatte und hier ist, weil er eine brasilianische Nutte geschwängert hat, sind sämtliche anwesenden Sünder in fremde Betten gesprungen – manche regelmäßig über lange Zeiträume hinweg, andere bloß ein, zwei Mal. Jetzt sind sie hier, um ihren fleischlichen Sünden zu entsagen, und hoffen auf ein Wunder, das die Familie rettet, die zugleich ihr größter Stolz und ihre größte Bürde ist.

Und wie ich den elenden Adam und den reumütigen Charles vor mir sehe, denke ich: Ich muss das so schnell wie möglich in den Griff kriegen. Sonst sitze auch ich irgendwann als Ehemann wieder hier und kämpfe um meine Familie.

Endlich entlässt Joan uns, und ich will los zur Cafeteria. Doch sie hält mich zurück. »Sie müssen noch was unterschreiben.« Kein Blickkontakt.

Stattdessen dreht sie sich zu ihrem Computer. Ich linse ihr über die Schulter. Die fette Überschrift lässt mir das Blut gefrieren: ENTHALTSAMKEITSVEREINBARUNG.

Offenbar soll ich hier zum Mönch werden. Mit ernster Stimme liest sie vor.

ICH VERZICHTE AUF:

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»Das gilt für zwölf Wochen«, verkündet sie.

»Aber ich soll doch nur vier Wochen bleiben?«

Sie sieht mir direkt in die Augen. Die braunen, gläsernen Pupillen zeigen so viel Mitgefühl wie ein Schneckenhaus. »Das ist zu Ihrem eigenen Wohl. Ihr Hirn braucht drei Monate, um sich vom Ungleichgewicht des sexuellen Dauerhighs zu erholen.«

»Dann darf ich keinen Sex haben, wenn ich nach Hause komme?«

»Nicht, wenn Sie gesund werden wollen.«

Ich unterschreibe. Wie es sich für einen braven Fremdgeher gehört.

»Danke«, sagt sie trocken und winkt mich aus dem Zimmer.

Check-In: Das Gefühl, das man in den Eiern hat, wenn man in einen eiskalten See springt.

8

San Francisco, ein Monat vorher

An der Gepäckausgabe am Flughafen klingelt mein Handy.

»Juliet hat gerade gemailt«, sagt Ingrid, während ich meinen Rollkoffer vom Band nehme.

Das Blut weicht mir aus dem Gesicht, meine Knie geben nach. Als wäre etwas in mir von der Leine gelassen worden. Angst. Panik. Trauer. Schuld. Schmerz. Alle unangenehmen Gefühle auf einmal. Ich fühle mich federleicht, aber ich bin zu schwach, um mich zu bewegen.

»Hast du mir vielleicht was zu sagen?«, fragt sie. Ich höre ihr die Verletzung an, den Schock, den Unglauben. Ihre ganze Welt gerät gerade aus den Fugen. Was sie für fest verschweißt hielt, ist in Wahrheit schwach verlötet. Sie will hören, dass es nicht wahr ist. Und ich täte nichts lieber, als ihr eine letzte, tröstliche Lüge aufzutischen und unsere Welt zusammenzuhalten. Ich will etwas sagen, bringe aber nichts heraus, kann die Verletzung nicht durch eine weitere Täuschung verschlimmern. Doch die Wahrheit bekomme ich auch nicht über die Lippen. Bleibt nur eins.

»Kann ich dich zurückrufen?« Ist die Wahrheit schon nicht auf meiner Seite, dann vielleicht wenigstens die Zeit. »Mein Flug hatte Verspätung, ich muss zu meinem Vortrag.«

Bei einer großen Technologiefirma soll ich über meine Bücher sprechen. Im Moment allerdings scheint es nichts Unwichtigeres zu geben als all die Schreiberei, all die mühseligen Stunden vor dem Bildschirm, all die Dinge, deren Wichtigkeit ich mir so oft eingeredet habe. Was zählt, sind Menschen, nicht Dinge.

Und ich habe den Menschen zerstört, der mir am wichtigsten von allen ist.

Während ich mit hämmerndem Herzen und glühendem Hirn zu meinem Vortrag fahre, leitet Ingrid mir Juliets Mail weiter. Ich werfe einen Blick darauf, lese »wir hatten Sex in seinem Auto, in meinem Bett und in der Dusche« und habe keine Kraft für den Rest. Ich denke nur noch daran, wie Ingrid sich gefühlt haben muss, als sie das las.

Diese Pause, der Aufschub des Unvermeidlichen, ist wie die Zündschnur einer Bombe. Ich sehe sie brennen, überlege fieberhaft, wie ich sie löschen könnte, ehe sie den Zündsatz erreicht. Doch Juliet hat zu viele Beweise: Daten, Uhrzeiten, SMS, Techniken. Keine Ahnung, wie ich glauben konnte, ich käme damit durch – oder wie ich Ingrid und mich je in diese Lage bringen konnte. Beim ersten Mal tat ich es aus Begierde. Beim zweiten Mal aus Schuldgefühl. Beim dritten Mal tat ich es aus Angst. Juliet hatte gedroht, Ingrid alles zu erzählen. Das vierte Mal hab ich es dann gelassen.

Nach dem Vortrag hänge ich im Hotelzimmer mein beinahe leeres Handy ans Ladegerät.

Das Kabel ist nicht sehr lang, sodass ich mich unter dem Schreibtisch auf den Boden legen muss.

»Ich habe eben mit Juliet telefoniert«, sagt Ingrid. »Sie hat mir von deinem Muttermal erzählt.« Auf meiner linken Pobacke habe ich ein paar erhöhte rote Knubbel, ein bisschen wie die sechs auf einem Würfel. Mit zehn las ich Das Omen und war überzeugt, ich hätte das Mal des Antichristen. Ingrids Deutung war positiver: Einmal hat sie die Knubbel mit einem schwarzen Filzstift verbunden wie die Inseln auf einer Piratenschatzkarte, inklusive X am Ende.

»Mit Luke hab ich auch gesprochen«, sagt sie. Luke ist ein Freund von uns. Juliet ist seine Ex. »Er ist stinksauer.«

»Ich weiß, ich weiß, ich kann alles erklären«, verteidige ich mich kraftlos.

»Ich bin verletzt und schockiert. Ich gehe jetzt. Und will dich nie wieder sehen. Oder sprechen. Das war’s.«

Damit legt sie auf, und ich breche in Tränen aus. Schluchze aus tiefster Seele los. Ich hab’s versaut. Verdammte Scheiße. Versaut, versaut, versaut.

Dann kommen die Textnachrichten: Luke will mir die Fresse polieren, sobald ich zurück bin. Ingrids Freundinnen wollen mich tot sehen. Und ich habe Angst, dass ihre Stiefbrüder mich krankenhausreif schlagen.

Nicht, dass ich all das nicht verdiene. Zumindest würde dann mein Äußeres zu meinem Innenleben passen. Nicht nur Ingrid zu verlieren tut mir weh, nein, auch, sie verletzt zu haben. Man trifft nicht alle Tage jemanden, der einen wirklich liebt, annimmt, wie man ist, und die eigenen Bedürfnisse für einen zurückstellt. Mit Glück gilt das für die Eltern, vielleicht auch für den einen oder anderen Ex-Partner. Wie muss man also drauf sein, um Liebe mit Lügen, Schmerzen und Betrug zu belohnen?

Selbstsüchtig, das muss man sein. Kaltherzig. Gedankenlos. Ein Arschloch. Ein Lügner. Ein Betrüger. Einer, der nur mit dem Schwanz denkt. Einer wie ich.

Sobald ich mich wieder halbwegs unter Kontrolle habe, rufe ich Rick an, um ihn nach dieser Klinik zu fragen.

9

Auf dem tristen gelben Gang zur Cafeteria verspüre ich ein Stechen im Schritt. Psychosomatische Schmerzen. Ich habe Joan meine Seele überschrieben, meinen Schwanz in ein nutzloses Anhängsel verwandelt, verdammt dazu, jämmerlich zwischen meinen Beinen zu baumeln und nur noch zum Pinkeln ausgepackt zu werden.

In der Essensschlange stupse ich Charles an. »Was meinst du?«, frage ich ihn. »Wollen wir mit anderen ins Bett, weil wir eben Männer sind, oder ist das wirklich eine Sucht?«

»Definitiv eine Sucht«, antwortet Charles bestimmt. »Der Tag, an dem ich mir endlich eingestanden habe, dass ich ihr ausgeliefert bin, war der glücklichste meines Lebens. Plötzlich konnte ich nichts mehr dafür. Sah ich eine schöne Frau und fühlte mich zu ihr hingezogen, wusste ich, es war nicht meine Schuld. Ich hab einfach weggesehen und gesagt: ›Das ist eine Krankheit, und ich kann nichts dagegen tun.‹«

An einem Tisch in der Nähe der Koffeinfrei-Maschine entdecke ich eine modisch gekleidete Brünette mit rotem Namensschild. Die erste weibliche Sexsüchtige. Natürlich setze ich mich zu ihr. Sie ist groß und elegant wie eine Siamkatze, auch wenn ihre breite Stirn glänzt wie ein Autorückspiegel. Laut Schild heißt sie Naomi. Neben ihr sitzt eine untersetzte Frau mit kurzem, schwarzem Haar, einem ausgebeulten Hausanzug und gleich mehreren Geschwüren und Kinnen im Gesicht. Charles will lieber woanders sitzen.

»Wir haben eine Vereinbarung unterschrieben«, mahnt er mich.

»Wir graben sie ja nicht an, wir essen bloß mit ihnen.«

»Wir sollen nicht mit Patientinnen sprechen.«

»Sagt wer? Davon steht nichts in der Vereinbarung.«

»Du gefährdest meinen Entzug«, warnt er.