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Wie überlebt man in einem korrupten Regierungssystem? In einer Gesellschaft, in der Polizisten auf die eigenen Landsleute feuern? Angeblich mit Gummigeschossen, die aber ätzende Wunden hinterlassen? Wie kämpft man für ein besseres Leben, wenn man damit rechnen muss, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen? Den eigenen Tod für das Überleben der anderen in Kauf zu nehmen? Thorsten Nagelschmidts und Julia Krummhauers literarisch-fiktionaler Dialog in Kursbuch 203 legt echte Menschen und faktische Vorkommnisse zugrunde. Menschen, die es sich leichter machen könnten, die in Deutschland leben könnten, aber bewusst zurück in die südamerikanische Heimat gehen und den Kampf ums und fürs Überleben im wahrsten Sinne ausfechten.
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Seitenzahl: 23
Inhalt
Thorsten NagelschmidtDie Nannys im Osten sind sehr elegant
Der Autor
Impressum
Thorsten NagelschmidtDie Nannys im Osten sind sehr elegant
Nicole: Es war der 31. Dezember 2019, kurz nach elf Uhr abends. Wir liefen die Alameda hoch Richtung Plaza Dignidad. Auf der Straße war es vollkommen friedlich. Es gab keinen Protest und keine Barrikaden, sonst hätten wir ja Schutzbrillen getragen. Meine Kamera hatte ich gut sichtbar in den Händen. Es war kein Unfall.
Sebastián: Ich stand mit zwei Kollegen vorn am Tor. Plötzlich hören wir Schüsse, mehrere nacheinander, und die Leute fangen an zu schreien: »Médico!, Médico!« Wir rennen los und sehen eine Frau mit der Hand vorm Gesicht am Boden liegen. Wir haben das Blut gesehen und wussten sofort, was passiert war.
Nicole: Auf Höhe des Polizeimonuments hatten sich Carabineros versteckt. Jemand rief: »Sie schießen, sie schießen!« Ich habe mich instinktiv umgedreht und die Augen geschlossen, und dann hörte ich das Geräusch der Patrone. Ich hielt mir die Hände vors Gesicht und fiel zu Boden, und dann sah ich, dass ich Blut an den Händen hatte. Die Leute um mich herum schrien nach Hilfe. Das Rettungsteam der Brigade war auf der anderen Seite der Straße. Sie kamen rübergerannt, um mir zu helfen, wurden dabei aber von den Carabineros beschossen. Sie mussten sich und mich mit ihren Schilden schützen.
Constanza: Sie hatte einen Verband um den Kopf, als sie hier ankam. Es war kein Arzt da, und wir wussten nicht, was passiert war, ob sie ein Auge verloren hatte oder ob es nur eine leichte Verletzung war. Sie war in Panik und hat geweint. Du weißt nicht, wie du ihr helfen kannst. Wenn du nicht weißt, was passiert ist, was willst du ihr da sagen?
Nicole: Ich schloss ein Auge und konnte auf dem anderen nichts sehen. Da wusste ich, dass etwas sehr Ernstes passiert war. Ich bekam eine Panikattacke. Ich habe gezittert und musste mich übergeben, ich hatte große Angst.
Constanza: Ich hielt sie an den Händen, um sie zu beruhigen. Fälle wie dieser sind immer bewegend, aber diesmal war es besonders hart für mich. Wahrscheinlich weil sie eine Frau ist und ungefähr in meinem Alter, Ende 20, Anfang 30. Ich habe geweint, was unprofessionell ist, aber ich konnte es nicht zurückhalten. Sie hatte ja den Verband um den Kopf und konnte mich nicht sehen, also habe ich lautlos geweint. Dann war es auf einmal zwölf. Nicole war die erste Person, die ich im neuen Jahr umarmt habe.
Nicole: Ich war bis zwei Uhr morgens im GAM. Meine Neujahrsumarmung war mit den Leuten von der Brigada Usach.
Constanza: