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Die neue ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur versammelt 100 Bücher, die uns trösten und berühren, die Fragen stellen und die Antworten diskret für sich behalten, die sich über die Jahre immer wieder neu und anders lesen. 100 Bücher, in denen alle Erfahrungen verhandelt werden, die uns menschlich machen: ob Liebe oder Verlust, Abschied oder Aufbruch, Angst oder Zuversicht. 100 Lebensgefährten.
Literaten, Kritikerinnen und Kritiker, Redakteurinnen und Redakteure der ZEIT widmen sich jeweils einem dieser Bücher und schildern ihren ganz persönlichen Zugang zum Buch. Daniel Kehlmann fasziniert die Einzigartigkeit der Sprache im Faust, die ihn trotz zwischenzeitlicher Goethe-Müdigkeit immer wieder anzieht. Eva Menasse zeigt, wie aktuell Wer die Nachtigall stört gerade heute ist, und wer Clarice Lispectors Nahe dem wilden Herzen bis jetzt noch nicht kannte, fragt sich nach der Lektüre von Maja Beckers Würdigung, wie das eigentlich passieren konnte.
Die ZEIT-Edition »100 Bücher, 100 Lebensgefährten« zeigt uns Literatur, die unabhängig von ihrem Alter lebendig und unverzichtbar an unserer Seite steht, die uns berührt und unsere Gefühle aus ihren Verstecken holt.
• Ein unverzichtbares Lesebuch für alle, die Bücher lieben, und ein wunderbares Geschenkbuch
• Mit Texten von Elke Heidenreich, Florian Illies, Daniel Kehlmann, Eva Menasse, Terézia Mora, Orhan Pamuk, Iris Radisch, Mithu Sanyal u. a. m.
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Seitenzahl: 471
100Bücher100Lebensgefährten
Herausgegeben von Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024
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Umschlagillustration: Mona Eing & Michael Meissner
eISBN 978-3-518-78088-6
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Wer ist bei mir, wenn ich
Angst
habe? Dante Alighieri, Isabel Allende, Margaret Atwood, Heinrich Böll, Gott, Franz Kafka, Doris Lessing, Hilary Mantel, Karl Philipp Moritz, Haruki Murakami, George Orwell, Stendhal, Ngũgĩ wa Thiong’o, Olga Tokarczuk
Die Erzählungen
Von Jens Jessen
:
Wenn wir Angst spüren, haben wir uns dem Unglück vielleicht längst in die Arme geworfen. Bei keinem anderen berührt einen diese Beklemmung so stark wie bei
Franz Kafka
Die göttliche Komödie
Von Peter Kümmel
:
Wie sähe er aus, dieser Ort, den wir fürchten müssten wie keinen anderen?
Dante Alighieri
wusste das ganz genau. Er hat ihn ja, als literarisches Weltwunder, selbst erschaffen
Das Geisterhaus
Von Michi Strausfeld
:
Über die Hoffnung inmitten von Folter und Terror:
Isabel Allende
erzählt die Geschichte ihrer eigenen Familie
Herr der Krähen
Von Florian Eichel
:
Mit den Mitteln der Satire begegnet
Ngũgĩ wa Thiong’o
dem Sadismus des Diktators
Das goldene Notizbuch
Von Gregor Gysi
:
Doris Lessing
beleuchtet die dunkle Seite einer ursprünglich hoffnungsvollen Weltanschauung
Die verlorene Ehre der Katharina Blum
Von Günter Wallraff
:
Durch diesen Schlüsselroman von
Heinrich Böll
verstehen wir besser, was uns heute noch bedroht
Wölfe
Von Elke Schmitter
:
Das alte England in Angst und Schrecken:
Hilary Mantel
erzählt prunkvoll von launischen Majestäten
Unrast
Von Ronald Düker
:
Von der Flucht in die Welt und ins eigene Innere:
Olga Tokarczuk
erfasst das Wesen unserer Getriebenheit
Rot und Schwarz
Von Jens Jessen
:
Unverblümt benannte
Stendhal
die dunkelsten Seiten des menschlichen Charakters
Der Report der Magd
Von Jolinde Hüchtker
:
Margaret Atwood
entführt uns in eine furchteinflößende Version der Gegenwart
Die Chroniken des Aufziehvogels
Von Clemens J. Setz
:
Ein Roman voller Türen und Notausgänge, Tunnel und Zweitwelten: Dabei wollen
Haruki Murakami
s Figuren doch nur ihre Ruhe
1984
Von Sascha Lobo
:
Ein Buch wie der Instrumentenkoffer gegen den Totalitarismus.
George Orwell
hat es geschrieben und dabei vielleicht sogar das politische Meme erfunden
Lutherbibel
Von Sabine Rückert
:
Alle Abwege und Irrtümer des Menschen in einem Buch. Na, welchem wohl? Die Bibel macht Angst. Und überwindet sie
Anton Reiser
Von Karl-Markus Gauß
:
Die »Süßigkeit des Unrechtleidens«:
Karl Philipp Moritz
erzählte mit schmerzender Intensität über das Verlassensein
Wer begleitet mich durch die
Nacht
?
Harriet Beecher Stowe, Emily Brontë, Michail Bulgakow, Joseph Conrad, Fjodor Dostojewski, Umberto Eco, David Foster Wallace, Günter Grass, Heinrich Heine, Ernest Hemingway, Hermann Hesse, Eva Menasse, Mary Shelley, Zadie Smith, Christa Wolf
Zähne zeigen
Von Benedikt Herber
:
Der Kampf der Kulturen verdüstert Freundschaften, Familien und Liebesbeziehungen. Was hilft?
Zadie Smith
hat eine einfache Antwort.
Onkel Toms Hütte
Von Eberhard Rathgeb
:
Wen das Elend der Welt nicht schlafen lässt, der sollte zu
Harriet Beecher Stowe
s »Onkel Toms Hütte« greifen. Engagierter kann Literatur nicht sein
Der geteilte Himmel
Von Lukas Rietzschel
:
Über den Traum, der Enge des Lebens zu entkommen
Die Blechtrommel
Von Volker Schlöndorff
:
Wachstum null.
Günter Grass
erzählt die deutsche Geschichte als Zwergengeschichte
Frankenstein
Von Frank Schätzing
:
Wie ungeheuer wohlgeraten war doch
Mary Shelley
s Monster, das aus dem Dauerregen kam
Der Meister und Margarita
Von Eberhard Rathgeb
:
Der Teufel höchstselbst hätte
Michail Bulgakow
diesen Roman wohl aus der Hand gerissen
Die Dämonen
Von Michael Thumann
:
Als wäre ihm alles egal:
Fjodor Dostojewski
näht seinen Figuren ein »Z« auf den Frack
Der Steppenwolf
Von Tonio Schachinger
:
Wer hätte gedacht, dass
Hermann Hesse
das abgründigste Internet-Meme erdichtet hat
Sturmhöhe
Von Mithu Sanyal
:
Unter allen Gespenstern, von denen
Emily Brontë
erzählt, ist der Rassismus das bis heute lebendigste
Der Name der Rose
Von Francesca Melandri
:
Die Fake-News des Mittelalters erscheinen, dank
Umberto Eco
, leider zukunftsweisend
Der alte Mann und das Meer
Von Helge Timmerberg
:
Schon eine Nacht kann einen Menschen vollkommen verändern. Hier sind es drei. Allein auf dem Meer
Herz der Finsternis
Von Eugen Ruge
:
Mit
Joseph Conrad
im Kongo, das ist eine Reise in die eigene Finsternis: Welchen Horror wollen wir uns ausmalen?
Deutschland. Ein Wintermärchen
Von Wolf Biermann
:
Wie
Heinrich Heine
einmal einen tiefen – und leider auch höchst prophetischen – Blick in den Kacktopf des Bordells riskierte
Dunkelblum
Von Ijoma Mangold
:
Für immer im Dunkeln?
Eva Menasse
zeigt, wie es am Ende doch unmöglich ist, die Leiche im eigenen Keller zu verdrängen
Unendlicher Spaß
Von Andrea Petkovi
Ć
:
Wenn der Tag die Finsternis nicht vertreiben kann: Kein Schriftsteller kannte diesen Zustand besser als
David Foster Wallace
. Doch brachte seine Depression einen eigenen Humor hervor
Wer tröstet mich, wenn ich traurig bin? Swetlana Alexijewitsch, Bettine von Arnim, Joan Didion, George Eliot, Jonathan Franzen, Wassili Grossman, Imre Kertész, Ágota Kristóf, Harper Lee, Thomas Mann, Sylvia Plath, Joseph Roth, Arundhati Roy, Serhij Zhadan
Buddenbrooks
Von Volker Weidermann
:
Für alle Melancholiker: Thomas Manns großer Roman über die vielen ungelebten Leben einer Lübecker Familie
Leben und Schicksal
Von Karl Schlögel
:
Ein Panorama, von der Wirklichkeit getränkt:
Wassili Grossman
s »Leben und Schicksal«
Die Günderode
Von Elisabeth von Thadden
:
Weibliche Freiheit, das lehrt uns Bettine von Arnim, heißt mit der Welt Ball spielen zu können
Middlemarch
Von Elsemarie Maletzke
:
Barmherzig und ironisch bringt George Eliot Lebensschicksale zum Tanzen
Internat
Von Thomas E. Schmidt
:
Die Lähmung und das Chaos – Serhij Zhadans Roman aus einem ukrainischen Winter
Der Gott der kleinen Dinge
Von Philipp Blom
:
Was gibt Halt, wenn die Familien-geschichte so heillos verworren ist? Arundhati Roy hält sich, im Chaos, an Details fest
Das große Heft
Von Gregor Dotzauer
:
Wenn der Krieg ins Exil zwingt: Für Ágota Kristóf ist es das Schreiben, das eine entgleiste Welt wieder ins Lot bringt
Wer die Nachtigall stört
Von Eva Menasse
:
Im Kampf gegen die Ungerechtigkeit stärkt das Wissen um ihre Geschichte. Harper Lee verwahrt es wie in einer Zeitkapsel
Secondhand-Zeit
Von Elisabeth von Thadden
:
Die Hoffnung eines verfluchten Imperiums? Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch lässt sich vom Frühling berichten
Das Jahr magischen Denkens
Von Elke Heidenreich
:
Was tun im Zustand der allergrößten Trauer? Von Joan Didion lernen wir Techniken, dem Leid und der Überwältigung zu widerstehen
Die Korrekturen
Von Rainer Moritz
:
Wie tröstlich, dass die Familie aus Jonathan Franzens Roman nicht die eigene ist
Roman eines Schicksallosen
Von Iris Radisch
:
Imre Kertész’ großes Werk über die dünnen Wände zwischen Vernunft und Barbarei
Die Glasglocke
Von Nora Bossong
:
Auch wenn Tage trübe sind – Sylvia Plath bewahrt den Glauben an die Literatur
Radetzkymarsch
Von Adam Soboczynski
:
Wenn alles anders ist und nichts mehr sicher, dann muss man Joseph Roth fragen. Er wusste, wie es ist, wenn es überall durchs Dach regnet
Wer zeigt mir den Weg, wenn ich mich verirrt habe? Chimamanda Ngozi Adichie, Maxim Biller, Albert Camus, Johann Wolfgang von Goethe, Judith Hermann, Homer, Daniel Kehlmann, Gabriel García Márquez, Herman Melville, Herta Müller, Thomas Pynchon, Germaine de Staël, Lew Tolstoi, Virginia Woolf
Mrs. Dalloway
Von Jutta Person
:
Im Kreuz und Quer der Gefühle:
Virginia Woolf
feiert den Krimskrams des Lebens
Über Deutschland
Von Anna-Lena Scholz
:
Germaine de Staël
bereiste Deutschland, als dort viele Schrauben locker waren
Americanah
Von Ijoma Mangold
:
Schwarz? Weiß?
Chimamanda Ngozi Adichie
s Standort-bestimmungen sind komplizierter
Hundert Jahre Einsamkeit
Von Laura Cwiertnia
:
Männer mit Schweineschwänzen?
Gabriel García Márquez
macht Fantastisches plausibel
Sommerhaus, später
Von Florian Illies
:
Rauchen und schweigen. Wer
Judith Hermann
liest, taucht in den Nebel ihrer Welt
Der Fremde
Von Iris Radisch
:
Kein Ziel, kein Sinn, kein Interesse – aber eine Waffe. Der existenzialistische Held von
Albert Camus
hat nur eine Hoffnung. Und die heißt Hoffnungslosigkeit
Odyssee
Von Sabine Rückert
:
Wer sich verirrt wie Odysseus, ist deshalb noch nicht verloren
Von Terézia Mora
:
Erst auf der größten Irrfahrt lernt Odysseus die Regeln seiner eigenen Welt
Von Thea Dorn
:
Nicht so einfach: Wer die Begegnung mit Odysseus sucht, segelt leicht an ihm vorbei
Von Mithu Sanyal
:
Wenn man, wie Odysseus, dann endlich zu Hause ist, ist man noch längst nicht heimgekehrt
Der Fuchs war damals schon der Jäger
Von Behzad Karim Khani
:
Dieser Roman handelt von einer Welt, die von Stille erdrückt wird.
Herta Müller
sucht den Weg ins Freie
Esra
Von Kai Sina
:
Literatur und Wirklichkeit verwickelten sich in
Maxim Biller
s schillerndem Roman »Esra« leider auf besondere Weise
Die Vermessung der Welt
Von Florian Illies
:
Daniel Kehlmann
hat das Erzählen von Tiefen und Untiefen deutscher Geschichte in ein Vergnügen der Gegenwart verzaubert
Die Enden der Parabel
Von Jutta Person
:
Mit Lachkrämpfen durchs Erzähllabyrinth:
Thomas Pynchon
s Roman über eine weltumspannende Verschwörungstheorie
Anna Karenina
Von Iris Berben
:
Wirrungen, erlebt wie im Rausch.
Lew Tolstoi
schenkte uns einen zeitlosen Roman über Schuld und Moral
Moby Dick
Von Antje Boetius
:
Der weiße Wal: Er ist für
Herman Melville
auch das Bild einer existenziellen Unruhe. Stellt sich die Frage, wer hier der Jäger ist und wer der Gejagte
Faust
.
Der Tragödie Erster und Zweiter Teil
Von Daniel Kehlmann
:
»Vom Himmel durch die Welt zur Hölle« – es ist das schiere Chaos. Und der Ritt hindurch nur durch Sprache zu meistern. Jedenfalls wenn man
Johann Wolfgang von Goethe
heißt
Und was ist mit Sex? Jane Austen, James Baldwin, Honoré de Balzac, Giovanni Boccaccio, Charlotte Brontë, F. Scott Fitzgerald, Gustave Flaubert, Theodor Fontane, Michel Houellebecq, Elfriede Jelinek, Han Kang, Heinrich von Kleist, Vladimir Nabokov, Zeruya Shalev
Verlorene Illusionen
Von Gero von Randow
:
Worum geht es, wenn es um Geld und um Liebe geht – und um Sex?
Honoré de Balzac
nimmt uns die letzten Illusionen: Alles dasselbe, alles bloß Verhandlungsmasse
Effi Briest
Von Moritz von Uslar
:
Ein Hascherl, ein Backfisch, ein wehrloser Hase in Pelzstola: Effi Briest. Doch lässt sie dieser
Theodor Fontane
nicht auch mal zur Sache kommen?
Die Vegetarierin
Von Volker Weidermann
:
Tiere quälen, Tiere töten, Tiere kochen und Tiere essen. Und danach: Sex ertragen. Für alle, die anders leben wollen, hat
Han Kang
einen Vorschlag
Die Klavierspielerin
Von Katharina Teutsch
:
Dass Sex mit Gewalt zu tun hat, das sagen ja jetzt alle. Dass er glücklich macht, ist trotzdem noch die Hoffnung. Zu Recht?
Elfriede Jelinek
hat ein paar Warnhinweise
Stolz und Vorurteil
Von Elke Schmitter
:
Erfüllte Erotik, sexuelle Selbstständigkeit: Bei
Jane Austen
lernen wir Frauen kennen, für die das noch nicht normal war. Doch auch die Emanzipation hat ihren Preis
Der große Gatsby
Von Benjamin Lebert
:
Wenn das Herz leer und traurig ist, wird alles Geld wertlos, jeder Palast verliert seinen Glanz.
F. Scott Fitzgerald
und sein Gatsby wussten das am besten
Elementarteilchen
Von Ingeborg Harms
:
»Möchtest du, dass ich ihn in den Mund nehme?«
Michel Houellebecq
s kalter Blick auf eine transzendenzlose Gesellschaft
Madame Bovary
Von Eberhard Rathgeb
:
Dass eine Frau nicht bloß auf den Richtigen wartet, sondern dem Ruf der eigenen Libido folgt, ist eine historische Errungenschaft. Die größte Heldin so eines Selbstermächtigungsversuchs lernen wir bei
Gustave Flaubert
kennen
Das Dekameron
Von Maike Albath
:
Die Anziehung der Geschlechter schien
Giovanni Boccaccio
als ein Naturgesetz. Vor der Kraft des Begehrens verblasst sogar der Schrecken der Hölle
Jane Eyre
Von Berit Dießelkämper
:
Supererfolg im England von früher.
Charlotte Brontë
lehrt weibliche Willensstärke in der Männerherrschaft
Liebesleben
Von Iris Radisch
:
Atemberaubend, wie
Zeruya Shalev
Politik und Religion mit erotischer Mystik verbindet
Giovannis Zimmer
Von René Aguigah
:
Und wenn man die Gefühle verleugnet, obwohl sie groß sind? Ganz einfach:
James Baldwin
lesen
Sämtliche Erzählungen
Von Wolf Haas
:
Schon eine homöopathische Dosis
Heinrich von Kleist
verschlägt einem immer noch die Sprache
Ada oder das Verlangen
Von Ilma Rakusa
:
Er hat die Sprache für das, was zwei Liebende verschweißt:
Vladimir Nabokov
, der Schmetterlingsforscher
Wer bin ich?
Kann mir jemand helfen? Ingeborg Bachmann, Georg Büchner, Miguel de Cervantes, Assia Djebar, Annie Ernaux, Max Frisch, Karl Ove Knausgård, Astrid Lindgren, Curzio Malaparte, Michel de Montaigne, Robert Musil, Marcel Proust
Stiller
Von Volker Weidermann
:
Wer schweigt, hat nicht einmal eine Ahnung, wer er ist. Wer das herausfinden will, sollte reden oder schreiben. Oder lesen. Am besten
Max Frisch
, den Wortbildhauer
Kämpfen
Von David Hugendick
:
Das Leben kann ein reißender Strom sein, manchmal auch eine träge Sammlung banaler Kleinigkeiten. Warum sollte man es so machen wie
Karl Ove Knausgård
– und alles notieren?
Essais
Von Bov Bjerg
:
Philosophieren heißt, sterben zu lernen. Das schrieb
Michel de Montaigne
. Ein rätselhafter Satz, oder?
Lenz
Von Volker Weidermann
:
So viel Mitleid, so viel Menschenliebe.
Georg Büchner
hat die beste Geschichte der deutschen Literatur geschrieben
Die Haut
Von Thomas Assheuer
:
Frei, gleich und glücklich wollen wir sein, und Geld haben wollen wir vielleicht auch noch? Für
Curzio Malaparte
ein Graus. Im Zweiten Weltkrieg hatte er die Landung der amerikanischen Truppen in Neapel erlebt – und jedem Weltverbesserungsversprechen abgeschworen. Es könne nur auf eine Verlustrechnung hinauslaufen
Der Mann ohne Eigenschaften
Von Richard David Precht
:
Wen sollen wir befragen, auf der Suche nach uns selbst? Die Philosophen jedenfalls nicht, da kann
Robert Musil
nur abraten
Die Jahre
Von Julia Schoch
:
Die Kunst, sich zu selbst verstehen und dadurch die Gesellschaft:
Annie Ernaux
hat sie perfektioniert
Fantasia
Von Susanne Mayer
:
Zerrissen zwischen zwei Welten und Traditionen.
Assia Djebar
sucht ihren Platz
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Von Jochen Schmidt
:
Wann kommt es im Leben eines Menschen dazu, dass er zu
Marcel Proust
s Riesenwerk greift? Wenn er in einem Buch lesen will wie in sich selbst
Ronja Räubertochter
Von Katrin Hörnlein
:
Coming-of-Age im wilden Wald! Das kann nur
Astrid Lindgren
Don Quijote von der Mancha
Von Orhan Pamuk
:
Es muss ein Adliger sein, der zu viele Ritterromane gelesen hat und jetzt nicht mehr ganz richtig im Kopf ist – das wird schon in der Kinderausgabe klar. Dann will man ihm ein Leben lang wiederbegegnen: Don Quijote, dem größten Helden von
Miguel de Cervantes
Das dreißigste Jahr
Von Florian Eichel
:
Wie weit ist das Niemandsland zwischen Adoleszenz und Erwachsensein?
Ingeborg Bachmann
hat es vermessen
Wer kommt mit, wenn ich
aufbreche
?
Anonymus, Roberto Bolaño, Annette von Droste-Hülshoff, Patricia Highsmith, James Joyce, Irmgard Keun, Christian Kracht, Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Gotthold Ephraim Lessing, Clarice Lispector, Toni Morrison, Ovid, Amos Oz, Orhan Pamuk, J. K. Rowling, Salman Rushdie, Lutz Seiler
Nahe dem wilden Herzen
Von Maja Beckers
:
Immer weitergehen, was es auch kostet:
Clarice Lispector
schuf eine widerständige, selbstbestimmte Frauenfigur – und einen hypnotischen Roman
Nathan der Weise
Von Valery Tscheplanowa
:
Wer als Schauspielerin
Gotthold Ephraim Lessing
s Botschaft des Friedens vorträgt, weist noch immer einen Weg in die Zukunft
Die Judenbuche
Von Marion Poschmann
:
Prophetisch blickt
Annette von Droste-Hülshoff
auf den Wald. In seiner Zerstörung zeigt sich ihr der menschliche Abgrund
Harry Potter
Von David Hugendick
:
Die Welt ist ein magischer Ort, manchmal ein unheimlicher. Was brauchen wir? Freundschaft, Liebe und das große Zauberbuch von
J. K. Rowling
Der talentierte Mr. Ripley
Von Ronald Düker
:
Patricia Highsmith
erfand einen Mann, der immer davonkommt
Cevdet und seine Söhne
Von Peter Neumann
:
Die Sehnsucht nach Europa leuchtet in
Orhan Pamuk
s Roman sehr hell
Eine Geschichte von Liebe und Finsternis
Von Jörg Lau
:
Amos Oz über den Aufbruch eines Landes, das nun wieder um seine Existenz kämpfen muss
Die Reise in den Westen
Von Gregor Dotzauer
:
In Chinas frechstem Klassiker versinkt man für Wochen an der Seite eines Affenkönigs
Das kunstseidene Mädchen
Von Antonia Baum
:
Jammern ist ehrlos. Auf der Flucht aus der selbstherrlichen Gesellschaft von Männern hilft einer Frau nur das Tricksen.
Irmgard Keun
erzählte viel von dem, was uns heute leider noch vertraut ist
Metamorphosen
Von Katharina Teutsch
:
Die Sonne brennt, doch der Himmel ist offen. Auf dieser Reise geht alles
Von Burkhard Müller
:
Wer sich die größte Veränderung wünscht, er findet sie hier. Fliegen ist noch das Mindeste. Es bleibt auch kein Körper so, wie er war
Von Ann Cotten
:
Ein lautmalerisch gefasstes Blubbern von Luftblasen. Verse, die wie ein Boxer tänzeln. Textlandschaften als antike Computerspielwelten: Wenn eine Lyrikerin über dieses Epos schreibt, dann kommt etwas auf uns zu
Von Melanie Möller
:
Mal spielen die Götter dem Menschen mit, mal er sich selbst
Faserland
Von Volker Weidermann
:
Keine Reise rettet dich vor dir selbst, und auch nicht vor der dunklen Geschichte.
Christian Kracht
s Roman über einen rasend vor sich hin plappernden jungen Mann
Menschenkind
Von Dirk Peitz
:
Vermietete, eingesperrte Leben – und kein Weg hinaus?
Toni Morrison
s definitiver Roman über die Sklaverei
Kruso
Von Alexander Cammann
:
Freiheit ist eine Insel in der Ostsee. Dort erschafft
Lutz Seiler
eine schillernde Traumwelt
Mitternachtskinder
Von Stephan Wackwitz
:
Manchmal ist es nicht bloß eine einzelne Person, die sich in Bewegung setzt, sondern ein ganzes Land.
Salman Rushdie
erzählt von der Aufregung, die entsteht, wenn in einem Moment die Zukunft erfunden wird
Ulysses
Von Tilman Rammstedt
:
Es ist nur ein Tag, den uns
James Joyce
beschreibt. Aber darin passiert alles. Man erlebt ihn erstaunt, verärgert, verwirrt und kichernd
Der Leopard
Von Alexander Cammann
:
Wollen wir, dass alles so bleibt, wie es ist? Dann müssen wir auf
Giuseppe Tomasi di Lampedusa
hören – und daran arbeiten, dass alles sich ändert
2666
Von Helene Hegemann
:
Ihn lesen heißt abzuheben, in alle Himmelsrichtungen zugleich.
Roberto Bolaño
s größter Roman beschreibt die »Flugbahn des Universums am Rande der Apokalypse«
Autorinnen und Autoren
Für Sie gelesen und besprochen von:
Bildnachweise
Informationen zum Buch
Die Jury der neuen ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur:
Antonia Baum Alexander Cammann Ronald Düker Katrin Hörnlein David Hugendick Ijoma Mangold Iris Radisch Elke Schmitter Debora Schnitzler Dr. Adam Soboczynski Katharina Teutsch Dr. Elisabeth von Thadden Volker Weidermann
Dante Alighieri, Isabel Allende, Margaret Atwood, Heinrich Böll, Gott, Franz Kafka,Doris Lessing, Hilary Mantel, Karl Philipp Moritz, HarukiMurakami, George Orwell,Stendhal, Ngũgĩ wa Thiong’o,Olga Tokarczuk
Von Jens Jessen
Franz Kafkas Erzählungen vorzustellen, die ja so etwas wie die Quintessenz seines Werkes sind, ist gar nicht so einfach. Was gibt es da überhaupt vorzustellen? Kafka gehört zu den Schriftstellern der Weltliteratur, deren Name sich längst vom Werk gelöst hat. Man muss keine Zeile gelesen haben, um zu wissen, was als kafkaesk bezeichnet wird, nämlich etwas Undurchdringliches, Labyrinthisches, Übermächtiges und Ungerechtes. Kafka steht für die Ohnmachtserfahrung des Individuums vor den Institutionen, vor der Bürokratie des Staates wie vor all den anderen anonymen Organisationen, die Unterwerfung verlangen, ohne verstanden werden zu können (oder auch nur verstanden werden zu wollen). Wer Kafka erwähnt, denkt automatisch an Menschen, die unverschuldet in die Mühlen einer autoritären Behörde geraten (es kann aber auch nur ein böses Dorf oder ein gespenstischer Hausstand sein), in denen sie langsam zermahlen werden, bis zum vollständigen Ruin ihres Selbstbewusstseins.
Müsste man also den Schriftsteller Franz Kafka gegen das Klischee verteidigen, das sein Name aufruft? Nein, eigentlich nicht – oder nur mit mäßiger Aussicht auf Erfolg. Tatsächlich ist das Klischee weitgehend zutreffend, wenngleich immer mal wieder Interpreten zu behaupten versuchten, Kafkas Weltbild sei nicht kafkaesk, sein Blick eher humorvoll als düster und die Behörden, die dem armen Helden in den (posthum veröffentlichten) Romanen Das Schloss oder Der Prozess entgegentreten, seien gar nicht so böse, vielmehr habe sich der Held immer selber einiges zuschulden kommen lassen – beziehungsweise durch sein trotziges Verhalten und selbstgerechtes Nichtverstehenwollen die Widerstände erst geschaffen, an denen er scheitert.
Aber solche Umdeutungen führen leider zu nichts. Sie hellen die Notsituation nicht auf, sondern verdüstern die Lage der Opfer noch weiter, indem sie die Ursache in deren Charakter verlagern. Richtig ist daran allerdings, dass sich Kafkas Helden gerne selbst die Schuld geben, dass sie sich mit dem Aggressor identifizieren, und wie dieser Mechanismus funktioniert, kann man sehr gut gerade in einigen Erzählungen sehen, am besten vielleicht in einer der bekanntesten, Das Urteil (1913).
Der Held, der dort eben noch zartfühlend darüber nachdachte, ob er einem unglücklichen und einsamen Freund in Petersburg von dem eigenen Glück einer Verlobung schreiben solle oder ihn dadurch nicht noch unglücklicher machen werde, wird vom Vater belehrt, dass das moralische Problem ganz woanders liege, nämlich darin, dass er sich überhaupt verheiraten und also ihn, den alten Vater, im Stich lassen wolle. Und was tut der Held? Nur für einen Moment widerstrebend, unterwirft er sich der Ansicht des Vaters und lässt sich für etwas, was einstweilen lediglich Absicht war (eine Verlobung!), zum Selbstmord verurteilen, den er sogleich vollzieht.
Daran ist alles schreiend ungerecht und verquer. Worauf beruht das Recht des Vaters, die Eheabsicht des Sohnes als Verrat anzuklagen – außer auf dem Wunsch des Vaters, seine eigene Macht zu behaupten? Und woher kommt das Schuldbewusstsein des Sohnes, das offenbar nur darauf wartet, aufgerufen und suizidal gewendet zu werden? Es gehört wenig Fantasie dazu, die Erzählung biografisch auf Kafkas eigenes Vaterverhältnis zu beziehen, und so haben es auch die meisten Interpreten getan. Hermann Kafka, ein Prager Einzelhandelskaufmann, der es aus kleinsten Verhältnissen zu einigem Wohlstand gebracht hatte, war ein Tyrann und Kraftmensch sondergleichen, und sein zarter schriftstellernder Sohn war nicht nur das missbilligte Gegenteil, sondern empfand seine Abweichung selbst als schuldhaft.
In der Erzählung Die Verwandlung (1915) tritt die Abweichung von der Norm für alle sichtbar ans Licht: Die vom Vater befürchtete Missratenheit des Sohnes nimmt die Gestalt eines Ungeziefers an, wahrscheinlich einer Küchenschabe. Und noch in dem berühmten Brief an den Vater (1952) – so etwas wie das autobiografische Gegenstück zum Urteil – gibt Franz Kafka dem Vater, den er für seine herabsetzende Missbilligung anklagt, zugleich auch ein gewisses gespenstisches Recht dazu, der Brief ist Anklage und Selbstanklage in einem.
Im Übrigen – wer sich fragt, was es mit den ständigen Verlobungen und Entlobungen des Schriftstellers auf sich hat, muss dazu nicht unbedingt den Briefwechsel mit der ewigen Braut Felice Bauer lesen. Um welchen Loyalitätskonflikt es sich handelt, auch das offenbart sich im Urteil – und zugleich, dass es mehr als dieser Konflikt ist. Es ist die Furcht davor, das eigene Glück zu wagen – beziehungsweise die Furcht, dass schon die Absicht, glücklich sein zu wollen, eine Schuld bedeutet, die Strafe nach sich zieht.
Und Ähnliches wie für das Verlangen nach Glück gilt auch für das Verlangen nach Gerechtigkeit, das sich regelmäßig nicht erfüllt, im Schloss und im Prozess ebenso wenig wie in der kleinen, aber zentralen Erzählung Vor dem Gesetz (1915). Immer soll der Held lernen, dass sein Verlangen selbst – der Gedanke, einen Anspruch auf Recht zu haben – schon unrecht ist. Oder noch genauer gesagt: Der Held bildet sich ein, dass es seine Aufgabe sei, das zu lernen und sein Scheitern anzunehmen. So hat denn Kafka seinen Figuren, die meinen, ihrem Scheitern applaudieren zu müssen, etwas von dem Verhängnis (oder vielleicht das ganze Verhängnis?) schon in den Charakter eingeschrieben.
Das überwältigend Ungemütliche an Kafkas Werk (es ist wahrscheinlich das ungemütlichste der Literaturgeschichte) entsteht wohl daraus, dass den Figuren stets diese Neigung zur Selbstzerknirschung sowie einige andere hässliche Eigenschaften oder Taten angehängt werden. So gibt sich der Reisende, der die Strafkolonie in der gleichnamigen Erzählung (1919) besucht und die Opfer der grässlichen Hinrichtungsmaschine bedauert, am Ende selbst als besonders mitleidlos zu erkennen, indem er zwei Sträflinge an der Flucht hindert, und zwar extra brutal, durch den Schlag mit einem Tauende. Dieser Reisende, der doch so etwas wie das aufgeklärte, humane Gewissen angesichts barbarischer Methoden verkörpert, ist überhaupt auf verstörende Weise ambivalent gezeichnet. Ganz zu Beginn, als man dem Reisenden einen Stuhl anbietet, damit er der Hinrichtung beiwohnen kann, heißt es zwielichtig: »dieser konnte nicht ablehnen«. Warum eigentlich nicht? Aus Höflichkeit? Oder ist er in Wahrheit ein Voyeur, den es immer dazu treibt, sich an Grausamkeiten zu laben?
Kafka selbst treibt es jedenfalls zu solchen unauffälligen, aber gespenstisch doppeldeutigen Wendungen – ein Fest für Interpreten; und ganz gewiss gibt es kein Werk der Weltliteratur, das so viele Deutungen provoziert hat, bis hin zu vertrackt religiösen, die es an Kafkas Judentum zurückbanden und dessen Tendenz zu peinlicher Gewissensprüfung.
Warum schrieb Kafka so, wie er schrieb? Warum hat er seine Prosa, die doch als Anklage eines patriarchalen Autoritätsprinzips schon genügend Stoff und Wucht hätte, mit zwielichtigen Ambivalenzsignalen durchsetzt? Die einfachste Antwort lautet: Weil er dadurch die Wunde offen hält. Weil sich der Leser nicht durch einen einfachen moralischen Befund über die Verletzung beruhigen kann, die von einem ungerechten Prinzip in der Welt verursacht wird. Aber wahrscheinlich ist es noch einmal vertrackter und dialektischer: Das autoritäre System, ob nun einer Behörde, des Staates oder nur des Familienvaters, zeigt sich in seiner ganzen vergiftenden Totalität erst dadurch, dass es bis in die Seele des Individuums vordringt und dort sogar Zustimmung auslöst – Zustimmung zum eigenen Verhängnis.
Franz Kafka als Sohn wie seine Helden als Bittsteller und Untertanen sind sowohl gegen wie auch für die Autorität, also, psychologisch gesprochen: in einem selbstzerstörerischen Double Bind gefangen. Dieses Double Bind kennzeichnet aber mehr als nur ein individuelles Verhängnis, es ist so etwas wie die politische Signatur der Moderne. Es ist auch unser Schicksal, dass wir uns zu einer Demokratie freudig bekennen müssen, deren Mehrheitsprinzip gleichwohl über den Einzelnen rücksichtslos hinwegwalzt.
1
Franz Kafka
Die Erzählungen
S. Fischer
Frankfurt a. M. 2011
576 S.
Von Peter Kümmel
Die Divina Commedia ist eines jener Bücher, die man aufschlägt, um sich darin zu verlieren. Ich bewege mich in ihr wie in einer unermesslichen Stadt, steuere Lieblingsplätze und finstere Ecken an und vergesse die Wege, die mich dorthin geführt haben. Ebenso wenig wie ich Paris, London oder New York je »kennen« werde, könnte ich sagen: Ich habe die Commedia gelesen. Aber ich verirre mich mit Ehrfurcht und Schrecken immer neu in ihr.
Der Protagonist der Commedia geht ebenfalls verloren. Uns Lesenden eilt er als Wanderer voraus. Er steht am Karfreitag des Jahres 1300, ohne zu wissen, wie er dorthin kam, an der Pforte zum Jenseits. Zurück kann er nicht, drei Untiere schneiden ihm den Rückweg ab. Es bleibt nur die Flucht nach unten: Dante steigt hinab in die Hölle bis zu deren tiefstem Punkt, vorbei an den Verdammten, die dort in Ewigkeit für ihre Sünden büßen. Unten angelangt, klettert er – vorbei an Luzifer – zurück nach oben. Er gerät ins Purgatorium, wo die weniger hoffnungslosen Fälle an der Auswaschung ihrer Schuld arbeiten. Und schließlich erreicht er das Paradies, wo die Frau ihn erwartet, die er sein Leben lang geliebt hat, ohne sie je berührt zu haben: die selige Beatrice. Am Ende wird er zurück auf die Erde gelassen, um den Sterblichen von seiner Reise zu berichten – während Beatrice bei Gott bleibt, in der »Himmelsrose«, dem Ort der Seligen. Das ist, in fahrlässiger Kürze, die »Handlung« der Commedia. Man könnte es noch kürzer sagen: Ein Mann sucht im Jenseits nach seiner toten Geliebten.
Wer ist der Mann? Er heißt Dante, und das ist auch der Name des Autors der Commedia. Haben wir es also mit einer Autobiografie zu tun? Das nicht, aber Dante Alighieri (1265 bis 1321) hat in seinem epischen Großgedicht, das auch Züge eines Dramas hat, sehr viel von seinem eigenen Leben untergebracht – ein frühes Stück Metaliteratur ist es schon. Man muss also unterscheiden zwischen Dante, dem Autor der Commedia, und Dante, dem Jenseits-Wanderer, dem erzählenden Protagonisten. Das ganze Gedicht ist ein herrliches literarisches Rätsel, ein Wimmeltheater unvergesslicher Auftritte, es diskutiert und inszeniert anschaulich das Wissen, die Philosophie und die Glaubensgrundsätze des 14. Jahrhunderts, ja, dieses Jenseits ist voller Menschen, die es wirklich gegeben hat, man könnte es durchaus verwechseln mit der Gedankenwelt des Dichters Dante. Und es ist voller beunruhigender Details und offener Fragen.
Die Dante-Forschung streitet beispielsweise seit Jahrhunderten darüber, ob die Beatrice der Commedia mit jener Beatrice Portinari übereinstimmt, die der reale Dante einst als Neunjähriger (sie war acht) in seiner Heimatstadt Florenz sah und der er von da an verfallen war, ohne mit ihr je in nennenswerten Kontakt zu kommen. So wie ich es verstanden habe, ist eine Mehrheit der Forscher dafür, die Beatrice der Commedia mit der realen, früh verstorbenen, von Dante auch nach ihrem Tod abgöttisch verehrten Beatrice gleichzusetzen. Was bedeuten würde, dass die Commedia ein Werk der Verklärung wäre: Liebeserfüllung mit den Mitteln literarischer Fantasie. Musste Dante selbst durch die Hölle, um den Verlust Beatrices zu überwinden?
Es drängt sich der Verdacht auf, dass dieses dichterische Jenseits dazu dient, seinen Autor wenigstens hier mit Beatrice zusammenzubringen und die Nachwelt an der (rein spirituellen) Intimität der beiden teilhaben zu lassen.
Beatrice ist es, die den irrenden Dante sicher durch die Hölle navigiert: den Mann, dessen Liebe sie noch immer spürt und den sie – so suggeriert es der Autor – ebenfalls liebt. Von ihrem Platz im Paradies, nahe bei Gott, hat sie gesehen, in welcher Notlage er ist. Also schickt sie einen Lotsen zu Dante, der ihn führen soll. Sie schickt ihm einen, der niemals die Seligkeit erlangen wird, da er nicht getauft ist, dem aber auch die höllischen Strafen erspart bleiben, da er kein Sünder ist – Vergil, den großen römischen Dichter, der 1300 Jahre vor Dante lebte und von diesem glühend verehrt wird.
Und so gehen sie gemeinsam – hinab in ein in den Grund gebohrtes, sich in der Tiefe verengendes, vielrangiges Theater des Grauens.
Wieso hat die Hölle diese Form? Dante erklärt es in der Commedia: Luzifer fiel, als er sich von Gott abwandte, förmlich aus dem Himmel und riss in seinem Sturz einen Trichter ins Erdinnere, an dessen tiefstem Punkt er selbst feststeckt – das Inferno.
Je tiefer es hinabgeht, desto schwerer werden die Strafen. Faszinierend ist die Sorgfalt, mit welcher Dante (der Dichter) zahllose Zeitgenossen, Päpste, Kriminelle, Intellektuelle, Politiker sowie Gestalten der Mythologie und der Geschichte nebst ganzen oberitalienischen Bürgerschaften in dieser Hölle unterbrachte, der Leser spürt eine perverse Geborgenheit, wenn er im Schlepptau von Dante (dem Wanderer) durch die Höllenkreise geht. Denjenigen, die hier einsitzen, kann nichts Schlimmeres mehr passieren.
Es herrscht eine ausgeklügelte Sitz-, Liege- und Wohnordnung. Jeder Kubikzentimeter wird planvoll genutzt. Wer war der Baumeister? Gott oder doch Luzifer, der ganz unten im Hölleneis seinen Hass nährt mit der ewig sich erneuernden Menschenspeise, die er in seinen drei Mäulern hin und her malmt?
Nein, Dante ist es! Dante schuf diese Hölle und hat sie selbst gefüllt. Er entschied, welcher Sünder auf welcher Streckbank, in welchem Sud, in welchem Dämonengebiss gefoltert wird. Angeblich ist ein gewisser Minos dafür zuständig, die eintreffenden Verdammten an ihren finalen Platz zu schleudern, aber in Wahrheit ist Dante der Platzanweiser. Jede Strafe des Infernos ist eine Maßanfertigung für den Sünder, dem sie gebührt.
Eine fantastische finstere Gegenschöpfung heult hier vor sich hin, die in zwanghafter Liebe zum Detail beschrieben wird. Wer an Kafkas Strafkolonie denkt, liegt nicht ganz falsch, und auch Assoziationen an die Konzentrationslager Nazi-Deutschlands drängen sich auf, wobei es hier nicht um Vernichtung geht, sondern um ewigen Erhalt der Insassen; sie bleiben gewissermaßen intakt – und wenn doch mal einer verbrannt wird, setzt sich seine Asche sofort wieder zu einem quälbaren Ganzen zusammen.
Aus heutiger Sicht wirkt das, als habe ein Sadist die Sünden der Verdammten in unendliche Höllenqualen übersetzt und vergrößert, um seine Lust auszuleben.
Dante, der Wanderer, geht indessen wie ein einfühlsamer Frontreporter hinab in den Höllenschlund; er weint, fällt in Ohnmacht, hat Mitleid. An bestimmten Orten hält er inne und lässt sich vom Sünder den Grund für dessen Verdammnis erklären. Aus den Flammen, Stürmen, brodelnden Kesseln, Eisblöcken, Drachenmäulern heraus, in denen sie sitzen, geben die Armen Auskunft. Keiner lügt, keiner leugnet. Sie berichten, wie und weshalb sie starben. Es ist eine Welt der zu spät kommenden Erkenntnis. Nie dauern diese Begegnungen lange, denn Dante muss ja weiter, die triebhafte Schaulust, diese universelle Seelen-, Geister- und Schattenbahn ganz auszukosten, hält ihn auf den Beinen.
Wir Leserinnen und Leser folgen ihm im Sog eines bestimmten Reimschemas, der Terzinen. Aba bcb cdc ded – und so immer weiter zieht’s uns geschwind durch viele Tausend Verse. Zwei Wörter, die sich reimen, umschließen ein drittes, das im Folgenden zwei neue Reimwörter zeugt. In der Sicherheit dieses Formprinzips wagt man sich, gewissermaßen an der festen Hand des genialen Dichters, hinab ins Fürchterliche. Allerdings ist die literarische Form der einzige Halt, den es hier gibt.
Denn wir befinden uns auf der Hinterbühne der Welt. Die Spieler sind abgeschminkt und entblößt, sogar ihres Fleisches beraubt: Schatten- und Flammenexistenzen. Man sieht ihre pure Essenz. Vorbei die Intrigen, die sie sich vorn, vor Publikum, bereitet haben. Es ist hier für alles zu spät. Nur nicht für Vergeltung.
Unvergesslich die Szene mit Graf Ugolino, der im neunten Höllenkreis mit seinem Feind, dem ehemaligen Erzbischof von Pisa, in einem Eisloch zusammengefroren ist. Ugolino schlägt seine Zähne in Schädel und Nacken des Feindes – und zwar nicht nur jetzt, sondern immer wieder und für alle Zeiten. Als Dante ihn fragt, woher dieser fürchterliche Hass rührt, wischt sich Ugolino den Mund (mit dem Haupthaar des Angefressenen!) und erklärt seine Beweggründe. Und siehe: Man versteht sie. Der Erzbischof hatte Ugolino und dessen vier Söhne den Hungertod sterben lassen, und womöglich – Dante lässt es in der Schwebe – hat Ugolino im Hungerwahn seine eigenen Kinder verzehrt. Nun, im Inferno, nagt er auf ewig an dem, der ihn verhungern ließ.
Es gibt keine Flucht; man entkommt nicht dem Feind und nicht dem, an dem man sich versündigt hat; in der Intimität maßloser Vergeltung hocken sie übereinander, der eine verleibt sich den anderen ein, hackt ihm den Schädel auf und frisst seine Hirnmasse, ohne dass der andere in seiner Substanz schwindet – Schädel und Hirn wachsen offenbar nach. Und offenbar erneuern sich auch die Leiber der Verräter (Brutus, Longinus, Judas), die von Luzifers drei Mäulern unablässig zermalmt werden; Luzifers Gebisse laufen hier auf Grund.
Alle Menschen, die es seiner Ansicht nach verdienen, im großen Gedicht zu überdauern, sperrt Dante, der Autor, hier zusammen, damit Dante, der Wanderer, mit ihnen sprechen, von ihnen lernen und insgeheim über sie triumphieren kann – als derjenige, der ihrer Hölle entkommt. Mehr als 600 Gestalten enthält die Commedia; geborgen sind sie im einzigen Ordnungssystem, welches so viele Menschen verschiedenster Epochen und Länder, Tote und Erdachte, zu fassen vermag – im Kopf des Dichters. In einer Nachwelt, die wie ein gewaltiges, vieldimensionales Spinnennetz voll zappelnder Opfer ist.
Was außer der Freude, eine Hölle zu erschaffen, kann solch ein Werk antreiben? Was außer der Lust, selbst Flamme zu sein?
Nun, die Commedia besteht ja nicht nur aus der Hölle, dem Ort der vollkommenen Hoffnungslosigkeit, sondern auch aus dem Purgatorium und dem Paradies. Im Purgatorium gibt es Hoffnung, und im Paradies braucht man sie gar nicht mehr. An all diesen Orten blickt man zurück auf das vergangene Leben. In der Commedia, so kann man sagen, diskutiert die Menschheit ihre Möglichkeiten, der eigenen Fleischlichkeit zu entkommen: als Verdammte, als Hoffende oder als Selige.
Doch während ich dem Inferno-Autor jedes Wort und jedes Detail glaube, lässt mich das Paradiso eher kalt. Hier, unter den Seligen, begegnet Dante seinem Urururgroßvater, unser Autor stammt also offenbar aus bester Familie – was er durchaus selbstherrlich zu erkennen gibt. Wie er überhaupt keinen Zweifel daran lässt, dass für ihn nur das Paradies als Zielort infrage kommt.
Im allerletzten Canto (Gesang) der Commedia betet gar der heilige Bernhard für Dante, er bittet Maria, ihn vom »Nebel der Sterblichkeit« zu befreien. Dante lässt also in seiner eigenen literarischen Schöpfung um seine Unsterblichkeit bitten. Und man muss sagen: Er hat sich die Bitte am Ende selbst erfüllt, durch sein Werk.
Aber wie kann einer glücklich in den Himmel auffahren, wenn er doch weiß, dass unter ihm, in der Hölle, Milliarden Unglücklicher für alle Zeiten Qualen ohne Maß erleiden werden? Wie kann er solche Auserwähltheit ertragen?
Die Unbarmherzigkeit derer, die sich auf der richtigen Seite, beim richtigen Gott wähnen, die Unerbittlichkeit und Anmaßung Dantes – auch gegenüber jenen, die keine Chance hatten, das Paradies zu erlangen, weil sie zu früh geboren waren –, das alles macht die Göttliche Komödie, dieses literarische Weltwunder, auch zu einem unheimlichen, fundamentalistischen Werk.
Als Leser von heute hat man den bizarren Impuls, die Dantesche Hölle mitsamt allen Insassen zu befreien und ihre Folterknechte zur Rechenschaft zu ziehen. Oder hinauf ins Paradies zu stürmen und den kalten Seligen dort oben in ihre hohen Lichter zu spucken.
Aber im Ernst, wer hat sie denn nun eigentlich erbaut, die Hölle?
In Dantes Gedicht wirkt sie wie ein Gemeinschaftswerk, geformt nach Gottes Plan, deformiert vom Hass des Teufels und ausgekleidet mit Blut und den Ausscheidungen der Sünder. Aber über dem Tor zur Hölle steht noch vor den entsetzlichen Worten »Ihr die ihr eintretet: Lasst alle Hoffnung fahren!« etwas anderes: »Vor mir war nichts Erschaffenes zu finden«, was in den Worten des Philosophen, Historikers und Dante-Übersetzers Kurt Flasch dies bedeutet: »Nichts Irdisches wurde vor ihr erschaffen, sie wird ewig bestehen.«
Folgt daraus nicht, dass die Hölle einmal leer gewesen sein muss? Sie hat sich nicht parallel zum Sündengeschehen der Menschheit entwickelt, sie war schon vorher da, betriebsbereit und bezugsfertig. Und sie war so geplant worden, dass sie mehr Verdammte fassen konnte, als es damals, zu Dantes Zeit, an Lebenden auf Erden gab. In anderen Worten: Die Hölle ist das Werk eines Schöpfers, der mit dem Schlimmsten rechnet, eines Gottes, der der eigenen Schöpfung misstraut.
Dante entkommt der Hölle. Ihn führt die Liebe einer Frau bis zu Gottes Thron. Ganz oben, »im dritten Kreis des höchsten Rangs«, sieht Dante sie ein letztes Mal: Beatrice, die sein Leben bestimmte, die Unerreichbare, auf die er zulebte und die er doch verfehlte, sitzt ferner denn je in einem Kranz aus Licht. Er aber muss nun ins Diesseits zurück, um den Sterblichen von seiner Reise zu berichten. Natürlich ist er sich sicher, dass sein Platz, wenn er einst für immer ins Jenseits einrückt, im Paradies sein wird. Das ist – wie die ganze Göttliche Komödie – eine gewaltige Anmaßung. Läge es nicht näher, dass Minos dem Autor dieses Werkes einen Platz im Inferno anweisen würde?
Wer die Commedia liest, denkt jedenfalls unwillkürlich darüber nach, wo, in welchem Höllenkreis, er selbst seinen Platz hätte. Da ich Sünden verschiedenster Art begangen habe, muss ich mich fragen, welche die schwerste war und wie tief Minos mich hinunterschleudern würde. Und ich frage mich, wie voll die Hölle jetzt, in diesem Moment, wohl sein müsste. Schätzungen zufolge stehen den heute lebenden acht Milliarden etwa 100 Milliarden Menschen gegenüber, die vor uns gelebt haben. Also müsste die Hölle eine Megaweltstadt sein: Mumbai plus Mexico City, São Paulo, Tokio, Peking, Moskau, Teheran, Kairo, Lagos, Istanbul, New York – all das zusammengewachsen und hoch zehn.
Seien wir froh, dass sie nicht existiert, sondern in Dantes Kopf ihre blühende, fürchterliche Vollendung gefunden hat. Hoffentlich. Hoffentlich nur dort.
2
Dante Alighieri
Die göttliche Komödie
Aus dem Italienischen von Philalethes
Nikol Hamburg 2021
576 S.
Von Michi Strausfeld
Über vierzig Jahre nach Erscheinen lassen sich Inhalt und Erfolg nur schwer voneinander trennen. Knapp vier Millionen Exemplare des Weltbestsellers wurden allein in Deutschland verkauft. Die Familiensaga erzählt von Esteban Trueba, einem lateinamerikanischen Patriarchen, der die Geschicke der Familie bestimmt – obwohl die Frauen aus vier Generationen die eigentlichen Protagonistinnen der Dynastie sind. Parallel wird die politische Geschichte Chiles im 20. Jahrhundert bis zum Putsch von Pinochet 1973 gespiegelt.
Trueba verkörpert die konservative Macht im Land. Als Senator bekämpft er wie die gesamte reiche Oberschicht den legitim gewählten Präsidenten Salvador Allende, dessen Regierung mithilfe der CIA destabilisiert wird. Dann beginnt der Terror im Land, auch die geliebte Enkeltochter wird ein Folteropfer. Die Schilderung dieser bewegten Jahre voller Illusionen und Intrigen ist unverändert beklemmend.
In gewisser Weise steht der Roman exemplarisch für die instabilen Demokratien Lateinamerikas. Überall verweigern die mächtigen Klassen, deren Reichtümer oft bis in die Kolonialzeit zurückreichen, notwendige Umverteilungen und Reformen. So bleiben die sozialen Ungerechtigkeiten erhalten.
Aber die Autorin gibt eine Hoffnung mit. Trueba erkennt am Ende seines 90-jährigen Lebens, dass er politisch und familiär gescheitert ist: Die Militärs haben eine Diktatur errichtet, die Mitglieder der Großfamilie haben sich einander entfremdet, sein Patriarchat hat verloren. Die Enkelin schreibt diese packende Familiengeschichte auf. Das Geisterhaus ist ein zeitloser Roman, auch deshalb, weil das Elend, das er beschreibt, noch längst nicht aus der Welt ist.
3
Isabel Allende
Das Geisterhaus
Roman
Aus dem Spanischen von Anneliese Botond
Suhrkamp
Berlin 2023
501 S.
Von Florian Eichel
Es gibt nur zwei Arten von Romanen: jene, über die längst alles gesagt ist, und solche, über die nicht alles gesagt werden kann. Herr der Krähen, das Opus magnum von Ngũgĩ wa Thiong’o, zählt zur letzteren Kategorie. Dem 1938 in Kenia geborenen Schriftsteller gelingt es, auf den knapp tausend Seiten dieses Buchs – im amerikanischen Exil in seiner Muttersprache Kikuyu verfasst – den gesamten Irrsinn postkolonialer Politik in Afrika zu verdichten. Nebenbei hat er damit einen der unterhaltsamsten Romane der Gegenwart geschrieben.
Mit sadistischer wie inkompetenter Hand wird die fiktive Freie Republik Aburiria von einem namenlosen Diktator regiert. Sein Geburtstagswunsch: »Marching to Heaven«, ein Riesenturm von babylonischem Ausmaß. Sein Problem: Das Geld fehlt. Bei der New Yorker »Global Bank« versucht er einen Kredit zu ergattern, wird allerdings nicht einmal zum Verhandlungsgespräch vorgelassen. Über der Warterei erkrankt der Diktator und bläht sich zu immer beunruhigenderen Proportionen auf. Da kann nur noch der »Herr der Krähen« helfen, ein Schamane wider Willen namens Kamiti, der eigentlich nur ein arbeitsloser Intellektueller ist.
Was in der Zusammenfassung bereits abwegig klingt, liest sich als Roman noch viel absurder. Herr der Krähen ist eine Satire von epischem Ausmaß, in der die Megalomanie der finanzkapitalistischen Gegenwart gegen die Spiritualität des Schamanismus antritt – mit der schönen Pointe, dass sich sowohl Fortschritt als auch Tradition als Betrugsmethode erweisen. Damit ist noch längst nicht alles, aber vielleicht genug gesagt, um zum Lesen dieser genialen afrikanischen Typologie der Hochstapler und Opportunisten anzuregen.
4
Ngũgĩ wa Thiong’o
Herr der Krähen
Roman
Aus dem Englischen von Thomas Brückner
Fischer
Frankfurt a. M. 2013
944 S.
Von Gregor Gysi
Doris Lessing ist nun schon zehn Jahre tot. Es freut mich, dass die ZEIT einen Text über diese Schriftstellerin veröffentlicht. Ich habe Doris Lessing noch in guter Erinnerung, denn zumindest zu mir war sie immer sehr nett. Es ist seltsam, dass wir uns kaum über ihre Bücher unterhalten haben. Vielleicht sprach sie einfach nicht gern über eigene Texte. Das hat den großen Nachteil, dass ich hier nicht mit Wissen aus erster Hand glänzen kann.
Zu der Zeit, als ich sie näher kennenlernte, war ihre Liebe zum Kommunismus abgeklungen. Allerdings stand sie immer zu ihrer Vergangenheit, sie machte keine eigenartigen Verrenkungen, wie ich sie von allen möglichen »Wendehälsen« 1989 zur Genüge erlebt habe. Wenn man verstehen will, wie die Entfremdung vom Kommunismus zustande kam, muss man ihren Roman Das goldene Notizbuch lesen, für das sie den Nobelpreis erhielt. Natürlich hat in einem Roman jede Figur etwas Fiktionales, es handelt sich nie um einen rein autobiografischen Text. Und selbst wenn es einer wäre: Auch in der Autobiografie wird rekonstruiert und damit auch reinterpretiert. Das Gedächtnis ist nie fotografisch. Aber es gibt Dinge, die Auslöser für eine Entscheidung sein können.
Anna Wulf und Molly Jacobs – die Hauptfiguren des Romans – gehören der Kommunistischen Partei an und verlassen sie später. Doch es sind nicht die Stalin’schen Verbrechen selbst, die seit 1956 auch in den kommunistischen Parteien kein Geheimnis mehr waren, es ist der Umgang damit. Ein offensiver Umgang damit hätte vielleicht der Idee des Kommunismus genutzt. Der halbherzige, inkonsequente, zuweilen zynische Umgang jedoch nicht. Kommunismus, das war das Versprechen, alle Unterdrückung abzuschütteln. Das ist seine »idealistische« Seite. Seine dunkle Seite ist nicht nur das stalinistische Herrschaftssystem, sondern auch der beständige Versuch, beim Einräumen der Verbrechen diese erneut, auf verdruckste Weise, rechtfertigen zu müssen. Das Ideal des Kommunismus verliert seine Strahlkraft angesichts dieser dunklen Seite. Das ist ein wichtiger Strang in dem Buch.
Ein weiterer Strang, dieser machte das Buch so wichtig für die Frauenbewegung, dreht sich um Liebe, Sexualität und Freiheit von Frauen. Und zwar aus der Sicht weiblichen Erlebens, also einer Perspektive, die Männer einfach nicht einnehmen können. Es gehört zu den großen Irritationsmomenten, dass Doris Lessing damit zwar Generationen von Feministinnen beflügelt hat, sie sich selbst aber überhaupt nicht als Feministin sah. Ich denke manchmal, dass sie einfach nur die Sorge hatte, sich erneut in ein ideologisches Korsett zwängen zu sollen, was sie nun gerade mit der Ablösung von der Kommunistischen Partei hinter sich hatte.
Aber auch jenen, die sich weniger für die politischen Themenstränge interessieren, ist der Roman zu empfehlen. Die Erzählweise ist bereits aus formalen Gründen interessant. Es wird mit der Fiktion eines auktorialen Ichs gebrochen. Gut, da ist sie wirklich nicht die Einzige. Aber das Fragment wird so zum Erzählprinzip, es lassen sich Überlegungen zu unterschiedlichen Themen zwanglos einstreuen – kurz: Es ist ein wirklich moderner Roman.
Wenn ich Doris Lessing etwas wünsche, dann, dass in zehn Jahren immer noch über sie geschrieben wird, dass ihre Werke noch immer gelesen werden. Ich will jedenfalls dazu beitragen, schon indem ich immer wieder ihr Werk loben werde.
Doris Lessing war eine angeheiratete Tante von Gregor Gysi.
5
Doris Lessing
Das goldene Notizbuch
Roman
Aus dem Englischen von Iris Wagner
Fischer
Frankfurt a. M. 1989
800 S.
Von Günter Wallraff
Heinrich Bölls Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum aus dem Jahr 1974 ist das meistverkaufte Prosawerk des Nobelpreisträgers. Es ist eine Erzählung über die entfesselte Gewalt eines Boulevardblattes, das einen unschuldigen und friedfertigen Menschen mit konstruierten Terrorvorwürfen und sexueller Bedrängung in Verzweiflung und Wahnsinn treiben kann. Böll legte Wert darauf, am Anfang klarzustellen: »Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.«
Schon bevor Bölls Novelle erschien, war er ins Fadenkreuz des Springer-Konzerns geraten: Ohne sie zu rechtfertigen oder gar zu billigen, analysierte er bereits zu Zeiten der Studentenproteste und der Anfänge der RAF, »wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann« – so auch der Untertitel seines Buches. Doch er kritisierte vor allem die Bild-Zeitung für ihre diffamierende Berichterstattung und besonders ihre üblichen Vorverurteilungen. Er schrieb in einem Essay: »Wo die Polizeibehörden ermitteln, vermuten, kombinieren, ist Bild schon bedeutend weiter: Bild weiß.« Er sprach in diesem Zusammenhang von »Verhetzung, Lüge, Dreck«.
»Ausgelassenheit und Frohsinn brauchen Vertrauen, das ist ihre Basis«
Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum
Die Springer-Presse stilisierte ihn zum Sympathisanten der RAF, zu ihrem »geistigen Vater« und einem »Förderer des Terrors«. Heinrich Böll, mit dem ich eng befreundet war, reagierte auf seine Weise und verfasste die Erzählung der Katharina Blum. Die bis heute in jedem Satz spürbare Wucht dieser Novelle geht unmittelbar aus der moralischen Empörung Heinrich Bölls über die Rufmordkampagnen der Bild-Zeitung hervor, die er und seine Familie auch am eigenen Leib erfahren mussten.
Die Katharina Blum wurde zu einem wichtigen Buch in meinem Leben. Gar nicht mal bei ihrem Erscheinen, sondern als ich drei Jahre später in meiner Rolle als Hans Esser undercover bei Bild war und die Methoden der Redaktion, oder besser: der Fälscherwerkstatt, selbst miterlebte. Bei der Produktion der Geschichten war das Täterverhalten der Chefredakteure genauso brutal wie das der letzten Vollstrecker, der Reporter »an der Front«. Ich erlebte, wie diese Meute ihre Opfer zur Strecke brachte, mit einem blindwütigen Vernichtungswillen ohne jeden Skrupel, je blutrünstiger, desto auflagenträchtiger.
Ich bin im Besitz von Abschiedsbriefen von Menschen, die von Bild im wortwörtlichen Sinne gerufmordet wurden und in ihrem Abschiedsbrief Bild für ihren Tod verantwortlich machen. In einer dieser Verleumdungsschlagzeilen titelte Bild: »Aus Angst vor Frühjahrsputz: Hausfrau erschlug sich mit Hammer!« – Bild hat über diese Frau, die jahrelang unter Depressionen gelitten und sich schließlich erhängt hatte, derart hämisch und nachweislich falsch berichtet, dass sich kurz darauf ihr Mann umbrachte. An seine Söhne schrieb er in einem Abschiedsbrief: »Die Schande kann ich nicht überwinden, ich wollte zuerst diesen Verbrecher, der K. [der Bild-Reporter] heißt, umbringen. Aber ihr solltet keinen Vater als Mörder haben. Durch meinen Tod aber ist er zum Mörder geworden. Wer etwas Ehrgefühl und Verstand hat, sollte dieses Lügenblatt nicht kaufen!« Ich spreche in diesem Zusammenhang seitdem vom »Katharina-Blum-Effekt«.
Durch Katharina Blum können wir noch heute die Mechanismen der Gegenwart und die Bedrohung durch Fake-News und Kampagnenjournalismus verstehen und einordnen, denn diese schlichte und ergreifende Erzählung – fast ein Schlüsselroman – hat einen universellen Charakter, wie jede große Literatur.
6
Heinrich Böll
Die verlorene Ehre der Katharina Blum
Erzählung
dtv
München 1976
160 S.
Von Elke Schmitter
Mit nackter Gewalt fängt es an. Ein Sohn wird von seinem Erzeuger niedergeschlagen, und nun ist es genug, nun leiht er sich ein wenig Geld, um zu verschwinden. »Ich zahle es zurück«, sagt er. »Vielleicht werde ich Soldat.« – »Aber es gibt keinen Krieg.« – »Irgendwo wird es einen geben.«
Ja, irgendwo gibt es immer Krieg, und der junge Thomas Cromwell, der um 1500 England verlässt, wird sich tatsächlich als Söldner für die Franzosen schlagen. Dann lernt er Sprezzatura und Zinsrechnung bei den Italienern, die bürgerliche Lebensart an der Seite einer sanften Frau bei den Flamen. Kehrt zurück und wird der wichtigste Mann des Staates unter dem sagenumwobenen Heinrich VIII., von dem jedes Kind Europas weiß, dass er, nicht zuletzt mithilfe Cromwells, sechs Gemahlinnen hatte, von denen er zwei öffentlich köpfen ließ. Irgendwann wird auch Cromwell dieses Schicksal treffen; bis dahin folgen wir den Gedanken des Vielbegabten, zu Lebzeiten von vielen Leuten gefürchtet. Einer, der wiederum täglich fürchten muss, dass die launische Majestät, deren Probleme (mit dem Papst, dem Parlament, den Steuern, den Frauen und dem Versuch, einen männlichen Erben zu zeugen) er unaufhörlich lösen muss – dass dieser Herrscher seiner doch weiterhin bedarf. Mantel versetzt ihre Leser in permanente Erregung, die der ihres Helden gleicht: empfindsam und von misstrauischer Geistesgegenwart. Das ein wenig ausgeleierte, eher konservative Genre der literarischen Geschichtsschreibung: Hilary Mantel hat es – prunkvoll im Stil, analytisch scharf in den historischen Details und ungeheuer spannend – grandios erneuert.
7
Hilary Mantel
Wölfe
Roman
Aus dem Englischen von Christiane Trabant
DuMont
Köln 2012
768 S.
Von Ronald Düker
Nicht nacherzählbar, kaum einer bestimmten literarischen Gattung zuzuordnen, also nur irgendwie ein Roman. Aber keinesfalls ein Etikettenschwindel: Olga Tokarczuks Unrast hält, was der Titel verspricht. Dieses Buch ist ein ausführlicher und haltloser Trip durch Länder und innere Zustände, Mythen und Märchen. Hier gibt es nichts Kleines und nichts Großes, nur den reißenden Strudel der Dinge und der Gedanken. Und ein Geheimnis, das diese Flucht ins Offene immer weiter vor sich hertreibt. Dies ist das Schönste und Lässigste, was Olga Tokarczuk, die polnische Literatur-Nobelpreisträgerin mit den Dreadlocks, zur Weltliteratur beigetragen hat. Es ist, auf monumentale Weise, ganz und gar nicht monumental.
8
Olga Tokarczuk
Unrast
Roman
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
Kampa
Zürich 2019
464 S.
Von Jens Jessen
Als der kleine dicke Konsularbeamte Henri Beyle, Unterleutnant a. D. der napoleonischen Armee, am 23. März 1842 in Paris auf der Straße seinen tödlichen Schlaganfall erlitt, wusste kaum jemand, dass er unter dem Pseudonym Stendhal erfolglos Romane und Erzählungen, Essays und Reiseberichte geschrieben hatte, darunter die Skizze Rom, Neapel und Florenz im Jahre 1817, die immerhin das Missfallen Goethes erregt hatte. Sonst wussten auch nur sehr wenige Schriftstellerkollegen von ihm – unter diesen allerdings Honoré de Balzac, der 1840 über den Roman Die Kartause von Parma eine Rezension geschrieben hatte, die allein durch ihre Länge Alarmiertheit verriet. Ahnte Balzac, dass dieser einsame, aber hochfahrend auftretende Außenseiter ihn in zwei Generationen an Ruhm und Glanz weit überragen, ja die gesamte Literatur der Moderne prägen würde? Ohne Stendhal kein Tolstoi und kein Dostojewski, auch kein Proust, überhaupt kein psychologischer Roman.
Er selbst allerdings spekulierte auf die Zukunft beziehungsweise verteidigte seine Rücksichtslosigkeit gegenüber zeitgenössischen Erwartungen mit Verweis auf das, was Leser in hundert Jahren zu schätzen wüssten. Von den Lesern seiner Zeit rechnete er nur mit jenen berühmten Happy Few, die er sprichwörtlich gemacht hat und die er sich als eine Art Elite der Unverkitschten dachte, denen Konventionen und Empfindlichkeiten der Gesellschaft gleichgültig sind. Und in der Tat. Wenn man heute Rot und Schwarz (1830), seinen inzwischen wohl berühmtesten Roman, aufschlägt, verblüfft die fast aggressive und direkte, schnelle und schlanke Prosa, der alle damals übliche Verblümtheit und Metaphernmilde fehlt. Man könnte noch heute genau so schreiben, vorausgesetzt, man verfügte über die gleiche Rücksichtslosigkeit, die unschönen materiellen und seelischen Antriebskräfte der Menschen zu benennen. Das spezifisch Stendhalsche besteht darin, diese nicht zu verurteilen, sondern als eine Wahrheit hinzunehmen, an der es gar nichts gut oder schlecht zu finden gibt. Erst das Glück oder Unglück, das dabei entsteht, gibt einen Maßstab.
Rot und Schwarz erzählt von einem jungen Aufsteiger aus der französischen Provinz, der sich – kein Einzelfall in der französischen Literatur – durch die Betten seiner Geliebten »hochschläft«, wie man heute sagen würde. Als er es fast geschafft hat, kommt ihm die abgelegte Geliebte von der ersten Stufe der Karriereleiter dazwischen, und die Geschichte nimmt eine Wende, wie sie Theodore Dreiser fast 100 Jahre später in seiner Amerikanischen Tragödie beschrieben hat, auch dies ein Hinweis auf die Langzeitstabilität der Stendhalschen Analyse. Es ist zwar die Gesellschaft seiner Zeit, die er seziert, aber er tut das an einem Punkt, der sich als Konstante erweist. Im Übrigen verstößt seine Schilderung sozialer Mechanismen der Liebe noch immer gegen alle Regeln der Wokeness, die weibliche (und männliche) Selbstliebe schonen sollen. Wenn man ehrlich ist: Schon der Name Stendhal muss als Triggerwarnung gelten und insofern als Empfehlung für die Happy Few unserer Zeit.
9
Stendhal
Rot und Schwarz
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Hanser
München 2004
872 S.