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»Dieses Werk hat mich inspiriert ›Game of Thrones‹ zu schreiben … es ist eine meiner liebsten Fantasyreihen.« George R. R. Martin über »Das Geheimnis der großen Schwerter« Wie eine alte Weissagung verrät, wird erst dann Friede in Osten Ard einkehren, wenn die drei Großen Schwerter »Leid«, »Hellnagel« und »Dorn« wieder vereinigt sind.
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Seitenzahl: 1348
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Die Übersetzung von Verena C. Harksen wurde neu
durchgesehen von Andy Hahnemann.
Hobbit Presse Paperback
www.hobbitpresse.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »To Green Angel Tower« im Verlag DAW Books
© 1993 by Tad Williams
Für die deutsche Ausgabe
© 2010/2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Printed in Germany
Umschlaggestaltung: Birgit Gitschier, Augsburg
Illustation Melanie Korte, Inkcraft
Illustrationen im Innenteil: © Jan Reiser, www.enter-and-smile.de
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96163-8
E-Book: ISBN 978-3-608-10163-8
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben. Die nackten Toten die sollen eins Mit dem Mann im Wind und im Westmond sein; Blankbeinig und bar des blanken Gebeins Ruht ihr Arm und ihr Fuß auf Sternenlicht. Wenn sie irr werden solln sie die Wahrheit sehn, Wenn sie sinken ins Meer solln sie auferstehn. Wenn die Liebenden fallen – die Liebe fällt nicht; Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.
Dylan Thomas, übertragen von Erich Fried
Viele Jahrtausende hat der Hochhorst den unsterblichen Sithi gehört; doch vor dem Ansturm der Menschen sind sie aus der gewaltigen Burg geflohen. Nun regieren schon seit langer Zeit Menschen diese größte aller Festungen und mit ihr ganz Osten Ard. Johan der Priester, Hochkönig aller Länder der Menschen, ist der Letzte in der Reihe ihrer Gebieter. Nach einer Jugend voller Triumph und Ruhm herrscht er seit Jahrzehnten von seinem Drachenbeinthron aus über eine befriedete Welt.
Simon, ein tolpatschiger Vierzehnjähriger, ist einer der Küchenjungen des Hochhorstes. Seine Eltern sind gestorben, seine einzige wirkliche Familie die Kammerfrauen und ihre gestrenge Herrin, Rachel der Drache. Wenn es Simon gelingt, sich vor der Küchenarbeit zu drücken, schleicht er hinüber in die vollgestopfte Studierstube von Doktor Morgenes, dem exzentrischen Gelehrten der Burg. Als der alte Mann Simon anbietet, ihn zu seinem Lehrling zu machen, ist der Junge überglücklich – bis er merkt, dass Morgenes ihm lieber Lesen und Schreiben beibringen möchte, als ihn in der Magie zu unterrichten.
Da der hochbetagte König Johan bald sterben wird, bereitet sich Elias, der ältere seiner beiden Söhne, auf die Thronfolge vor. Josua, Elias’ schwermütiger Bruder, der wegen einer entstellenden Verwundung den Beinamen Ohnehand trägt, gerät mit dem zukünftigen König in einen heftigen Streit über Pryrates, einen übel beleumundeten Priester, der zu Elias’ engsten Ratgebern zählt. Der Zwist der beiden Brüder liegt wie eine unheilverkündende Wolke über Burg und Land.
Elias’ Königsherrschaft nimmt zunächst einen guten Anfang, bis eine Dürre über das Land kommt und mehrere Völker von Osten Ard von der Pest heimgesucht werden. Bald ziehen Räuberbanden über die Landstraßen, und aus einsam liegenden Dörfern verschwinden Menschen. Die Ordnung der Dinge zerfällt, und die Untertanen des Königs verlieren das Vertrauen in seine Herrschaft. Aber den Monarchen und seine Freunde scheint das alles nicht zu stören. Während im ganzen Reich Groll und Unzufriedenheit laut werden, verschwindet Elias’ Bruder Josua – manche sagen, um einen Aufstand anzuzetteln.
Elias’ Missherrschaft erregt großen Unmut, unter anderem bei Herzog Isgrimnur von Rimmersgard und Graf Eolair, dem Gesandten des im Westen liegenden Landes Hernystir. Selbst König Elias’ eigene Tochter Miriamel macht sich Sorgen, vor allem über den wachsenden Einfluss des scharlachrot gekleideten Pryrates auf ihren Vater.
Inzwischen schlägt sich Simon mehr schlecht als recht als Morgenes’ Gehilfe durch. Trotz Simons Mondkalbnatur und der Weigerung des Doktors, ihm Dinge beizubringen, die auch nur entfernt mit Zauberei zu tun haben, werden die beiden gute Freunde. Auf einem seiner Streifzüge durch die geheimen Gelasse des labyrinthischen Hochhorstes entdeckt Simon einen verborgenen Gang und fällt dabei um ein Haar Pryrates in die Hände. Er entkommt dem Priester jedoch und stößt auf eine versteckte unterirdische Kammer. Darin findet er Josua, der dort gefangen gehalten wird, um in einem von Pryrates geplanten, entsetzlichen Ritual geopfert zu werden. Simon holt Doktor Morgenes, und die beiden befreien Josua und schaffen ihn in die Wohnung des Doktors. Durch einen Tunnel, der unter der uralten Burg hindurchführt, gelangt Josua in die Freiheit. Während Morgenes damit beschäftigt ist, Botenvögel mit Nachrichten über diese Ereignisse an geheimnisvolle Freunde zu schicken, erscheint Pryrates mit der Wache des Königs, um den Doktor und Simon gefangen zu nehmen. Im Kampf gegen Pryrates findet Morgenes den Tod, aber sein Opfer ermöglicht es Simon, in den Tunnel zu fliehen.
Halb von Sinnen irrt Simon durch die Gänge unter der Burg, die durch die Ruinen des alten Palastes der Sithi führen. Auf der Begräbnisstätte vor der Stadtmauer kommt er wieder an die Oberfläche. Der Schein eines großen Lagerfeuers lockt ihn an. Er wird Zeuge eines unheimlichen Schauspiels: Pryrates und König Elias halten gemeinsam mit schwarzverhüllten, weißgesichtigen Wesen ein Ritual ab. Die bleichen Geschöpfe überreichen Elias ein fremdartiges graues Schwert von beunruhigender Macht, das sie Leid nennen. Simon flieht.
Das Leben in der Wildnis am Rande des großen Waldes Aldheorte ist elend, und nach ein paar Wochen ist Simon vor Hunger und Erschöpfung halbtot und immer noch weit von seinem Ziel entfernt: Josuas Burg Naglimund im Norden des Landes. Als er sich einer Waldkate nähert, um zu betteln, findet er in einer Falle ein seltsames Wesen – einen der Sithi, einer nur noch aus Sagen und alten Geschichten bekannten Rasse. Der Kätner kommt zurück, aber bevor er den hilflosen Sitha erschlagen kann, streckt Simon ihn nieder. Der Befreite nimmt sich gerade noch Zeit, einen weißen Pfeil nach Simon zu schießen, dann verschwindet er. Eine unbekannte Stimme aus dem Wald rät Simon, den weißen Pfeil an sich zu nehmen, weil er ein Geschenk der Sithi sei.
Die Stimme gehört einem zwergenhaften Troll namens Binabik, der auf einer großen grauen Wölfin reitet. Er erzählt Simon, dass er nur zufällig vorbeigekommen, nun aber bereit sei, den Jungen nach Naglimund zu begleiten. Auf dem Weg dorthin erleben die beiden viele seltsame Abenteuer. Sie begreifen, dass etwas Größeres sie bedroht als nur ein König und sein Ratgeber, denen ein Gefangener entflohen ist.
Endlich, als sie von dämonischen weißen Hunden verfolgt werden, die das Brandzeichen von Sturmspitze tragen, einem berüchtigten Berg im hohen Norden, sind sie gezwungen, in Geloës’ Waldhaus Schutz zu suchen. Zwei andere Wanderer, die sie vor den Hunden gerettet haben und sich als Kammerdienerinnen der Prinzessin Miriamel zu erkennen geben, begleiten sie. Geloë, eine Waldfrau, der man nachsagt, sie sei eine Hexe, hält mit ihnen Rat und ist ebenfalls der Meinung, dass das uralte Volk der Nornen, verbitterte Verwandte der Sithi, auf irgendeine Weise in das Schicksal von Priester Johans Königreich verstrickt ist.
Menschliche und weitaus unheimlichere Verfolger bedrohen die Reisenden auf der Fahrt nach Naglimund. Als Binabik von einem Pfeil schwer verwundet wird, müssen sich Simon und Marya, eine der vorher geretteten Dienstmägde, allein im Wald durchschlagen. Ein zottiger Riese greift sie an, und nur das Auftauchen von Josuas Jagdgesellschaft rettet ihnen das Leben.
Der Prinz nimmt sie mit nach Naglimund, wo Binabiks Wunden versorgt werden und sich bestätigt, dass Simon in einen Strudel schrecklicher Ereignisse hineingestolpert ist. Elias ist bereits unterwegs, um Josuas Burg zu belagern. Simons Gefährtin, die angebliche Dienstmagd, ist in Wahrheit Prinzessin Miriamel, die in dieser Verkleidung vor ihrem Vater geflohen ist, von dem sie befürchtet, er sei unter Pryrates’ Einfluss wahnsinnig geworden. Überall aus dem Norden und von anderen Orten drängen verängstigte Menschen nach Naglimund und zu Josua, dem letzten Bollwerk gegen einen verrückten König.
Während der Prinz und andere die bevorstehende Schlacht besprechen, erscheint im Ratssaal ein seltsamer alter Rimmersmann namens Jarnauga. Er ist ein Mitglied des Bundes der Schriftrolle, eines Kreises von Gelehrten und Eingeweihten, dem auch Morgenes und Binabiks Lehrmeister angehörten. Jarnauga bringt weitere schlimme Nachrichten. Der Feind, so sagt er, sei nicht Elias allein; der König erhalte Hilfe von Ineluki, dem Sturmkönig, der einst ein Prinz der Sithi gewesen, nun aber schon seit fünf Jahrhunderten tot sei. Sein körperloser Geist beherrsche die Nornen von Sturmspitze, die bleichen Vettern der verbannten Sithi.
Es sei der grausige Zauber des grauen Schwertes Leid gewesen, der an Inelukis Tod und seinem unbändigen Hass auf alles Menschliche die Schuld trägt. Der Bund der Schriftrolle ist der Auffassung, dass der Pakt zwischen Elias und dem Sturmkönig nur der erste Schritt eines noch undurchschaubaren Racheplans sei, eines Plans, der ganz Osten Ard unter den Fuß des untoten Sithiprinzen zwingen soll. Die einzige Hoffnung liege in einer alten Weissagung, die anzudeuten scheine, »drei Schwerter« könnten dabei helfen, Inelukis mächtigen Zauber zu brechen.
Eines dieser Schwerter sei Leid, das Schwert des Sturmkönigs, jetzt im Besitz ihres Feindes König Elias. Das zweite sei die Rimmersgard-Klinge Minneyar, die sich früher ebenfalls auf dem Hochhorst befunden habe, deren jetziger Verbleib jedoch unbekannt sei. Das dritte sei Dorn, das schwarze Schwert von König Johans größtem Ritter, Herrn Camaris. Jarnauga und einige andere glauben, es an einem Ort im eisigen Norden aufgespürt zu haben. Aufgrund dieser vagen Hoffnung schickt Josua Binabik, Simon und ein paar Soldaten auf die Suche nach Dorn, während sich Naglimund für die Belagerung rüstet.
Die zunehmend kritische Situation beunruhigt auch Prinzessin Miriamel. Verärgert über die Versuche ihres Onkels Josua, sie zu schützen, flieht sie verkleidet aus Naglimund. Ihr Begleiter ist der geheimnisvolle Mönch Cadrach. Sie will sich in das südliche Nabban durchschlagen und ihre dortigen Verwandten um Hilfe für Josua bitten. Auf Josuas dringende Bitte hin versteckt auch der alte Herzog Isgrimnur seine eigenen, höchst markanten Züge unter einer Verkleidung und folgt ihr, um sie zu retten.
Tiamak, ein gelehrter Bewohner der Sümpfe von Wran, erhält von seinem alten Mentor Morgenes eine rätselhafte Botschaft, die schlimme Ereignisse ankündigt, in denen auch er selbst eine wichtige Rolle zu spielen habe.
Maegwin, Tochter des Königs von Hernystir, muss hilflos mit ansehen, wie der Verrat des Hochkönigs Elias ihre Familie und das Land in den Strudel der Kriegswirren reißt.
Simon, Binabik und ihre Gefährten geraten in einen Hinterhalt Ingen Jeggers, des Jägers von Sturmspitze. Nur das Eingreifen einiger Sithi rettet sie. Die Sithi führen Simon und seine Gefährten zu Jiriki, jenem Sitha, den Simon einst aus der Falle im Wald befreit hat. Als er von ihrem Vorhaben erfährt, beschließt Jiriki, sie zum Berg Urmsheim zu begleiten, der sagenhaften Behausung eines der großen Drachen, um mit ihnen nach dem Schwert Dorn zu suchen.
Als Simon und die anderen den Berg erreichen, hat König Elias bereits sein Belagerungsheer vor Josuas Burg Naglimund in Stellung gebracht. Obwohl die ersten Angriffe zurückgeschlagen werden können, erleiden die Verteidiger große Verluste. Endlich jedoch scheinen sich Elias’ Truppen zurückzuziehen und die Belagerung aufzugeben. Doch bevor die Bewohner der Feste fliehen können, zieht am nördlichen Horizont ein unheimliches Gewitter auf. Doch der Sturm ist lediglich der Mantel, unter dem Inelukis eigenes, grausiges Heer von Nornen und Riesen auf Naglimund zumarschiert, und als die fünf obersten Diener des Sturmkönigs, die Rote Hand, die Tore der Festung sprengen, beginnt ein entsetzliches Schlachten. Nur Josua und ein paar anderen gelingt es zu entkommen. Bevor sie in den großen Wald Aldheorte fliehen, verflucht Josua Elias wegen seines gewissenlosen Paktes mit dem Sturmkönig und schwört, er werde sich die Krone ihres Vaters von Elias zurückholen.
Inzwischen ersteigen Simon und seine Gefährten den Berg Urmsheim. Sie überwinden dabei große Gefahren und stoßen schließlich auf den Udunbaum, einen riesenhaften, zu Eis gefrorenen Wasserfall. Dort finden sie Dorn in einer gruftartigen Höhle. Noch bevor sie das Schwert an sich nehmen und den Ort verlassen können, erscheint erneut Ingen Jegger und greift sie mit seinen Kriegern an. Der Kampf weckt Igjarjuk, den weißen Drachen, der viele Jahre unter dem Eis geschlummert hat. Kämpfer beider Seiten finden den Tod. Allein Simon steht noch, am Rande eines steilen Abgrunds in die Enge getrieben. Als sich der Eiswurm drohend nähert, hebt Simon Dorn und schlägt zu. Das siedend heiße schwarze Blut des Drachen ergießt sich über ihn, kurz bevor er bewusstlos niedersinkt.
Simon erwacht in einer Höhle auf dem Trollberg von Yiqanuc. Jiriki und Haestan, ein erkynländischer Soldat, pflegen ihn gesund. Dorn ist vom Urmsheim gerettet worden, aber Binabik wird zusammen mit ihrem anderen Gefährten, dem Rimmersmann Sludig, von seinem eigenen Volk gefangen genommen und des Verrats angeklagt; das Urteil lautet auf Tod. Das Drachenblut hat Simon eine Brandnarbe zugefügt und eine breite Strähne von Simons Haar gebleicht. Jiriki gibt ihm den Namen »Schneelocke« und erklärt ihm, dass er nun ein unwiderruflich Gezeichneter sei.
Simon, Jiriki und der Soldat Haestan halten sich als geachtete Gäste in der auf einem Berggipfel gelegenen Stadt der Qanuctrolle auf. Sludig dagegen, dessen Volk, die Rimmersgarder, uralte Erbfeinde der Qanuc sind, und Simons Trollfreund Binabik werden nicht so gut behandelt. Binabiks Stammesgenossen halten die beiden gefangen; ihnen droht die Todesstrafe. Bei einer Audienz bei dem Hirten und der Jägerin, den Herrschern der Qanuc, stellt sich heraus, dass Binabik nicht nur beschuldigt wird, seinen Stamm im Stich gelassen, sondern auch das Verlöbnis mit Sisqi, der jüngsten Tochter der Herrscherfamilie, gebrochen zu haben. Simon bittet Jiriki, sich für die Gefangenen einzusetzen, aber der Sitha hat Pflichten gegenüber seiner eigenen Familie zu erfüllen und will sich ganz allgemein nicht in die Rechtsprechung der Trolle einmischen. Kurz bevor die Hinrichtungen stattfinden sollen, bricht Jiriki in seine Heimat auf.
Obwohl Sisqi über Binabiks scheinbare Treulosigkeit erbittert ist, erträgt sie es nicht, seinen Tod mitanzusehen. Gemeinsam mit Simon und Haestan befreit sie die beiden Gefangenen. Aber als sie die Höhle von Binabiks verstorbenem Meister Ookequk nach einer Schriftrolle durchsuchen, die ihnen helfen soll, einen Ort namens Stein des Abschieds zu finden, den Simon in einer Vision gesehen hat, werden sie von den erzürnten Qanuc wieder ergriffen. Das Testament von Ookequk rehabilitiert Binabik jedoch vollständig, und die darin ausgesprochenen Warnungen überzeugen den Hirten und die Jägerin endlich davon, sich den Gefahren, die sie bisher nicht wahrhaben wollten, zu stellen. Die Gefangenen werden begnadigt, und Simon und seine Gefährten erhalten die Erlaubnis, Yiqanuc zu verlassen und dem verbannten Prinzen Josua das mächtige Schwert Dorn zu bringen. Sisqi und andere Trolle wollen sie bis an den Fuß des Gebirges begleiten.
In der Zwischenzeit sind Josua und seine kleine Schar dem Untergang von Naglimund entkommen und irren, verfolgt von den Nornenkriegern des Sturmkönigs, durch den Wald von Aldheorte. Sie müssen sich nicht nur gegen Pfeile und Speere verteidigen, sondern auch gegen dunklen Zauber. Endlich stoßen sie auf die Waldfrau Geloë und Leleth, das stumme Kind, das durch Simon vor den furchtbaren Hunden von Sturmspitze gerettet wurde. Dieses seltsame Paar führt Josua und seine Leute durch den Forst in ein Gebiet, das einst den Sithi gehörte. Hierhin wagen die Nornen ihnen nicht zu folgen, weil sie fürchten, damit den uralten Vertrag zwischen den beiden getrennten Brudervölkern zu brechen. Geloë fordert Josua jedoch auf, zu einer anderen Stätte weiterzuziehen, die den Sithi sogar noch heiliger ist, demselben Stein des Abschieds, zu dem sie in einer Vision auch Simon geschickt hat.
Miriamel, Tochter des Hochkönigs Elias und Josuas Nichte, ist auf dem Weg nach Süden. Sie hofft, bei ihren Verwandten am Hof von Nabban Verbündete für Josua zu finden. Ihr Begleiter ist der liederliche Mönch Cadrach. Die beiden fallen in die Hände des Grafen Streáwe von Perdruin, eines listigen und käuflichen Mannes, der Miriamel erklärt, er wolle sie einem anderen ausliefern, dessen Namen er nicht nennen könne, dem er aber etwas schuldig sei. Zu Miriamels Freude erweist sich die geheimnisvolle Persönlichkeit als Freund; es ist der Priester Dinivan, Sekretär von Lektor Ranessin, dem Haupt der Mutter Kirche. Dinivan ist heimliches Mitglied des Bundes der Schriftrolle und hofft, dass Miriamel den Lektor davon überzeugen kann, sich öffentlich von Elias und dessen Ratgeber, dem abtrünnigen Priester Pryrates, loszusagen. Die Kirche befindet sich in großer Bedrängnis, nicht allein durch Elias, der fordert, sie solle sich nicht in seine königliche Politik einmischen, sondern auch durch die Feuertänzer, religiöse Fanatiker, die behaupten, in ihren Träumen erscheine ihnen der Sturmkönig. Tief besorgt hört Ranessin sich an, was Miriamel zu berichten hat.
Auf ihrer Wanderung vom Hochgebirge herunter werden Simon und seine Gefährten von Schneeriesen angegriffen. Der Soldat Haestan und viele Trolle werden getötet. Als Simon danach über die Ungerechtigkeit des Weltenlaufs nachgrübelt, weckt er unabsichtlich die Kräfte des Sithaspiegels, den Jiriki ihm gegeben hat, damit Simon mit Hilfe seines Zaubers den Elbenprinzen in der Not herbeirufen kann. Durch den Spiegel gerät Simon auf die Straße der Träume und begegnet dort zuerst der Sitha-Herrscherin Amerasu, dann der furchtbaren Nornenkönigin Utuk’ku. Amerasu will herausfinden, was Utuk’ku und der Sturmkönig im Schilde führen, und sucht auf der Straße der Träume nach Erleuchtung und Verbündeten.
Josua und die Überlebenden seiner Schar haben endlich den Wald durchquert und das Grasland der Hoch-Thrithinge erreicht. Dort werden sie fast sofort von Mark-Than Fikolmij festgenommen. Fikolmij ist der Vater von Josuas Geliebter, Vara, und über den Verlust seiner Tochter äußerst erbost. Er schlägt den Prinzen brutal zusammen und arrangiert danach ein Duell, in dem Josua den Tod finden soll. Aber Fikolmijs Plan geht nicht auf; Josua bleibt am Leben. Dadurch verliert Fikolmij eine Wette und muss die Gesellschaft des Prinzen mit Pferden versorgen. Tief betroffen von der Beschämung Varas bei der Wiederbegegnung mit ihrem Volk beschließt er, vor den Augen Fikolmijs und des gesamten Stammes die Ehe mit ihr einzugehen. Als ihr Vater noch während der Zeremonie voller Freude verkündet, König Elias’ Soldaten seien bereits auf dem Weg durch das Grasland, um sie zu ergreifen, reiten der Prinz und seine Anhänger davon, ostwärts zum Stein des Abschieds.
Im fernen Land Hernystir ist Maegwin jetzt die Letzte ihres Geschlechts. Ihr Vater, der König, und ihr Bruder sind beide im Kampf gegen Elias’ Werkzeug Skali umgekommen. Maegwin und ihr Volk haben sich in die Höhlen des Grianspog-Gebirges geflüchtet. Die Prinzessin wird von seltsamen Träumen gequält. Die alten Stollen und Höhlungen unter dem Grianspog ziehen sie magisch an. Graf Eolair, der vertrauteste Lehensmann ihres Vaters, folgt ihr dorthin. Zusammen gelangen sie in die riesige unterirdische Stadt Mezutu’a. Maegwin glaubt fest daran, dass hier noch Sithi leben und den Hernystiri wie in alten Zeiten zu Hilfe kommen werden. Aber die einzigen Bewohner der bröckelnden Stadt, die sie antreffen, sind die Unterirdischen, eine sonderbare, scheue Gruppe von Erdbewohnern, die mit den unsterblichen Sithi entfernt verwandt sind. Diese Unterirdischen, die sowohl Metallwerker als auch Steinmetze sind, verraten ihnen, dass das Schwert Minneyar, nach dem Josuas Männer suchen, in Wirklichkeit die unter dem Namen Hellnagel bekannte Klinge ist, die Priester Johan, dem Vater von Josua und Elias, mit ins Grab gegeben wurde. Auf Maegwin macht diese Neuigkeit wenig Eindruck. Sie ist am Boden zerstört, weil sie erkennen muss, dass die Träume keine wirkliche Hilfe dabei waren, ihr Volk aus der Zwangslage zu befreien. Fast genauso peinigt sie, was sie ihre törichte Liebe zu Eolair nennt. Darum ersinnt sie einen Auftrag für ihn. Er soll Josua Nachricht von Minneyar und Pläne der unterirdischen Anlagen unter dem Hochhorst bringen. Eolair ist verwirrt und zornig, weil sie ihn fortschickt, aber er gehorcht.
Simon, Binabik und Sludig trennen sich am Fuß des Gebirges von Sisqi und den anderen Trollen und setzen ihren Weg durch die eisige Weite der Weißen Öde fort. Unmittelbar am Nordrand des großen Waldes stoßen sie auf ein altes Kloster, in dem eine Gruppe von Kindern haust, behütet von einem etwas älteren Mädchen namens Skodi. Froh, der Kälte zu entkommen, bleiben sie über Nacht, aber Skodi ist mehr, als sie zu sein scheint. In der Dunkelheit bannt sie die drei mit ihren Hexenkünsten und leitet dann ein Ritual ein, mit dem sie den Sturmkönig anrufen und ihm zeigen will, dass sie das Schwert Dorn in Besitz genommen hat. Als Folge ihres Zaubers erscheint einer der Untoten der Roten Hand. Aber eines der Kinder stört den Ablauf der Zeremonie und führt dadurch einen riesigen Schwarm von Gräbern an den Ort. Skodi und die Kinder werden getötet. Simon und seine beiden Freunde entkommen, vor allem dank Binabiks grimmiger Wölfin Qantaqa. Simon, dessen Geist mit der Roten Hand in Berührung gekommen ist, hat beinahe den Verstand verloren. Rasend vor Angst flieht er vor seinen Gefährten. Schließlich prallt das Pferd gegen einen Baum. Simon verliert das Bewusstsein und stürzt in einen tiefen Graben, sodass Binabik und Sludig ihn nicht finden können. Endlich setzen sie tiefbetrübt, das Schwert Dorn im Gepäck, allein den Weg zum Stein des Abschieds fort.
Miriamel und Cadrach sind nicht die einzigen Gäste im Palast des Lektors in Nabban. Auch Josuas Bundesgenosse Herzog Isgrimnur, der auf der Suche nach Miriamel ist, und Pryrates, der Lektor Ranessin ein Ultimatum des Königs überbringt, sind anwesend. Der erzürnte Lektor sagt sich öffentlich von Elias und Pryrates los und exkommuniziert sie. Unter Racheschwüren verlässt der Gesandte des Königs das Bankett.
In derselben Nacht verwandelt sich Pryrates mit Hilfe eines Zauberspruchs, den ihn die Diener des Sturmkönigs gelehrt haben, in ein Schattenwesen. Er tötet Dinivan und ermordet dann auf schreckliche Weise den Lektor. Anschließend steckt er den Palast in Brand, um den Verdacht auf die Feuertänzer zu lenken. Cadrach, der große Angst vor Pryrates empfindet, hat Miriamel die ganze Nacht vergeblich angefleht, mit ihm aus dem Palast des Lektors zu fliehen. Endlich versetzt er ihr einen Schlag und schafft die bewusstlose Prinzessin fort. Isgrimnur findet den sterbenden Dinivan, der ihm ein Zeichen des Bundes der Schriftrolle für den Wranna Tiamak gibt und ihn bittet, zu einer Herberge namens Pelippas Schüssel in Kwanitupul zu reisen, einer Stadt am Rande der Marschen südlich von Nabban.
Tiamak, der schon vorher eine Nachricht von Dinivan erhalten hat, befindet sich bereits auf dem Weg nach Kwanitupul, obwohl seine Reise um ein Haar durch ein hungriges Krokodil ein jähes Ende findet. Schwerverletzt und im Wundfieber erreicht er endlich Pelippas Schüssel. Die Wirtin Xorastra ist jedoch inzwischen verstorben, und ihre Nachfolgerin empfängt ihn recht unfreundlich.
Als Miriamel aufwacht, stellt sie fest, dass Cadrach sie in den Laderaum eines Schiffs geschmuggelt hat. Während der Mönch dort seinen Rausch ausschlief, ist das Schiff abgesegelt. Die beiden werden nach kurzer Zeit von Gan Itai entdeckt, einer Niskie, deren Aufgabe es ist, das Schiff vor den bedrohlichen Wasserwesen zu beschützen, die man Kilpa nennt. Obwohl Gan Itai den blinden Passagieren wohlgesonnen ist, meldet sie sie dem Schiffsherrn Aspitis Preves, einem jungen Adligen aus Nabban.
Fern im Norden hat Simon einen Traum, in dem er erneut die Sitha Amerasu sprechen hört und erfährt, dass Ineluki, der Sturmkönig, ihr Sohn ist. Simon hat sich vollständig verirrt und wandert ganz allein durch den pfadlosen, tiefverschneiten Wald von Aldheorte. Er versucht, mit Jirikis Spiegel Hilfe herbeizurufen, aber niemand antwortet auf sein Flehen. Schließlich marschiert er einfach in der Hoffnung los, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben; er weiß jedoch, dass seine Chancen, unversehrt die vielen Dutzend Meilen winterlichen Waldes zu durchqueren, nur gering sind. Mit Käfern und Gras hält er sich mühevoll am Leben. Die einzige Frage ist, ob er zuerst ganz und gar den Verstand verlieren oder vorher verhungern wird. Am Ende rettet ihn Jirikis Schwester Aditu. Sie vollbringt eine Art Übergangszauber, der den Winter zum Sommer zu machen scheint, und führt ihn in die verborgene Festung der Sithi, Jao é-Tinukai’i. Es ist ein Ort von zauberhafter Schönheit, an dem die Zeit keine Rolle spielt. Als ihn Jiriki dort willkommen heißt, ist Simons Freude groß, wenig später aber, als Likimeya und Shima’onari, Jirikis und Aditus Eltern, über sein weiteres Schicksal entscheiden, verwandelt sich die Freude in Entsetzen. Die Herrscher der Sithi erklären ihm nämlich, dass es noch keinem Sterblichen gestattet worden sei, das geheime Jao é-Tinukai’i zu betreten, und dass Simon es darum nie mehr verlassen dürfe.
Josua und seine Begleiter werden bis hinauf ins nördliche Grasland verfolgt. Erst als sie haltmachen, um sich den Verteidigern zu stellen, bemerken sie, dass es nicht die Soldaten Elias’ sind, sondern Thrithingbewohner, die Fikolmijs Stamm verlassen haben, um sich dem Prinzen anzuschließen. Unter Geloës Führung erreichen sie gemeinsam Sesuad’ra, den Stein des Abschieds, eine gewaltige felsige Anhöhe inmitten eines weiten Tals. Sesuad’ra ist der Ort, an dem Sithi und Nornen einst ihren Vertrag geschlossen und sich voneinander getrennt haben. Josuas erschöpfte Schar ist selig, endlich, und sei es auch nur für eine Weile, einen Zufluchtsort zu haben. Sie hoffen auch, herausfinden zu können, wie die drei Großen Schwerter ihnen ermöglichen, Elias und den Sturmkönig zu besiegen, so wie es in Nisses’ uralten Versen steht.
Weiter südlich auf dem Hochhorst nimmt der Wahnsinn von König Elias weiter zu. Graf Guthwulf, einst ein Günstling des Königs, zweifelt allmählich daran, dass Elias überhaupt noch regierungsfähig ist. Als Elias ihn zwingt, das graue Schwert Leid zu berühren, wird Guthwulf von der seltsamen Macht, die der Klinge innewohnt, fast verzehrt und im Innersten verwandelt. Auch Rachel der Drache, die Oberste der Kammerfrauen, gehört zu denjenigen Bewohnern des Hochhorstes, die mit Sorge sehen, was um sie herum geschieht. Als Rachel erfährt, dass der Priester Pryrates an Simons vermeintlichem Tod schuld ist, beschließt sie einzugreifen. Sie versucht, Pryrates zu erstechen, nachdem er aus Nabban zurückgekehrt ist. Der Priester ist jedoch längst so mächtig geworden, dass sie ihm nichts anhaben kann. Als er sich umdreht, um Rachel mit seiner tödlichen Zauberkunst zu Asche zu verbrennen, wirft Guthwulf sich dazwischen und wird geblendet. In der Verwirrung kann Rachel entkommen.
Miriamel erzählt dem Schiffsherrn Aspitis, sie sei die Tochter eines Adligen von niederem Rang. Sie und Cadrach werden gastfreundlich behandelt; vor allem Miriamel widmet Aspitis große Aufmerksamkeit. Cadrachs Stimmung wird immer düsterer. Als er versucht, vom Schiff zu fliehen, befiehlt Aspitis, ihn in Ketten zu legen. Miriamel hat das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Allein und hilflos, lässt sie zu, dass Aspitis sie verführt.
Mittlerweile ist Isgrimnur auf beschwerlichen Wegen im Süden angekommen und hat Kwanitupul erreicht. In der Herberge trifft er Tiamak und – zu seiner eigenen großen Überraschung – einen einfältigen alten Mann, der als Türhüter des Gasthofs arbeitet und niemand anderer als Herr Camaris ist. Zu König Johans Zeiten war er der größte aller Ritter und der Mann, der einst das Schwert Dorn schwang. Allgemein hat man geglaubt, Camaris sei vor vierzig Jahren umgekommen, aber was damals wirklich geschah, bleibt auch jetzt ein Geheimnis, denn der alte Ritter ist ahnungslos wie ein Kleinkind.
Binabik und Sludig, noch immer im Besitz des Schwertes Dorn, entkommen den Schneeriesen, die sie verfolgen, indem sie ein Floß bauen und damit den gewaltigen, sturmgepeitschten See überqueren, der jetzt das ganze Tal um den Stein des Abschieds herum ausfüllt.
Simons Gefangenschaft in Jao é-Tinukai’i ist mehr langweilig als erschreckend, aber er hat große Angst um seine Freunde. Die Erste Großmutter der Sithi, Amerasu, ruft ihn zu sich in ihr merkwürdiges Haus und forscht in Simons Erinnerungen nach Hinweisen, die ihr helfen könnten, die Pläne des Sturmkönigs zu durchschauen. Danach schickt sie ihn wieder fort.
Ein paar Tage später wird Simon zu einer Versammlung aller Sithi geholt. Dort verkündet Amerasu, sie wolle nun berichten, was sie über Ineluki in Erfahrung gebracht habe. Zuvor jedoch schilt sie ihr Volk, weil es nicht kämpfen wolle und sich mit krankhafter Besessenheit an seine Vergangenheit und damit letzten Endes an den Tod klammere. Sie führt der Versammlung einen der Zeugen vor, einen Gegenstand, der – so wie Jirikis Spiegel – den Zugang zur Straße der Träume ermöglicht. Gerade will sie Simon und den versammelten Sithi zeigen, was der Sturmkönig und die Nornenkönigin planen, als plötzlich Utuk’ku selbst in dem Zeugen erscheint und Amerasu als Freundin der Menschen anklagt. Nach ihr verkörpert sich ein Wesen der Roten Hand. Während Jiriki und die anderen Sithi gegen den Flammengeist kämpfen, erzwingt sich der sterbliche Jäger der Nornenkönigin, Ingen Jegger, den Eingang nach Jao é-Tinukai’i und ermordet Amerasu noch ehe sie mitteilen kann, was sie weiß.
Ingen wird getötet und die Rote Hand vertrieben, aber das Unglück ist geschehen. Unter den Sithi herrscht so tiefe Trauer, dass Jirikis Eltern Simon erlauben, die Stadt zu verlassen. Beim Abschied bemerkt er, dass der ewige Sommer der Sithizuflucht zu vergehen scheint.
Am Waldrand setzt ihn Aditu, seine Führerin, in ein Boot und übergibt ihm ein Paket, das er Josua im Auftrag Amerasus übergeben soll. Dann rudert Simon über den Regenwassersee zum Stein des Abschieds, wo er seine Freunde wiedertrifft. Für eine kurze Zeit finden Simon und die Übrigen dort Schutz vor dem heraufziehenden Sturm.
Guthwulf, Graf von Utanyeat, strich mit den Fingern über das zerkratzte Holz von Priester Johans großer Tafel. Die unnatürliche Stille beunruhigte ihn. Bis auf das geräuschvolle Atmen von König Elias’ Mundschenk und das Klappern der Löffel in den Essschalen herrschte Schweigen in der langgestreckten Halle. Wie konnte es so ruhig sein, wenn fast ein Dutzend Leute zu Abend aßen? Dem blinden Guthwulf schien die Stille doppelt bedrückend, auch wenn sie ihn nicht unbedingt überraschte. Neuerdings speisten nur noch wenige an der Tafel des Königs, und wer gezwungen war, sich in Elias’ Umkreis aufzuhalten, schien es immer eiliger zu haben, daraus fortzukommen, ohne das Schicksal durch so etwas Gewagtes wie ein Tischgespräch herauszufordern.
Vor ein paar Wochen hatte ein Söldnerhauptmann namens Ulgart aus dem Wiesen-Thrithing den Fehler begangen, über die Sitten der Frauen von Nabban zu scherzen. Die Thrithingmänner waren fast alle von ihrer Schamlosigkeit überzeugt, denn sie hatten kein Verständnis für Frauen, die sich das Gesicht bemalten und Kleider trugen, die so viel nacktes Fleisch enthüllten. Unter gewöhnlichen Umständen wäre Ulgarts roher Witz in einer Männergesellschaft gar nicht aufgefallen; und es saßen nur Männer an König Elias’ Tafel, weil es kaum noch Frauen auf dem Hochhorst gab. Aber der Söldner hatte vergessen – wenn er es je gewusst hatte –, dass die Gemahlin des Hochkönigs, getötet von einem Thrithingpfeil, eine Edelfrau aus Nabban gewesen war. Als man den Pudding zum Nachtisch servierte, hing Ulgarts Kopf bereits am Sattelknauf eines Mannes der Erkynwache, unterwegs zu den spitzen Pfählen über dem Nerulagh-Tor, um den dort hausenden Raben als Futter zu dienen.
Es lag lange zurück, dass die Tischgespräche auf dem Hochhorst geistvoll gefunkelt hatten, dachte Guthwulf, aber heutzutage nahm man die Mahlzeiten fast bei Grabesstille ein, nur unterbrochen vom Ächzen schwitzender Diener – die sich anstrengen mussten, die Arbeit derjenigen mitzutun, die aus der Burg verschwunden waren – und den gelegentlichen unsicheren Schmeicheleien der wenigen Edelleute und Schlossbeamten, die sich der Einladung des Königs nicht hatten entziehen können.
Jetzt hörte Guthwulf das Murmeln leiser Worte und erkannte Herrn Fluirens Stimme, die dem König etwas zuflüsterte. Der hochbetagte Ritter war erst kürzlich aus seiner Heimat Nabban zurückgekehrt, wo er als Elias’ Gesandter bei Herzog Benigaris geweilt hatte. Heute nahm er zur Rechten des Königs den Ehrenplatz ein. Der alte Mann hatte Guthwulf erzählt, seine Unterredung mit dem König, ein paar Stunden früher am Tag, wäre ohne jede Besonderheit verlaufen; aber trotzdem hatte Elias während des ganzen Essens einen besorgten Eindruck gemacht. Guthwulf konnte ihn zwar nicht sehen, aber die Jahrzehnte, die er in nächster Nähe des Hochkönigs verbracht hatte, ermöglichten es ihm, jeder Betonung, jeder ungewöhnlichen Bemerkung Elias’ einen Gesichtsausdruck zuzuordnen. Hinzu kam, dass Guthwulfs Gehör und sein Geruchs- und Tastsinn – weit empfindlicher, seit er sein Sehvermögen verloren hatte – in Gegenwart von Elias’ furchtbarem Schwert Leid immer noch viel schärfer zu reagieren schienen.
Seit damals, als der König Guthwulf gezwungen hatte, sie zu berühren, war ihm die graue Klinge beinahe wie ein lebendes Wesen vorgekommen, etwas, das ihn kannte, das reglos, aber seiner Gegenwart schrecklich bewusst auf ihn wartete wie ein Raubtier, das Witterung aufgenommen hat. Die bloße Anwesenheit des Schwertes führte dazu, dass sich Guthwulfs Nackenhaare sträubten und alle Nerven und Sehnen aufs äußerste gespannt schienen. Manchmal, mitten in der Nacht, wenn der Graf von Utanyeat bei trüben Gedanken wachlag, glaubte er durch die Hunderte von Ellen Stein, die sein Zimmer von den Gemächern des Königs trennten, die Klinge zu spüren; ein graues Herz, das nur er allein pochen hörte.
Elias schob jäh den Stuhl zurück. Das Kreischen von Holz auf Stein brachte alles ringsum zu erschrockenem Verstummen. Guthwulf malte sich aus, wie Löffel und Pokale mitten in der Luft tröpfelnd zum Halt kamen.
»Verdammt, Alter!«, fauchte der König. »Dient Ihr mir oder diesem Welpen Benigaris?«
»Ich berichte Euch nur, was der Herzog gesagt hat, Majestät«, stotterte Herr Fluiren. »Doch ich denke nicht, dass er es unehrerbietig meint. Er hat Schwierigkeiten mit den Thrithingstämmen an seiner Grenze, und das Wran-Volk ist aufsässig …«
»Und was geht mich das an?« Guthwulf konnte fast sehen, wie Elias’ Augen schmal wurden, so oft hatte er beobachtet, welche Veränderungen der Zorn in den Zügen des Königs hervorrief. Sein blasses Gesicht würde dunkel und feucht sein. Seit einiger Zeit hatte Guthwulf die Dienerschaft tuscheln hören, der König werde immer magerer.
»Ich war es, der Benigaris auf den Thron half, Ädon verfluche ihn! Und ich gab ihm einen Lektor, der sich nicht einmischt!«
Er sagte es und brach ab. Als Einziger der Gesellschaft hörte Guthwulf, wie Pryrates, der dem blinden Grafen gegenübersaß, scharf den Atem einzog. Als merke er, dass er zu weit gegangen war, entschuldigte sich der König mit einem wenig überzeugenden Scherz und setzte dann die leise Unterredung mit Fluiren fort.
Einen Augenblick saß Guthwulf da wie vom Donner gerührt. Er griff hastig zum Löffel und fuhr fort zu essen, um seine plötzliche Furcht zu verbergen. Wie mochte er aussehen? Starrten sie ihn alle an – konnte jeder die verräterische Röte in seinem Gesicht bemerken? Die Worte des Königs über das Amt des Lektors und Pryrates’ bestürztes Nachluftschnappen hallten in seinem Kopf wider wie ein Echo. Die anderen würden zweifellos annehmen, dass Elias meinte, er habe die Wahl des geschmeidigen Escritors Velligis zum Nachfolger Ranessins als Lektor unterstützt; aber Guthwulf wusste es besser. Pryrates’ Unbehagen, als es den Anschein hatte, der König könne ein Wort zu viel sagen, bestätigte Guthwulfs längst gehegten, unbestimmten Verdacht: Pryrates hatte dafür gesorgt, dass Ranessin starb. Und jetzt war sich Guthwulf sicher, dass Elias davon wusste, den Mord vielleicht sogar angeordnet hatte. Der König und sein Ratgeber hatten sich in einen Handel mit Dämonen eingelassen und Gottes höchsten Priester umgebracht.
Guthwulf saß mit vielen anderen am Tisch, aber in dieser Sekunde fühlte er sich so einsam wie ein Mann auf windgepeitschtem Berggipfel. Er konnte die Last so vieler Täuschungen, so großer Furcht nicht länger ertragen. Es war Zeit zur Flucht. Lieber als blinder Bettler unter dem übelsten Abschaum von Nabban vegetieren, als eine einzige Stunde länger in dieser verfluchten, gespenstischen Burg ausharren.
Guthwulf schob die Tür seines Zimmers auf und blieb im Türrahmen stehen, um sich von der eisigen Luft des Korridors umwehen zu lassen. Es war Mitternacht. Selbst wenn er die Folge klagender Töne, die vom Engelsturm erklangen, nicht gehört hätte, wäre ihm doch die tiefere Kälte an Wangen und Augen aufgefallen, die scharfe Schneide der Nacht, wenn sich die Sonne in ihren fernsten Schlupfwinkel zurückgezogen hatte.
Merkwürdig, die Augen zu benutzen, um mit ihnen zu fühlen. Aber seitdem Pryrates ihm den Blick versengt hatte, waren sie sein empfindlichster Körperteil geworden. Mit einer Feinheit der Wahrnehmung, die selbst die seiner Fingerspitzen übertraf, erfassten sie jede Veränderung von Wind und Wetter. Und doch, so nützlich ihm seine blinden Augäpfel auch waren, es lag etwas Grausiges darin, sich ihrer so zu bedienen. Mehrere Nächte war er schwitzend und atemlos aus Träumen erwacht, in denen er ein formloses, kriechendes Ding gewesen war, mit fleischigen Fühlern, die aus seinem Gesicht herauswuchsen, blicklosen Knollen, die wie Schneckenhörner schwankten. In seinen Träumen konnte er sehen; das Wissen, dass er selbst es war, auf den er starrte, riss ihn immer wieder keuchend aus dem Schlaf, zurück in die tiefe Dunkelheit, die nun für immer seine Heimat war.
Guthwulf trat in den Gang der Burg hinaus, wie jedes Mal überrascht, dass er sich noch immer im Finstern bewegte, wenn er von einem Raum zum andern ging. Als er die Tür zu seinem Zimmer mit dem Kohlenbecken darin, in dem die Glut schwelte, ins Schloss zog, wurde die Kälte beißender. Er vernahm das Klirren der gepanzerten Posten auf den Mauern vor dem offenen Fenster und lauschte dem Wind, der anschwoll und das Klappern der Rüstungen unter seinem eigenen Klagegesang erstickte. Unten in der Stadt jappte ein Hund, und irgendwo, mehrere Biegungen weiter im Gang, öffnete sich leise eine Tür und schloss sich wieder.
Ein paar Sekunden wiegte sich Guthwulf unentschlossen hin und her und entfernte sich dann einige Schritte von seiner Tür. Wenn er fortwollte, musste er jetzt gehen; es hatte keinen Sinn, hier brütend im Korridor herumzustehen. Er sollte sich lieber beeilen und die Gunst der Stunde nutzen: Die ganze Welt war blind im Dunkel der Nacht und ihm kaum überlegen. Und welche Wahl hatte er denn noch? Das, was aus seinem König geworden war, konnte er nicht ertragen. Aber er musste ihn heimlich verlassen. Auch wenn Elias nur noch wenig Verwendung für Guthwulf hatte – eine Hand des Hochkönigs, die nicht mehr in die Schlacht reiten konnte –, zweifelte Guthwulf daran, dass sein einstiger Freund ihn so einfach gehen lassen würde. Wenn ein blinder Mann die Burg verließ, die ihm Nahrung und Wohnung bot, und dazu noch vor seinem alten Kameraden Elias floh, der ihn immerhin vor Pryrates’ berechtigtem Zorn geschützt hatte, dann roch das allzu sehr nach Verrat – zumindest für den Mann auf dem Drachenbeinthron.
Guthwulf hatte schon eine ganze Weile über alles nachgedacht und sogar einen Plan ausgearbeitet. Er wollte hinunter nach Erchester gehen und die Nacht in Sankt Sutrin verbringen. Der Dom war so gut wie verlassen, und die Mönche dort zeigten sich gegenüber allen Bettlern barmherzig, die überhaupt noch den Mut besaßen, innerhalb der Stadtmauern zu übernachten. Am nächsten Morgen würde er sich dann unter die Nachzügler des ungeordnet hinausziehenden Volkes mischen und der Alten Waldstraße nach Osten ins Hasutal folgen. Von dort aus – wer konnte das sagen? Vielleicht weiter ins Grasland, wo Josua Gerüchten nach ein Heer von Aufständischen um sich sammelte. Vielleicht in ein Kloster in Stanshire, oder auch anderswohin, an irgendeinen Ort, der wenigstens so lange Zuflucht bot, bis Elias’ unbegreifliches Spiel am Ende alles vernichtete.
Jetzt aber musste er mit dem Grübeln aufhören. Es war Zeit. Die Nacht würde ihn vor neugierigen Augen schützen, das Tageslicht ihn in Sankt Sutrins Obhut finden. Er musste fort.
Doch gerade, als er den Gang hinuntergehen wollte, spürte er etwas Federleichtes an seiner Seite – einen Atem, einen Seufzer, das unbestimmte Gefühl, dass jemand da war. Er fuhr herum, seine Hand stieß vor. Wollte man ihn doch aufhalten?
»Wer …?«
Niemand. Oder wenn doch jemand da stand, so rührte er sich nicht und verspottete Guthwulf in seiner Blindheit. Der Graf empfand eine sonderbare, jähe Unsicherheit, als hebe sich der Boden unter seinen Füßen. Er machte einen weiteren Schritt und spürte plötzlich ganz deutlich die Anwesenheit des grauen Schwertes, als umgebe ihn auf allen Seiten seine eigenartige Macht. Es kam ihm vor, als seien die Mauern ringsum verschwunden. Ein rauher Wind fegte über ihn hinweg und durch ihn hindurch und war fort.
Was war das für ein Wahnsinn?
Blind und ohnmächtig. Fast hätte er geweint. Verflucht
Guthwulf nahm sich zusammen und löste sich von der Sicherheit seiner Zimmertür. Aber das merkwürdige Gefühl – der Raum selbst schien in Bewegung geraten zu sein – begleitete ihn auf dem Weg durch die langen Gänge des Hochhorstes. Seine Finger streiften ungewohnte Gegenstände, zierliche Möbelstücke und glattpolierte, dabei aber kompliziert verschlungene Geländer, die ganz anders waren als alles, woran er sich erinnerte: Die Tür zu den einst von den Kammerfrauen bewohnten Räumen stand offen und schwang hin und her, und obwohl er wusste, dass die Unterkünfte leer standen – die Oberste der Kammerfrauen hatte vor ihrem Anschlag auf Pryrates alle ihre Schützlinge aus der Burg herausgeschmuggelt –, hörte er tief drinnen das Gewisper von Stimmen. Guthwulf schauderte, aber er ging weiter. Der Graf kannte die neuerdings so wechselhafte, unzuverlässige Beschaffenheit des Hochhorstes schon. Längst bevor er das Augenlicht verloren hatte, war die Burg zu einem unheimlichen Ort geworden, der sich ständig veränderte.
Guthwulf fuhr fort, seine Schritte zu zählen. Er hatte den Weg in den letzten Wochen mehrfach probeweise zurückgelegt: fünfunddreißig Schritte, bis der Gang die Richtung änderte, zwei Dutzend weitere bis zum Haupttreppenabgang, dann hinaus in den schmalen, windigkalten Rebengarten. Noch einmal ein halbes Hundert Schritte, und er war wieder unter einem Dach und würde durch die Wandelhalle des Burgkaplans gehen.
Die Wand unter seinen Fingern wurde warm, dann jäh sengend heiß. Der Graf riss die Hand weg. Er keuchte vor Schreck und Schmerz. Ein dünner Schrei schwebte durch den Korridor.
»… T’si e-isi’ha as-irigú …!«
Wieder tastete er mit bebender Hand nach der Mauer und fühlte nur Stein, feucht und nasskalt. Der Wind ließ seine Kleider flattern – der Wind oder etwas Murmelndes, Körperloses, das nach ihm griff. Er fühlte das graue Schwert in seiner Nähe.
Guthwulf eilte durch die Gänge der Burg und streifte dabei die erschreckend wandelbaren Wände nur ganz leicht mit den Fingern. Soweit er wusste, war er das einzige Wesen weit und breit, das wirklich lebte. Die merkwürdigen Laute und die Berührungen, so sacht wie Rauch und Schmetterlingsflügel, waren nur Trugbilder, versicherte er sich selbst, sie konnten ihm nichts anhaben. Sie waren nur die Schatten von Pryrates’ Hexenkünsten. Er würde sich von ihnen nicht an der Flucht hindern, sich nicht an diesem unheiligen Ort einsperren lassen.
Der Graf berührte das rauhe Holz einer Tür und freute sich unbändig, dass er richtig gezählt hatte. Er unterdrückte mühsam einen Schrei des Triumphs und der überwältigenden Erleichterung. Er hatte die kleine Pforte neben dem großen Südtor erreicht. Dahinter musste offenes Gelände mit dem zum Inneren Zwinger gehörenden Anger liegen.
Aber als er die Pforte aufgestoßen hatte und hindurchgeschritten war, fühlte er anstatt der bitterkalten Nachtluft das Wehen eines heißen Windes und die Hitze eines großen Feuers auf der Haut. Schmerzliche, angstvolle Stimmen murmelten.
Mutter Gottes! Brennt der Hochhorst?
Guthwulf trat zurück, konnte aber die Tür nicht mehr finden. Stattdessen kratzten seine Finger über Stein, der unter seiner Berührung immer heißer wurde. Das Gemurmel steigerte sich allmählich zum Dröhnen vieler erregter Stimmen, sanft und doch durchdringend wie das Summen eines Bienenstocks. Wahnsinn, sagte er sich selbst, Illusion. Er durfte nicht nachgeben. Noch immer seine Schritte zählend, stolperte er vorwärts. Bald rutschten seine Füße im Schlamm des Angers, und doch war es im selben Moment, als klapperten seine Absätze auf glatten Steinplatten. Die unsichtbare Burg befand sich in einem furchtbaren Zustand des Fließens, einmal brennend und bebend, dann wieder kalt und körperlos, und das alles in völliger Stille, während ihre Bewohner in ahnungslosem Schlummer lagen.
Traum und Wirklichkeit schienen undurchdringlich miteinander verwoben. Durch Guthwulfs eigene Schwärze wimmelten flüsternde Geister, die ihn beim Zählen verwirrten; aber er kämpfte sich weiter, getragen von der grimmigen Entschlossenheit, die ihm als Elias’ Hauptmann durch so manche furchtbare Schlacht geholfen hatte. Er stapfte weiter, auf den Mittleren Zwinger zu. Endlich blieb er stehen, um einen Augenblick auszuruhen – nach seinen unsicheren Berechnungen nahe der Stelle, wo einmal die Wohnung des Burgarztes gelegen hatte. Er roch den säuerlichen Geruch der verkohlten Balken, streckte die Hand aus und fühlte, wie sie unter seiner Berührung zu Asche zerfielen. Undeutlich entsann er sich des Brandes, der Morgenes und einige andere getötet hatte. Plötzlich, wie von seinen Gedanken herbeigerufen, züngelten überall knisternde Flammen empor und umschlossen ihn mit ihrem Feuer. Es konnte keine Einbildung sein – er fühlte die tödliche Hitze! Die Glut umschloss ihn wie eine zermalmende Faust und versperrte ihm den Weg, ganz gleich, in welche Richtung er lief. Guthwulf stieß einen erstickten Verzweiflungsschrei aus. Er war gefangen, gefangen! Er würde verbrennen!
»Ruakha, ruakha Asu’a!«, schrien Geisterstimmen hinter den Flammen. Das graue Schwert war jetzt in ihm, in allem. Er glaubte seine unirdische Musik zu hören, die Lieder seiner unnatürlichen Schwestern. Drei Schwerter. Drei unheilige Schwerter. Jetzt kannten sie ihn.
Ein Rauschen wie der Schlag vieler Schwingen, dann fühlte der Graf von Utanyeat plötzlich, wie sich vor ihm eine Öffnung auftat, eine Lücke in der sonst ununterbrochenen Flammenwand – eine Türöffnung, die kühle Luft atmete. Ihm blieb kein anderer Weg – er warf sich den Mantel über den Kopf und stolperte hinab in einen Gang voller Schatten, die still waren und kalt.
Simon kniff die Augen zusammen und sah zu den Sternen auf, die in der schwarzen Nacht dahintrieben. Es fiel ihm immer schwerer, wach zu bleiben. Seine müden Augen richteten sich auf das hellste Sternbild, einen unregelmäßigen Kreis von Lichtern, die ungefähr eine Handbreit über dem gähnenden, an eine zerbrochene Eierschale erinnernden Rand der Kuppel zu schweben schienen.
Da. Das war doch wohl das Spinnrad? Es machte einen eigenartig länglichen Eindruck – als sei der Himmel selbst, an dem die Sterne standen, zu einer ungewohnten Form verzerrt. Doch wenn es nicht das Spinnrad war, was sonst konnte mitten im Herbst so hoch am Himmel scheinen? Der Hase? Aber zum Hasen gehörte ein kleiner Sternknopf dicht daneben, der Schwanz. Und der Hase war doch nie so groß gewesen?
Der Wind streckte eine Klaue in das halbverfallene Gebäude hinunter, das Geloë die »Sternwarte« nannte – vermutlich einer ihrer trockenen Witze, entschied Simon. Erst die langen Jahrhunderte hatten die Kuppel aus weißem Stein dem Nachthimmel geöffnet, darum wusste Simon, dass hier nicht wirklich eine Sternwarte gewesen war. Gewiss konnten nicht einmal die geheimnisvollen Sithi durch eine Decke aus massivem Fels die Gestirne beobachten.
Wieder wehte der Wind, diesmal stärker. Er brachte Schneegestöber mit. Obwohl es ihn vor Kälte zittern ließ, war Simon dankbar, denn die eisige Kälte vertrieb einen Teil seiner Schläfrigkeit. Es ziemte sich nicht für ihn, jetzt einzuschlafen – nicht ausgerechnet in dieser Nacht aller Nächte.
Schließlich bin ich jetzt ein Mann, dachte er. Oder doch beinahe.
Er streifte den Hemdsärmel hoch und betrachtete seinen Arm. Er versuchte, die Muskeln hervortreten zu lassen, und runzelte die Stirn über das wenig befriedigende Ergebnis. Mit den Fingern strich er über die Haare an seinem Unterarm und befühlte die Stellen, an denen Schnittwunden zu wulstigen Narben geworden waren. Hier hatten die geschwärzten Nägel eines Hunen ihr Zeichen eingeprägt, dort war er am Hang des Sikkihoq ausgeglitten und auf einen Felsen geprallt. War es das, was Erwachsensein bedeutete? Eine Menge Narben zu haben? Er nahm an, dass es wohl auch hieß, aus seinen Verwundungen zu lernen – aber welche Lehren konnte er aus seinen Erlebnissen im vergangenen Jahr ziehen?
Lass nicht zu, dass man deine Freunde umbringt, dachte er mürrisch. Das ist schon mal eine. Geh nicht hinaus in die Welt, damit du nicht von Ungeheuern und Verrückten gejagt wirst. Das ist eine andere. Mach dir keine Feinde.
So weit die weisen Ratschläge, mit denen andere Leute ihn immer so eifrig bedachten. Aber es war nie so einfach, wie es in Vater Dreosans Predigten geklungen hatte, in denen die Menschen eine klare Wahl zwischen dem Weg des Bösen und Ädons Weg gehabt hatten. Wie Simon in letzter Zeit die Welt erfahren hatte, konnte man sich immer nur zwischen zwei gleichmäßig unerfreulichen Möglichkeiten entscheiden, bei denen Gut und Böse lediglich eine verschwindend geringe Rolle spielten.
Das Pfeifen des Windes, der durch die Kuppel der Sternwarte fegte, wurde schriller. Es zerrte an Simons Nerven. Trotz der Schönheit der kunstvoll gemeißelten, perlweißen Mauern blieb der Ort abweisend. Die Winkel waren sonderbar, die Proportionen schmeichelten einem fremdartigen Geschmack. Wie andere Werke ihrer unsterblichen Baumeister gehörte auch die Sternwarte ganz und gar den Sithi. Sterbliche konnten sich hier nie wirklich wohl fühlen.
Unruhig stand Simon auf und fing an, hin- und herzugehen. Das leise Echo seiner Schritte verlor sich im Summen des Windes. Was ihn an dieser großen, kreisrunden Halle besonders fesselte, war unter anderem die Tatsache, dass es hier Steinfußböden gab, etwas, das die Sithi heute nicht mehr zu bauen schienen. Erinnerungen an die warmen, grasigen Wiesen von Jao é-Tinukai’i stiegen in ihm auf, und er bewegte die Zehen in seinen Stiefeln. Er war dort barfuß gegangen, und jeder Tag war ein Sommertag gewesen. Als er daran dachte, verschränkte er die Arme über der Brust, als suche er Wärme und Trost.
Der Boden der Sternwarte bestand aus kunstvoll geschnittenen und aneinandergefügten Platten, während die kreisrunde Mauer aussah wie gewachsen. Vielleicht war sie aus dem Fels des Abschiedssteins selbst gemeißelt worden. Simon überlegte. Auch die anderen Bauwerke hier oben hatten keine sichtbaren Fugen. Wenn die Sithi alle Häuser auf dem Gipfel unmittelbar aus dem felsigen Gebein des Hügels herausgehauen und sich außerdem noch tief in Sesuad’ras Inneres hineingearbeitet hatten – der Stein war anscheinend überall von Tunneln durchzogen –, woher hatten sie dann gewusst, wann sie aufhören mussten zu graben? Hatten sie keine Angst gehabt, der ganze Felsen würde einstürzen, wenn sie ein Loch zu viel gruben? Das schien ihm fast ebenso wundersam wie jeder andere Sithizauber, von dem er gehört oder den er gesehen hatte, und genauso unerreichbar für Sterbliche: zu wissen, wann man aufhören muss.
Simon gähnte. Usires Ädon, war diese Nacht lang! Er blickte hinauf zum Himmel, zu den Sternen, die glühend dahinrollten.
Ich will hinaufklettern. Ich will den Mond anschauen.
Er ging über den glatten Steinfußboden zu einer der langen Treppen, die sich auf der Innenseite der Kuppel allmählich nach oben wendelten. Im Steigen zählte er die Stufen. Das hatte er im Lauf dieser langen Nacht schon mehrmals getan. Auf der hundertsten Stufe setzte er sich hin. Der diamantene Strahl eines ganz bestimmten Sterns, der in der Mitte einer seichten Einkerbung der bröckelnden Kuppel gestanden hatte, als Simon zuletzt hier oben gewesen war, schien jetzt auf den Rand der Kerbe. Bald würde er hinter dem Überrest des Kuppeldachs verschwunden und außer Sicht sein.
Gut. Wenigstens etwas Zeit war vergangen. Die Nacht war lang, und die Sterne waren fremd, aber zumindest setzte die Zeit ihren Lauf fort.
Simon kam auf die Füße und stieg weiter, kletterte ohne Mühe die schmale Treppe hinauf, trotz eines leichten Schwindelgefühls, das ein langer Schlaf unzweifelhaft vertreiben würde. Er kletterte, bis er den höchsten Treppenabsatz erreicht hatte, einen von Pfeilern gestützten Steinkragen, der einst das gesamte Gebäude umgeben hatte. Jetzt war er schon lange zerfallen und größtenteils eingestürzt, sodass er sich nur noch ein paar kurze Ellen über das Verbindungsstück zur Treppe hinaus erstreckte. Die Oberkante der hohen Außenmauer reichte gerade bis über Simons Kopf. Ein paar vorsichtige Schritte brachten ihn zu einer Stelle des Treppenabsatzes, an der die Kuppel so weit eingekerbt war, dass er fast heranreichte. Er griff nach oben, tastete sorgfältig nach festem Halt für seine Finger und zog sich hinauf. Er schwang ein Bein über die Mauer und ließ es ins Nichts baumeln.
Der Mond, von einem windzerfetzten Wolkenschleier verhüllt, schien dennoch so hell, dass die bleichen Ruinen unter ihm wie Elfenbein schimmerten. Simon hatte einen guten Aussichtsplatz. Die Sternwarte war das einzige Gebäude innerhalb der Außenmauer von Sesuad’ra, das so hoch war wie die Mauer selbst, was der Siedlung den Anschein eines einzigen, riesigen Bauwerks gab. Im Gegensatz zu den anderen verlassenen Wohnstätten der Sithi, die Simon gesehen hatte, fehlten hier die Türme, die hohen, aufragenden Spitzen. Es war, als sei der Geist der Baumeister von Sesuad’ra unterdrückt worden oder als hätten sie nur für nützliche Zwecke gebaut, nicht aus Stolz auf ihre Fähigkeiten. Nicht, dass die Ruinen keinen Reiz besessen hätten; der weiße Stein zeigte einen ganz besonderen, eigentümlichen Glanz, und die Häuser im Inneren der Vormauer waren nach dem Muster einer wilden, aber in sich vollendet logischen Geometrie angeordnet. Obwohl alles einen viel kleineren Maßstab aufwies, als Simon es aus Da’ai Chikiza und Enki-e-Shao’saye kannte, verliehen ihm gerade sein bescheidener Umfang und die Gleichförmigkeit des Entwurfs eine schlichte Schönheit, die es von jenen anderen, großartigeren Stätten abhob.
Überall im Umkreis der Sternwarte und auch der anderen größeren Häuser wie das Abschiedshaus und das Haus der Wasser – wie Geloë sie nannte; Simon wusste nicht, ob diese Bezeichnungen wirklich dem ursprünglichen Zweck der Bauwerke entsprachen – schlängelte sich ein System von Pfaden und kleineren Gebäuden oder von deren Überresten entlang, dessen Spiralen und Schleifen so kunstvoll entworfen und zugleich so natürlich schienen wie die Blütenblätter einer Blume. Der größte Teil des Geländes war mit Bäumen zugewachsen, aber sogar diese Bäume waren Überreste einer alten Ordnung, so wie der kleine grüne Fleck inmitten eines Feenrings darauf hinweist, wo die erste Pilzreihe zu wachsen begonnen hat.
In der Mitte dieser Ansiedlung, die vorzeiten zweifellos von seltener und kultivierter Schönheit gewesen war, erstreckte sich eine merkwürdige, mit Steinplatten gepflasterte, erhöhte Fläche. Längst war sie fast überall von Gras bedeckt worden, verriet jedoch selbst im Mondlicht noch Andeutungen einer einstmals üppigen, komplizierten Gestaltung. Geloë nannte diesen zentralen Platz den Feuergarten. Simon, der sich nur mit menschlichen Ansiedlungen einigermaßen auskannte, hätte ihn für einen Marktplatz gehalten.
Jenseits des Feuergartens, auf der anderen Seite des Abschiedshauses, stieg ein erstarrter Wellenkamm aus bleichen Kegelformen empor – die Zelte von Josuas Anhängern, die sich durch die seit Wochen in kleinen Gruppen eintreffenden Neuankömmlinge vervielfacht hatten. Es gab kaum noch Platz, so breit der ebene Gipfel des Abschiedssteins sich auch dehnte. Viele der Zuletztgekommenen hatten sich im Kaninchenbau der Tunnel eingerichtet, die sich unter der steinernen Haut des Berges dahinzogen.
Simon saß da und starrte auf das Flackern der Lagerfeuer in der Ferne, bis er sich einsam fühlte. Der Mond schien unendlich weit weg, sein Antlitz kalt und teilnahmslos.
Er wusste nicht, wie lange er so in die leere Schwärze hinausgestarrt hatte. Sekundenlang fürchtete er, eingeschlafen zu sein und zu träumen, aber nein … dieses sonderbare Gefühl des Schwebens war etwas Wirkliches – wirklich und erschreckend. Simon wehrte sich, aber seine Glieder schienen weit von ihm entfernt und schwach. Nichts war von Simons Körper übrig als die beiden Augen. Seine Gedanken brannten hell wie die Sterne, die er am Himmel gesehen hatte – als es noch einen Himmel und Sterne gab, noch etwas anderes als diese endlose Schwärze. Entsetzen durchfuhr ihn.
Usires steh mir bei, ist der Sturmkönig gekommen? Bleibt es jetzt für immer schwarz? Gott, bitte bring das Licht zurück!
Und wie als Antwort auf sein Gebet fingen in der gewaltigen Dunkelheit Lichter an zu leuchten. Es waren nicht, wie er zuerst dachte, Sterne, sondern Fackeln; winzige Lichtpunkte, die nur ganz allmählich größer wurden, als näherten sie sich aus unendlicher Ferne. Die flimmernde Wolke wurde zum Strom, der Strom zur Linie, die sich in langsamen Spiralen wand und drehte. Es war eine Prozession, Dutzende von Fackeln, die den Berg hinaufstiegen, so wie Simon selbst den Pfad hinaufgeklettert war, der in Windungen um Sesuad’ra herumführte, damals, als er aus Jao é-Tinukai’i gekommen war.
Jetzt konnte Simon die in Kapuzenmäntel gehüllten Gestalten sehen, aus denen der Zug bestand, ein schweigendes Heer, das sich mit zeremonieller Präzision vorwärtsbewegte.
Ich bin auf der Straße der Träume!, begriff er plötzlich. Amerasu hat gesagt, dass ich ihr näher bin als andere.
Aber was war es, das er sah?
Die Reihe der Fackelträger erreichte eine ebene Stelle und breitete sich zu einem funkelnden Fächer aus, sodass ihre Lichter weit auf beide Seiten des Gipfels getragen wurden. Ja, es war Sesuad’ra, zu dem sie hinaufgestiegen waren, aber ein Sesuad’ra, der anders war als der Ort, den Simon kannte. Die Ruinen, die ihn umgeben hatten, waren keine Ruinen mehr. Die Säulen und Mauern ragten unversehrt empor. War das die Vergangenheit – der Stein des Abschieds, wie er einst gewesen war – oder eine seltsame Zukunft, in der man ihn wieder aufbauen würde, vielleicht wenn der Sturmkönig ganz Osten Ard unterworfen hätte?
Die Menge strömte dem flachen Platz zu, in dem Simon den Feuergarten wiedererkannte. Dort steckten die verhüllten Gestalten ihre Fackeln in Ritzen zwischen den Bodenplatten oder auf steinerne Sockel, sodass tatsächlich ein Garten aus Feuer aufblühte, ein Feld aus flackerndem, wogendem Licht. Die vom Wind angefachten Flammen tanzten. Funken sprühten zahlreicher als selbst die Sterne.
Plötzlich fand sich Simon von den vorwärtsdrängenden Massen mitgerissen, hinunter nach dem Abschiedshaus. Er stürzte durch die glitzernde Nacht, glitt geschwind durch steinerne Mauern und schwebte wie ein körperloses Wesen in die hell erleuchtete Halle hinein. Alles geschah lautlos bis auf ein stetiges Rauschen in seinen Ohren. Wenn er genauer hinsah, schienen sich die Bilder vor ihm zu verschieben und an den Rändern zu verwischen, als habe sich die Welt ein winziges Stück aus ihren Angeln gedreht. Verstört wollte Simon die Augen schließen, stellte jedoch fest, dass sein Traum-Ich unfähig war, die Visionen auszusperren; er konnte nur zuschauen, ein hilfloses Gespenst.
An der großen Tafel stand eine Vielzahl von Gestalten. In Nischen an allen Wänden hatte man Kugeln mit kaltem Feuer gestellt. Ihr blaues, orange und gelbes Glühen warf lange Schatten auf die gemeißelten Mauern. Andere, tiefere Schatten warf das, was auf der Tafel stand, ein Gebilde aus konzentrischen Sphären, ähnlich dem großen Astrolabium, das Simon oft für Doktor Morgenes poliert hatte. Dieses hier jedoch bestand nicht aus Messing und Eichenholz, sondern nur aus glühenden Lichtlinien, als hätte jemand die phantastischen Umrisse mit flüssigem Feuer in die Luft gemalt. Er konnte die Wesen, die sich am Tisch bewegten, nur verschwommen wahrnehmen, aber dennoch wusste Simon genau, dass es sich um Sithi handelte. Diese vogelähnliche Haltung, diese seidige Anmut waren unverkennbar.
Eine Sitha im himmelblauen Gewand lehnte sich über die Tafel und schrieb in Fingerflammenspuren geschickt in das glühende Gebilde. Ihr Haar war schwärzer als Schatten, schwärzer sogar als der Nachthimmel über Sesuad’ra, eine üppige Wolke aus Dunkelheit um Kopf und Schultern. Einen Augenblick dachte Simon, es könne Amerasu sein, als sie noch jung war. Aber obwohl vieles an ihr ihn an Erste Großmutter erinnerte, waren viele andere Züge ihm fremd.
Neben ihr stand ein weißbärtiger Mann in wallendem, scharlachrotem Gewand. Etwas, das an bleiche Geweihstangen erinnerte, spross aus seiner Stirn. Simon überlief es kalt – er hatte in anderen, schlimmeren Träumen Ähnliches gesehen. Der bärtige Mann beugte sich vor und sprach zu der Frau. Sie drehte sich um und fügte dem Entwurf einen weiteren Feuerwirbel hinzu.
Während Simon das Gesicht der dunklen Frau nicht genau ausmachen konnte, war die andere, die ihr gegenüberstand, nur allzu deutlich zu erkennen. Ihre Züge waren hinter einer Maske aus Silber verborgen, der Rest ihres Körpers unter eisweißen Gewändern. Wie um der Schwarzhaarigen zu antworten, hob die Nornenkönigin den Arm und schleuderte eine Linie aus stumpfem Feuer quer über das ganze Gebilde. Dann winkte sie ein zweites Mal mit der Hand und warf ein Netz aus sacht qualmendem Purpurlicht über den äußersten Globus.
Der Mann an ihrer Seite folgte gelassen jeder ihrer Bewegungen. Er war groß und kraftvoll gebaut. Eine stachlige, obsidianschwarze Rüstung umhüllte seinen Leib von Kopf bis Fuß. Er trug keine Maske, aber trotzdem konnte Simon sein Gesicht nicht recht erkennen.
Was taten sie? War das der Trennungsvertrag, von dem Simon gehört hatte? Denn sicherlich waren es Sithi und Nornen, die er hier zusammen auf dem Sesuad’ra sah.
Die undeutlichen Figuren begannen jetzt lebhafter miteinander zu sprechen. Schlingen und sich überkreuzende Flammenlinien wurden in die Luft über den Sphären geschleudert und blieben im Nichts hängen, leuchtend wie die Spur eines vorübersausenden Feuerpfeils. Das Gespräch schien in einen Streit überzugehen. Viele der schattenhaften Zuschauer, deren Gebärden mehr Zorn verrieten, als Simon es je bei den Unsterblichen bemerkt hatte, näherten sich der Tafel und umringten die vier. Aber noch immer konnte Simon nur ein dumpfes Rauschen hören, wie Wind oder brausendes Wasser. Die Flammengloben im Mittelpunkt der Auseinandersetzung loderten auf und wogten wie ein Leuchtfeuer im Wind.
Simon wäre gern etwas näher herangegangen, um besser zu sehen. War es die Vergangenheit, der er hier zuschaute? War sie aus dem gespenstischen Stein hervorgesickert? Oder war es nur ein Traum, eine Sinnestäuschung, Folge der langen Nacht und der Lieder, die er in Jao é-Tinukai’i gehört hatte? Irgendwie war er sicher, dass es sich anders verhielt. Alles kam ihm so wirklich vor, dass er fast das Gefühl hatte, er könne den Arm ausstrecken … den Arm ausstrecken … und sie berühren …
Das Geräusch in seinen Ohren verklang. Die Lichter der Fackeln und Sphären erloschen.