Die Ohnmacht der Allmächtigen - Heiner Rank - E-Book

Die Ohnmacht der Allmächtigen E-Book

Heiner Rank

4,7

Beschreibung

Auf den ersten Blick scheint es ein Paradies zu sein, in das Asmo, der Mann ohne Erinnerung, verschlagen worden ist, ein Land des ungetrübten Genusses, des pausenlos anhaltenden Glücks. Die Dafotil, Bewohner des Planeten Astilot, kennen weder Mangel noch Sorge noch Krankheit, Alter, Unrecht, Strafe, Zwang, Gewalt. Was sie wünschen, geht in Erfüllung, ihr Gruß lautet: „Viel Liebe!“ Und dennoch fällt es Asmo schwer, sich einzuleben. Das Aromakonzert auf der Duftorgel lässt ihn kalt, Jonas hemmungslose Hingabe befremdet ihn, die Unterwürfigkeit der Dienstautomaten macht ihn traurig, das zügellose Gebaren auf dem Tanzessen widert ihn an. Was soll er hier, wo er ein Fremdkörper ist und allein durch seine Existenz die ausgeklügelte Harmonie gefährdet? Wem dient es, welche Absicht verbirgt sich dahinter? Heiner Rank begnügt sich nicht mit Andeutungen, wie es auf dem Planeten Astilot aussehen könnte, er geht ins Detail, und seine Fantasie ist bis zum letzten Kapitel frisch und unverbraucht. In Landschaften und Bauten, in technischen und sozialen Einrichtungen, in Machtverhältnissen, menschlichen Beziehungen, Gewohnheiten und Anschauungen offenbart sich eine fremdartige Welt, farbig und vielgestaltig, immer wieder neu, überraschend anders, fordert heraus zum Vergleich und zur Wertung. Die symbolhafte Fabel, eingebettet in eine von starken Spannungshöhepunkten getragene Handlung, stellt Fragen, die in der Utopie traditionell sind: Was ist Glück, worin liegt der Sinn des Lebens? Die Antwort ist nicht endgültig, kann es nicht sein, weil jede Zeit auf eigene Weise zu antworten weiß, doch sie führt dahin, dass wir Probleme wiedererkennen, dass wir Befürchtungen und Hoffnungen entdecken, die auch uns bewegen.

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Seitenzahl: 388

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Impressum

Heiner Rank

Die Ohnmacht der Allmächtigen

Utopischer Roman

ISBN 978-3-95655-370-7 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1973 im Verlag Das Neue Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Eine Woge Ozon wehte durch den Raum, kaum spürbar, sanft wie ein Hauch. Der Mann auf dem Bett begann sich zu bewegen. Er öffnete die Augen noch nicht, ganz gegen seine Gewohnheit; er zögerte, als würde er ahnen, dass er nur noch wenige Sekunden hatte, bevor ihm etwas Neues, etwas Unbekanntes entgegentrat. Er lag reglos, atmete in tiefen Zügen einen fremden, belebenden Duft und überließ sich den Bildern, die in ihm aufstiegen.

Schaumkronen auf glasgrünem Wasser, das Rauschen der Brandung. Sein Pferd geht in spielerischem Trab über den feuchten Sandstreifen des Ufers, mit beiden Händen hält er sich an der wehenden Mähne. Dicht neben ihm ein Mädchen, braun gebrannt, in abgewetzten Hosen, ein rotes Band in dem vom Wind zerwühlten Haar. Weit vor ihnen die anderen Reiter, Schemen, verwischte Konturen, die rhythmisch auf und ab schwingen. Das Mädchen singt. Ein wildes Lied, eine heisere Stimme. Ist es der Schmerz, sich für lange Zeit von der vertrauten Welt zu trennen, Abschied zu nehmen von den Menschen, die sie liebt? Oder nur Ungeduld, freudige Erwartung, Sehnsucht nach der einmaligen, unwiderruflichen Tat, nach den Abenteuern der Erkenntnis?

Der Mann lauschte. Fremde Klänge drangen in sein Ohr. Säuselnde Geigen, darüber die Tonperlen eines Cembalos. Die Musik störte. Sie gehörte nicht dazu, begann die Bilder zu verdrängen. Er wollte sie festhalten, suchte nach den Namen für das Mädchen, die Freunde, das Meer. Vergeblich.

Er fand die Namen nicht, und ohne Namen ließ sich nichts beschwören. Das Mädchen, die Freunde, das Meer, sie versanken in Nebelschleiern.

Der Mann schüttelte ärgerlich den Kopf und öffnete die Lider. Was er sah, war ihm unbekannt. Ein mittelgroßer, rechteckiger Raum. Die Zimmerdecke gab gelbes Licht, das keine Schatten warf. Wände und Fußboden waren grau, aus einem glänzenden pelzartigen Material, ebenso die wenigen apfelsinenfarbenen Möbel. Die Musik war noch da. Sie schien aus den Wänden zu dringen.

Der Mann richtete sich auf, hellwach. Er schwang sich aus dem Bett und streifte die Decke ab, die leicht an seiner Haut haftete. Sein Körper war muskulös, ohne Anzeichen von Fett, die Haut von gesundem Braun. Dreißig Jahre hätte man ihm gegeben auf den ersten Blick, doch der Ausdruck seiner Augen, die Linien um Kinn und Mund verrieten zwanzig Jahre mehr an Arbeit und Erfahrung.

Er sah sich prüfend um. Irgendetwas versetzte ihn in Unruhe, etwas Fremdartiges, das von allen Seiten auf ihn einzudringen schien. Er spürte es deutlich, obwohl die Farben des Raumes, die ozongeschwängerten Düfte, die heitere Musik sein Unbehagen verwischen, ihn in ein schwebendes Glücksgefühl entrücken wollten. Sollte er nachgeben, sollte er der Verlockung folgen?

Er verzog spöttisch den Mund und blickte zu Boden, um sich zu konzentrieren. Sekundenlang stand er unbeweglich, dann begann er sein Kinn zu massieren - und erstarrte mitten in der Bewegung. Mit unsicheren Fingern tastete er über sein Gesicht. Alles fühlte sich fremd an, Mund, Nase, Wangen, Stirn. Was war das für ein Gesicht?

Gab es keinen Spiegel in diesem Raum? Mattierte Flächen, wohin er sah, nirgends ein Fenster, ein Stück Glas, eine Politur. Natürlich auch keine Tür. Panik drohte ihn zu überfluten. Er ließ sich niedersinken, schloss die Augen und umklammerte die Kanten der Betteinfassung. Seine Hände pressten sich in das elastische Metall, er spürte die Kühle der Oberfläche und die zunehmende Härte des Kerns. Langsam drängte er die Angst zurück, und der Wille zur Selbstbeherrschung gewann die Oberhand.

Heiß war ihm geworden. Sein Herz klopfte heftig, seine Augen waren weit geöffnet. Er legte sich flach auf das Bett und begann nachzudenken. Was war geschehen?

So sehr er sich bemühte, er fand keine Antwort. Der Name? Wie war nur sein Name? Er konnte sich nicht erinnern. Wie alt war er? Wo geboren? Woher kam er?

Nichts. Keine Antwort. Der Weg in die Vergangenheit war blockiert. Er hatte das vage Gefühl, dass alle Antworten noch vorhanden waren, doch sie lagen hinter einer wogenden grauen Wand, in einem nicht mehr erreichbaren Winkel seines Gehirns.

Warum, zum Teufel, konnte er sich nicht erinnern? Wo war er überhaupt? Und wie stand es mit seiner Fähigkeit, logisch zu denken? Vorsichtig, tastend, nicht ohne Angst vor einem Fehlschlag, begann er seinen Verstand zu prüfen. Vier mal drei? - Zwölf. Fünfzig minus dreizehn? - Siebenunddreißig. Siebenunddreißig multipliziert mit zwölf? - Vierhundertvierundvierzig. Die Gesetze der Logik sind die Widerspiegelung des Objektiven im subjektiven Bewusstsein des Menschen. - Richtig?

Der Entropiesatz der Thermodynamik fiel ihm ein, Wort für Wort, dann folgten die mathematischen Symbole der ersten historischen Formel. Gestochen scharf erkannte er jede Einzelheit, als hätte er die Seite des Lehrbuchs aufgeschlagen. Theoretische Kenntnisse waren also noch vorhanden. Doch sobald er versuchte, Antworten auf sein persönliches Leben zu finden, ließ ihn das Gedächtnis im Stich. Die Erinnerung an seine Vergangenheit, an das vielfältige Geflecht menschlicher Beziehungen, an seine Umwelt war verloren.

Er suchte nach einer Erklärung. Möglicherweise waren die Neuronenkreise für das Kurzzeitgedächtnis gestört. Sollte vielleicht ein starkes Magnetfeld die Bioelektrik der Hirnzellen durcheinandergebracht haben? Die molekularen Strukturen für die langfristige Erinnerung schienen weitgehend unberührt. Die Diagnose war unvollständig, sie ließ Widersprüche offen, dennoch beruhigte sie ihn. Plötzlich fiel ihm ein, dass man sich kraft eigener Erkenntnis seiner Vernunft nie ganz sicher sein durfte. In der ironisierenden Betrachtungsweise erkannte er sich unvermutet wieder. Er lächelte erleichtert. Ein Stückchen vertrauten Charakters gab ihm mehr Zuversicht als die Ergebnisse seiner Denkarbeit.

Das Licht der Zimmerdecke pulsierte sekundenlang in kräftigem Orange. Er schreckte aus seinen Gedanken auf. Im gleichen Moment ertönte ein Geräusch: plop-plop. Es hörte sich an, als wären zwei Wassertropfen in einen halb leeren Eimer gefallen. An der Schmalseite des Raumes erschien eine leuchtende Fläche. Sie glitt lautlos zur Seite. Durch die Öffnung trat eine Frau.

Er starrte sie an wie ein Fabelwesen. Sie hatte grünes Haar. Ihre Haut war rosa, ein reines, strahlendes Rosa, unterlegt von einem milchigen Schimmer. Die Figur in der weißen Uniform mit den goldenen Rangabzeichen wäre einer längeren Betrachtung wert gewesen, doch er hatte im Augenblick keinen Sinn dafür.

„Guten Morgen!“, sagte sie lächelnd.

Ihre Stimme war sanft und angenehm. Sie kam langsam näher, blieb vor dem Bett stehen und musterte ihn mit mandelförmigen Augen. „Wünschen Sie ein Bad?“

Der Mann sah sie unverwandt an. Allmählich begann er sich an ihren Anblick zu gewöhnen, an das grüne Haar, die rosa Haut, das hübsche Katzengesicht. Auf ihrem Litewkakragen glänzte das Äskulapemblem: rubinroter Stab, umschlungen vom silbernen Leib einer Schlange.

„Übrigens - mein Name ist Su“, sagte sie und lächelte wieder.

Sie sprach ein altertümliches Englisch mit gutturalem Akzent, das in ihm die Bilder aus einem kulturhistorischen Dokumentarreport wachrief. Kanäle, Windmühlen, Hyazinthenfelder. Rasch schob er diesen Gedanken zur Seite. Er wollte erst einmal über sich selbst Gewissheit haben, das schien ihm dringender.

„Wo bin ich?“ Er räusperte sich. Seine Stimme klang rau.

„Im Psychodom.“

„Psychodom? - Nie gehört. Was ist das?“

„Klinik für Seelenhygiene und psychosomatische Therapie.“

Er schwieg betroffen. Seine geheimen Befürchtungen hatten sich also bestätigt, er war nicht ganz richtig im Kopf. „Wie ist es denn passiert?“, fragte er.

„Sie sind in den besten Händen, es gibt keinen Grund zur Besorgnis.“ Ihr Lächeln verstärkte sich.

„Was mit mir geschehen ist, möchte ich wissen. Warum hat man mich hier eingeliefert?“

„Sie wurden gefunden. Bei Ausschachtungsarbeiten.“

„Wie bitte?“

„Sehr richtig. Es ist unbegreiflich. Seit der Emanzipation gibt es dafür kein Beispiel.“

Er schüttelte hilflos den Kopf. Nach einer Pause sagte er: „Ich habe meinen Namen vergessen. Sagen Sie mir mal, wie ich heiße.“

„Sie haben keinen Namen.“

„Unsinn!“ Mit einem Ruck richtete er sich auf. „Jeder Mensch hat einen Namen.“

„Sie nicht. Sie stammen aus der gelöschten Zeit vor der Emanzipation.“

„Gelöschte Zeit? Sagen Sie mal, wer von uns beiden ist denn hier verrückt?“ Er rettete sich in einen saloppen Ton, um sein Erschrecken zu verbergen.

Sie sah ihm mit ruhigem Lächeln in die Augen. Der suggestive Blick wurde ihm unbehaglich. Er begann sich zu fühlen wie ein unartiges Kind.

Sie zog einen silbernen Streifen aus ihrer Ärmeltasche.

„Nehmen Sie ein Happyspot, es wird Ihnen guttun.“

„Danke, mir fehlt nichts. Ich will wissen, wer ich bin.“

„Gewiss.“ Ihre Stimme klang unverändert sanft. „Sie sind ein wissenschaftliches Konservat.“

„Ein - was?“ Er begann heftig zu atmen. Angst flutete in heißen Wellen durch seinen Körper. „Ich werde verrückt“, flüsterte er. „Oder bin ich es schon? Wissenschaftliches Konservat. Gelöschte Zeit. Rosahäutige Mädchen mit grünen Haaren. Das sind Halluzinationen, Ausgeburten einer kranken Fantasie!“

Su ergriff seine Hand. „Sie sind glücklich“, sagte sie eindringlich. „Sie liegen präzis auf dem psychosomatischen Standard. Essen Sie das Happyspot.“

Die Berührung ihrer Hand war wohltuend, sie dämpfte seine Erregung. Mit spitzen Fingern nahm er den Silberstreifen, betrachtete ihn und schob ihn schließlich in den Mund. Er war hart, löste sich rasch auf und erzeugte dabei ein wenig Wärme und einen intensiven Himbeergeschmack.

Schon nach wenigen Sekunden überkam ihn Gelassenheit. Was war denn eigentlich geschehen? Wie konnte er nur so kindisch sein und sich durch ein paar Fachausdrücke aus der Fassung bringen lassen! Es machte Spaß zu leben -mit oder ohne Namen! Nein, er würde sich nicht wie ein Hysteriker benehmen. Er wollte wissen, wie und warum er in diese Lage geraten war. Es musste eine Erklärung geben, und diese Erklärung würde er finden. Und sollte er dabei ein paar unbekannten Dingen begegnen, um so besser. Er liebte das Wagnis, das Abenteuer.

Die rosahäutige Su hatte ihn aufmerksam beobachtet. Sie erkannte, dass er sein Gleichgewicht wiederfand, wandte sich ab und ging auf eine Seitenwand des Zimmers zu. „Öffnen, Gogo!“

In der Wand leuchtete eine milchige Fläche auf, glitt lautlos zur Seite.

Der Mann sah aufmerksam zu. Sein technisches Interesse begann zu erwachen. „Ist ,Gogo‘ ein akustisches Signal?“

Sie nickte. „Ein magnetischer Schalter löst den aktivierenden Impuls aus. Ich bereite Ihnen jetzt das Bad.“ Sie verschwand durch die Öffnung.

Er stand auf und folgte ihr. Su hantierte an den farbigen Knöpfen einer Schaltkonsole. Ein Schwimmbecken, das zwei Drittel des Raumes einnahm, füllte sich rasch mit Wasser. Eine Wand glitt in die Höhe und gab den Blick frei auf einen im Dämmerlicht schimmernden Kosmetikraum. „Falls Sie meinen Dienst wünschen, rufen Sie bitte. Ich bin im Nebenzimmer.“

Er stieg auf die elastische Beckeneinfassung, die wie der Fußboden angenehme Wärme ausstrahlte, prüfte mit den Zehen die Wassertemperatur und sprang kopfüber in das Becken. Er tauchte, machte ein paar Überschlagkehren und prustete Fontänen in die Luft. Das Wasser strömte und sprudelte, wurde abwechselnd heiß und kalt, begann zu schäumen, wurde wieder klar, änderte unentwegt Farbe und Duft.

Seine Haut begann sich zu röten, ein erfrischendes Prickeln breitete sich über den Körper aus. Als er aus dem Becken stieg, fühlte er sich wie neugeboren.

Er betrat den Kosmetikraum. Einem Sonnenaufgang ähnlich, breitete sich strahlendes Licht über die gewölbte Decke aus und funkelte in den Kristallflakons. In der Mitte des Raumes stand ein roter Liegesessel, ausgestattet mit Schalthebeln, Schläuchen und einem verstellbaren Spiegelsystem.

Der Mann trat an den Sessel und schaute neugierig in einen Spiegel. Ein unregelmäßiges Gesicht blickte ihm entgegen, eine große Nase, gesunde Zähne, kühle graugrüne Augen. Das Haar war kurz, die Farbe schwer zu bestimmen. Ein dunkles Blond mit braunen Zwischentönen. An den Schläfen zeigte sich das erste Grau.

Längere Zeit betrachtete er kritisch sein Gesicht, schließlich nickte er. Er fand sich annehmbar. Hatte er überhaupt etwas anderes erwartet? War es nicht selbstverständlich, dass sich ein Mensch sympathisch fand, auch wenn er sich zum ersten Male sah? Befürchtungen, Zweifel, Ängste? Lächerlich! Vielleicht würde es ein paar Schwierigkeiten geben. Na, wo gab es die nicht?

Er schnitt seinem Spiegelbild eine freundliche Grimasse, wandte sich ab und nahm ein Badetuch von einem Stapel. Es hatte eine durchsichtige Verpackung. Als er auf der Suche nach der Öffnung einen grünen Farbring berührte, platzte die Folie wie die Hülle einer Springfrucht und rollte sich am Boden zu einer winzigen Kugel zusammen.

Er begann sich zu frottieren und versuchte dabei, den Verwendungszweck der bunten Flüssigkeiten in den Kristallflakons und der kosmetischen Instrumente herauszufinden, doch in den meiste Fällen mühte er sich vergeblich. Alle Dinge waren nagelneu, eingehüllt in durchsichtige Folien.

Als er in seinen Schlafraum zurückkehrte, glaubte er im ersten Moment, durch die falsche Tür geraten zu sein. Das Deckenlicht hatte eine rosa Tönung angenommen, Wände und Fußboden schimmerten hellblau. Sein Bett und die apfelsinenfarbenen Möbel waren verschwunden. Stattdessen gab es weiße Tische, weiße Sessel, weiß gerahmte Spiegel, weiße Vasen mit bizarren Blütenzweigen.

Su erwartete ihn. Sie ließ ihm einen Augenblick Zeit, die neue Einrichtung zu betrachten, dann klatschte sie zweimal in die Hände. Eine Wandfläche schob sich zur Seite. Dahinter glitten fantastisch kostümierte Herren entlang. Sie standen in Vitrinen und drehten sich langsam um ihre Achse. Ihre starre Haltung belehrte ihn, dass es sich um Puppen handeln musste.

„Wollen Sie bitte Ihre Wahl treffen“, sagte Su.

Er musterte das Angebot mit wachsender Verblüffung. Die Puppen trugen Garderoben aus längst vergangenen Epochen. Ratlos schüttelte er den Kopf. Er hatte nicht die Absicht, an einem Kostümball teilzunehmen.

Su klatschte in die Hände, das Tempo der Puppenparade beschleunigte sich. Die Anzüge wurden immer fantastischer. Trachtenröcke, bunte Uniformen, bestickte und mit Schmuck überhäufte Roben, unbekümmerte Mischungen aus allen nur denkbaren Stilrichtungen.

Er seufzte. „Haben Sie nicht etwas Normales, was der Mode von heute entspricht?“

Sie sah ihn fragend an. „Mode?“

„Entschuldigen Sie“, sagte er nachsichtig. „Ich meinte, was ein normaler Mann normalerweise trägt.“

„Diese Ensembles werden normalerweise getragen.“

„Na schön, dann nehme ich das dort.“

Er zeigte auf einen gelben Anzug mit bordeauxroter Weste. Dazu gehörten ein weißes Spitzenhemd, gelbliche Lederschuhe mit dicken Sohlen, ein Strohhut und Handschuhe.

Su berührte den Glaskasten mit der Hand, sofort hielt er in der Bewegung inne. Seine Vorderseite klappte auf, die Puppe fuhr heraus, die durchsichtigen Wände verwandelten sich in Spiegelflächen. Mit wenigen Griffen hatte sie die Puppe entkleidet. Die Verschlüsse bestanden aus flexiblen Magnetleisten. Knöpfe, Schnallen und Gürtel waren nur Verzierung.

„Darf ich Ihnen behilflich sein?“ Sie streckte die Hände nach seinem Morgenmantel aus.

„Nein, danke, es geht schon.“

Lächelnd trat sie zurück, machte aber keine Anstalten, den Raum zu verlassen. Er zögerte. Nun gut, dachte er, was kann schon passieren, und ließ den Mantel fallen. Su verzog keine Miene. Beflissen reichte sie ihm die Kleidungsstücke und ließ es sich nicht nehmen, ihm hineinzuhelfen. Als er fertig war, besah er sich im Spiegel. Ganz nach seinem Geschmack fand er sich nicht, doch von allem, was sie ihm gezeigt hatte, schien er noch das Erträglichste erwischt zu haben.

Su ließ eine Schachtel aufspringen, nahm eine frische Gardenienblüte heraus und steckte sie ihm ins Knopfloch. Die Lederhandschuhe und den Strohhut wies er zurück. Er mochte keine Hüte, und Handschuhe waren ihm nur lästig. Su raffte Morgenmantel, Hut und Handschuhe, leere Folien und Schachteln zusammen, warf alles in die Vitrine, schob die Puppe hinein. Die Vitrine glitt zurück in die Reihe, und die Wand schloss sich zu einer glatten, fugenlosen Fläche. „Wollen Sie mir bitte folgen? Die Psychagogen-Kuration erwartet Sie.“

„Wer ist denn das?“

„Die medizinische Leitung des Psychodoms.“

Sein Herz schlug schneller. Was würde er erfahren? Erwartungsvoll trat er hinaus in einen Gang, dessen Decken weißliches Licht ausstrahlten. Nach hundert Metern öffnete sich vor ihnen eine Schiebetür. Su blieb zurück, er gelangte in einen lindgrünen Konferenzsaal.

Fünf Herren saßen in lindgrünen Sesseln um einen lindgrünen Tisch. Auf der linken Brustseite ihrer weißen Uniformen trugen sie das Äskulapsymbol.

Als er eingetreten war, erhoben sie sich und blickten ihm mit Wohlwollen entgegen. Das Fatale dabei war, dass sie nicht nur die unerschütterliche Selbstsicherheit von Irrenärzten ausstrahlten, sie sahen sich auch auf eine erschreckende Weise ähnlich. Die gleiche Größe, die gleichen Gesichter voll heilkräftiger Wirkung, das gleiche Vertrauen heischende Lächeln, das gleiche grau melierte Haar, die gleiche himmelblaue Hautfarbe.

Er betrachtete sie schweigend, bemüht, seine Verwirrung zu verbergen. Sie waren also himmelblau. Warum auch nicht?

Es schien ihm eine Ewigkeit, bis einer von ihnen zu sprechen begann.

„Viel Liebe!“, sagte er mit wohlklingender Stimme und verneigte sich. „Die Kuration ist zu der Überzeugung gelangt, dass Ihr psychosomatischer Zustand die optimalen Parameter aufweist. Allerdings weicht Ihre Genstruktur in einigen wesentlichen Eigenschaften vom eugenischen Typ der Dafotil ab. Wir erwähnen diese Abweichung, um Sie auf eine mögliche Konfliktgefahr hinzuweisen. Infolge Ihrer animalischen Charakteranlagen unterliegen Sie einer gewissen Tendenz, in Widerspruch zur Umwelt zu geraten. Eine Angleichung an den Dafotil-Typ ist jedoch ausgeschlossen. Das KAPINOM tabuisiert jede Manipulation im eugenischen Bereich.“

„Aha!“, sagte der Mann, nur um irgendeine Antwort zu geben. Genauso gut hätte er „Trallala“ oder „Neunundneunzig“ sagen können. „Und was verstehen Sie unter KAPINOM?“

„Das KAPINOM ist das Hauptgesetz des Astilot. Es umfasst die gesamte Sphäre der materiellen und geistigen Existenz. Seine Sätze lauten ...“

Und nun sprachen alle fünf im Chor:

„Erstens: Dafotil tabu.

Zweitens: Äquivalenz tabu.

Drittens: Eugenik tabu.

Viertens: Kosmos tabu.“

Der Mann fand keine Erwiderung. Die Fülle der fremden Begriffe verwirrte ihn. Wieder regte sich Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit. War es Wirklichkeit, was er hörte und sah, oder war alles nur ein verrückter Traum?

Das Schweigen wurde lastend. Die fünf blickten ihn höflich an, offenbar in Erwartung neuer Fragen.

„Wer hat das KAPINOM gemacht?“, fragte er schließlich.

„Alles dient dem Wohl der Dafotil.“

„Demnach bestimmen sie die Politik?“

„Administration ist Sache der Cephaloiden. Machtgruppen existieren nicht.“

„Aha. - Und woher komme ich? Wann wurde ich geboren?“

„Ereignisse aus der Zeit vor der Emanzipation sind gelöscht. Sie haben keine ökonomische Effektivität.“

„Verstehe ich nicht! Was gibt es für Gründe, aus der historischen Entwicklung ein Geheimnis zu machen?“

„Die Erkenntnisse der Naturwissenschaft sind jedermann zugänglich.“

„Ich spreche nicht von der Naturwissenschaft, ich meine das Leben der Gesellschaft.“

„Das Leben ist konstant. Seine Grundsätze und Regeln stehen jedem offen.“

Der Mann fühlte sich gereizt durch die glatten, keinen Widerspruch duldenden Erklärungen. Er wollte nicht länger alles hinnehmen, er musste einfach widersprechen. „So ein Unfug!“, sagte er schroff. „Das Leben hat eine Entwicklung, ein Ziel.“

„Das KAPINOM kennt keine Entwicklung, es kennt nur die Konstanz des Seienden.“

Der Mann schüttelte verzweifelt den Kopf. Offenbar war die Vorstellungswelt dieser blauhäutigen Mediziner mit Brettern vernagelt. In was für ein Karussell der Engstirnigkeit war er hier geraten?

„Wenn Sie gestatten“, sagte der Wortführer, „nehmen wir jetzt die Applikation des Semperkommunikators vor. Er ermöglicht den Kontakt zur Umwelt und zum persönlichen Auskunfter. Einzelheiten über seine Anwendung erhalten Sie später. Würden Sie uns bitte in den Behandlungsraum begleiten?“

Sie nahmen ihn in die Mitte und gingen in den Nebenraum. Mit einem saugenden Geräusch schloss sich hinter ihnen die Tür. Kühle, sauerstoffreiche Luft strömte von der Decke auf sie herab. Ein Rund im Fußboden schob sich auseinander, durch die Öffnung tauchte ein mit Schläuchen und Apparaturen bestückter Operationssessel empor. Neben ihm standen zwei Krankenschwestern, rosahäutige Zwillinge in grünen Kapuzenkitteln.

Das diffuse, von den Wänden ausgestrahlte Licht verblasste, die Zimmerdecke öffnete sich, quadratische Batterien lichtstarker Lampen senkten sich herab.

„Geben Sie die Zustimmung zur Anästhesie?“, fragte eine synthetische Stimme.

Der Mann nickte mechanisch. Ein beklommenes Gefühl breitete sich in seiner Magengrube aus.

Einer der Himmelblauen trat auf ihn zu und nahm seine Hand. „Kein Grund zur Besorgnis“, sagte er, „es handelt sich um einen absolut harmlosen Eingriff.“

Er blickte zur Seite und gab einer Schwester ein Zeichen mit den Augen. Sie berührte den Handrücken des Patienten mit dem hohlen Mundstück eines Metallstiftes. Der Mann spürte ein Saugen, dann einen winzigen Schmerz, kaum mehr als bei einem Mückenstich.

Plötzlich fühlte er sich leicht, körperlos, fast ohne Schwerkraft. Alles um ihn her rückte in die Ferne. Er nahm zwar noch wahr, was rings um ihn geschah, doch es ging ihn nichts mehr an. Ohne den geringsten Gedanken an Widerspruch folgte er den Anweisungen, setzte sich in den Operationssessel, ließ sich in die Horizontale schwenken und in die Höhe fahren, öffnete weit den Mund.

Während die Schwestern die Instrumente bereitlegten, begaben sich die fünf Mediziner zu einem Gerät, das in Aufbau und Farbenpracht einem Musikautomaten glich. Nacheinander traten sie heran, lösten die Oberteile von ihren Äskulapabzeichen, schoben sie in einen Schlitz, drückten eine Kombination von Knöpfen. Unter leisem Summen begann sich ein Metallzylinder zu drehen. Eine längliche Öffnung kam zum Vorschein. Einer der fünf griff hinein und holte eine Keramikdose heraus. Das Siegel wurde erbrochen, die Dose geöffnet. Eingebettet in blaue Schaummasse, lag eine erbsengroße goldene Kugel. Eine Schwester nahm sie mit der Pinzette sorgfältig auf.

Die zweite hatte indessen einen Backenzahn des Patienten ausgehöhlt. Die Kugel wurde eingepasst und mit einer metallischen Emulsion in der Zahnhöhlung befestigt. Nach wenigen Minuten war der Eingriff beendet. Der Sessel sank zu Boden, schwenkte nach vorn, die gepolsterten Halteschienen gaben den Patienten frei.

Der Mann hatte keinerlei Schmerzen empfunden, der eigenartige Zustand der Leere und der Weiträumigkeit hatte ihn ganz in Anspruch genommen. Die Schwester berührte ihn zum zweiten Mal mit dem Anästhesiestab. Für einige Sekunden glaubte er, in einer Zentrifuge zu sitzen. Dann kehrten die normalen Empfindungen zurück, das alte Körpergewicht, der gewohnte Tastsinn. Das Wattegefühl verschwand aus den Ohren, die Geräusche hörten sich wieder nah und natürlich an. Mit der Zungenspitze tastete er nach dem fremden Gegenstand in der Zahnreihe oben links. Er störte nicht, fühlte sich kühl und glatt an, das Gebiss schloss wie immer. Nur das Zahnfleisch in der näheren Umgebung war etwas druckempfindlich.

Als er aufstand, verbeugten sich die Anwesenden.

„Wir erlauben uns, Ihnen Glück zu wünschen, Mijnheer Asmo“, sagte einer der Himmelblauen feierlich. „Sie sind nun vollberechtigtes Mitglied der Sozietät der Dafotil.“

„Vielen Dank“, erwiderte er überrascht. „Aber wie kommen Sie dazu, mich Asmo zu nennen?“

„Der Name wurde von der dritten Ceph-Ebene empfohlen. Falls er Ihnen nicht zusagt, haben Sie die Möglichkeit, einen anderen zu wählen.“

Er schüttelte den Kopf. Asmo, der Name gefiel ihm. Er hatte etwas Vertrautes, rief eine vage Erinnerung wach an eine Zeit, die hinter der grauen Nebelwand lag.

„Ich möchte meinen richtigen Namen erfahren“, sagte er, „es würde mich beruhigen.“

Der Sprecher machte eine Geste des Bedauerns. „Wir kennen ihn nicht. Doch wir dürfen Ihnen versichern, dass er für Sie keinerlei Bedeutung hat, Mijnheer Asmo.“

„Na schön. Wo hat man mich gefunden?“

„In einer Dauerschlafzelle. Sie waren ein wissenschaftliches Konservat, wie Ihnen Schwester Su bereits erklärte.“

„Ich meinte, an welchem Ort hat man mich gefunden?“

„Der Ort ist uns nicht bekannt.“

„Welchen Sinn hatte es, mich in ein wissenschaftliches Konservat zu verwandeln? Wann ist das geschehen?“

„Wir sind leider nicht kompetent für diese Fragen. Unsere Aufgabe ist Psychohygiene.“

„Und wer ist für diese Fragen kompetent?“

„Vermutlich niemand. Historie hat keinen ökonomischen Faktor. Produktivkräfte werden dafür nicht vertan.“

Stellen sich diese Leute so dumm, dachte er, oder wissen sie wirklich nichts? '

Er sagte: „Nun, dann danke ich Ihnen, meine Herren.“ Die fünf schlugen verwirrt die Augen nieder. Das Himmelblau ihrer Gesichtshaut wurde um einige Schattierungen dunkler. Sie erröteten nicht, sie erblauten.

„Keine Ursache“, murmelten sie im Chor und waren so offensichtlich voller Verlegenheit, dass er sich bestürzt fragte, was an seiner harmlosen Bemerkung falsch gewesen sein könnte. Doch ehe er eine Erklärung fand, hatte sich der Sprecher gefasst.

„In etwa zwei Stunden wird Ihr Nervensystem den Seko assimiliert haben“, sagte er. „Sie können dann mit Ihrem Auskunfter in Verbindung treten. Er heißt Sem. Vergessen Sie bitte dieses Wort nicht. Wenn Sie gestatten, ziehen wir uns nun zurück. Schwester Su wird Sie hinausbegleiten. Wir wünschen Ihnen Liebe.“

Wie auf Kommando machten alle eine Verbeugung und sagten im Chor: „Viel Liebe.“

Sie lächelten ihm noch einmal zu und verließen im Gleichschritt das Zimmer.

Kurz darauf erschien Su in der Tür. Asmo folgte ihr durch den lindgrünen Konferenzsaal hinaus auf den Gang.

Der Lift war rund und hatte einen Durchmesser von etwa fünf Metern. Als sie eintraten, sagte Su: „Nullstopp, Gogo!“

„Nullstopp“, wiederholte eine Stimme aus einem unsichtbaren Lautsprecher. Die halbrunden Türen schlossen sich. Geräuschlos begann der Lift zu steigen. Die Stimme zählte die Stockwerke mit wachsendem Tempo.

„Wohin bringen Sie mich?“

„Wir fahren zur Plateauhalle. Von dort können Sie die Stadt sehen.“

Der Lift stoppte, sie traten hinaus in eine weiträumige Halle. Su wies auf den Ausgang, einen riesigen Kristallfächer, der in müder Rotation mit den Sonnenstrahlen spielte. Rötliche Lichtreflexe irrten wie gefangene Leuchtkäfer durch seine gläsernen Segmente.

Im Zentrum der Halle lag ein flaches, smaragdgrünes Becken wie das Riesenblatt einer Seerose. Eine plastische, rubinfarbene Masse stieg daraus empor. Sie bewegte sich in einem aufreizend trägen Rhythmus, bildete Fächer, Bögen, Spiralen, formte Säulen und Arabesken, die sich drehend verwoben und ineinander verschmolzen. Von oben, aus der grün schimmernden Facettenkuppel der Halle, schwebten durchsichtige Kugeln herab. Wenn sie das rubinfarbene Gebilde berührten, zersprangen sie mit leisen Glockentönen. Zuweilen änderte die Kuppel ihre Farbe, dann nahmen auch die schwebenden Kugeln den neuen Farbton an.

Eine saugende Faszination ging aus von diesem Spiel der Formen, die mit den Farben und Tönen in Widerstreit lagen. Nicht selten ergaben sich verworrene, schmerzende Bilder, und dennoch entstand immer wieder - ganz unerwartet - eine harmonische Lösung. Der Zauber dieser sinnlosen, immer neuen Schöpfungen begann ihn einzuspinnen in einen tranceartigen Zustand heiterer Resignation.

Die Zeit verlor ihre Bedeutung. Er wusste nicht, wie lange die Bilder schon in ihn eindrangen. Ein Schwindelgefühl ergriff ihn. Sein Wille begann sich zu wehren gegen das Spiel der Formen und Farben, gegen ihre schleichende Besitzergreifung. Er riss sich los und wandte sich um.

Hinter ihm lag eine glatte, fugenlose Wand. Das Mädchen mit den grünen Haaren und der rosa Haut war ohne ein Wort des Abschieds in der Tiefe versunken.

2. Kapitel

Eine große rote Sonne sandte milde Strahlen herab, der Himmel wölbte sich in seidigem Blau.

Asmo stand auf der höchsten Stufe einer Terrassenpyramide. Hinter ihm erhob sich die Plateauhalle des Psychodoms, eine weiße Halbkugel, darüber ein riesiges, weithin leuchtendes Äskulapsymbol.

Vor ihm lag die Stadt. Hunderte ineinandergreifender Hügel von terrassenartigem Aufbau, an deren Flanken weiße Kuben zu geometrischen Mustern geordnet waren. Das Grün einer tropischen Vegetation webte sich in die Stadtlandschaft. In zahllosen Fontänen und Teichen, deren Wasser sich am Fuße der Wohnhügel in einem silbernen Flusslauf sammelten, sprühte das Sonnenlicht.

Asmo stieg in die Terrassengärten hinab. Eine leichte Brise fächelte ihm entgegen, gesättigt von aromatischen Düften; Sträucher und zierliche Bäume trugen Blüten von üppiger Pracht. Nach jeder Biegung der Treppe bot sich ein neuer Anblick, der den vorangegangenen an Schönheit zu übertreffen schien. Rasenteppiche im Spiel von Licht und Schatten, rauschende Miniatur-Wasserfälle, Kaskaden gelber Narzissen über malachitgrünem Felsgestein, Seerosenteiche, bedeckt von weißrosa Blütenkelchen.

Dort, wo sich zwischen dem Buschwerk Ausblicke auf die Stadt boten, waren, von Sonnensegeln geschützt, Tisch und Polsterbänke aufgestellt. Sie sahen so nagelneu aus, als hätten sie noch nie eine Nacht im Freien zugebracht.

Asmo ließ sich in die Polster sinken. Sein Blick fiel auf einen Strauch mit orangenartigen Früchten, die einen betörenden Duft verströmten. Er griff nach einer Frucht; sie ließ sich nicht vom Zweig lösen, selbst dann nicht, als er es mit Gewalt versuchte. Auch der Zweig ließ sich weder abreißen noch brechen, obwohl er nicht einmal Bleistiftstärke hatte. Er untersuchte den Strauch gründlicher. Die Blätter, Früchte und Äste wirkten echt bis ins kleinste Detail, sie schienen auf natürliche Weise gewachsen zu sein und bestanden dennoch aus einem unzerstörbaren, äußerst elastischen Stoff. Kopfschüttelnd ließ er die Zweige wieder los, sie federten in ihre ursprüngliche Lage zurück und sahen so frisch und makellos aus, als wären sie nie berührt worden.

Er setzte seinen Weg fort, in Nachdenken versunken über die Frage, ob etwa die ganze paradiesische Pflanzenpracht künstlichen Ursprung habe. Kolibris flirrten durch die Luft, verharrten mit schillernden Flügeln vor den Blüten und schossen bei seiner Annäherung im Zickzackflug davon. Und dann begegnete er einem Pfau, der seine Schwanzfedern zu immer neuen Mustern auffächerte. Das Tier wich ihm aus, doch schien es keine Furcht zu haben. Als er mit zwei schnellen Schritten dicht herankam, duckte es sich zu Boden und erstarrte. Er beugte sich nieder, berührte es vorsichtig, hob es auf. Es war wie gelähmt, völlig ohne Bewegung, ja, es schien nicht einmal zu atmen. Asmo betrachtete es von allen Seiten und spürte plötzlich unter dem Gefieder einen schwachen Herzschlag. Behutsam setzte er es nieder und entfernte sich. Da kehrte das Leben in den Pfau zurück, er erhob sich, schüttelte seine Federn und stolzierte majestätisch davon.

Seitdem Su ihn verlassen hatte, war Asmo noch keinem menschlichen Wesen begegnet, obwohl er sich ganz in der Nähe der Stadt befand. Nun fiel ihm auch auf, welch eine himmlische Ruhe ringsum herrschte. Die Luft war rein und klar. Es gab keinen Staub, keinen Verkehrslärm, keine üblen Gerüche. Fabriken und Fahrzeuge schienen überhaupt zu fehlen. Er suchte den Himmel ab - nirgends ein Flugzeug. Doch dann entdeckte er einen Flugkörper, der einem Ballon ähnlich sah und in niedriger Höhe zwischen den Pyramiden dahinschwebte. In der Gondel glaubte er Menschen zu erkennen; bevor er Genaueres erkennen konnte, war der Flugkörper geräuschlos hinter einem der Hügel verschwunden. Die Sonne stand hoch im Zenit. Dennoch lag über allem eine Abendstimmung, weich, ausgewogen, ein wenig müde, vergoldet von den sanften Flügelschlägen einer uralten Kultur. Der Planet trägt Patina, dachte er. Wie weit mag ich entfernt sein vom Zeitalter meiner Geburt? Zweihundert Jahre, fünfhundert ... oder vielleicht sogar ein paar Jahrtausende? Die alte Mutter Erde schien ruhiger geworden, ähnlich noch der Erinnerung und doch verändert, unwirklich-wirklich wie ein fantastisches Traumerlebnis. Fragen stürmten auf ihn ein, er konnte keine Antwort finden, er fühlte sich hilflos, ausgeliefert einem bitteren Gefühl der Verlassenheit. Er brauchte Menschen, brauchte ihre Nähe, brauchte Gespräche.

Rasch lief er über die Treppen der letzten Terrassen, streifte durch ein Labyrinth blühender Hecken und stand endlich am Ufer eines Flusses. Das Wasser war klar bis auf den steinigen Grund. In der Strömung tanzten Goldfische mit langen Schleierflossen einen graziösen Reigen.

Auf der anderen Uferseite, etwa hundert Meter entfernt, erhob sich ein Pyramiden-Bauwerk. Die unteren Stockwerke schienen aus Glas, und hinter den großen Scheiben nahm er undeutlich Menschen wahr, die an Tischen saßen. Trotz des Sonnenscheins waren die Räume von farbigem Licht erhellt, und über die Fassade liefen bunte Leuchtbilder, die in erstaunlicher Detailtreue die Genüsse der Tafel schilderten. Asmo lief bei diesem Anblick das Wasser im Mund zusammen. Eilig ging er den Uferweg entlang und stieß bald auf einen Tunnel, der unter dem Fluss hindurch auf die andere Seite führen musste.

Die Halbkugel des Eingangs nahm ihn auf, die Halle erstrahlte in hellem Licht, und als er über ein in den gläsernen Boden eingelassenes Rechteck ging, in dem zwei blaue Wellenlinien blinkten, erschien ein Lichtpfeil unter dem Glasboden und leitete ihn zu einer der Gleittreppen. Kaum berührte sein Fuß die erste Stufe, da begann die Treppe zu leuchten, setzte sich in Bewegung und trug ihn nach unten. An ihrem Ende schlug ihm feuchtwarme Luft entgegen.

Und nun sah er endlich Menschen. Sie tummelten sich im Wasser eines künstlichen Sees, der von zerklüftetem Gestein und exotischem Pflanzenwuchs umgeben war. Sie sprangen von den Felsen, ließen sich über Rutschbahnen gleiten, wirbelten durch Wasserfälle. Alle, ob Frauen oder Männer, hatten eine goldbraune Hautfarbe und einen Körperbau von klassischer Schönheit. Soweit er es übersehen konnte, waren alle etwa im gleichen Alter. Er schätzte sie auf zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre.

Langsam ging er am Ufer entlang. Aus der Kuppel strahlte Sonnenlicht; es herrschte eine feuchte, drückende Wärme. In seinem Straßenanzug fühlte er sich fehl am Platze, doch niemand nahm von ihm Notiz. Man wich ihm aus, allenfalls streifte ihn ein zufälliger Blick. Einige Male blieb er stehen und sah die Menschen in seiner Nähe erwartungsvoll an. Doch niemand zeigte an ihm Interesse, gleichgültig wandten sie ihm den Rücken zu. Angesichts dieser deutlichen Zurückhaltung konnte er sich nicht entschließen, einen von ihnen anzusprechen.

Ohne Ziel, ganz wie der Zufall es wollte, schlenderte er weiter.

Dann begegnete er einem neuen Symbol: ein blaues Strichmännlein in einem weißen Kreis. Gleittreppen trugen ihn hinauf und hinab, von einer Halle in die andere. Überall wurde Sport getrieben. Meist waren es Ballspiele, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Tennis, Hockey, Kricket, Kegeln und Billard hatten.

Nur die Goldbraunen spielten. Zu jedem Spiel trugen sie eine andere Sportbekleidung. Und überall gab es rosa- und blauhäutige Wesen, die ihnen zu Diensten waren. Auf den leisesten Wink brachten sie Spielgeräte, Getränke, Frotteetücher oder Sessel, die in Sekunden aus kleinen Päckchen aufgeblasen waren und genauso schnell wieder verschwanden, wenn sie nicht mehr gebraucht wurden.

Asmo schaute ungestört zu. Es fiel ihm auf, dass die Goldbraunen sehr schnell zueinander Kontakt fanden, sich an Vorübergehende wandten, mit ihnen redeten und lachten und sich ebenso zwanglos wieder trennten. Hin und wieder näherte er sich einer Gesprächsgruppe, doch niemand richtete ein Wort an ihn, niemand beachtete ihn, obwohl andere, die nach ihm kamen, sofort in das Gespräch einbezogen wurden. Er suchte verstohlen nach Merkmalen, die ihn von den anderen unterschieden, doch er konnte nichts entdecken, abgesehen von seiner Hautfarbe, die von hellerem Braun war. Auch die rosa Mädchen und himmelblauen Männer kümmerten sich nicht im geringsten um ihn.

Allmählich ging ihm dieses merkwürdige Verhalten auf die Nerven; und wenn er es sich auch nicht eingestehen wollte, es begann ihn zu deprimieren. Warum, zum Teufel, behandelten sie ihn wie einen Aussätzigen? Irgendetwas musste geschehen. Er war nun schon lange unterwegs, wie lange, wusste er nicht, denn als er es feststellen wollte, fiel ihm auf, dass er gar keine Uhr besaß. Und bisher hatte er auch nirgends etwas entdeckt, was einem öffentlichen Chronometer ähnlich sah. Er war ermüdet von der Vielzahl der Eindrücke, seine Füße schmerzten, Hunger und Durst machten sich unangenehm bemerkbar. Er brauchte eine Mahlzeit oder wenigstens eine Auskunft, wie man sie bekommen konnte.

Er gab sich einen Ruck und wandte sich an eine rosahäutige Stewardess, die einen Servierwagen voller Getränke, Obst und belegte Brote vorüberrollte. Sie blieb nicht stehen, sie sah ihn nicht einmal an, er schien einfach Luft für sie zu sein. Er unternahm zwei weitere Versuche, den ersten bei einer goldbraunen Dame, den zweiten bei einem himmelblauen Mann. Beide führten zu dem gleichen negativen Ergebnis.

Einige Zeit irrte er im Labyrinth der Sporthallen und Gleittreppen umher, dann stieß er an einer Abzweigung auf ein Symbol, das sich mit etwas Fantasie als Suppenterrine deuten ließ. Er folgte den Lichtpfeilen und stand bald darauf in einem Speisesaal. Durch die Scheiben erkannte er den Fluss und die Terrassengärten der Psychodompyramide. Bratendüfte stiegen ihm in die Nase.

An den Tischen saßen Damen und Herren mit goldbrauner Haut. Sie lachten und plauderten, labten sich in sorgloser Heiterkeit an den Köstlichkeiten, die von rosa und himmelblauen Kellnern serviert wurden. Sie trugen Kleider, die aus einem Theaterfundus stammen mussten. Es gab spanische Granden mit weißen Halskrausen, es gab Indianerhäuptlinge und mittelalterliche Burgdamen. Ein schnauzbärtiger Herr in Tropenuniform führte ein trautes Gespräch mit einer glutäugigen Römerin.

Zwischen einer Kimonodame, die mit einem Husarengeneral dinierte, und einer Rokokogesellschaft fand Asmo einen freien Tisch. Er wartete auf Bedienung, aber nichts geschah. Als ein Hors-d’oeuvre an ihm vorüberschwebte, durchzuckte ihn ein heißer Schreck. Womit sollte er bezahlen? Er hatte ja gar kein Geld! Und irgendwelche Papiere, die Auskunft über ihn geben und als Pfand dienen konnten, besaß er auch nicht. Die Trottel im Psychodom hatten offenbar an gar nichts gedacht. Vielleicht hatten sie ihn nur möglichst schnell loswerden wollen. Was sollte er tun? Ach was, sagte er sich, erst musst du etwas in den Magen bekommen, alles Weitere wird sich finden.

Die Kellner eilten beflissen hin und her, unablässig bemüht, ihren Gästen jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Beim geringsten Handzeichen waren sie zur Stelle. Nur auf seine Zeichen reagierte niemand, so genau er sie auch nachahmte.

Endlich verlor er die Geduld. Er sprang auf und trat einem der Kellner in den Weg. Der blieb sofort stehen, doch sein Blick ging an ihm vorbei.

„Warum werde ich nicht bedient?“

Der Kellner starrte ihn ausdruckslos an.

„Was ist los?“ Asmos Stimme wurde scharf. „Warum antworten Sie nicht?“

„Verzeihung“, stammelte der Kellner, schlängelte sich seitwärts zwischen die Tische und war wie der Blitz durch eine Tür.

Diesmal war Asmo entschlossen, nicht aufzugeben. Seine Unsicherheit hatte sich in Wut verwandelt. Er wollte doch sehen, ob sich nicht herausbekommen ließ, was eigentlich vorging.

Es dauerte nicht lange, und der Kellner tauchte durch eine andere Tür wieder auf, auf den Fingerspitzen eine Pastetenplatte. Er schlug um Asmo einen weiten Bogen und behielt ihn dabei mit schrägem Blick im Auge.

Asmo folgte ihm, wartete, bis er serviert hatte, und sagte: „Kommen Sie mal her!“

Der Kellner tat, als hätte er nichts gehört, und wollte sich davonmachen. Mit zwei schnellen Schritten war Asmo neben ihm.

„Ich verlange eine Antwort!“

Die Oberlippe des Kellners begann zu zucken. Langsam wich er zurück. „Sie haben mir nichts zu befehlen“, flüsterte er. „Sie sind nicht einmal ein Sermat.“

Asmo packte ihn am Handgelenk und zog ihn zu sich heran. „Was ist ein Sermat?“

In das himmelblaue Gesicht des Kellners trat ein Ausdruck panischer Angst. Er versuchte sich freizumachen, doch sein Arm saß fest wie in einem Schraubstock. Er begann zu keuchen, in seinen Augen stand Entsetzen.

Asmo spürte, wie neue Wut in ihm aufstieg.

„Spielen Sie nicht verrückt!“, herrschte er ihn an. „Antworten Sie!“

Der Himmelblaue stieß einen schrillen Schrei aus. Er ließ sich fallen, kroch einige Meter auf allen vieren über den Boden, raffte sich dann wieder auf und verschwand schluchzend und stolpernd hinter einem Paravent.

Asmo stand da wie vor den Kopf geschlagen. Er begriff nicht, was den Mann in Panik versetzt hatte. Er sah sich nach den Gästen um. Niemand schaute ihn an. Niemand stellte eine Frage oder fand ein erklärendes Wort. Betreten saßen sie da, mit niedergeschlagenen Augen. Plötzlich begann jemand mit betonter Ungezwungenheit zu erzählen. Die anderen fielen ein, lachten und waren offensichtlich bemüht, den peinlichen Zwischenfall so schnell wie möglich zu vergessen.

Asmo zögerte, suchte nach einer Entschuldigung, zuckte dann die Schultern und ging. Hunger und Durst waren ihm vergangen. Er hatte den fatalen Eindruck, dass sie ihn für einen Geisteskranken hielten, mit dem man nicht reden durfte, ohne eine Ansteckung zu riskieren. Dieser Gedanke wollte ihm nicht aus dem Kopf, während er über Gleittreppen hinauf- und hinunterfuhr, durch Gänge und Sporthallen irrte, die kein Ende zu nehmen schienen.

War es ihnen gleichgültig, fragte er sich, was mit ihrem Dienstpersonal geschah? Er hatte deutlich wahrgenommen, dass niemand Partei ergreifen wollte. Was musste man eigentlich tun, dachte er erbittert, um sie aus der Fassung zu bringen? Einem von ihnen den Hals umdrehen?

Er war in einen Saal gelangt, in dem grünliches Zwielicht herrschte. In einem Wasserbecken mit durchsichtigen Wänden ritten die Goldbraunen auf schwarzen und weißen Delfinen. Auf den Tribünen saßen viele Zuschauer. Wie üblich nahm niemand von ihm Notiz. Ein paar Leute in seiner Nähe stritten sich lebhaft über ein Viertelfinale, das ohne Zweifel ganz anders ausgegangen wäre, wenn nicht ein Soundso diesen und jenen Fehler gemacht hätte.

Asmo hörte kaum noch hin. Er ließ sich auf eine gepolsterte Bank sinken und starrte auf seine Füße. Das beste ist, du gehst zurück ins Psychodom, sagte er sich und überlegte, wie er am schnellsten den Weg finden könnte. Während er noch nach einer Idee suchte, beschlich ihn ein eigenartiges Gefühl, eine merkwürdige Unruhe, die ihn von seinen Gedanken ablenkte.

Er hob den Kopf. Die Delfinmannschaften wirbelten durch das Becken. Es war ein Spiel voller Anmut und Geschicklichkeit.

Asmo sah zwei Minuten zu, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Und dann begriff er, dass ihn jemand beobachtete. Rasch wandte er sich um.

In einem hellen Lichtfleck am Ende der Tribünentreppe stand ein Mädchen, im Haar ein rotes Band. Der Schreck durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag; ihm war zumute, als wäre er unerwartet einem Geist begegnet. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke, und er glaubte eine Regung, ein Erkennen, einen Funken Sympathie in ihren Augen zu bemerken.

Seine Gedanken überschlugen sich. Ein Stück Vergangenheit wurde sichtbar, ein kleiner Ausschnitt nur. Das Meer, der feuchte Sandstreifen am Ufer. Der letzte Urlaubstag. Johannna, das Mädchen auf dem Pferd. Wie war der Name der Raumstation? - Japetus? Jupiter? Er verlor den Faden, die Bilder begannen sich zu verwirren, alles war wieder ein wogendes Nebelmeer.

Sie stand noch immer an der gleichen Stelle, unbeweglich. Ihr Gesicht wirkte jetzt so kalt und unnahbar, als hätten sie sich nie gekannt. Um ihre Lippen spielte ein schwaches, kaum wahrnehmbares Lächeln. Noch nie war sie ihm so begehrenswert erschienen.

Er sprang auf. Ein Schwarm Leute kam ihm über die Treppe entgegen. Als er sich hindurchgedrängt hatte, war sie fort. Er konnte eben noch erkennen, wie sie hinter den Säulen einer Galerie verschwand.

„Johanna!“, rief er. „Warte, Johanna!“

Er erreichte das Halbrund des Ausgangs, sie war nicht mehr zu sehen. Die Verzweiflung nahm ihm den Atem. Warum benahm sie sich wie eine Fremde? Die Haltung, die Augen, der Mund, es gab keinen Zweifel, sie war Johanna, die Frau, die er liebte. Er wusste es genau, er hatte sich nicht geirrt.

Im Schacht einer Wendeltreppe hörte er ihre Schritte. Er hastete die Stufen hinauf.

Die Treppe war zu Ende. Er stand auf einem endlosen Gang, auf beiden Seiten geschlossene Türen. Zu sehen war niemand. Er versuchte eine zu öffnen, eine zweite, eine dritte. Vergeblich. Nirgends fand er eine Klinke oder einen Knopf. Er rief, er hämmerte mit den Fäusten an die Türen, er warf sich mit aller Kraft dagegen, er trat mit den Füßen zu. - Nichts. Das Holz grinste ihn höhnisch an. Nicht einmal eine Schramme.

3. Kapitel

Asmo hockte erschöpft auf der Kante eines Liegesessels. Die Suche nach Johanna hatte er aufgegeben, nachdem er eine Stunde oder länger in der Delfinhalle und den angrenzenden Wandelgängen umhergelaufen war. Nirgends hatte er eine Spur von ihr gefunden, niemand hatte ihm eine Auskunft gegeben. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Am Ende hatte er die Orientierung verloren und sich in einen palmenbewachsenen Gartenhof zurückgezogen, wo er Ruhe zum Nachdenken zu finden hoffte.

Er wusste nicht, ob er sich über oder unter der Erde befand. In seiner Nähe lag eine Straßenkreuzung. Häuserfassaden strebten in die Höhe, bildeten die Silhouette einer Stadt, doch es war ihm unmöglich, zu unterscheiden, was echt und was die Wirkung geschickter Perspektive war. Über ihm wölbte sich eine blassblaue Himmelskuppel, von der Tageslicht ausging, und irgendwo musste eine Klimaanlage stecken, die für ozonreiche Luft und angenehme Temperaturen sorgte.

Was rings um ihn geschah, nahm er nur flüchtig wahr, seine eigenen Probleme beschäftigten ihn zur Genüge. Hundert Fragen quälten ihn, gingen ihm wie ein Mühlrad im Kopf herum. Warum war sie weggelaufen? Hatte er sich so verändert, dass sie ihn nicht wiedererkannte? Oder war vielleicht auch ihr Gedächtnis gestört? Und was hatte er eigentlich verbrochen, dass keiner von diesen verdammten Narren mit ihm reden wollte?

Er spürte ein scharfes Stechen im linken Oberkiefer, einen so teuflischen Schmerz, als wäre Säure an den Zahnnerv gelangt. Nach wenigen Sekunden war es vorüber, doch hatte es genügt, ihn überdeutlich an das Erlebnis mit den himmelblauen Medizinern zu erinnern. Hatten diese Brüder nicht gesagt, das Ding in seinem Zahn würde die Verbindung mit einem Auskunfter herstellen? Aber wie? Darüber hatten sie natürlich nichts gesagt. Nur, dass er den Namen nicht vergessen sollte. Sem war doch wohl der Name. Sem, dachte er, Sem, Sem, Sem! Und wünschte, es möge ein Wunder geschehen. - Das Wunder geschah.

„Hier spricht Sem“, sagte eine sonore männliche Stimme dicht neben seinem Ohr. Sie hatte einen leichten Halleffekt.

Unwillkürlich wandte er sich um und suchte nach dem Sprecher. Niemand war in seiner Nähe. Er schüttelte den Kopf, ärgerlich über sich selbst.

„Wer sind Sie?“, fragte er zögernd.

„Sem ist dein zweites Ich.“

„Mein zweites Ich? - Kannst du mir Auskünfte geben?“

„Hören ist Bereitschaft.“

Asmo schwieg verwirrt. Er hatte so viele Fragen, dass er nicht wusste, womit er beginnen sollte.

„Was unterscheidet mich von den anderen?“, fragte er schließlich. „Warum spricht niemand mit mir?“

„Aus Höflichkeit.“

„Verstehe ich nicht.“

„Da wir noch keinen Seko-Kontakt hatten, mussten unsere Dafotil-Partner annehmen, dass wir auf Zero sind. Zero heißt, man will von niemandem gestört werden, man wünscht unbedingt Ruhe. Es ist ein Gebot der Höflichkeit, einen Dafotil erst anzusprechen, wenn man sich über Seko-Kontakt vergewissert hat, dass er zu einer Unterhaltung bereit ist.“

„Ziemlich kompliziert. Und jetzt wäre ein Gespräch möglich?“

„Jederzeit. Wir sind vollberechtigtes Mitglied der Dafotil-Sozietät.“

„Dafotil, sind das die Goldbraunen?“

„Ja.“

„Und wer sind die Rosahäutigen und die Himmelblauen?“

„Biologische Dienstleistungsautomaten; sie werden Sermaten genannt.“

„Na gut, darüber reden wir später. Im Augenblick ist etwas anderes wichtig. Ich suche eine Frau. Sie heißt Johanna. Wie kann ich sie finden?“

„Zum Kontakt brauchen wir ihre Seko-Frequenz.“

„Woher soll ich die wissen? Ich habe sie vor einer Stunde zum ersten Mal gesehen, in einer Delfinhalle. Das heißt, eigentlich kenne ich sie von früher. Ich könnte sie beschreiben.“

„Zur Ermittlung einer unbekannten Frequenz ist ein funktionsfähiger Seko nötig. Das Bild des erwünschten Partners geht über Sem an den Speicher, und dann gibt die Analyse-Ceph die Daten.“

„Ich muss sie aber finden! Gibt es noch irgendeine andere Möglichkeit?“

„Die Vermittlung durch einen gemeinsamen Bekannten.“ Asmo lachte spöttisch auf. Woher sollte er den nehmen? Er dachte nach. - „Man sagte mir, ich sei ein wissenschaftliches Konservat. Gibt es viele Dafotil, die aus der Vergangenheit stammen?“

„Wir sind der erste Fall, der dem Speicher bekannt ist.“

„Nein!“, sagte Asmo mit Überzeugung. „Das kann nicht stimmen. Ich kenne Johanna, sie ist nur zehn Jahre jünger als ich. Sie muss also auch so ein wissenschaftliches Konservat sein.“

„Der Speicher kennt nur einen Fall, und das sind wir.“

„Vielleicht liegt es an der Definition. Was ist denn ein wissenschaftliches Konservat?“

„Ein biologisches System, das bereits vor der Emanzipation in einen Dauertiefschlaf versetzt wurde.“

„Wozu?“

„Vermutlich zu Forschungszwecken.“

„Wie lange ist das her?“

„Die Zeit vor der Emanzipation ist gelöscht.“

Asmo atmete tief. „Das habe ich schon gehört. Aber es muss doch wenigstens der historische Zusammenhang bekannt sein. Was war das für eine Gesellschaft? Wie kam es zur Emanzipation?“

„Über die gelöschte Zeit existieren allenfalls private Spekulationen, der öffentliche Speicher enthält nichts darüber.“

Er fühlte Unbehagen in sich aufsteigen. Wie es schien, war man bei der Tilgung der Vergangenheit mit äußerster Sorgfalt vorgegangen. Warum eigentlich?

„In welchem Jahr leben wir?“

„Darüber kann der Speicher keine Auskunft geben.“

„Wieso? Ist die Frage etwa nicht erlaubt?“

„Alle Fragen sind erlaubt. Wenn eine Antwort nicht gegeben werden kann, ist sie ökonomisch nicht effektiv.“

„Wer entscheidet, was effektiv ist?“

„Das KAPINOM.“

„Na schön“, seufzte Asmo. „Und wie hält man es mit der Zeitrechnung?“

„Es gibt keine sozial relevante Zeit, also auch keine Zeitrechnung.“

„Warum nicht?“

„Zeit ist Bewegung, Veränderung, Äquivalenz tabu, lautet der zweite Satz des KAPINOM, das heißt, das Gleichgewicht darf nicht angetastet werden.“

„Dann ist wohl auch nicht bekannt, wann diese Emanzipation stattgefunden hat?“

„Nein.“

„War es vielleicht eine Art Revolution?“

„Der Speicher kann den Begriff nur physikalisch definieren.“

„Revolution“, sagte Asmo geduldig, „ist die grundlegende Umwälzung gesellschaftlicher Machtverhältnisse.“

„Emanzipation ist im Sinne von Freisetzung zu verstehen.“

Das hörte sich verdächtig an. „Wer hat wen freigesetzt? Wie ging die Sache vonstatten?“

„Über den historischen Ablauf der Emanzipation besitzt der Speicher keine Information.“

„Richtig, das hätte ich fast vergessen. Ich stelle die Frage anders: Haben die Dafotil bei ihrer Freisetzung ein wenig nachgeholfen?“

„Nein.“

„Aber sie sind zum Nutznießer der Emanzipation geworden?“

„Das KAPINOM garantiert ihnen die Herrschaft über Astilot.“

„Aha. Und was bedeutet Astilot?“

„Planet der Aslot.“

Asmo schüttelte den Kopf. „Planet der Aslot? Wer ist denn das nun wieder? Ich denke, die Dafotil beherrschen den Planeten?“

„Der Ursprung der Aslot liegt in der gelöschten Zeit. Sie haben sich vor der Emanzipation in ein Reservat zurückgezogen, das für niemanden zugänglich ist.“

Eine Vermutung stieg in ihm auf. Kein vernünftiges Wesen löschte ohne Grund die Erfahrungen der Vergangenheit, es sei denn, es hätte etwas zu verbergen. Wenn es ihm gelang, herauszufinden, was hier verheimlicht wurde, würde er gewiss auch etwas über sich selbst erfahren. Es konnte doch kein Zufall sein, dass auch seine Vergangenheit „gelöscht“ worden war. Eine Ursache, eine Absicht musste dahinterstecken. Vielleicht wurden die Dafotil von den Aslot manipuliert, vielleicht waren sie nur scheinbar die Beherrscher des Planeten? Wenn das stimmte, dann waren es die Aslot, in deren Interesse es lag, die Vergangenheit zu löschen und die Zeit zu stoppen. Natürlich, so konnte es sein!

Vor Freude über diese Einsicht schlug er auf die Sessellehne. Vielleicht bist du auch das Opfer einer Manipulation, fuhr er in Gedanken fort. Doch falls er entdecken sollte, dass jemand darauf aus war, sich seiner zu bedienen, würde er in ihm einen verdammt unbequemen Partner haben.

Er lachte voller Ingrimm. Im nächsten Augenblick schüttelte er den Kopf und gestand sich ein, dass er in seinem Eifer zu weit gegangen war. Er kannte noch viel zu wenig von der Welt, er musste erst einmal Umschau halten, Fakten sammeln, mit den Dafotil sprechen.

Doch jetzt, da er eine Aufgabe gefunden hatte, wurde ihm wohler. Es war auch einleuchtend, dass Johanna unter diesen Umständen nichts oder nur wenig von ihrer Vergangenheit wissen konnte.

Er wandte sich wieder an Sem. „Welche Methoden gibt es, das Erinnerungsvermögen zu löschen?“

„Es sind keine bekannt.“

„Wurde ich vielleicht mit Drogen behandelt?“

„Ihre Anwendung ist laut KAPINOM verboten.“

„Kann man sie nicht trotzdem benutzt haben?“

„Unmöglich, die Medizin-Sermaten stehen unter absoluter Kontrolle.“

„Auch nicht außerhalb des Psychodoms?“

„Das KAPINOM gilt für den gesamten Planeten, es gibt keine Ausnahmen.“

„Bin ich vielleicht während eines Raumfluges in ein überstarkes Elektromagnetfeld geraten?“

„Wir haben nie einen Raumflug unternommen.“

„Warum lügst du?“, schrie Asmo wütend. „Ich erinnere mich genau an einen Raumflug mit Johanna ...“

Aus dem Nachbarsessel sprang ein Herr in buntem Wams und Pluderhosen auf und suchte fluchtartig das Weite. „Was ist denn in den gefahren?“

„Er war wohl verstört durch unser Benehmen.“

„Wieso? Was für ein Benehmen?“

„Es ist nicht üblich, beim Gebrauch des Sekos zu sprechen, es genügt, zu sekomieren.“

„Wie bitte?“

„Sekomieren heißt denken mit dem Wunsch, sich mitzuteilen.“

„Denken mit dem Wunsch, sich mitzuteilen?“ Asmo machte den Versuch, seine Überlegungen von den Fragen zu trennen, die er an Sem richten wollte. Es kam ihm ungewohnt vor, doch er stellte erstaunt fest, dass es möglich war. Offensichtlich kam es darauf an, den Willensakt, der normalerweise den Sprechapparat in Gang setzte, in eine Art Sendebefehl an den Seko umzuwandeln. Zu Anfang würde er das noch ein paarmal durcheinanderbringen, doch im Grunde, sagte er sich, war es weiter nichts als eine Sache des Trainings.

„Wo sind wir unterbrochen worden?“ Er versuchte zu sekomieren. Es klappte noch nicht ganz, deshalb behalf er sich, indem er flüsterte.

„Raumflug mit Johanna.“

„Richtig. Wie kommst du zu der Behauptung, ich hätte noch nie einen Raumflug unternommen.“

„Der Kosmos ist tabu. Einzige Ausnahme sind die Wachstationen auf den fünf Astilot-Monden.“

„Also gibt es Raumflüge. Fest steht, dass ich ... Moment! Was sagst du da? Wie viel Monde hat Astilot?“

„Fünf.“