Die perfekte Mutter - Kimberly McCreight - E-Book

Die perfekte Mutter E-Book

Kimberly McCreight

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Beschreibung

Hochspannend, hochemotional und voller unvorhersehbarer Twists: Im neuen Thriller »Die perfekte Mutter« der New York Times-Bestseller-Autorin Kimberly McCreight geht es um drei ganz unterschiedliche Mütter, ein totes Baby und eine Spur dunkler Geheimnisse. Für Molly Sanderson ist es nicht leicht, Mutter zu sein – vor allem seit sie ihr zweites Kind auf tragische Weise verloren hat. Trotzdem scheint der Neuanfang geglückt, den sie und ihr Ehemann Justin sich mit der kleinen Ella im idyllischen Universitätsstädtchen Ridgedale erhofft haben. Bis in einer abgelegenen Gegend am Fluss ein totes Baby entdeckt wird und Molly als freie Journalistin den Auftrag erhält, über den Fall zu berichten. Mollys Recherchen konfrontieren sie nicht nur mit ihren eigenen inneren Dämonen: Hinter den weiß getünchten Gartenzäunen und blitzsauberen Vorgärten von Ridgedale verbirgt sich so manches dunkle Geheimnis. Das wissen auch Barbara Carlson, die Frau des Polizeichefs, und die 16-jährige Highschool-Abbrecherin Sandy Mendelson viel zu gut … New York Times-Bestseller-Autorin Kimberly McCreight liefert mit ihrem Thriller »Die perfekte Mutter« raffinierte Psycho-Spannung um Schuldgefühle, Eifersucht und Misstrauen. Leser*innen von Alex Michaelides, Julie Clark oder Lucy Foley kommen hier voll auf ihre Kosten. »Eine Achterbahnfahrt von einem Roman.... Was für ein Glück für uns Leser - Kimberly McCreight hat wieder einmal bewiesen, dass sie eine einfühlsame Autorin ist, die uns auf eine höllische Fahrt mitnehmen kann.« - Jodi Picoult. Entdecke weitere hochspannende Thriller von Kimberly McCreight: - Eine perfekte Ehe - Freunde. Für immer

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Seitenzahl: 497

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Kimberly McCreight

Die perfekte Mutter

Thriller

Aus dem Englischen von Kristina Lake-Zapp

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Für Molly Sanderson ist es nicht leicht, Mutter zu sein – vor allem seit sie ihr zweites Kind auf tragische Weise verloren hat. Trotzdem scheint der Neuanfang geglückt, den sie und ihr Ehemann Justin sich mit der kleinen Ella im idyllischen Universitätsstädtchen Ridgedale erhofft haben.

Bis in einer abgelegenen Gegend am Fluss ein totes Baby entdeckt wird und Molly als freie Journalistin den Auftrag erhält, über den Fall zu berichten. Mollys Recherchen konfrontieren sie nicht nur mit ihren eigenen inneren Dämonen: Hinter den weiß getünchten Gartenzäunen und blitzsauberen Vorgärten von Ridgedale verbirgt sich so manches dunkle Geheimnis. Das wissen auch Barbara Carlson, die Frau des Polizeichefs, und die 16-jährige Highschool-Abbrecherin Sandy Mendelson viel zu gut …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Molly

Sandy

MOLLY

Molly

RIDGEDALE READER

Barbara

Molly Sanderson, 7. Sitzung, [...]

Molly

RIDGEDALE READER

JENNA

Sandy

FRAT CHAT

MOLLY

Molly

RIDGEDALE READER

JENNA

Barbara

Molly Sanderson, 10. Sitzung, [...]

Molly

RIDGEDALE READER

JENNA

Sandy

MOLLY

Molly

RIDGEDALE READER

Barbara

RIDGEDALE READER

Molly Sanderson, 13. Sitzung, [...]

JENNA

Sandy

MOLLY

RIDGEDALE READER

Molly

JENNA

Barbara

FRAT CHAT

Molly

RIDGEDALE READER

JENNA

Sandy

JENNA

Molly

Barbara

MOLLY

Molly

Molly Sanderson, 16. Sitzung, [...]

Sandy

Molly

Epilog

Dank

Für alle Töchter, besonders für meine eigenen.

Auch wenn man kleine, weiße Gartenzäune errichtet, kann man nicht verhindern, dass einen Albträume heimsuchen.

 

Anne Sexton

Molly

Der Himmel hinter unserem großen Panoramafenster wurde gerade hell, als ich die Augen öffnete. Es war noch nicht ganz Morgen. Noch kein Weckerklingeln. Noch nicht. Irgendetwas hatte mich geweckt. Ein Geräusch. Das jetzt erneut ertönte. Es kam von meinem Handy, das auf dem Nachttisch vibrierte. Erik Schinazy leuchtete auf dem Display auf.

Ich wischte über den grünen Hörer.

»Ist alles okay?«, fragte ich, ohne Hallo zu sagen.

In den wenigen Monaten, die ich nun bei der kleinen, aber angesehenen Tageszeitung Ridgedale Reader arbeitete, hatte mich der Chefredakteur nie außerhalb der Geschäftszeiten angerufen. Es hatte einfach keinen Grund dazu gegeben. Als Journalistin für Kultur-, Lifestyle- und Boulevardthemen lieferte ich Storys, die nicht unbedingt von besonderer Relevanz waren.

»Tut mir leid, dass ich so früh störe.« Erik klang müde. Oder zerstreut. Oder sonst was.

Für eine Sekunde fragte ich mich, ob er getrunken hatte. Angeblich war Erik inzwischen weg vom Alkohol, aber das Gerücht, dass er deswegen seine Stelle beim Wall Street Journal verloren hatte, hielt sich hartnäckig. Es fiel einem schwer, sich den pingeligen Erik mit seiner aufrechten, steifen Körperhaltung, dem militärisch-zackigen Gang und dem raspelkurzen Haarschnitt sturzbetrunken vorzustellen. Seine Frau Nancy unterrichtete an der Ridgedale University Psychologie, doch es musste eine andere Erklärung für seinen Wechsel zum Reader geben als die, dass er es sattgehabt hatte, ständig zwischen New York City – wo sie lebten, als er beim Journal beschäftigt gewesen war – und Ridgedale zu pendeln. Ein Journalist seines Kalibers landete nicht einfach so bei einer Lokalzeitung, Chefredakteur hin oder her.

Nicht, dass ich mir ein Urteil erlauben dürfte. Ich hatte meinen Job beim Reader Nancy zu verdanken, die im Vorstand vom Fakultäts-Willkommenskomitee saß. Keine Ahnung, wie sehr Nancy Erik unter Druck gesetzt hat, mich zu engagieren, oder wie verzweifelt Justin meine Lage dargestellt hatte – die überaus freundliche, fast therapeutische Art und Weise, mit der Nancy mich behandelte, war in der Tat verdächtig. Dabei war ich mir ziemlich sicher, dass ich mit meinem Abschluss in Rechtswissenschaften und einem Jahrzehnt Erfahrung als Juristin bei NAPW, den National Advocates for Pregnant Women, einer Interessenvertretung für die Rechte von Müttern und schwangeren Frauen, nicht gerade als qualifizierteste Kandidatin für den Posten beim Ridgedale Reader galt.

Doch Justin – dank der Ridgedale University jetzt ordentlicher Professor der Anglistik – hatte gut daran getan, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um mir einen Neuanfang zu ermöglichen. Für den Ridgedale Reader zu schreiben, hatte meinem Leben einen unerwarteten Sinn gegeben. Ich hatte erst vor Kurzem, nach vielen aufwühlenden Therapiesitzungen, akzeptieren können, dass die Trauer, die seit dem Tod unseres Babys unkontrolliert aus mir herausfloss, so lange weiterströmen würde, bis ich den Hahn gewaltsam abdrehte.

»Nein, nein, das ist schon okay, Erik«, flüsterte ich und versuchte, mich möglichst geräuschlos aus dem Bett zu rollen, um Justin nicht aufzuwecken. »Bitte bleib kurz dran …«

Ich hatte gerade festgestellt, dass auch Ella in unserem Bett lag, ihren kleinen Körper an meinen gedrückt, als wäre sie eine Seepocke. Jetzt erinnerte ich mich vage: Ella, die neben meiner Bettseite stand … Wahrscheinlich hatte sie einen bösen Traum gehabt. Immer wieder wurde sie von Albträumen heimgesucht und stieß schrille Schreie aus, obwohl sie dabei tief und fest schlief. Als Kind hatte ich dasselbe getan, und ich war bis zu Ellas Geburt der Überzeugung gewesen, dass dies auf das Zusammenleben mit meiner Mutter zurückzuführen war. Der Kinderarzt jedoch ging davon aus, dass die Angstzustände genetischer Natur waren. Ich konnte bei Ella besser damit umgehen als meine Mutter bei mir, die Kopfhörer aufgesetzt, ihre Tür abgeschlossen oder mich wütend angeschrien hatte. Und so verbrachte Ella die Nächte mittlerweile regelmäßig in unserem Bett, zwischen Justin und mir – eine Gewohnheit, der Justin sanft, aber entschieden ein Ende zu bereiten versuchte.

»Entschuldige, Erik, bitte sprich weiter«, bat ich, als es mir gelungen war, mich von Ella zu lösen und in den Flur zu schleichen.

»Ich hatte gehofft, du könntest mir helfen«, fing er an. Sein Ton war noch schroffer als sonst. Nancy war so warmherzig im Vergleich mit ihm. Ich fragte mich oft, wie aus ihnen ein Paar hatte werden können. »Ich musste die Stadt wegen eines familiären Notfalls verlassen, Elizabeth hat einen Auftrag in Trenton, und Richard ist im Krankenhaus, das bedeutet …«

»Geht es ihm gut?« Nahezu reflexhaft stiegen Schuldgefühle in mir auf. Ich hatte Richard zwar nicht gerade die Pest an den Hals gewünscht, aber in einigen finsteren Momenten war ich nahe dran gewesen.

Elizabeth und Richard, beide Ende zwanzig, waren für die aktuellen Nachrichten zuständig, auch wenn sie nicht versuchten, mit den landesweiten Tageszeitungen zu konkurrieren oder mit den Online-News, die rund um die Uhr aktualisiert wurden. Stattdessen rühmte sich der Ridgedale Reader für seine ausführliche Berichterstattung mit jeder Menge Lokalkolorit. Gelegentlich bekam ich Aufträge von Erik, bei denen es darum ging, über den neuen Intendanten des renommierten Theaters der Universität, des Stanton Theatre, zu berichten oder über den viel gepriesenen Ridgedale-Buchstabierwettbewerb. Aber größtenteils suchte ich mir meine Storys selbst. So hatte ich zum Beispiel vor Kurzem einen Artikel über Community Outreach Tutoring verfasst, ein vielversprechendes Förderprogramm für Highschool-Abbrecherinnen und -Abbrecher, für das sich Ellas Kindergärtnerin Rhea starkmachte. Die Jugendlichen konnten sich dort auf den General Educational Development Test – kurz GED – vorbereiten, der ihnen den Zugang zu einem College oder einer Universität ermöglichte, obwohl sie keinen Highschool-Abschluss hatten.

Elizabeth war zumindest höflich zu mir gewesen, doch Richard hatte mehr als deutlich gemacht, dass er mich als überlastete Mutter betrachtete, die zu Unrecht mit an Bord war. Dass seine Einschätzung im Grunde korrekt war, machte es nicht besser.

»Wem soll es gut gehen?«, fragte Erik verwirrt.

»Sagtest du nicht gerade, Richard sei im Krankenhaus?«

»O ja, ihm geht es bestens«, erwiderte er in spöttischem Ton. »Gallenblasen-OP. Allerdings sollte man meinen, er wäre am offenen Herzen operiert worden, so wie er gejammert hat. Aber ich denke, er dürfte in zwei Tagen wieder fit sein. Allerdings nutzt mir das nichts, denn ich habe gerade einen Anruf bekommen. Jemand hat einen Leichenfund in der Nähe der Essex Bridge gemeldet.«

»Eine Leiche?«, quietschte ich und hasste mich selbst dafür. »Man hat einen Toten gefunden?«

»Das Geschlecht ist noch unbekannt, aber tot – ja. Das ist wohl Voraussetzung für die Meldung eines Leichenfunds.« Erik klang skeptisch, ob er wirklich die richtige Person für diese Geschichte am Telefon hatte, aber skeptisch war er ja von Anfang an gewesen, versuchte ich mir einzureden. »Ich brauche jemanden, der hinfährt und sich mal umsieht. Ich würde mich ja selbst auf den Weg machen, aber wie ich schon sagte: familiärer Notfall, ich bin gar nicht in der Stadt. Keine Ahnung, wann ich zurückkomme.«

»Ist es sehr schlimm?«

Warum stellte ich ihm eine so persönliche Frage? Erik hasste es, persönlich zu werden. Als wir im August in Ridgedale eingetroffen waren, war ich überzeugt gewesen, dass Erik und Nancy unsere ersten Freunde werden würden. Justin und ich hatten uns lange Zeit nicht mehr unter Leute gemischt, dabei war genau das dringend nötig. Justin und Nancy kannten sich bereits von der Universität, und ich fühlte mich sofort von Nancys warmherziger Art angezogen, auch wenn ich vermutete, dass sie mich insgeheim als potenzielle Patientin ansah. Und ja, Erik war ein bisschen schwierig, aber er war auch unglaublich clever und wirklich ein interessanter Mann.

Gleichwohl hatten Erik und Nancy all unsere Avancen abgelehnt: Einladungen zum Brunch, zum Grillen, Konzertkarten. Mir machte das nichts aus, denn dafür hätte ich meine Komfortzone verlassen müssen, und ich wusste nicht, ob ich schon bereit dafür war. Vielleicht lag es an Eriks bewegter Vergangenheit oder an Nancys Fruchtbarkeitsproblemen, über die sie mit beneidenswerter emotionaler Offenheit sprach, dass die beiden auf Distanz blieben. Vielleicht mochten sie uns auch einfach nicht. Wie auch immer – es war, als wären Nancy und Erik von einem feinen Stacheldraht umgeben, der nur bei genauerem Hinsehen sichtbar wurde. Und meine Haut war viel zu dünn, als dass ich es hätte riskieren dürfen, mich ihnen zu nähern.

»Nein, das wird schon«, teilte mir Erik mit, wie üblich kurz angebunden. »So, die Leichenstory gehört jetzt dir. Vorausgesetzt, du bist dabei.«

»Na klar, ich fahre sofort los«, erwiderte ich, erleichtert, dass meine Worte so ruhig und professionell klangen.

Dabei war ich jetzt schon nervös. Zu jedermanns Überraschung, mich eingeschlossen, hatte ich bislang einen ziemlich guten Job beim Ridgedale Reader gemacht. Sogar Erik, einst preisgekrönter Auslandskorrespondent, schien beeindruckt zu sein. Doch mein Metier war die Kultur- und Boulevardsparte – über einen Leichenfund hatte ich noch nie berichtet. Nicht, dass so etwas in Ridgedale häufiger vorkam. Seit wir hier wohnten, noch nicht ein einziges Mal.

»Gut«, sagte Erik. In seiner Stimme schwang nach wie vor ein Zögern mit. »Warst du, ähm, warst du schon mal an einem Tatort? Weißt du, wie es dort läuft?« Mir war klar, dass er höflich sein wollte. Er wusste, dass die Antwort nein lautete.

»Ein Tatort?«, parierte ich. »Das setzt voraus, dass es sich um Mord handelt. Wissen wir da schon Genaues?«

»Gute Frage. Ich glaube nicht«, antwortete Erik. »Unsere Quelle beim Department war sehr zurückhaltend. Ein Grund mehr, äußerst behutsam vorzugehen. Auch wenn die örtliche Polizei anderer Ansicht zu sein scheint, hat sie keinerlei Anrecht auf eine Sonderbehandlung durch die Presse, aber sie ist jetzt schon auf ein Kräftemessen mit der Universität eingestellt.«

»Der Universität?«

»Das bewaldete Gelände in der Nähe der Essex Bridge gehört zwar nicht mehr zum Campus, aber es befindet sich im Besitz der Ridgedale University«, erklärte Erik. »Soweit ich weiß, hat ein Officer der Campus-Polizei den Leichenfund gemeldet. Doch wie du dir sicher denken kannst, will die Universität den Vorfall nicht an die große Glocke hängen. Außerdem besteht noch immer die Möglichkeit, dass es sich um einen falschen Alarm handelt.«

Die Schlafzimmertür quietschte, als Justin zu mir in den Gang trat und mich mit seinen haselnussbraunen Augen verschlafen anblinzelte. Seine braunen Haare standen zerzaust in alle Richtungen ab, wie die eines kleinen Jungen. Wer ist dran?, formte er mit den Lippen und deutete auf das Handy, eine Augenbraue in die Höhe gezogen, die Arme vor dem T-Shirt mit dem Logo der Ridgedale University verschränkt. Justin hatte den drahtigen Körper eines Triathleten. Ich hob einen Finger und bedeutete ihm, sich zu gedulden.

»Okay, ich werde vorsichtig sein.« Ich klang so unaufgeregt, dass ich mich beinahe selbst überzeugt hätte. »Sobald ich vor Ort bin, schicke ich dir ein Update. Ich nehme an, du brauchst einen kurzen Abriss, den du online stellen kannst, und einen Artikel in voller Länge für die morgige Printausgabe.«

»Ja, das klingt gut«, erwiderte Erik gedehnt. Er tat sein Bestes, um mir mein Selbstbewusstsein abzukaufen, aber ich spürte dennoch seine Skepsis. »Also dann, viel Glück. Ruf an, wenn du etwas brauchst.«

 

»Erik?«, fragte Justin, nachdem ich aufgelegt hatte, und strich sich mit der Hand über den Bart, den ich mittlerweile trotz anfänglichen Widerstands attraktiv fand. Er verdeckte viel von Justins markanten Zügen, trotzdem sah er damit irgendwie noch besser aus. »Was wollte er mitten in der Nacht von dir?«

Ich blickte auf mein Handy. Es war kurz nach sechs. »Es ist nicht mehr mitten in der Nacht«, sagte ich, als wäre das in irgendeiner Form relevant. Meine Stimme klang seltsam benommen.

»He, was ist los?« Justin stieß sich vom Türrahmen ab, an dem er gelehnt hatte, und legte mir besorgt eine Hand auf den Arm. Weil ich nicht mehr benommen sein darf, nicht mal für eine Sekunde. Nie mehr. Das passiert, wenn man einmal im Tiefen ins Strudeln geraten ist: Die Leute drehen schon durch, wenn man es wagt, auch nur den Zeh ins flache Wasser zu tauchen.

»Nichts ist los. Erik möchte nur, dass ich wegen einer Story zur Essex Bridge rausfahre«, antwortete ich. »Sie haben eine … Jemand hat einen Leichenfund gemeldet.«

»Ach du lieber Himmel, eine Leiche? Wirklich? Das ist ja schrecklich! Weiß man schon, was genau passiert ist?«

»Das soll ich ja herausfinden. Anscheinend bin ich beim Ridgedale Reader vorübergehend die Ersatzreporterin für das News-Ressort.«

»Du? Wieso das denn?« Justin schien zu merken, dass er ins Fettnäpfchen getreten war, denn er fügte eilig hinzu: »Ich meine natürlich großartig, das ist wirklich großartig, Molly! Es kommt mir nur so seltsam vor, das zu sagen, wenn jemand tot ist.«

Die Schlafzimmertür hinter uns öffnete sich noch weiter, und Ella kam in ihrem rot-weiß gestreiften Pyjama herausgetappt. Auch ihre Löckchen standen in alle Richtungen ab. Sie blinzelte, genau wie Justin, mit genau den gleichen haselnussbraunen Augen. Abgesehen von ihren Haaren, die eine schokofarbene Kopie meiner eigenen rötlichen Locken waren, sah Ella aus wie eine Miniaturausgabe ihres Vaters. Angefangen bei den übergroßen Augen über die vollen, roten Lippen bis hin zu der Art und Weise, wie sie mit dem ganzen Gesicht lächelte, war Ella der lebende Beweis für die Macht der Genetik.

»Entschuldige, Liebes, ich wollte dich nicht wecken.« Ich bückte mich und hob unsere Tochter, die mittlerweile schon ziemlich schwer war, auf meine Hüfte. »Ich bringe dich zurück ins Bett.«

»Ich will nicht mehr ins Bett.« Ella vergrub schmollend das Gesicht an meinem Hals. »Ich möchte mich vorbereiten.«

»Vorbereiten?« Ich lachte und strich ihr mit der Hand über den Rücken, während ich sie durch den Flur zu ihrem Zimmer trug. »Worauf vorbereiten, Peanut?«

»Auf die Aufführung, Mommy.«

Mist, die Aufführung. Der Kindergarten brachte Die kleine Raupe Nimmersatt auf die Bühne, und Ella spielte das Grüne Blättchen. Um elf Uhr sollte es losgehen. Es war nicht abzusehen, ob ich bis dahin zurück sein würde.

»Du bist garantiert zu müde für die Aufführung, wenn du jetzt aufbleibst, meine Süße. Es ist noch viel zu früh!«, sagte ich und schob mit dem Fuß die Tür zu ihrem Zimmer auf. »Du musst noch ein bisschen schlafen, sonst vergisst du nachher noch deinen Text.«

Ellas Augen waren bereits halb geschlossen, als ich sie unter die rosa-weiß karierte Bettdecke steckte, eingerahmt von einer farbenfrohen Plüschmenagerie. Meiner Tochter in diesem Bett vorzulesen, gab mir stets das Gefühl, das kleine Mädchen zu sein, das ich nie gewesen war. An guten Tagen gelang es mir sogar fast, mir einzureden, ich wäre die Mutter, die zu sein ich immer gehofft hatte.

»Mommy?« Ella kuschelte sich an ihren riesigen roten Frosch.

»Was denn, Liebes?« Ich lächelte angestrengt, versuchte, nicht daran zu denken, wie traurig sie sein würde, wenn ich nicht im Publikum saß.

»Ich hab dich lieb, Mommy.«

»Ich hab dich auch lieb, Peanut.«

Jetzt, da ich endlich wieder da war, zwar nicht perfekt wiederhergestellt – was wohl noch für längere Zeit nicht der Fall sein würde –, doch schon recht stabil, tat ich alles in meiner Macht Stehende, um sie nicht zu enttäuschen. Ich wollte mich gerade dafür entschuldigen, dass ich ihren Auftritt versäumte, und ihr zum Trost irgendetwas Schönes versprechen, da war es schon zu spät: Ella schlief tief und fest.

 

Als ich ins Schlafzimmer zurückkam, lag Justin im Bett. Ich wusste genau, dass er nicht schlief, obwohl er sich alle Mühe gab, so zu tun.

»Ellas Kindergartenaufführung findet heute um elf statt. Sie wird nicht lange dauern, fünfzehn Minuten vielleicht. Würdest du sie für mich auf Video aufnehmen?« Ich ging zu meiner Kommode. Hübsch, aber praktisch, so sollte ich gekleidet sein. Ich musste einen professionellen Eindruck machen und gleichzeitig vermitteln, dass ich nicht davor zurückschreckte, durchs Gelände zu stapfen. Ja, das war es: Ich musste unerschrocken wirken. »Ich hatte keine Gelegenheit, sie darauf vorzubereiten, dass ich es wohl nicht rechtzeitig schaffe. Glaubst du, ich soll sie wecken und es ihr sagen? Ich hasse es, sie derart zu überrumpeln.«

Ich spürte Justins Blick auf mir, als ich durchs Zimmer ging und meine Garderobe zusammenstellte. Ich zog meinen schönsten Pulli an – den blassblauen Kaschmirpullover, den Justins Mutter mir gekauft hatte und der so gut zu meinen Augen passte –, anschließend schlüpfte ich in meine beste Nicht-Mom-Jeans.

»Ich muss um zehn unterrichten, Babe«, sagte Justin. Ich drehte mich um und sah, dass er sich auf einen Ellbogen gestützt hatte. »Ich kann Ella zum Kindergarten bringen, aber ich kann nicht zur Aufführung bleiben. Tut mir leid, Molly, aber du weißt, dass der Uni-Präsident seit einiger Zeit Professoren, die ihre Seminare ausfallen lassen, auf dem Kieker hat – und ich habe den Eindruck, er befindet sich auf einem persönlichen Kreuzzug.«

»Einer von uns muss hingehen, Justin«, sagte ich mit übermäßigem Nachdruck. Mir war klar, dass er nicht einfach so ein Seminar sausen lassen konnte, vor allem dann nicht, wenn kein wirklicher Notfall vorlag. Ganz gleich, wie wichtig Ella die Aufführung war – als »Notfall« ging es nicht durch. »Ich muss so lange bei der Brücke bleiben, bis ich habe, was ich für die Story brauche. Das kann den ganzen Tag dauern.«

»Das verstehe ich«, sagte Justin. »Du fährst da hin und berichtest über die Sache. Das könnte eine echte Chance für dich sein, Molly, und du solltest sie beim Schopf packen. Kümmere dich um diese Story, denn sie ist tatsächlich noch wichtiger als Die kleine Raupe Nimmersatt.«

Er hatte recht. Dennoch wollte ich meine Tochter nicht im Stich lassen. »Und was ist mit Ella?« Panik stieg in mir auf. Panik, gegen die ich nicht ankam. Du lässt sie schon wieder im Stich. Du lässt sie schon wieder im Stich, ging es mir wie in einer Endlosschleife durch den Kopf.

»Komm schon, sie wird es überleben.« Justin lachte, aber nicht unfreundlich. »Nichts für ungut, aber es ist schließlich nicht ihr Broadway-Debüt. Außerdem: Wie viele Aufführungen hast du dir dieses Jahr schon angesehen? Zehn?«

Ich zuckte die Achseln. »Ich habe nicht mitgezählt.«

Justin setzte sich auf und schwang die Füße aus dem Bett. »Du weißt genauso gut wie ich, dass wir Ella keinen Gefallen tun, wenn wir ihr den Eindruck vermitteln, dass Liebe bedeutet, niemals enttäuscht zu werden.«

»Ich denke, sie wurde schon sehr oft enttäuscht, findest du nicht?«

»Ach, Molly.« Justin erhob sich und zog mich in eine Umarmung. Ich schmiegte mich an ihn und schlang die Arme um seinen starken Oberkörper. Er roch nach der Mentholsalbe, mit der er allabendlich seine angerissene Achillessehne massierte, während er über die Demütigungen des Alterns lamentierte. »Du bist eine gute Mutter«, flüsterte er mir ins Ohr. »Das musst du aber nicht ständig beweisen.«

Justin – mit seiner idyllischen Kindheit und Eltern, die ihn mit einer wahren Affenliebe überschüttet hatten – hatte kein Problem damit, in einer Welt voller Werteklischees und kalkulierten Risiken zu leben. Ebendas hatte mich zu ihm hingezogen. Im Gegensatz zu ihm, der seine Vaterrolle mit der ihm angeborenen Selbstverständlichkeit übernahm, fiel es mir schwer, die Mutterrolle so auszufüllen, wie ich es von mir erwartete, da ich selbst nie wirklich eine Mutter gehabt hatte. Sogar vor meiner Depression hatte ich mich daher stets auf eine einzige, todsichere Erziehungsstrategie verlassen: Ich wollte versuchen, perfekt zu sein.

»Na schön«, sagte ich jetzt, denn Justin hatte recht. Vom Verstand her wusste ich das, doch ich fühlte es nicht. »Aber du erklärst es Ella, wenn sie aufwacht, okay? Warum ich nicht kommen kann? Du bereitest sie darauf vor, dass keiner von uns beiden da sein wird?«

»Das mache ich, versprochen.« Justin gab mir einen Kuss. »Und jetzt geh und zeig diesen Schreiberlingen, was in dir steckt.«

 

Es war noch nicht richtig hell, die Welt in ein verwaschenes Grau getaucht, als ich durchs Stadtzentrum von Ridgedale fuhr. Die trendigen Boutiquen und teuren Coffeeshops in der gepflegten grünen Innenstadt waren alle noch geschlossen, die Gehsteige leer, bis auf einen alten Mann, der einen großen, gefleckten Hund Gassi führte, und zwei Frauen in reflektierenden Joggingoutfits und Sneakers. Als zu meiner Rechten hinter einem hohen schmiedeeisernen Zaun der Campus auftauchte, leuchtete der Himmel am Horizont orangerot.

Im ersten Licht des Tages sah alles so wunderschön aus. Kaum zu glauben, wie sehr ich mich gegen den Umzug hierher gesträubt hatte, als Justin – der sich auf die englische Literatur des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts spezialisiert hatte – die Professur an der Ridgedale University zum ersten Mal erwähnte. Wäre da nicht die Universität gewesen, hätten wir niemals in Erwägung gezogen, nach Ridgedale zu gehen, ein beschauliches Städtchen, fünfundzwanzig Meilen nördlich und ein kleines Stück westlich von New York City gelegen. Ich hatte befürchtet, ich würde mich ohne die Millionenmetropole noch einsamer und verlassener fühlen, dabei war Ridgedale alles andere als ein abgelegenes Hinterwäldlerdorf. Es gab dort ein mit einem Michelin-Stern ausgezeichnetes Biorestaurant und ein gutes Dutzend Lokale mit internationalen Speisen, ganz zu schweigen vom Stanton Theatre, einer Bühne mit Spitzenniveau, einem exzellenten Uni-Krankenhaus sowie zwei unabhängigen Buchhandlungen. Die Einwohner von Ridgedale waren eine bunte Mischung aus Studierenden und Fakultätsmitgliedern aus aller Welt.

Man hatte mir erzählt, dass es hier nicht immer so kultiviert zugegangen war. Erst die leitenden Angestellten des BioPharma-Unternehmens Bristol-Myers, die drei Jahre zuvor aus Downtown Manhattan in die unmittelbare Umgebung von Ridgedale versetzt worden waren, hatten den Anteil der wohlhabenden Liberalen in der Bevölkerung deutlich erhöht. Einige alteingesessene Bewohner – im Allgemeinen weniger wohlhabend und weit konservativer – ärgerten sich immer noch über die zunehmende Verbreitung von Soja-Lattes und Pilates-Studios. Sie sehnten sich nach den guten alten Zeiten zurück, als die Studierenden einzig und allein im Campus-Laden oder in Ramseys Apotheke einkaufen konnten und die Restaurants in Ridgedale nur Pizza und Chicken Wings anboten oder Pfannkuchen bei Pat’s.

Es war ein Konflikt, der oftmals über gepfefferte Kommentare in der Leserbriefsparte der Onlineausgabe ausgetragen wurde. Diese verbalen Schlagabtausche im Ridgedale Reader hatten meist wenig mit dem darüberstehenden Artikel zu tun, nichtsdestotrotz mutierten sie beinahe routinemäßig zu persönlichen Angriffen auf den jeweiligen Reporter oder die jeweilige Reporterin. Zumindest laut Elizabeth, die mir dringend ans Herz gelegt hatte, niemals die Kommentare zu meinen Onlineartikeln zu lesen, auch nicht die, die harmlos wirkten. Es war der einzige Rat, den sie mir je gegeben hatte, und ich befolgte ihn eisern. Ich war vielleicht bereit, mich als Journalistin zu versuchen, aber ich war nicht stabil genug, mich deswegen angreifen zu lassen.

 

Ich machte eine Links-, dann eine Rechtskurve, fuhr vorbei an all den majestätischen, efeubewachsenen Gebäuden der Ridgedale University zum westlichen Ende des Campus. Von hier aus war es nicht weit bis zur Essex Bridge, dennoch staunte ich darüber, wie weit sich das Universitätsgelände ausdehnte.

Als ich um die letzte Kurve bog, hatte sich der Himmel über mir in ein blasses Blau verwandelt, die Sonne versteckte sich hinter den Hügeln in der Ferne. Die Streifenwagen vor mir waren nicht zu übersehen. Drei standen halb auf der Straße, ein vierter parkte vor den Bäumen.

Erik hatte mich gewarnt, dass sich das Ganze womöglich als falscher Alarm entpuppte, und genau darauf hatte ich mich vorbereitet, doch da war ich nun, bei der Brücke, und die Polizei war ebenfalls vor Ort. Unter der Essex Bridge floss der Cedar Creek hindurch, und irgendwo am Ufer musste sich die Leiche befinden.

Niemand war zu sehen, als ich aus dem Wagen stieg, nur die roten und blauen Lichter der Lichtbalken zuckten durch die blätterlosen Äste. Alles war still, das einzige Geräusch waren meine Schritte auf dem Asphalt. Erst auf der Höhe des vordersten Streifenwagens hörte ich Stimmen, die aus dem Wald am Flussufer schallten. Ich blieb stehen und stellte fest, dass ich die Hände zu Fäusten geballt hatte.

»Geh behutsam vor«, hörte ich Erik am Telefon sagen, und genau das wollte ich tun. Trotzdem hatte ich mir die Sache irgendwie leichter vorgestellt, als ich noch im Auto saß.

Hallo, ich bin Molly Sanderson vom Ridgedale Reader. Hat vielleicht jemand eine Minute, um mir einige Fragen zu beantworten?

Nein, zu zögerlich. Nicht anmaßend zu sein, war sicher klug, doch das bedeutete nicht, dass ich meine Fragen so stellte, als ginge ich davon aus, ohnehin keine Antwort darauf zu bekommen. Nein, das wäre gar nicht gut. Ich musste keine erfahrene Reporterin sein, um das zu wissen.

Hallo, ich bin Molly Sanderson vom Ridgedale Reader. Ich würde gern einige Fakten überprüfen.

Viel besser. Etwas drängend, aber nicht allzu sehr. Außerdem stimmte es: Ich wollte, dass man mir den Leichenfund bestätigte. Fakten, Plural, war ein bisschen übertrieben, denn mehr hatte ich ja noch nicht in der Hand. Als gelernte Anwältin wusste ich jedoch, dass das Vortäuschen von Stärke nicht selten zum Erfolg führte.

Ich folgte einem Schotterweg zwischen den Bäumen hindurch und ging einige Schritte in Richtung der steilen Böschung, dann blieb ich stehen und blickte aufs Wasser. Jetzt war mir klar, was die besorgten Meteorologen gemeint hatten, als sie davor warnten, dass auf den letzten, in diesem Winter noch sehr spät gefallenen Schnee ein früher Märzregen folgen würde. Akute Hochwassergefahr war nicht unbedingt etwas, was man in New York City auf dem Schirm hatte, denn diese beschränkte sich dort für gewöhnlich auf große, schmutzige Pfützen. Als ich jetzt das normalerweise kleine Flüsschen betrachtete, das heute eher einem reißenden Strom glich, der unter mir dahinschäumte und ganze Äste mit sich riss, erkannte ich das zerstörerische Potenzial des Wassers. Das diesseitige Ufer war fast nicht mehr vorhanden, und auch ein großer Teil der Böschung war bereits verschwunden, abgestürzt wie die zerklüftete Kante einer Klippe.

Auf der anderen Seite stand ein halbes Dutzend uniformierte Polizisten in der Nähe des Ufers. Mehrere Kollegen durchkämmten den dahinterliegenden Wald, vermutlich auf der Suche nach Spuren, Hinweisen oder Beweismitteln, allerdings schienen sie nicht sonderlich methodisch vorzugehen. Sie liefen im Zickzack vor und zurück, wirbelten Blätter auf und stocherten mit Stöcken im Boden, als wollten sie nur den Anschein erwecken, etwas Nützliches zu tun.

Etwas Blaues lag am Ufer, das mit gelbem Polizeiband abgesperrt war: eine Plastikplane. Mir stockte der Atem – all die nervöse Energie, die sich in mir aufgestaut hatte, verpuffte mit einem Schlag. Denn da lag sie, zwischen den nassen, vermodernden Blättern, zwischen all den kahlen, blattlosen Bäumen: die Leiche. Der tote Körper eines Menschen.

»Wenn Sie mich fragen, gehört dem Bastard, der das getan hat, das Licht ausgeknipst«, hörte ich jemanden hinter mir sagen. »Dabei bin ich eigentlich kein Befürworter der Todesstrafe.«

Ich drehte mich um und sah mich einem jungen Mann in einer schmal geschnittenen hellgelben Fleecejacke und schwarzen Bikershorts gegenüber. An seiner Brust war ein Funkgerät befestigt, auf seiner Schulter prangte das Emblem der Campus-Polizei. Er strich sich mit einer behandschuhten Hand die dichten blonden Haare zurück und legte sie dann in den Nacken. Eigentlich hätte er gut aussehen müssen, hatte er doch alles, was es dafür brauchte: ein nettes Gesicht, einen muskulösen Körper. Trotzdem fand ich ihn nicht im Mindesten attraktiv, denn er kam mir vor wie ein überdimensionales Kind – als wäre er größer geworden, ohne zu reifen.

»Was ist passiert?«, fragte ich ihn und überlegte, ob ich ihm verschweigen sollte, wer ich war, was vermutlich gegen jegliche Reportermoral verstieß. Andererseits war das hier kein Interview – er war derjenige gewesen, der das Gespräch begonnen hatte.

Er musterte mich von oben bis unten. Seine Augen blieben an meinen teuren, brandneuen Wanderschuhen hängen. Ein Geschenk von Justin, das mich für unser neues »Landleben« begeistern sollte. Sie zeichneten ein falsches, naturverbundenes Bild von mir, was sich in diesem Kontext jedoch als nützlich erweisen konnte.

Endlich sah er wieder auf und mir in die Augen, dann fragte er leicht misstrauisch: »Wer sind Sie?«

»Molly Sanderson.« Ich streckte ihm die Hand entgegen. Er zögerte, bevor er sie nahm und schüttelte. »Und Sie sind …?«

»Deckler«, antwortete er kurz angebunden. »Sie sind nicht von der Ridgedale Police. Ich habe Sie noch nie gesehen.«

»Ich schreibe«, sagte ich. Das klang neutraler als »Ich bin Reporterin«. Als er meine Hand losließ, fügte ich hinzu: »Jemand vom Department hat uns kontaktiert.«

Mist, warum hatte ich das gesagt? Eriks Kontakt war sicher nicht öffentlich bekannt. Es gab vermutlich nur eine Sache, die wichtiger war, als äußerst behutsam vorzugehen: keine kritischen vertraulichen Quellen meines Bosses preiszugeben.

»Jemand vom Department hat Sie kontaktiert? Sie herbestellt?«

»Uns. Ich bin nicht über irgendwelche Details informiert«, stellte ich klar, in der Hoffnung, er würde nicht weiter darauf eingehen. »Sie haben die Leiche entdeckt?«

Deckler hob abwehrend die Hand. »Kein Kommentar«, sagte er. »Wenn Sie eine offizielle Auskunft wünschen, müssen Sie sich an Steve wenden.«

»Und wo ist Steve?«

»Da unten.« Deckler nickte in Richtung Cedar Creek. Mitten im Fluss stand ein sehr großer Mann mit akkurat gebügeltem Hemd und Anglerhose. Er hatte die muskulösen Arme verschränkt und reckte das markante Kinn flussaufwärts, als wollte er per Willenskraft erzwingen, dass das reißende Wasser einen Verdächtigen in seine Richtung spülte. »Jetzt ist er zuständig.«

»Aha?«

»Er ist der Polizeichef von Ridgedale«, erklärte Deckler. Seine Stimme nahm einen leicht scharfen Ton an, als würde er nicht viel von ihm halten. »Die Campus-Polizei ist lediglich zur Unterstützung vor Ort.«

»Das heißt, die örtliche Polizei ist einfach hergekommen und hat übernommen?« Das war es, was seine Worte nahelegten, und es war nicht abzusehen, was herauskommen würde, wenn ich ein bisschen weiterbohrte.

Er spannte den Kiefer an. »Nur bei so was kommen sie.« Er schnaubte abfällig. »Die meisten Vergehen, die auf dem Campus begangen werden, bleiben auf dem Campus. Es gibt ein umfängliches Disziplinarverfahren mit Anhörungen, Beweisführung und so weiter. Wir regeln das selbst, vertraulich. Sie wissen schon: um die Studentinnen und Studenten zu schützen.«

»Um die Studentinnen und Studenten zu schützen, richtig«, sagte ich, darum bemüht, nicht spitz zu klingen. Denn das, was mir dazu einfiel, war: oder um die Täterinnen und Täter zu schützen. »In einem Fall wie diesem aber nicht?«

Er schüttelte den Kopf und blickte wieder aufs Wasser. »Nein, ich denke nicht.«

»Wofür genau ist der Polizeichef von Ridgedale denn jetzt zuständig?«, wollte ich wissen.

Deckler schüttelte abermals den Kopf und schnaubte erneut, fast so, als würde ihn meine Frage beleidigen. »Wie ich schon sagte: Wenn Sie Details erfahren möchten, müssen Sie sich an Steve wenden.«

»Okay.«

Ich lächelte freundlich und machte einen Schritt in Richtung Creek, während ich mir bereits ausmalte, wie ich an der bröckelnden Böschung stand und wie eine Verrückte winkte, um Steves Aufmerksamkeit zu erlangen. Selbst aus dieser Entfernung sah er nicht gerade so aus, als würde er sich darüber freuen.

»Moment mal!«, blaffte Deckler, kaum dass ich ein paar Schritte zurückgelegt hatte. »Sie können nicht einfach da runtergehen. Sie müssen ihn rufen, damit er zu Ihnen kommt.«

»O nein, das …«

Bevor ich meinen Einwand hervorbringen konnte, steckte Deckler zwei Finger in den Mund und stieß einen durchdringenden Pfiff aus, direkt neben meinem Ohr, als würde er nach einem Hund pfeifen. Steve sah gar nicht glücklich aus, als er den Kopf in unsere Richtung drehte.

»Wirklich, ich kann warten«, versicherte ich Deckler kleinlaut, doch es war zu spät.

»Aber nicht hier bei mir. Das ist nicht möglich.«

 

Als Steve ans diesseitige Flussufer watete, wirkte er verärgert. Glauben Sie nicht, wir haben Wichtigeres zu tun, als mit Reportern zu reden?, hörte ich ihn bereits sagen, während ich dabei zusah, wie er aus dem Wasser stieg, seine Polizeimütze aufsetzte, die er am Ufer zurückgelassen hatte, und anfing, die Böschung hinaufzuklettern. Es dauerte ziemlich lange wegen der Anglerhose und den damit verbundenen Stiefeln, die an jedem anderen albern ausgesehen hätten, nicht jedoch an ihm. Seine Schritte waren langsam, kraftvoll und selbstsicher. Als wüsste er bereits, wie sich die Dinge entwickeln würden.

Oben angekommen, nickte Steve knapp in meine Richtung, bevor er sich an Deckler wandte. Von Nahem wirkten seine kantigen Züge nicht mehr seltsam, sondern vielmehr interessant. Ganz anders als Justins fein gemeißeltes Gesicht. Justin gehörte zu der Sorte Mann, die von Frauen unverhohlen angestarrt wurde, während sie aber bei einem Notfall auf Männer wie Steve zählten.

»Gibt es ein Problem, Officer Deckler?«

»Das ist Molly Sanderson.« Deckler klang, als freute er sich darüber, mich in die Pfanne zu hauen. »Ein Schreiberling. Jemand aus Ihrem Department hat sie herbestellt.«

»Ich bin vom Ridgedale Reader.« Ich streckte die Hand aus und lächelte, in der Hoffnung, wir könnten die Frage, wer mich informiert hat, unter den Tisch fallen lassen. »Ich möchte Ihnen nicht die Zeit stehlen, sondern nur ein paar Fakten bestätigt bekommen.« Ich deutete auf die Plane am gegenüberliegenden Ufer. »Sie haben eine Leiche gefunden?«

Steve nahm meine Hand und schüttelte sie bedächtig. Seine Augen bohrten sich in meine. »Vom Reader, aha. Sind Sie neu dort? Ich kenne Ihren Kollegen. Robert, richtig?«

»Richard«, korrigierte ich mit kindischer Befriedigung, nur weil er Richards Namen falsch in Erinnerung hatte.

»Jemand vom Department hat Sie angerufen?«

»Ich kenne die Details nicht. Mein Chef hat mir aufgetragen, hierherzukommen. Ich springe bloß für meinen Kollegen ein, mein eigentlicher Schwerpunkt ist Kultur.« Auf hilfloses kleines Mädchen zu machen, erschien mir eine genauso wirkungsvolle Strategie wie alles andere, vor allem, weil es der Wahrheit am nächsten kam. Augenblicklich entspannten sich Steves Gesichtszüge. »Ich bitte um Entschuldigung, dass ich hier einfach so aufschlage. Mir ist bewusst, dass Sie Ihren Job machen müssen. Wenn Sie mir ein klitzekleines bisschen dabei helfen könnten, meinen zu erledigen, bin ich sofort wieder weg.«

Steve sah mich an, so lange, dass es sich für mich anfühlte wie eine halbe Ewigkeit, aber ich wusste, dass ich den Blick nicht abwenden durfte. »Wenn Sie nun schon mal hier sind und noch dazu aus der Stadt kommen, kann ich Ihnen genauso gut Auskunft geben«, sagte er schließlich und verschränkte erneut die Arme vor der Brust. »Schießen Sie los.«

Es dauerte einen kurzen Moment, bis ich verstand, dass er auf eine Frage wartete. »Haben Sie das Opfer schon identifizieren können?«, stieß ich schließlich hervor, um Fassung bemüht, während mein Herz immer schneller schlug.

Ich konnte das. Ich hatte auf der ganzen Fahrt hierher geübt. Eine Reporterin zu sein, war gar nicht so anders als meine Arbeit als Anwältin.

»Nein«, sagte Steve und schüttelte den Kopf, dann schaute er auf den Fluss.

Okay, nicht gerade die wortreiche Antwort, auf die ich gehofft hatte. Aber das war nicht schlimm, ich hatte weitere Fragen auf Lager. »Haben Sie irgendeinen Hinweis auf die Identität der toten Person?«

»Nein.«

»Ist die Person männlich oder weiblich?«

»Weiblich.«

Endlich eine richtige Auskunft. Ein weibliches Opfer. Das war nicht viel, aber immerhin etwas. Ich hatte schon Sorge, Erik mit völlig leeren Händen begegnen zu müssen. »Geschätztes Alter?«

»Ich möchte nicht raten.« Steves Augen schweiften wieder zu mir, und ich stellte fest, dass sein Blick weicher geworden war. Beinahe traurig. »Da müssen wir die Einschätzung des Gerichtsmediziners abwarten.«

Deckler starrte zu uns herüber. Abschätzig. Du wirst dich doch nicht etwa von seinem Machogehabe beeinflussen lassen, oder?

»Noch zwei weitere Fragen«, sagte Steve, »dann müssen Sie den Fundort verlassen, damit wir unseren Job machen können.«

»Ist sie auf natürliche Weise ums Leben gekommen?«

»Unklar«, erwiderte er.

»Unklar?« Damit durfte ich ihn nicht davonkommen lassen. »Es gibt also keinerlei äußere Anzeichen für Fremdeinwirkung?«

»Nichts, was ich ohne offiziellen Bericht des Gerichtsmediziners kundtun würde.«

In diesem Augenblick erwachte das Funkgerät an Steves Hüfte zum Leben. »Sie brauchen einen kleineren Leichensack«, sagte eine knisternde Stimme. »Babygröße. Die für Erwachsene sind viel zu groß. Der Gerichtsmediziner will, dass wir einen besorgen.«

Steve zog eilig das Funkgerät aus der Halterung und hob es an die Lippen, den Blick erneut auf den stark angeschwollenen Fluss gerichtet. »Dann schick jemanden«, stieß er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und zwar umgehend.« Er schaltete das Funkgerät ab und befestigte es wieder an seinem Gürtel, ohne mich dabei anzusehen. Und ich war froh darüber, denn die Luft fühlte sich plötzlich dünn an.

Ich schlang die Arme um mich. Ein Baby? Ein totes Baby? Schlagartig wurde mir übel, so übel, dass ich fürchtete, ich müsste mich auf die riesigen Gummistiefel an der Anglerhose des Polizeichefs von Ridgedale übergeben.

Ich dachte an Ella. Wie warm und lebendig sie gewesen war, als man sie mir das erste Mal auf die Brust gelegt hatte. Wie überrascht ich gewesen war, dass mein Körper tatsächlich funktioniert und dieses rosarote, schreiende, sich windende Wesen hervorgebracht hatte. Und ich dachte an das nächste Mal, als mein Körper nicht so funktioniert hatte, wie er sollte. Als ich in der sechsunddreißigsten Woche zur Routineuntersuchung zu meiner Gynäkologin gegangen war und sie keinen Herzschlag hatte feststellen können. An das Trauma der Wehen und der Geburt, die darauf folgte. Daran, dass ich ein Baby zur Welt gebracht hatte, das, wie alle wussten, bereits tot war. Alle, außer mir. Ich allein hielt an der Hoffnung fest, dass meine zweite Tochter husten und nach Luft schnappen, sich ins Leben kämpfen würde, wenn sie sich erst einmal von mir befreit hatte.

Doch das tat sie nicht. Nach der Geburt war nichts zu hören gewesen außer dieser grauenhaften klinischen Stille, dem Klang von Metall auf Metall, dem Schnappen von abgestreiften Gummihandschuhen. Wie sie sich in meinen Armen anfühlte … Als hätte man ihr ihr Inneres genommen und durch nasse Papiertücher und Sand ersetzt.

Nein. Das durfte ich nicht tun. Ich durfte nicht daran denken, durfte nicht an sie denken. Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Ich war nicht im Kreißsaal. Das war fast zwei Jahre her. Im Augenblick stand ich an der Böschung des Cedar Creek und hatte einen Job zu erledigen. Das würde ich tun, und zwar so, als hinge mein Leben davon ab.

»Es ist ein Baby«, brachte ich angestrengt hervor. Eine Feststellung, keine Frage.

Steve starrte schweigend zum Fluss hinunter. Sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske. »Hören Sie«, sagte er mit aufrichtiger, unerwarteter Freundlichkeit. Als er mich ansah, war sein Gesicht so ernst, dass ich dachte, ich würde gleich in Tränen ausbrechen und mich an seine breite Brust werfen. »Ich weiß, dass Sie nur versuchen, Ihren Job zu machen.«

»Ich mache meinen Job«, erwiderte ich, als müsste ich mir dies selbst in Erinnerung rufen. »Das ist richtig.« Am liebsten jedoch wäre ich zu meinem Wagen zurückgekehrt und hätte so getan, als wäre all das hier nie passiert. Als hätte Erik mich nie angerufen, als hätte ich niemals die Stelle beim Ridgedale Reader angenommen. Als wären wir nie in diese Stadt gezogen. Ich wollte nach Hause zurückkehren, ins Bett kriechen und mir die Decke über den Kopf ziehen. Vielleicht hätte ich das auch getan, wäre mir nicht bewusst gewesen, dass ich diesmal nicht wieder aufstehen würde.

»Ich schlage Ihnen einen Deal vor«, sagte Steve. »Sie stellen eine allgemeine Schlagzeile online – Leiche gefunden, weitere Details folgen. Verdammt, es ist mir sogar egal, wenn Sie schreiben, dass der Fundort auf dem Universitätsgelände liegt.«

»Moment, ich denke, das ist keine gute …« Deckler verstummte, als Steve ihm einen Blick zuwarf.

»Sie sind aus reiner Gefälligkeit meinerseits hier, schon vergessen?«, fragte Steve.

Deckler presste die Lippen zusammen wie ein riesiges Kleinkind, das sich Mühe geben musste, keinen Wutanfall zu bekommen. Ich war überrascht, dass er nicht mit einem seiner großen Füße aufstampfte, die in schwarzen Sneakers steckten.

»Sie können sich immer noch auf die Story stürzen, und Sie bekommen ein Exklusivinterview, aber ich muss Sie bitten, dass Sie das letzte Detail vertraulich behandeln.« Als wäre es ein Detail, dass das Opfer ein Baby war, so wie die Augenfarbe oder die Haarlänge. »Es könnte die Ermittlungen kompromittieren, wenn Sie jetzt damit an die Öffentlichkeit gehen. Ich würde gern die Fühler ausstrecken, bevor alle Welt davon erfährt. Es wäre daher schön, wenn Sie sich wenigstens ein paar Stunden gedulden.«

»Okay«, hörte ich mich sagen.

Steve warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wie wär’s, wenn wir uns um zehn im Präsidium treffen?«

Ich wollte »Nicht nötig« erwidern, wollte nicht zu ihm ins Präsidium fahren, aber das Baby da draußen war nicht mein Baby. Meine kleine Tochter war sicher im Kindergarten. Ich musste mich zusammenreißen – für meine kleine Tochter. Musste nach vorn blicken. Es fühlte sich falsch an, diese Geschichte – ausgerechnet diese – nicht weiterzuverfolgen. Als würde ich, wenn ich es nicht tat, das Einzige loslassen, was meinen Kopf über Wasser hielt.

»Sicher«, stieß ich hervor. »Klingt gut. Bis später.«

Aber ich bereute bereits jedes einzelne Wort.

Sandy

Sandy lag auf dem kurzen, klobigen Zweisitzer im Wohnzimmer, die Augen geschlossen, und wünschte sich, sie könnte wieder einschlafen. Vor allem, als es an der Wohnungstür klopfte. Es war nicht das übliche »Hey, jemand da?«-Klopfen, sondern eher ein zorniges Bamm-bamm-bamm.

Sandy hatte gelernt, die verschiedenen Klopfarten zu unterscheiden. Die Arschlöcher, die auf Kohle aus waren, hämmerten gegen die Tür. Sie gingen nie, wenn sie wussten, dass man zu Hause war. Lieber drückten sie sich den ganzen Tag und die ganze Nacht im Gang herum und veranstalteten einen Höllenlärm. Das war ihre Absicht: dafür zu sorgen, dass die Nachbarn einen hassten. Als könnte jemand, der nie Geld hatte, plötzlich welches aus dem Hut zaubern.

»Mach auf, Jenna!«, schallte eine Männerstimme von draußen zu ihr.

Sandy drehte das Gesicht zur Tür, aber sie erhob sich nicht. Sie hatte keine Angst, dass der Kerl sich gewaltsam Zutritt verschaffen würde, obwohl er das mühelos hätte tun können, denn das Türblatt war nicht dicker als Pappe. Aber so weit gingen sie nie. Die Ridgedale Commons waren der billigste, beschissenste Ort in ganz Ridgedale, der einzige Wohnblock weit und breit. Zweigeschossig, rechteckig, riesig. Ätzend. Als sie vor acht Monaten eingezogen waren, war ihr die Wohnung bei Weitem nicht so schlimm vorgekommen wie jetzt, vor allem im Vergleich mit den Absteigen, in denen sie zuvor gehaust hatten. Inzwischen war sie anderer Meinung.

»Komm schon, Jenna!«, rief die Stimme wieder, diesmal aus noch größerer Nähe, als würde der Kerl sein verschwitztes Gesicht – sie hatten immer verschwitzte Gesichter – gegen die Tür drücken. »Ich weiß, dass du da bist.«

Bullshit. Woher sollte er das wissen? Sandy wusste es ja selbst nicht. Wenn sie aufwachte, wusste sie nie, ob Jenna zu Hause war. Meistens war sie es, aber Sandy hatte schon vor langer Zeit gelernt, durchzuschlafen, ganz gleich, welche Geräusche sie nachts hörte. Jetzt schaute sie zu Jennas Schlafzimmertür. Sie war geschlossen, was bedeutete, dass Jenna da war, aber nicht allein. Ansonsten hätte sie splitternackt auf der Bettdecke gelegen, die Tür sperrangelweit geöffnet. Sie fühlte sich einsam, wenn sie Sandy nicht auf der Couch im Wohnzimmer sehen konnte.

Wäre es nach Jenna gegangen, hätte sie die Tür vermutlich selbst dann offen gelassen, wenn sie in Begleitung war. Aber die Männer, die sie mit nach Hause brachte, zogen etwas Privatsphäre vor. Gott sei Dank. Es gab zwar viele Dinge, die Sandy auf dieser Welt gern sehen wollte – den Sonnenuntergang über dem Pazifik, den Grand Canyon, das Great Barrier Reef –, aber Jenna mit einem besoffenen Wichser vögeln zu sehen, gehörte nicht dazu. Sie hatte ohnehin schon viel zu viel mitbekommen.

Sandy richtete sich auf und zuckte zusammen. Ihr Arm war verschorft und sah jetzt noch ekeliger aus als vorher, und wenn sie die Muskeln anspannte, schmerzte er höllisch. Ihr Knie war ein einziger lilafarbener Bluterguss. Es war schwer, zu vergessen, wenn einem der Körper ständig Signale schickte. Aber irgendwann würde sie vergessen. Musste sie vergessen. Und Sandy war gut im Vergessen. Hatte jede Menge Übung darin.

Sie zog den Ärmel über die riesige Kruste, dann nahm sie sich eine Zigarette aus der Schachtel, die Jenna auf dem Couchtisch hatte liegen lassen. Sandy war keine große Raucherin. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt gern rauchte. Allerdings gab es Momente, die förmlich nach einer Zigarette schrien. Momente wie dieser. Sie steckte sich eine Parliament zwischen die Lippen und zündete sie mit dem juwelenbesetzten I-love-Tampa-Feuerzeug an, das Jenna irgendwem geklaut haben musste.

Sandy nahm einen Zug, schaute auf ihr durchsichtiges Tanktop und die tief auf der Hüfte sitzende Jogginghose hinab, auf den dornigen Stiel des Rosen-Tattoos, der sich um ihren Arm bis zu der Blüte auf ihrem Schulterblatt wand. Sie drehte ihr langes, glattes schwarzes Haar im Nacken zu einem Knoten und blies eine lange Rauchwolke aus. Es gab Schlimmeres, als dass dieses Arschloch durch ihr Top schauen konnte. Ein kostenloser Blick könnte die Chance sein, ihn loszuwerden. Seit Sandy Brüste bekommen hatte, waren sie das Beste, was sie zu bieten hatte.

»Moment!«, rief sie, damit er nicht weiter draußen rumbrüllte. »Ich komme ja schon!«

Der Lärm, den der Scheißkerl machte, war genau das, was Mrs Wilson, ihre achtzigjährige Nachbarin, auf die Palme brachte. Mrs Wilson war eine wandelnde Beschwerdestelle – sie beschwerte sich über alles und jeden, als wäre das ihre Berufung. Und Jenna und Sandy hasste sie ganz besonders. Jedes Mal, wenn Sandy ihr zufällig begegnete, verzog sie das Gesicht, als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen. Mrs Wilson wollte sie aus dem Haus haben, so viel stand fest. Und wenn sie ihr einen handfesten Grund lieferten, würde sie ihren Willen vermutlich bekommen.

Sandy legte die drei Schritte bis zur Wohnungstür zurück und griff nach dem Knauf. Ein letzter Zug, dann öffnete sie die Tür und blies den Rauch aus. »Jetzt komm mal runter«, sagte sie cool, das Kinn leicht vorgereckt. »Ich bin ja da.«

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, der Himmel ein tristes Grau. Es war früher, als Sandy gedacht hatte. Also bestand durchaus noch die Chance, dass der Tag doch nicht der totale Horror werden würde, sobald dieser Scheiß hier vorbei war. Sandy musterte den Mann vor der Tür. Klein, dünn, verschlagen. Er hatte die fettigen Haare über den Schädel gekämmt und war einfach nur ekelhaft. Typen wie er waren immer ekelhaft.

»Du bist Jenna Mendelson?« Er warf einen skeptischen Blick auf sein Klemmbrett.

»Wer will das wissen?« Sandy zog an ihrer Zigarette und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen. Kein Grund, ihm jetzt schon ihre beiden Prachtstücke zu präsentieren. Das würde sie sich für später aufsparen. Wenn es denn nötig war.

»Nun, Ms Mendelson, Sie sind drei Monate mit der Miete im Rückstand.« Er riss eine Notiz von einem Block ab und reichte sie ihr, als würde er ihr einen Strafzettel fürs Falschparken verpassen.

Drei Monate? Das konnte nicht sein, sie waren nicht im Rückstand, nicht mal einen Monat! Doch bei der ganzen Lernerei und alldem, was in letzter Zeit passiert war, hatte Sandy einfach die Zeit gefehlt, sich wie sonst selbst um die Geldanweisung zu kümmern. Das hatte Jenna übernehmen wollen, aber wer wusste schon, was sie mit dem Bargeld angestellt hatte? Gut möglich, dass sie es für Alkohol, Zigaretten oder sonst was rausgeschleudert hatte. Es ärgerte Sandy, wie naiv sie manchmal war. Warum zum Teufel hatte sie Jenna vertraut? Sie hätte sich vergewissern müssen, dass die Kohle dort gelandet war, wo sie ankommen sollte.

Andererseits … In Anbetracht der Umstände war dies vielleicht ein passender Zeitpunkt, um Ridgedale den Rücken zu kehren. Es wäre sicher nicht leicht, Jenna davon zu überzeugen, aber sie könnte es zumindest versuchen. Vor etwa einem Jahr hatte Jenna ihr erzählt, sie habe in Philadelphia einen Typen aus Ridgedale wiedergetroffen, den sie »von früher« kannte. Und dann hatte sie so getan, als wäre es ein Riesenzufall, dass sie ausgerechnet hier gelandet waren. Aber Sandy war nicht blöd. Es hatte sie lediglich überrascht, wie lange Jenna gebraucht hatte, bis sie Sandy nach ihrem Umzug hierher die ganze hässliche Geschichte erzählte. Sandy hätte schwören können, jedes einzelne von Jennas grauenvollen Geheimnissen zu kennen, aber sie war eines Besseren belehrt worden. Zu wissen, was Jenna vor vielen Jahren in Ridgedale zugestoßen war, änderte nichts an deren Verkorkstheit, aber es änderte Sandys Sichtweise. Jenna im Stich zu lassen – obwohl sie vermutlich genau das hätte tun sollen –, war jetzt ein Ding der Unmöglichkeit.

»Wir sind nicht im Rückstand«, behauptete Sandy. Wieder einmal. Selbst wenn der schmierige Typ recht hatte, war es am besten, zu leugnen. »Wir haben die Miete bezahlt. Pünktlich.«

»Können Sie das beweisen?«, fragte er skeptisch.

Sandy löste ihre Arme, sodass er vollen Ausblick auf ihr durchscheinendes Tanktop hatte. Dann verschränkte sie sie wieder, beugte sich ein klein wenig vor und drückte ihre Brüste zusammen. »Sie könnten sagen, dass Sie den Beleg gesehen haben.« Ihre Augen wanderten zu seinem Schritt. »Nur für ein paar Tage. Geben Sie uns etwas Zeit, okay?«

Der Typ musterte Sandy von oben bis unten, und sein Blick blieb an ihren Brüsten hängen. Dann schnaubte er verächtlich und schüttelte den Kopf. »Sie haben vierundzwanzig Stunden Zeit, Miss«, sagte er. »Danach ist hier Feierabend. An Ihrer Stelle« – er schielte ein letztes Mal auf ihre Titten – »würde ich packen.«

Sandy riss dem Scheißkerl den zerknitterten gelben Zettel mit dem Aufdruck Räumungsmitteilung aus der Hand und sah ihm nach, als er auf seinen kurzen Beinen den Gang hinunter verschwand. Verdammt noch mal, Jenna! Ja, es war Zeit zu gehen, aber musste das immer mit einer verfluchten Pistole an der Schläfe sein? Gott sei Dank hatte Sandy etwas Geld für den Notfall gebunkert – etwa tausend Dollar, in einer Schachtel hinter der Couch. Das reichte zwar nicht, um die Miete für drei Monate zu bezahlen, aber es würde sie eine Zeit lang über Wasser halten. Anderswo. An irgendeinem Ort weit weg von Ridgedale mit all den grässlichen Erinnerungen.

Sandy knallte die Wohnungstür zu und stürmte zu Jennas Schlafzimmer, die Räumungsmitteilung in der Hand. »Jenna!«, schrie sie so laut, dass ihre Kehle brannte. »Verdammt, wach auf!«

Keine Reaktion, also stieß Sandy die Tür auf und wappnete sich gegen den Anblick eines nackten, behaarten Arschs, der unter die Decke abtauchte. Aber da war keiner. Niemand. Das Zimmer war leer, das Bett unberührt, als wäre Jenna die ganze Nacht über weg gewesen.

»Scheiße«, sagte sie leise. Wo zur Hölle war Jenna? Sandy griff nach ihrem Handy. Vielleicht hatte sie ihr eine Textnachricht geschickt, etwas wie: Ich übernachte heute woanders. Bis morgen früh! Nichts. Keine einzige beschissene Nachricht.

Das war’s dann wohl mit ihren Hausaufgaben in Staatsbürgerkunde und Wirtschaft, die sie für Rhea erledigen sollte. Den Algebra-Test, für den sie unbedingt lernen musste, konnte sie ebenfalls knicken. Was im Grunde keine Überraschung war. Ihren Schulabschluss zu machen, um anschließend aufs College zu gehen, war eine ziemlich bescheuerte Idee gewesen. Ein Hirngespinst. Es war das, was andere Leute taten, aber nicht sie. Dennoch hatte sich Sandy von Rhea einwickeln lassen. Hatte sich bei dem Gedanken ertappt: Warum nicht ich? Wegen Jenna, deshalb.

Wo zum Teufel bist du?, tippte Sandy in ihr Handy ein und schickte die Nachricht an Jenna.

 

»Niemand ist perfekt, Sandy«, hatte Rhea im Oktober gesagt, als sie sich zum ersten Mal trafen. Das war jetzt fast sechs Monate her. Ihr Lächeln war so freundlich gewesen, dass sich ein Kloß in Sandys Kehle gebildet hatte. »Jeder, der so tut, als wäre er perfekt, ist ein Lügner.«

Es hatte Sandy große Überwindung gekostet, sich im Sekretariat der Ridgedale Highschool für das Community-Outreach-Tutoring-Programm anzumelden. Seit dem letzten Frühjahr, seit sie die zehnte Klasse in diesem Höllenloch von Highschool im Nordosten Philadelphias beendet hatte, hatte sie keine Schule mehr betreten. Als sie im September hierhergezogen waren, war ihr nicht mal der Gedanke gekommen, sich an der Ridgedale High anzumelden. Essen, Miete, Kaffee – alles war hier sehr viel teurer. Sandy würde mehr arbeiten müssen, um ihren Anteil zu stemmen.

Doch dann war Rhea eines Mittags während Sandys Schicht ins Winchester Pub gekommen. Sie hatte Sandy ihr freundliches Lächeln geschenkt, hatte sie mit ihren warmherzigen Augen angeblickt und ihr alle möglichen Fragen gestellt. Und Sandy, völlig überrascht, hatte, anders als sonst, nicht die üblichen Lügen auf Lager gehabt. Und so kam es, dass Rhea, während sie die Rechnung für ihr Mittagessen beglich, Sandy überreden konnte, sie in der Highschool von Ridgedale in ihrem kleinen Büro aufzusuchen, um sich dort über das von ihr ins Leben gerufene Förderprogramm für Highschool-Abbrecher zu informieren.

Sandy erzählte Jenna nichts davon. Sie hätte zwar nicht versucht, Sandy davon abzuhalten, sich zum GED-Test anzumelden – sogar Jenna wusste, wie wichtig es war, einen Abschluss in den Händen zu halten, der einem die Einschreibung an einem College ermöglichte. Aber ihr wären sicherlich jede Menge Gründe eingefallen, Sandy von den damit einhergehenden Verpflichtungen abzuhalten: »Geh mit mir ins Kino, Sandy«, »Kuschel dich ein bisschen mit mir auf die Couch, Sandy«, »Trink ein Bier mit mir«. Jenna konnte nicht anders. Sie konnte die Vorstellung, allein zu sein, nicht ertragen.

Wahrscheinlich war es ohnehin egal, dass Sandy Jenna nichts erzählt hatte. Sandy war überzeugt davon, dass Rhea Bullshit geredet hatte. Dass sie sich gar nicht an Sandy erinnern würde, wenn diese tatsächlich in ihrem Büro auftauchte.

Doch das tat sie.

 

»Ich freue mich so sehr, dass du gekommen bist!«, rief Rhea, sprang von ihrem Schreibtischstuhl auf und zog Sandy in eine feste Umarmung.

Als sie sich zum zweiten Mal trafen, hatte Rhea bereits einen Plan für Sandy ausgearbeitet. »Ich habe einen Blick in deine alten Zeugnisse geworfen. Bei den Kursen, die du belegt hattest, und deinen exzellenten Noten wette ich, dass du mit ein bisschen Unterstützung die Defizite bis Ende des Jahres aufholen kannst.« Rhea zwinkerte Sandy mit ihren großen blauen Augen zu. Sie sah so hübsch und adrett aus, dass Sandy am liebsten sofort unter die Dusche gesprungen wäre. »Du brauchst lediglich jemanden, der deine Fortschritte überwacht, was ich sehr gern tun werde. Außerdem organisiere ich dir bei einer Schülerin Nachhilfe für Mathematik und Naturwissenschaften, die mit dir für die Prüfungen lernt.«

»Nachhilfe bei einer Schülerin?« Sandy wurde übel. Sie konnte die Vorstellung nicht ertragen, mit irgendeiner reichen Bitch aus Ridgedale zusammengespannt zu werden, die doch nur auf sie herabsehen würde.

»Komm schon!« Rhea lachte. »So schlimm ist das nun auch nicht. Ich verstehe deine Bedenken, aber ihr müsst ja nicht gleich beste Freundinnen werden. Du musst dir einfach nur von jemandem helfen lassen. Kriegst du das hin?«

»Ich werde es versuchen«, sagte Sandy. Sie wusste, dass sie wie eine undankbare Göre klang, aber sie wollte nicht lügen. Vor allem wollte sie niemanden belügen, der so nett zu ihr war wie Rhea. »Wann fangen wir an?«

»Sofort!«, erwiderte Rhea. »Ich hole noch schnell die Bücher, die du brauchst, und deinen Stundenplan. Wenn wir alles zusammenhaben, können wir uns über verschiedene Möglichkeiten für College-Stipendien unterhalten. Ich denke, du würdest eine perfekte Kandidatin abgeben.«

Sandy hatte sich diesen Augenblick schon millionenfach vorgestellt, hatte sich ausgemalt, wie jemand wie Rhea in ihr beschissenes Leben platzte und sie daraus befreite. Allerdings hatte sie nicht geahnt, dass es sich so gut anfühlen würde. Glaub ihr nicht. Du darfst ihr nicht glauben! Aber es war zu spät.

»College?«, fragte Sandy und verspürte eine alberne Mischung aus Nervosität und Begeisterung.

Rhea zwinkerte erneut und stand lächelnd auf. »Ja, College. Du kannst es wirklich zu etwas bringen.«

Rhea war noch nicht zur Tür hinaus, als schon die erste Textnachricht von Jenna einging: Wo bist du? Komm sofort nach Hause! Ich muss dir eine HAMMER-Story erzählen. Du wirst es nicht glauben.

Bin in einer halben Stunde da, schrieb Sandy zurück.

Beeil dich. Und bring Cheetos mit! Xoxoxo

Verfluchte Jenna. Das Schlimmste aber war, dass Sandy sich schuldig fühlte, weil sie nicht bei ihr war. Das war bescheuert. Sandy wusste das. Dass es bescheuert war, änderte allerdings nichts an ihren Schuldgefühlen.

Rhea kehrte ins Büro zurück und knallte einen Stapel Bücher und Fotokopien auf den Tisch. »So, ich habe bereits eine großartige Nachhilfe für dich aufgetrieben«, sagte sie zu Sandy und reichte ihr ein Blatt Papier. Hannah Carlson stand darauf, mitsamt Adresse, Telefonnummer und E-Mail. »Hannah ist ein echter Schatz. Sie ist eine fantastische Pianistin, und sie ist im Mathe-Team. Außerdem kann sie ausgezeichnet schreiben. Im letzten Frühling hat sie schon an der Universität Seminare belegt, Englische Literatur, da war sie in der Elften.«

Was bedeutete, dass diese Hannah jetzt in der Zwölften ihren Abschluss machte. Dann war sie wenigstens ein Jahr älter als Sandy. Nachhilfe von jemandem zu bekommen, der jünger war als sie, hätte Sandy nicht ausgehalten.

»Klingt großartig«, sagte Sandy lahm.

»Oh, tut mir leid. Das war dumm von mir. Wer möchte schon von einer solchen Streberin unterstützt werden?« Rhea streckte die Zunge raus und tat so, als würde sie würgen, dann beugte sie sich verschwörerisch vor. »Ich werde dir ein Geheimnis verraten, Sandy. Hannahs Mutter ist ein absolutes Miststück. Auch Hannah hat ein Kreuz zu tragen.«

»Cool.« Sandy nickte und betrachtete den Namen auf dem Blatt Papier vor ihr. Sie wusste sehr genau, wie sie Rheas Bemerkung über die Mutter dieser Hannah einzuordnen hatte: Die Frau war vermutlich total harmlos.

»Ich weiß, dass das nicht leicht für dich ist, Sandy. Aber bitte gib nicht schon auf, bevor du es versucht hast«, sagte Rhea, als hätte sie Sandys Gedanken gelesen. Ihre Stimme klang jetzt anders. Ernster. Sie legte ihre Hände auf den Stapel mit Büchern und Unterlagen. »Auf den Ausdrucken stehen deine Aufgaben. Wenn wir uns nächste Woche treffen, erwarte ich, dass du sie erledigt hast. Du kannst das, daran habe ich keinerlei Zweifel.«

Sandy versuchte, den Stapel mit einer Hand anzuheben. Vergeblich. »Dann glaubt ja wenigstens eine von uns daran.«

Rhea legte ihre Hand auf Sandys und drückte sie so lange, bis Sandy aufblickte und ihr in die Augen sah. Rheas Augen waren glasig, ihr Lächeln wirkte traurig, doch gleichzeitig seltsam hoffnungsvoll. »Ich denke, du und ich wissen, dass das hier deine Chance ist.« Rhea zog die Hand weg und stieß die Fäuste in die Luft. »Du musst sie mit beiden Händen ergreifen.«

Als sie alles erledigt hatten, verließ Sandy die Schule durch einen Seitenausgang und betete, dass sie es schaffen würde, ohne in Tränen auszubrechen. Wenigstens war gerade Unterricht, der Parkplatz und die Rasenflächen des Schulhofs waren leer. Auch auf der Aschenbahn, die den grünen, sorgfältig gemähten Football-Platz umgab, trainierte im Augenblick niemand. Alles war totenstill, bis auf Sandys Handy, das mit einem leisen Pingen den Eingang einer weiteren Textnachricht verkündete. WO BLEIBEN DIE CHEETOS!!! ICH BIN AM VERHUNGERN! Komm nach Hause! Judge Judy läuft im Fernsehen!

Sandy schob das Handy in ihre Gesäßtasche, dann ließ sie sich gegen die kühle Ziegelmauer des Schulgebäudes sacken, wobei sie sich leicht den Rücken aufschrammte. »Autsch«, sagte sie laut, dann legte sie den Kopf in die Hände und wiegte sich vor und zurück. Warum fühlte sich ihr Leben immer dann am beschissensten an, wenn sie versuchte, es zu verbessern?

»Willst du eine?«, fragte jemand.

Als Sandy aufschaute, sah sie sich einem Jungen in ihrem Alter gegenüber: zerzauste blonde Haare, Sommersprossen, perfekte Zähne. Er war nicht Sandys Typ – zu hübsch. Aber er war süß, daran gab es nichts zu rütteln, und genau das wusste er auch. Was ihn blöderweise noch süßer machte.

Er hielt eine Zigarette in der Hand, die er Sandy entgegenstreckte, und eine zweite brennende in der anderen. »Du siehst aus, als könntest du eine gebrauchen.«

Sandy sah sich verstohlen um, dann nahm sie die Zigarette. Was sollte schon passieren? Rausschmeißen konnte man sie nicht, schließlich war sie keine Schülerin der Ridgedale High. Sie beugte sich vor, und er klappte sein Feuerzeug auf. Der Kerosingeruch brachte unerwünschte Erinnerungen an einen von Jennas Ex-Freunden mit sich. Sandy inhalierte tief und spürte, wie sie sich etwas entspannte.