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1632. Nach dem Abzug der Schweden ist auf Usedom wieder Frieden eingekehrt. Doch die Ruhe trügt. Während der Abwesenheit des Herzogs regiert sein Stellvertreter das Land, und seltsame Ereignisse häufen sich: Eine Mühle steht im Ruf, ein Spukhaus zu sein, der Müller wird als Hexer verbrannt. Ein fahrender Buchhändler kommt ums Leben, und die junge Pfarrerstochter Irene Schweigerin wird als Mörderin angeklagt. Ein Rechtsgelehrter ist sich sicher, dass das nicht mit rechten Dingen zugehen kann …
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Seitenzahl: 465
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Antonie Magen
Die Pfarrerstochter
Historischer Kriminalroman
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von Johannes Vermeer, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Vermeer_Girl_Interrupted_at_Her_Music.jpg, sowie Hans Gude, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hans_Gude_-_Damer_i_solskinnet_%281883%29.jpg
ISBN 978-3-8392-4288-9
›Niemand schafft größeres Unrecht als derjenige, der es in Form des Rechts begeht.‹
Plato
Das ganze Land war vom Orkan des großen Krieges erfasst. Wie ein Schiff, das von einem Meeressturm aufgerieben und beschädigt worden war, wurde es umhergetrieben. Ohne Steuermann. Ohne Ziel. Ohne Richtung.
Dieser Zustand hatte für einige aber auch gute Seiten. Man musste sie nur erkennen. Man musste schlau sein und wissen, wie man Vorteile aus ihm zog. Wie man aus dem Konflikt der Mächtigen profitierte. Wie man sich die allgemeine Not und das große Elend zunutze machen konnte. Es gab immer wieder Möglichkeiten. Kleine Gelegenheiten, die es zu ergreifen galt. Durch die man zum Sieger wurde. Nicht in einer der großen Schlachten oder einem der langen Feldzüge. Wohl aber in einer der unzähligen, alltäglichen Situationen, die darüber entschieden, ob man selbst am Leben blieb oder der Weggefährte, mit dem man bis dahin seine Reise zurückgelegt hatte. Gehorchte man dann dem Gebot der Stunde, war es sogar möglich, an ihrem Ende besser dazustehen als zu ihrem Beginn. Etwa weil jener bedauernswerte Begleiter, der nun tot am Boden lag, ein bisschen Schmuck oder Geld mit sich geführt hatte. Behauptete man sich in einem solchen Fall als Herr der Lage, verkaufte man die Habseligkeiten des Toten mit Gewinn – und war am Abend reicher als am Morgen.
Der fahrende Buchhändler Melchior Lechter wusste, dass er sich darauf bestens verstand. Um die große Politik hatte er sich nie gekümmert. War vielmehr immer klug im Hintergrund geblieben. Hatte sich weder an die Kaiserlichen noch an Wallensteins Truppen verkauft. Hatte sowohl darauf verzichtet, sich der katholischen Liga als auch der protestantischen Union anzuschließen. Hatte immer sorgfältig darauf geachtet, keinerlei Überzeugung laut werden zu lassen. Ja, hatte bereits kurz nach Kriegsbeginn eingesehen, dass es am besten war, sich fernab von Weltanschauungen, Machtansprüchen und Loyalitäten zu bewegen. Da er seine Ware im ganzen Reich verkaufte und viel unterwegs war, hatte er zwar nicht alle Gefechte und Scharmützel vermeiden können. Manchmal war er sogar in einen Feldzug oder eine Kampfhandlung geraten. Aber es war ihm immer gelungen, aus sicherer Entfernung oder aus einer verborgenen Ecke, in die er sich verkrochen hatte, zuzusehen.
Nur einmal hatte er Pech gehabt und war mitten ins Geschehen verwickelt worden. Dabei schien in dieser Situation nicht einmal ein Risiko zu liegen. Im Gegenteil. Er wiegte sich in einer Sicherheit, die er nur selten verspürte. Er hatte seine Winkelzüge quer durch Europa so eingerichtet, dass er sich möglichst lange in Gebieten aufhalten konnte, die noch nicht vom Krieg ergriffen worden waren. Und genau da hatte sich jener unglückliche Unfall ereignet: Er hatte sich im Sächsischen befunden, das noch in tiefem Frieden lag. Er war nicht ausreichend wachsam gewesen und in einem Wirtshaus in eine Schlägerei geraten. Die Folge war der Verlust des halben unteren rechten und des halben oberen linken Schneidezahns gewesen. Und auch das linke Auge hatte ihn die Auseinandersetzung gekostet, das seitdem tot in seiner Höhle lag. Eine Kleinigkeit, gemessen an den Verstümmelungen und Verletzungen, denen andere Tag für Tag ausgesetzt waren. Aber immerhin unangenehm genug, um daraus zu lernen.
Seitdem war Melchior Lechter noch umsichtiger geworden. Mit instinktiver Sicherheit witterte er drohende Gefahren und hatte einen untrüglichen Blick für Schlupflöcher entwickelt. In ihnen saß er während einer Plünderung oder eines Überfalls und verfolgte aus seinem Versteck die Gräueltaten, die sich vor seinem Auge abspielten. Vor diesem einzigen Auge, mit dem er genauer und durchdringender sah als andere Menschen mit ihren beiden. Mehr als dieses harmlose Beobachten war nicht notwendig. Oft genug hatte er alleine aus seinen Spähereien Nutzen gezogen. Einen Nutzen, den er ohne Krieg und das allgemeine Durcheinander, das dieser in seinem Gefolge führte, niemals erreicht hätte. Inzwischen hatte er es hierin zu einer wahren Meisterschaft gebracht. Die Ausbeute der letzten Monate war immer reicher geworden.
Und sein Erfolg setzte sich fort. Melchior Lechter lauschte – und atmete erleichtert aus, als er nach einer Weile sicher war, dass die marodierenden Soldaten das Gehöft verlassen hatten. Er hatte fünf Männer gezählt. Einer von ihnen war alt und in einen verschlissenen Talar gekleidet gewesen, wie ihn Richter trugen. Während seine Kameraden die Stube gründlich und geschwind nach Wertgegenständen absuchten, war er in anmutigem Schritt wie ein Traumwandler und ohne erkennbares Ziel durch das Zimmer getänzelt und hatte leise vor sich hin gesungen. Immer, wenn seine Bewegungen ihn unversehens in die Nähe eines seiner Gefährten führte und ein Zusammenstoß bevorstand, hielt er im letzten Moment inne. Grinste mit leeren Augen in die des anderen, zog sein Barett vom Kopf und verneigte sich tief. Der Mann hatte etwas Geisterhaftes an sich gehabt. Melchior Lechter fragte sich, warum die anderen ihn duldeten. Aber möglicherweise verfügte er über Zauberkräfte. Und Tanz und Gesang waren Beschwörungen, mit denen er Macht über seine Begleiter und Opfer ausübte. Flüchtig fragte sich der Buchhändler, ob sein Versteck ihn auch vor magischen Einflüssen schützte. Aber dann war er von dem Tun der übrigen Männer so in Bann geschlagen, dass er darüber nicht weiter nachdachte.
Die vier anderen waren in die Uniform des Grafen von Mansfeld gekleidet gewesen. Schon lange hatte Melchior Lechter niemanden mehr in dieser Montur gesehen. Möglicherweise hatten sich die Männer direkt nach der Schlacht am Weißen Berg zu einer Bande zusammengeschlossen und trieben seitdem ihr Unwesen. Wenn diese Vermutung stimmte, hatten sie ihre Beutezüge schon seit geraumer Zeit erfolgreich geführt. Was bemerkenswert war und für eine gewisse Gewandtheit sprach, die sich auch in dem jüngsten Überfall widerspiegelte. Sie waren planvoll und vorausschauend zu Werke gegangen. Noch bevor die Bewohner des Hofes die Eindringlinge bemerkten, hatten diese schon alle Fluchtwege versperrt. Innerhalb weniger Minuten waren der Bauer und seine Frau tot gewesen. Sie hatten sich zwar noch gewehrt, genutzt hatte es aber nichts. Es war ihnen nur noch gelungen, einen der böhmischen Söldner schwer zu verletzen. Melchior Lechter schüttelte den Kopf. Schließlich sind sie nun genauso tot, dachte er bei sich, wie sie es ohne Widerstand auch gewesen wären. Er saß im eisernen Ofen des Bauernhauses, wohin er sich in einem unbeobachteten Moment verkrochen hatte. Hier konnte er in aller Ruhe den Abzug der Räuber abwarten. Er hielt sein Ohr an die Ofentür und lauschte: Von den Plünderern war nichts mehr zu hören. Es war still. Nur hin und wieder stöhnte der Schwerverletzte. Es war unmöglich, dass er noch lange lebte.
Der Buchhändler ignorierte das Wehklagen des Sterbenden, stieß die Ofenklappe auf und kroch aus seinem Unterschlupf. Der Anblick, der sich ihm bot, war entsetzlich. Alles war in Blut getränkt. Der Kopf des Bauern lag einen halben Meter vom Rumpf getrennt. Die Bäuerin saß aufgeschlitzt auf einer Bank. Neben ihr das Messer, mit dem sie auf ihren Feind eingestochen hatte. Zu ihren Füßen der böhmische Soldat, der nun endlich aufgehört hatte, sich zu regen. Melchior Lechter war erleichtert, dass der Mann so schnell gestorben war. Er betete flüchtig ein Vaterunser und machte sich routiniert daran, den Inhalt aus der Tasche des Toten zu untersuchen. Mit geübtem Griff öffnete er den Tornister. Als Erstes fielen ihm einige Broschüren und Flugblätter in die Hände. Da hat es den Richtigen erwischt, freute er sich. Wie für einen Buchhändler bestellt, dachte er vergnügt und steckte die Drucke ein, ohne sie näher zu betrachten. Die konnte er unterwegs verkaufen, zusammen mit dem Sortiment, das er mit sich führte. Ein paar Pfennige extra würden sie in jedem Fall einbringen. Systematisch wühlte er sich tiefer in das Sturmgepäck des anderen. Es wurde immer besser. Erfreulicherweise hatte der Tote seine Vorräte noch nicht verzehrt. Der Buchhändler förderte einen halben Laib Brot und etwas Käse zutage. Prüfte beides und verstaute sie in seinem eigenen Ranzen. Noch immer war der Schnappsack des Söldners nicht leer. Abermals tauchte Melchior Lechter seine Hände in die fremde Habe.
Und – hielt in ihnen einen Schatz. Einen Augenblick traute er seinen Augen nicht. Bisher hatte er dies und das gefunden. Mal ein bisschen Geld. Mal etwas zu fressen. Mal eine Waffe. Er hatte mit diesem und jenem Geschäfte gemacht, wenn die Gelegenheit günstig war und er die Notlage eines anderen ausnutzen konnte. Seinen besten Handel hatte er erst vor einigen Wochen abgeschlossen. Seine Beute bestand aus einigen Kupferplatten. Den Erlös aus ihrem Verkauf hatte er für das Maximum an Profit gehalten. Aber offensichtlich hatte er sich getäuscht. Das, was er aus der Tasche des toten böhmischen Soldaten genommen hatte, war ungleich wertvoller als die Druckplatten. Hastig packte er seinen Fund ein. Vielleicht hatte der unheimliche Alte das zweite Gesicht und sah, was Melchior Lechter seinem toten Kumpanen gestohlen hatte. Die Bande war brutal vorgegangen. Der Buchhändler beschloss, dass es besser war, wenn er schnell die Flucht ergriff.
*
Als er schließlich den Eindruck hatte, dass er sich weit genug von dem geplünderten Bauernhof entfernt hatte, verlangsamte er seinen Schritt. Hielt nach einem passenden Plätzchen Ausschau, das geschützt genug lag, damit er sein Kleinod in Ruhe begutachten konnte. Ein einsamer Apfelbaum auf einer verlassenen Wiese schien ihm dafür geeignet. Weit und breit war niemand zu sehen. Er ging näher. Einige Früchte hingen noch im Baum. Er setzte sich unter ihn. Lehnte sich an den Stamm. Atmete tief ein. Nestelte am Verschluss seiner Tasche. Doch seine Finger zitterten zu stark. Er zwang sich zur Ruhe. Atmete erneut ein. Befahl seinen Händen größere Konzentration. Und öffnete schließlich die Schnalle, mit der die Tasche zusammengehalten wurde. Erschöpft hielt er abermals inne. Was, wenn er nur geträumt hatte? Er war zwar davon überzeugt, dass der Erfolg, den er bis jetzt auf seinen Beutezügen gehabt hatte, einzig und alleine seiner Raffinesse zu verdanken war. Aber zu diesem Fang war außerdem Glück notwendig gewesen. Auf das er sich nur ungern verließ. Melchior Lechter schauderte, es wurde ihm unheimlich. Er begann zu wünschen, dass alles nur ein Fantasiegebilde gewesen sein möge, gewoben aus der Aufregung der vergangenen Stunde. Oder dass ihn zumindest der erste Eindruck getäuscht haben mochte. Er war überrascht gewesen und hatte nicht sehr genau auf seine Beute geschaut. Vermutlich hatte er etwas ganz Falsches gesehen. Vielleicht war das Buch, das er dem Toten abgenommen hatte, gar nicht so wertvoll, wie er gedacht hatte. Wie wahrscheinlich war es überhaupt, dass ausgerechnet ein marodierender Söldner ein kostbares Buch mit sich führte? Sicher handelte es sich nur um gewöhnliche Ware, mit der er eines seiner üblichen Geschäfte machen konnte.
Beherzt öffnete er die Tasche. – Da lag es vor ihm. Ein kleines Buch, keinen sächsischen Fuß hoch, vielleicht zehn Zoll, und von noch geringerer Breite. Ein Büchlein. Ein Quartformat, wie er es im Laufe der Jahre unzählige Male in der Hand gehabt hatte. Aber ungewöhnlich prächtig ausgestattet. Der Einband war aus feinstem, rötlich gefärbtem Kalbsleder gearbeitet und mit allerlei Goldprägungen verziert: Die Ecken waren mit Mauresken geschmückt. Außerdem waren Blütenstempel verwandt worden und heraldische Hermeline. Der Goldschnitt war punziert. Melchior Lechter staunte mit offenem Mund. Wer immer dieses Buch in Auftrag gegeben hatte: Er musste sehr reich sein und arbeitete mit den besten Werkstätten zusammen. Und er musste von Adel sein. In die Mitte des Buchdeckels war ein goldenes Wappen eingeprägt, das er nicht kannte. In der unteren linken Ecke zeigte es eine Harfe. Auf der gegenüberliegenden Seite einen kleinen Löwen, der von einem Quadrat umschlossen war und seine Pranken hob, als empfände er die geometrische Figur als Gefängnis, das er zu durchbrechen trachtete. Vorsichtig öffnete der Buchhändler die beiden Verschlussbänder. Schlug den Band auf. Die ersten Seiten waren leer. Dann folgte ein Blatt, auf der sich eine handschriftliche Notiz befand: ›Ex arce Pragensi post victoriam Caesarem Ao. MDCXX‹. Außer der Jahreszahl und der Nennung der Stadt Prag verstand Melchior Lechter nicht viel. In seinem Beruf hatte er zwar ein paar lateinische Floskeln gelernt. Aber alles, was darüber hinausging, bereitete ihm Schwierigkeiten. Sogar dieser einfache Satz, von dem er nur begriff, dass er etwas über einen 1620 errungenen Sieg aussagte. Er begann zu befürchten, dass das Buch dem Alten gehört haben mochte und ein Zauberbuch sein könnte. Aber warum hatte er es dann nicht mitgenommen, als er seinen sterbenden Begleiter in dem Bauernhaus zurückließ? Der Buchhändler blätterte weiter. Stieß auf ein eingeklebtes Papierzettelchen, auf dem sich ebenfalls ein mit der Hand geschriebener Eintrag befand. ›Frederic, Prince Elector palatin, and the lady Elizabeth his wife‹. Diese Worte waren für ihn noch geheimnisvoller. Einzig die Namen waren ihm verständlich. Friedrich und Elisabeth. Vor ein paar Jahren waren sie in aller Munde gewesen. Der Pfalzgraf Friedrich V. war 1619 zum böhmischen König gewählt worden und zusammen mit seiner Gemahlin Elisabeth nach Prag übersiedelt. Seine Herrschaft dauerte allerdings nur kurz. Schon im Jahr darauf, nach der Schlacht am Weißen Berg, musste er fliehen. Melchior Lechter wusste nicht, wohin er gegangen war. Seitdem hatte er niemanden mehr von ihm reden hören.
Anscheinend war der glücklose Friedrich einmal der Besitzer des Buches gewesen. Eine Vermutung, die Melchior Lechter einigermaßen glaubhaft schien, wenn er an die Uniform des toten Söldners dachte. Damit war wenigstens die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um ein Zauberbuch handelte, verhältnismäßig gering. Erleichtert blätterte er weiter. Endlich hatte er den Anfang des Textes gefunden. Er begann zu lesen. Brach aber schon bald enttäuscht ab. Der Text war in einer fremden Sprache geschrieben, die er nicht verstand, noch weniger als Latein. Er blätterte weiter. Stieß schließlich auf ein Bildchen, das auf Goldgrund einen Apfelbaum mit roten Früchten zeigte, in dem sich eine schöne, blauschwarz glänzende Schlange wand. Er drehte weitere der feinen Pergamentseiten um. Hoffte, doch noch etwas Lesbares zu finden. Gab aber bald auf. Klappte das Buch zu und verstaute es wieder in seiner Tasche. Lehnte sich an den Baum. Er musste nachdenken. Was soll ich damit anfangen?, fragte er sich. Melchior Lechter verstand nicht, was er da hatte. Wusste nur, dass es wertvoll war. Sein letzter Besitzer war wohl auch nicht auf ganz rechtmäßigem Weg zu dem Band gekommen. Der Buchhändler war verunsichert. Ob sich mit dem Buch überhaupt ein Geschäft machen ließe? Oder brachte er sich in Schwierigkeiten, wenn er versuchte, den Besitz eines Königs zu verkaufen? Schön wäre es natürlich, wenn er daraus einen Gewinn schlagen könnte. Es musste gar kein großer sein. Ein kleiner genügte vollkommen. Wenn er nur dafür das Buch so bald wie möglich wieder loswerden konnte. Solange er es mit sich führte, fühlte er sich nicht sicher.
Er schloss die Augen und dachte nach. Wie waren seine Reisepläne am besten einzurichten? Er überlegte. Was hatte er sich für die nächsten Wochen vorgenommen? Zuerst waren da die Kupferplatten. Die er immer noch mit sich herumtrug. Sie waren unnötiger Ballast. Gescheit wäre es, wenn er sie bald verkaufte. Er musste nur noch eine geeignete Druckerei finden, die sie ihm abnahm. Die Werkstatt in Frankfurt, mit der er sonst häufig zusammengearbeitet hatte, war einem Feuer zum Opfer gefallen. Welche Offizin gab es sonst noch, die sich für einen Bilderzyklus interessieren könnte, der ausgerechnet die Geschichte des Glückskindes Fortunatus illustrierte?
Vor dem Krieg hatten zahlreiche Druckereien diesen volkstümlichen Schelmenroman verlegt. Er hatte überall Leser. Vor allem in den blühenden Handelsstädten und dem sprießenden Kaufmannsstand, der immer mehr bürgerliche Familien in Wohlstand, manchmal sogar in nicht unbedeutende Machtpositionen versetzt hatte. Die Geschichte des Fortunatus, von der Glücksgöttin mit einem Säckel ausgestattet, das immer, wenn er hineingriff, ausreichend Geld in Landeswährung für ihn bereithielt, war diesen Kreisen eine Bestätigung ihres eigenen Schicksals gewesen. Inzwischen dauerte der Krieg schon so lange, dass keiner mehr an diese Erzählung glaubte. Die Absatzmöglichkeiten waren schlecht geworden. Deshalb hatte Melchior Lechter die Druckplatten günstig bekommen. Aber sie waren fein gearbeitet. Ästhetisch durchaus ansprechend. Es wäre schade, wenn er sie nicht verkaufen könnte. Oder an jemanden, der sie nicht zu würdigen wusste. Andererseits, wenn die Platten angemessen bezahlt wurden, war auch das egal.
Was gab es sonst noch zu tun? Er nahm die Flugschriften zur Hand, die er dem toten Böhmen abgenommen hatte. Die waren wenigstens zu lesen. Er vertiefte sich in die Lektüre des ersten Druckes und war schon im nächsten Augenblick vollständig gebannt. Im oberen Drittel zeigte das Blatt ein Bild. Dargestellt war ein Scheiterhaufen, der auf einem Platz errichtet worden war. Auf ihm stand ein gefesselter Mann. Seine Augen waren verbunden. Neben ihm machte sich ein Scharfrichter mit einer Fackel am trockenen Reisig zu schaffen, das unter den Füßen des Delinquenten aufgehäuft worden war. Im Hintergrund waren mehrere Bürgerhäuser zu sehen. Im Vordergrund hatte sich eine schaulustige Menge eingefunden. Sie reckten die Hälse in die Höhe und beobachteten atemlos die Vorgänge. Unterhalb des Bildes war ein Datum angebracht, das auf einen Tag verwies, der bereits über zwei Jahre zurücklag. Dann folgte in großen Lettern die Überschrift: ›Über das wohlverdiente Todesurteil des Maxim Mugner. Müller von Usedom. Vollzogen in Wolgast‹. Darunter waren Verse gesetzt, die über die Untaten des bösen Müllers aufklärten. Er war ein Hexer gewesen und eines Teufelspakts überführt worden. Als junger Mann war er aus Welschland, wo er die Schwarze Kunst gelernt hatte, auf die Insel gekommen. An einer einsamen Stelle am Meer war ihm ein Dämon in Gestalt einer Katze über den Weg gelaufen. Der schlug dem Müllerburschen einen Handel vor: Er versprach, ihm an dieser Stelle eine Mühle zu bauen, in die er als Meister einziehen könnte. Zeitlebens sollte sie ihm Glück und Wohlstand sichern. Im Gegenzug müsse sich der Müller Maxim Mugner verpflichten, seinem Gönner jeden 13. Mahlgang zu reservieren. Sein Wohltäter wollte ihn dazu benutzen, Menschenköpfe und arme Seelen zu zermahlen. Viele Jahre hinweg hielten sich Müller und Teufel an ihre Abmachung. Der Müller nahm ein Weib und lebte mit ihr in dem Reichtum, den seine Mühle ihm verschaffte. Jeder 13. Mahlgang aber war von einem Ächzen und Stöhnen begleitet, das weit über die Insel zu hören war und schließlich Maxim Mugners Entdeckung durch die Obrigkeit nach sich zog. Der Amtshauptmann des Herzogtums führte einen Hexenprozess gegen den Müller, an dessen Ende dieser gestand. Schließlich wurde er zum Tod durch Verbrennen bei lebendigem Leib verurteilt und dem Henker übergeben.
So wurde die Geschichte des Müllers auf dem Flugblatt beschrieben. Melchior Lechter hatte es nachdenklich und aufmerksam gelesen. Er war froh, dass die Obrigkeit so beherzt und mutig gewesen war, Maxim Mugner seiner gerechten Strafe zuzuführen. Nicht auszudenken, was ein weiteres Wirken des teuflischen Müllers für Folgen hätte haben können. Er war eine Gefahr für jeden Untertanen des Herzogs. Eine Bedrohung, schlimmer als Krieg es je sein konnte. Der Teufel in der Mühle hatte es nicht nur auf das Leben jedes Einzelnen abgesehen, sondern zwang ihm auch den Seelenschatz ab. Melchior Lechter hatte nicht immer alle Gebote der Bibel eingehalten. Aber er hatte sich doch bemüht, seine Sünden im Rahmen zu halten. In keinem Fall wollte er der ewigen Verdammnis verfallen.
Während der Lektüre war ihm ein Gedanke gekommen. Vielleicht war es gut, wenn er nach Usedom ging? Er war im vergangenen Jahr schon einmal dort gewesen. Er hatte von der Teufelsmühle gehört und sogar die Frau des Hexers gesehen. Vor allem aber kannte er dort jemanden, der ihm sagen konnte, worum es sich bei dem Buch des toten Böhmen handelte. Der es ihm, mit etwas Glück, vielleicht sogar abkaufte.
Melchior Lechter schmatzte vor lauter Vergnügen. Wenn er erst einmal auf der Insel war, konnte er dort auch noch diese andere Sache erledigen. Seit dem vergangenen Jahr hatte er sie immer wieder verschoben. Es wurde Zeit, dass er sie endlich in Ordnung brachte. Er dachte an die tote Frau im Meer. Wenn er nach Usedom ging, konnte er den Brief, den er bei ihr gefunden hatte, endlich demjenigen übergeben, der das meiste Interesse an ihm hatte. – Vielleicht war das sogar das größere Geschäft. Möglicherweise entpuppte sich dieses Vorhaben als gewinnbringender als der Verkauf des Prachtbandes.
Mit einem Mal fügte sich alles. Melchior Lechter war mit sich zufrieden. Sehr zufrieden. Er pflückte sich einen Apfel. Biss herzhaft hinein. Dann machte er sich auf den Weg.
Irene legte dasBuch aus der Hand und sah ihren Vater an. Adam Schweiger und seine Tochter saßen in dem notdürftig wiederhergestellten Arbeitszimmer des Pfarrhofes zu Koserow. Sie beschäftigten sich mit dem Meisterwerk des alten, vortrefflichen Dichters, das den gewaltigen Krieg der Griechen gegen die Trojaner, die langwierige Belagerung und die erbarmungslose Zerstörung der Stadt Troja schilderte. Irene hatte ihrem Vater jenen Teil vorgelesen, in dem das Schicksal Trojas und seiner Bewohner endlich die entscheidende Wendung nahm: Bereits zehn Jahre hatten die Griechen vor der Stadt gelagert, als es den Trojanern gelang, zu der gegnerischen Schiffsflotte vorzudringen. Tagelang schon hatten die feindlichen Truppen gegeneinander gekämpft, ohne dass eine Seite den Sieg errungen hätte. Zu ausgeglichen wechselte das Kriegsglück von den Griechen zu den Trojanern und von den Trojanern wieder zu den Griechen. Da endlich gestattete es Zeus den Göttern, sich ins Geschehen zu mischen, um eine Entscheidung herbeizuführen. Menschliche und göttliche Streiter stießen aufeinander. Sieg und Niederlage wechselten sich abermals ab. Und dann, nach 51 qualvollen Tagen und Nächten, war der Untergang der Stadt besiegelt. Heroen und Götter wurden ihrem Schicksal zugeführt: Die Stadt war zerstört. Viele waren auf dem Feld geblieben. – Tote Helden und tote Götter. Die Mehrheit war ermordet worden, einige wurden von den Siegern in die Sklaverei geführt, die wenigsten konnten sich retten.
In Irenes Vater, dem Pfarrer von Koserow, klang das Gehörte nach. Er nickte langsam und müde mit dem Kopf. Im Laufe seines Lebens hatte er gelernt, dass Dichtung und Geschichtsschreibung zwar weise, meist aber unbeachtete Lehrmeisterinnen der Menschheit waren. In unzähligen Büchern waren alle Gräueltaten und Grausamkeiten aufgeschrieben, die der Mensch für den Menschen ersonnen hatte, war festgehalten, was Menschen den Menschen antun konnten. Auch die kleinen Lächerlichkeiten und Eitelkeiten, alle menschlichen Ungereimtheiten waren von den Dichtern dem Lachen des Lesers zugeführt worden. Dazu gab es Interpretationen, die die Folgen der bösen und der gedankenlosen Handlungen darstellten. Sie in ihrer Verwerflichkeit zeigten und bloßstellten. An den Universitäten wurden diese Erklärungen entwickelt, an den Schulen gelehrt und in den Kirchen gepredigt, damit das Versklaven, Foltern, Verstümmeln und Vernichten zu einem Ende komme. Dann gab es noch die anderen, die Weisheitsbücher, die das Zuträgliche schilderten. Die erdacht hatten, was dem Menschen Heilsames vom Menschen widerfahren könne. Welche Linderung die Existenz des einen für das Dasein des anderen bedeuten könne. Die vorstellten, was der Mensch wäre, ließe er ab vom Morden, Töten und Zerstören.
Am Ende seines Lebens war Adam Schweiger aus eigener Anschauung gezwungen zu erkennen, dass alle Anstrengung der Dichter und Weisen vergebliche Liebesmühe gewesen war.
Irene sah ihren Vater an. Sie war erschreckt, wie schnell er in den vergangenen Monaten gealtert war. Vor fast genau einem Jahr war Gustav Adolph auf Usedom gelandet. In den ersten Julitagen 1630 war er mit einer Streitmacht von 13.000 Mann bei Peenemünde an Land gegangen. Wenig später besiegten die Schweden die kaiserlichen Truppen unter Wallensteins Kommando. Bei ihrem Abzug hatten sie eine verwüstete und verelendete Insel hinterlassen, die mit Hunger, Not, Verzweiflung und Tod überzogen war. Vor allem der harte Winter war eine Katastrophe gewesen. Schon im Spätherbst war im unteren Teil der Insel, in der Gegend um Mönchow, eine Hungersnot ausgebrochen. Sie hatte sich an der Südküste entlanggefressen, ihren Weg mit unverminderter Kraft über Neverow, Zirchow und Ulrichsdorf durch das Landesinnere genommen. Hatte sich vorgebissen bis an die Seen bei Retzow und Pudagla, wo sie durch den Fischfang eine leichte Schwächung erlitt. Schließlich hatte sie die Ostküste erreicht, um im Koserower Land, das von den schwedischen Brandschatzungen immer noch entkräftet war, auf ideale Bedingungen zu treffen. Hatte sich dort eingenistet und bis in den Frühling hinein Station gemacht. Mit Beginn der besseren Jahreszeit wurde dann das ganze Ausmaß des Elends sichtbar: Als die Tage länger und wärmer wurden, der Schnee schmolz, die Straßen wieder passierbar waren, fassten die Menschen langsam neuen Mut, kamen sie in den Gasthöfen, den Kirchen, an den Anlegestellen der Häfen zusammen und berichteten, was sich in den Dörfern zugetragen hatte.
Irene hatte viele Geschichten gehört, die alle ähnlich waren. Sie handelten vom Hunger, dessen schwarze Gestalt über Land ging. Ringsum trieb er die Menschen erst in Raserei und dann in Erschöpfung. Ihre Amme Else hatte Irene von einer Familie erzählt, die in einer Hütte ganz in der Nähe von Koserow wohnte. Seit dem Beginn der Schneefälle Anfang Dezember war die Kate vom Dorf abgeschnitten. Als sich Else nach der Schneeschmelze zusammen mit einigen anderen zu dem Weiler aufmachte, fand sie die Familie verhungert. Zwischen den Zähnen waren Reste ihrer Kleider, die sie zu essen versucht hatten.
Der Hunger bedeutete aber nicht nur körperliches Elend, sondern setzte sich auch in den Seelen der Menschen fest. Wer ihn zum Begleiter hatte, verkam je nach Charakter in Kummer und Unglück oder in Rohheit und Gewalt. Selbst der Zusammenhalt von Leidensgenossen, der sich anfangs noch als starkes Band erwiesen hatte, löste sich nach und nach auf. Diejenigen, die vom gräulichsten Hunger getrieben wurden, wussten sich nicht mehr zu helfen und aßen nicht nur ungewöhnliche Speisen wie Hunde, Katzen und allerlei Aase, sondern fielen denjenigen Mitmenschen an, der das Unglück hatte, noch ein bisschen schwächer zu sein, kochten und verzehrten ihn. Der Mensch wurde zum Tier. Eine allgemeine Bestialität hatte sich auf der Insel ausgebreitet, die sogar die natürlichsten Bindungen außer Kraft setzte. Irene hatte von einer Frau gehört, die von den Entbehrungen offensichtlich in den Wahnsinn getrieben worden war. Im Januar 1631, dem kältesten und aussichtslosesten Monat dieses Winters, hatte sie, so wurde berichtet, in einem Anfall von Irrwitz ihr neugeborenes Kind geschlachtet und verspeist.
Irene war sich nicht sicher, ob sie diesem Gerücht Glauben schenken sollte. Selbst Homer, der mit Grausamkeiten nicht gespart und die Bestialität des Menschen in allen Facetten beschrieben hatte, kannte diese Unmenschlichkeit nicht. Aber, dachte Irene grimmig, die Kontrahenten der Trojaner waren die Griechen, die selbst in Blutdurst und Brutalität noch edel waren. Nicht die Schweden und vor allem nicht die eigene Verzweiflung, die wahrscheinlich der unbarmherzigste Gegner war, an den man geraten konnte.
Irene waren diese Feinde bestens vertraut. In den letzten Monaten hatte sie genügend Gelegenheit gehabt, mit ihnen Bekanntschaft zu machen. Kurz nachdem die Schweden Wallenstein besiegt hatten, waren sie in den Ort eingefallen, in dem Irene geboren und aufgewachsen war. Sie hatten ihn allerdings nicht zehn Jahre belagert wie die Griechen Troja. Im Gegenteil: Sie waren nicht lange geblieben. Aber die Zeit, die sie dort gehaust hatten, war ausreichend gewesen, um das Dorf zu verheeren und seine Einwohner ins Elend zu stürzen. Sie hatten die Äcker der Bauern angezündet, auf denen schon das Getreide reifte. Die wenigen Felder, die von dieser Vernichtung verschont geblieben waren, hatten bald darauf marodierende Soldaten, die auf eigene Faust auf Gewalt und Zerstörung ausgingen, verbrannt.
In der Kirche hatten die Schweden während der Belagerung einen Pferdestall eingerichtet. Auf dem Kirchplatz hatten sie die Bewohner von Koserow zusammengetrieben. Sie hatten Spieße, Bajonette und Gewehre auf sie gerichtet und ihnen damit bei jeder Bewegung gedroht. Währenddessen benutzten ihre Kameraden die Abwesenheit der Einwohner dazu, deren Häuser und Hütten nach Wertgegenständen zu durchsuchen und, so sie solche fanden, zu rauben und das, was des Raubes nicht wert war, zu zerstören.
Irene dachte mit Abscheu an jene Stunden, die die Dorfeinwohner vor der Kirche ausharren mussten. Es war heiß gewesen. Sie standen in sengender Sonne und in der Glut verbrennender Felder. Von Zeit zu Zeit sah Irene, wie Flammen in den Sommerhimmel züngelten. Sie hörte aus der Ferne die freudigen Schreie, wenn die schwedischen Landsknechte etwas gefunden hatten, was sich mitzunehmen lohnte, und die wütenden Rufe, wenn sie enttäuscht eine ärmliche Behausung mit leeren Händen verlassen mussten. Sie vernahm auch die Tiere auf den Bauernhöfen, die in Todesangst schnatterten, grunzten, blökten und brüllten. Und sie hörte die Stille vor der Kirche: Es war Mittag, die Hitze stand auf dem Platz, kein Lüftchen regte sich und auch die Menschen, in Schach gehalten durch schwedische Waffen, wagten nicht, einen Laut von sich zu geben. Über ihnen spannte sich der schönste, blauste Sommerhimmel. Mitleidlos strahlte die Sonne auf Koserow.
Damals hatte Irene zum ersten Mal das Alter ihres Vaters empfunden und Angst um ihn gehabt. Sie hatte sich gefragt, was passieren würde, wenn er die Strapaze nicht überstehen sollte. So wie Lisbeth Mugnerin, die sogar noch jünger war als er. Nachdem ihr Mann in einem spektakulären Hexenprozess zum Tode verurteilt und verbrannt worden war, war sie nicht mehr ganz richtig im Kopf und körperlich immer mehr verfallen. Schon bald nach der Hinrichtung des Müllers hatte sie das kleine Häuschen, das sie neben der Mühle bewohnte, verlassen. Es wurde berichtet, dass sie vor dem Teufel floh, der ihren Mann geholt hatte. Irene war über diese Geschichte im Zweifel. Sollte sie sie glauben? Sie hatte ihren Vater gefragt. Er hatte ihr erklärt, dass dort, wo es einen Gott gebe, auch ein Teufel sei. Und es besser wäre, ihn auszutreiben und zu meiden.
Keiner wusste recht, wo sich Lisbeth Mugnerin seitdem aufhielt. Man sah sie dann und wann in den Dörfern der Gegend. Unglücklicherweise war sie kurz vor dem schwedischen Einfall nach Koserow gekommen und wurde mit den anderen zusammen auf den Dorfanger befohlen. Sie konnte sich schon bald nicht mehr auf ihren geschwollenen Beinen halten und war unter konvulsivischen Zuckungen zusammengebrochen. Sie blieb reglos liegen. Keiner wollte ihr zu Hilfe eilen. Einzig einer der schwedischen Soldaten stieß mit seinem Gewehrkolben nach Lisbeth, anfangs vorsichtig und zaghaft, als befürchte er, den Teufel wiederzuerwecken, der ganz offensichtlich in diese Frau gefahren war. Dann, als sie auf die Berührung nicht reagierte, grob und brutal. Schließlich traute er sich, griff sie an den Schultern und schleifte sie von dem staubigen Platz. Augenblicklich herrschte dieselbe gespenstische Ruhe wie vorher. Lisbeth Mugnerin aber hatte seitdem niemand mehr gesehen. Weder in Koserow noch in einem der benachbarten Dörfer. Man nahm an, dass sie tot war. Wahrscheinlich hatten die Schweden sie im Wald vergraben oder in die Ostsee geworfen. Oder der Teufel hatte auch sie geholt.
Irene erinnerte sich nicht mehr, wie lange sie auf dem Kirchplatz stehen mussten. Irgendwann, nach einer Ewigkeit, hatten die Plünderer ihr Werk vollendet und kamen zur Kirche zurück. Einer der Soldaten gab den Koserowern den Befehl, nach Hause zu gehen. Irene sah noch, wie die Schweden ihre Pferde aus der Kirche holten, aufsaßen und davonritten. Nein, sie waren nicht lange geblieben. Aber bei ihrem Abzug hinterließen sie ein verheertes Dorf mit abgebrannten Äckern, zerstörten Häusern und erstochenen Tieren. Es waren nur ein paar lächerlich einfache Handgriffe notwendig gewesen, um vielen Menschen das Leben zu ruinieren, das seitdem keiner mehr mit der gewohnten Selbstverständlichkeit führen konnte. Dabei hatte Koserow noch Glück gehabt. Aus einer guten Laune heraus hatten die Schweden auf Exekutionen verzichtet. Außer Lisbeth Mugnerin war niemand zu Tode gekommen oder verletzt worden. Äußere Blessuren jedenfalls hatten die Bewohner des Dorfes nicht davongetragen. Den meisten hatte der Nachmittag der schwedischen Plünderung innere Wunden geschlagen, dachte Irene beim Anblick ihres Vaters.
Der saß unterdessen mit abwesendem Gesicht an seinem Schreibtisch. In sich versunken und hing seinen Gedanken nach. Die Beschädigungen, die die Schweden hinterlassen hatten, waren noch immer zu sehen. Aber den Zustand des Raumes konnte man nicht mehr mit demjenigen vergleichen, in dem er den Pfarrhof nach jenem Nachmittag auf dem Kirchplatz vorgefunden hatte. Die zerschlagenen Gegenstände hatten Irene und Else aus dem Zimmer entfernt, gleich nachdem sie zurückgekommen waren: Tische, Stühle, Bänke, Regale und – besonders traurig – die beiden Globen, von denen der eine die Erde, der andere das Himmelsgewölbe zeigte. Die beiden Kugeln waren die Zierde der Bibliothek gewesen. Der Erdglobus war nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen des Philipp Apian bemalt. Die Positionen der Planeten auf dem Himmelsglobus waren nach den Tabellen des Kopernikus berechnet. Goldene Nägel kennzeichneten die größten Sterne, die durch eine figürliche Darstellung der Sternbilder verbunden waren. Besonders aufwendig waren die Mechanik, die der Pfarrer von einem berühmten Uhrmacher hatte anfertigen lassen, und die kunstvoll geschnitzten Gestelle der Globen. Sie liefen in schön geschwungenen Füßen aus, die die Gestalt von Delfinen hatten.
Die Zeiten, in denen Adam Schweiger diese seine Sterne in Blickweite gehabt hatte, waren vorbei. Unwiederbringlich. Nach dem Einfall der Schweden hatte der Pfarrer die Globen, diese Meisterwerke des Kunsthandwerks, durch Säbelhiebe zerschlagen und zu einer Art Scheiterhaufen zusammengelegt auf dem Fußboden seines Arbeitszimmers gefunden. Die Soldaten hatten versucht, die Trümmer anzuzünden. Gelungen war es ihnen nicht. Die Zeit hatte nicht ausgereicht, um das widerständige Material ganz zu vernichten. Zurückgeblieben waren ein etwas verkohlter Himmel und eine wenig geschwärzte Erde. Ein gutes Zeichen, wie Adam Schweiger damals noch in vollem Gottvertrauen dachte. Dieser Krieg war zwar ein Weltenbrand. Aber bald musste er ein Ende haben, nachdem er nun schon ins vierzehnte Jahr ging. Danach würden Erde und Himmel eine Weile ruhen, neue Kräfte sammeln und schließlich wie der Vogel Phönix aus der Asche erstehen.
Aber wann kam dieser Zeitpunkt? Inzwischen währte der Krieg ein weiteres Jahr. Ein Ende war nicht in Sicht. Für ihn selbst, den alten Pfarrer, konnte dieser ersehnte Neuanfang nicht mehr rechtzeitig kommen. Mit dem Blick auf die Sterne hatte er sein Leben verbracht. Er hatte sich in seiner Jugend durch viel Widriges hindurchschlagen müssen. Auch später hatte ihn sein Lebensweg durch raue, sogar durch manche schlimme Gegenden geführt, die er lieber nicht passiert hätte. Aber er hatte sich immer nach den Sternen richten können. Hatte sich von ihnen leiten lassen und nie die Zuversicht verloren, dass er sie eines Tages zu greifen bekäme.
Nun lagen die Sterne des Pfarrers, auf die er immer vertraut hatte und die ihm Zuversicht gegeben hatten, zertrümmert in der Scheune. Mit dem Verlust ihres täglichen Anblicks war auch seine Lebenskraft verschwunden. Er war ein Greis geworden, der nichts mehr zu sagen hatte. Die Predigten und die übrigen Pflichten, die er in der Gemeinde wahrnehmen musste, hatten ihm schon früher keine Freude bereitet. Er hatte sie als lästige Zeitverschwendung empfunden. Nach der Zerstörung seines Hauses waren sie vollends zur Qual geworden. Er hatte sie immer mehr vernachlässigt, dann sogar ausfallen lassen. Die wenigen Schäfchen, die ihm geblieben waren, hatte er in die Nachbargemeinden geschickt. Er, der Hirte, hatte sie nicht gegen den Löwen, der aus Mitternacht gekommen war, verteidigen können. Sollten sich jüngere Amtsbrüder, denen noch nicht die Kraft ausgegangen war, um sie kümmern. Die einen erneuten Überfall eines Löwen oder Wolfes auf die friedliche Herde mit ein paar Stockhieben parieren konnten. Er selbst hatte keine Zähne mehr. Er konnte nicht mehr zurückbeißen, wenn ihn jemand biss, und wenn andere, die ihm anvertraut waren, gebissen wurden, erst recht nicht. Er war für die Menschen ganz und gar nutzlos geworden.
Er wollte in seinem Sessel sitzen bleiben, so lange, bis ihm Gevatter Tod die Hand reichte. Er hatte keine Angst vor ihm. Vor Jahren hatte er auf einer Reise die kleine Plastik eines süddeutschen Künstlers gesehen, der aus Lindenholz ein zierliches Skelett geschnitten hatte, das den Betrachter aus seinen Augenhöhlen verführerisch anschaute und ihm mit seinem lippenlosen Mund verheißungsvoll zulächelte. Bewaffnet war es mit Amors Werkzeugen. Und wer von seinem Pfeil getroffen wurde, hatte sicher nicht das schlechteste Los gezogen. Er hatte die kleine Figur gekauft und in seiner Kirche gegenüber der Kanzel anbringen lassen. Seitdem hatte er sie bei jeder Predigt im Auge und hielt stumme Zwiesprache mit ihr.
Nein, der Pfarrer hatte keine Angst, sondern hoffte, dass möglichst bald ein Schuss aus diesem Köcher ihm gälte. Es quälte ihn nur die Frage, was aus Irene werden sollte. Er ließ das Kind mehr oder weniger mittellos zurück. Früher hatte er eine große Bibliothek besessen, die von einigem Wert war. Nach seinem Tod hätte Irene eine Auktion veranstalten müssen und von dem Erlös gut leben können. Wenngleich ihn der Gedanke immer geschmerzt hatte, dass seine Sammlung dabei in alle Winde zerstreut worden wäre. Aber auch diese Sorge hatten ihm die Schweden abgenommen. Er blickte abermals im Zimmer umher und sah in die Löcher, die ihr Überfall in seine Regale gerissen hatte.
Seine Bibliothek war die Büchersammlung eines humanistisch gebildeten Theologen. Adam Schweiger hatte sie seit seiner Studienzeit mit vieler Mühe und vielem Geld systematisch zusammengetragen. Er hatte die wichtigsten Autoren der klassischen Antike gesammelt. Ferner besaß er fast die gesamte reformatorische Literatur. Außerdem die gängigen Werke der Artes liberales. Später hatte er die grammatischen, rhetorischen und dialektischen Lehrbücher dazu verwandt, seiner Tochter die lateinische und die griechische Sprache beizubringen.
Der Ruf dieser Bibliothek, die sich im Haushalt eines Dorfpfarrers versteckte, hatte sich bald verbreitet. Bevor der Krieg ausgebrochen war, stand sie auf der Höhe der blühenden Buchkultur seiner Gegenwart und hatte sogar manchen bedeutenden ausländischen Gelehrten angezogen. Was nach dem Einfall der Schweden davon übrig blieb, war kaum eines Blickes würdig.
Traurig hatte der Pfarrer damals sein Lebenswerk überblickt, das sich in zerrissenen Büchern und zerfetzten Papieren auf dem Boden ausgebreitet hatte. Unter seinen Büchern waren zum Teil reich illuminierte Exemplare, zum Teil sogar Handschriften mit Goldgrundillustrationen gewesen. Er hatte eine Bibel besessen, die von Gutenberg selbst gedruckt worden war. Einige ihrer Seiten hatte er an verschiedenen Stellen von Haus und Hof wiedergefunden. Sie waren zerrissen, verdreckt, von Pferden übertrampelt, aufgeweicht. Die letzten Teile, die er entdecken konnte, waren auf dem Misthaufen gelandet, der Rest war verloren. Es würde Jahre dauern, die Verluste zu ersetzen. Teilweise würde es sogar völlig unmöglich sein. Von der Wiederherstellung der wohldurchdachten und jahrzehntelang entwickelten Ordnung ganz zu schweigen. Vor der Aussichtslosigkeit dieses Unternehmens hatte er kapituliert. Zumal die Handels- und Reisewege, die früher eine problemlose Versorgung auch des Dörfchens Koserow mit Büchern und Drucksachen aller Art garantiert hatten, gefährlich und nur noch eingeschränkt benutzbar waren.
So war ihm nichts anderes übrig geblieben, als die Geschäfte, die er vor dem Krieg betrieben hatte, einzustellen. Anfangs hatte er sich noch gewünscht, in sein früheres Dasein zurückzukehren und seinen gewohnten Tätigkeiten nachzugehen. Schon bald aber fiel dieser Wunsch von ihm ab. Er wurde immer passiver. Saß Tag für Tag an seinem Schreibtisch und starrte vor sich hin. Ein Widerschein der alten Zeiten waren allenfalls diejenigen Stunden, in denen sich Irene zu ihm setzte, um ihm vorzulesen. Aber auch das machte ihn zunehmend melancholisch. Es kamen ihm zu viele Erinnerungen aus früheren Tagen in den Sinn, die ihm den Unterschied zwischen einst und jetzt erst recht deutlich vor Augen führten.
Am sorgenvoll zerfurchten Gesicht ihres Vaters erkannte Irene, dass er über den Ruin des vergangenen Jahres nachdachte. Auch sie hatte die Verluste bedauert, die sie erlitten hatten. Insbesondere den der Bibliothek. Sie war mit der Büchersammlung ihres Vaters groß geworden, die immer ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens gewesen war. Schon als Kind hatte Irene sich gerne im Arbeitszimmer des Pfarrers aufgehalten. Als Heranwachsende hatte sie langsam begonnen, die Bedeutung der Sammlung zu verstehen. Ihr Vater hatte sie bereits früh im Griechischen und Lateinischen unterrichtet. Sie hatte Talent gezeigt und war bald in der Lage gewesen, die Texte antiker Autoren zu lesen.
Sie hatte die Bibliothek ihres Vaters mindestens ebenso geliebt wie er und jedem einzelnen Schweden, der an ihrer Zerstörung beteiligt war, Pest, Hölle, Tod und Teufel an den Hals gewünscht. Im Laufe des vergangenen Jahres aber hatte sie begonnen, die Bibliothek selbst zu hassen. Denn sie sah, wie sehr ihr Vater unter ihrem Verlust litt. Die Stimmung im Haus war gedrückt. Ihr Vater sprach kaum noch. Stundenlang saß er in einem Sessel vor seinem Schreibtisch und starrte vor sich hin. So oft sie konnte, setzte sie sich zu ihm und las ihm aus den Büchern vor, die ihnen geblieben waren. Das war der einzige Zugang, den sie noch zu ihm hatte. Früher hatte er im Anschluss an die Lesungen immer mit ihr über das Gehörte gesprochen. Er hatte ihr sein Verständnis mitgeteilt und war an ihrer Meinung interessiert gewesen. Zuweilen hatten sie auch versucht, die lateinischen und griechischen Texte gemeinsam in schönes Deutsch zu übersetzen. Diese Stunden hatte Irene als besonders glücklich in Erinnerung.
Manchmal hatte sogar ein auswärtiger Gelehrter, der auf der Durchreise die Bibliothek des Pfarrers besichtigte, an diesen Kolloquien teilgenommen und dem gelehrten Disput zwischen Vater und Tochter eine weitere Stimme hinzugefügt. Irene erinnerte sich, dass sie einmal gleichzeitig einen Magister der Philosophie aus Leipzig und einen Doktor der Theologie aus Paris bei sich zu Gast hatten. Alle beide hatten für ein Semester an der Universität Greifswald gelehrt und sich vor ihrer Rückkehr in die Heimat entschlossen, die Bibliothek von Koserow zu besichtigen. Das musste im letzten Sommer gewesen sein, bevor die Schweden kamen. Der Theologe hatte aus Paris das neue Traktat eines französischen Gelehrten mitgebracht, in dem dieser Regeln zum Gebrauch des Intellekts erstellt hatte. Er behauptete, dass es eine universelle Methode zur Erforschung der Wahrheit geben müsse, die auf Logik und Plausibilität beruhe und durch den richtigen Einsatz der Verstandeskräfte im großen Buch der Welt gefunden werden könne.
Irene dachte daran, dass zu dieser Zeit noch menschliche Stimmen im Haus zu hören gewesen waren. Sie hatten ein geselliges Leben geführt: Es kamen Gelehrte mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Und das Haus hatte geklungen von Meinungen, Ansichten und Interpretationen. Es kamen Agenten, die ihr Vater beauftragt hatte, sich nach bestimmten Büchern umzusehen. Und das Haus hallte wider von Namen berühmter Sammler und Bibliothekare, die gewillt waren zu verkaufen oder zu tauschen. Es kamen fliegende Buchhändler, die im Auftrag eines Verlegers oder auf eigene Rechnung mit ihrem Sortiment über Land reisten und an Ort und Stelle Geschäfte machten. Und das Haus summte vom Verhandeln über Preise und dem Beratschlagen über günstige Verkaufsorte. Mit den meisten dieser sogenannten Buchführer verband den Pfarrer eine langjährige Bekanntschaft. Sie kamen besonders gern nach Koserow, weil sie wussten, dass Adam Schweiger nicht nur ein guter Kunde war, sondern auch, weil er ihnen erlaubte, theologische Schriften im Vorraum der Kirche zu verkaufen, und zudem dafür sorgte, dass ihre Ankündigungen und Preiszettel auf den Jahrmärkten der Umgebung publik gemacht wurden. In jenen Tagen herrschten rege Tätigkeit und Betriebsamkeit im Pfarrhof. Handel und Wandel gingen ihren Gang. Irene und die alte Else hatten alle Hände voll damit zu tun, Verköstigung und Unterkunft bereitzustellen, und der Pfarrer hatte verhandelt, disputiert, gekauft und getauscht.
Von alledem war nichts übrig geblieben. Es kam niemand mehr. Es regierten Totenstille und Einsamkeit. Es war, als ob die Schweigsamkeit, die an jenem Nachmittag des schwedischen Überfalls vor der Kirche herrschte, das Leben im Pfarrhof in Bann geschlagen hätte. Irene sah ihren Vater an, der stumm vor ihr saß, seinen Gedanken nachhing und nicht mit ihr sprach. Tagein, tagaus. Seit einem Jahr, in widerspruchslos hingenommener Eintönigkeit.
Mit dem Einzug von Schweigen und Einsamkeit in den Pfarrhof von Koserow war das Haus nicht mehr das, was es früher für Irene gewesen war. Sie hatte alle heimatlichen Gefühle verloren. Das Haus, in dem sie geboren worden war, hatte sich zu einem Ort entwickelt, an dem sie nichts mehr hielt außer der Sorge um ihren alten Vater. Deshalb hatte sie sich seit einem Jahr von Tag zu Tag geschleppt. Äußerlich unverändert, hatte sie versucht, durch alte Gewohnheiten die Illusion ihres früheren Lebens aufrechtzuerhalten.
Was ihr schlecht gelungen war. Irene fühlte in diesem Augenblick deutlich, was sich ihr in den letzten Wochen immer öfter vor Augen gestellt hatte: Lange konnte sie dieses Leben nicht mehr führen. Sie half ihrem Vater dadurch nicht. Sie konnte ihn auf diese Weise nicht aus seinen Grübeleien erlösen.
Aber auch ihren eigenen Zustand musste sie überdenken. Es musste etwas geschehen. Sie musste etwas tun. Sie musste ihre Lage ordnen. Sie musste sich verändern. Eine Entscheidung musste herbei. Sie dachte an den Text von Homer, den sie gerade gelesen hatte. Es wurde höchste Zeit, dass auch ihr Schicksal eine grundlegende Wendung nahm. Und wenn die Götter ihr nicht halfen, weil das Leben der Irene Schweigerin, im Gegensatz zum Geschick Trojas, nicht im Zentrum ihres Interesses stand, musste sie sich eben selbst darum kümmern. Was sollte aus ihr werden, wenn sich der Gesundheitszustand ihres Vaters weiterhin verschlechterte und er am Ende starb?
Sie konnte auf keinen Fall länger in Koserow sitzen. In einem zerschossenen Ort, an dem sie keinerlei Ansprache und keinerlei Aufgabe hatte. Niemanden und nichts, das ihr eine Zukunft oder Perspektive bieten konnte. In der dörflichen Gemeinschaft war sie eine Außenseiterin. Sie war das Kind des Pfarrers und hatte nicht zu den Kindern der Bauern gepasst. Sie war die Tochter eines Gelehrten, der sie in den alten Sprachen unterrichtet hatte, und hatte nicht die Fertigkeiten gelernt, die andere Mädchen in ihrem Alter selbstverständlich beherrschten. Sie war keine Hausfrau und konnte die Kenntnisse, die sie sich angeeignet hatte, in keinem Beruf anwenden. Sie hatte das Handwerk ihres Vaters gelernt, das keines war, mit dessen Hilfe sie in einen Betrieb einheiraten und zur Meisterin werden könnte. Sie besaß auch kein Vermögen, durch das sie selbstständig leben könnte oder auf dem Heiratsmarkt interessant gewesen wäre. Jetzt weniger denn je. Sie war noch nicht einmal katholisch und konnte in kein Kloster gehen. Das einzige, was sie beherrschte, waren alte, tote Sprachen, die niemand mehr sprach.
Aber sie konnte schreiben und lesen. In den vergangenen Tagen hatte sie sich darauf besonnen, dass es diese Fähigkeiten waren, die für den gewünschten Wechsel in ihrem Leben sorgen konnten. Sie wusste, dass es in Wolgast eine Druckerei gab, die dringend Korrektoren suchte. Das Pech der Druckerei und vielleicht das Glück der Irene Schweigerin war, dass auch in der ehemaligen Residenzstadt die Schweden gewütet hatten. Dort waren viele der einheimischen jungen Männer, die nicht im Feld standen und sich nicht gut genug versteckt hatten, entweder gefangen genommen oder erschossen worden. Es fehlten Lehrlinge in fast allen Bereichen. Auch in der Druckerei von Ratdolt und Speyer. Johann Speyer hatte zwar einen Sohn, der schon lange in das Geschäft seines Vaters hätte einsteigen können. Aber irgendein Zerwürfnis, über das Irene nichts Näheres wusste, hatte den Eintritt des jungen Mannes verhindert und der Werkstatt seine Arbeitskraft entzogen. Irene wollte sich dort vorstellen. Mit ein bisschen Glück konnte sie eine entsprechende Stellung bekommen. Die inhaltlichen Kenntnisse, die sie über die alten Texte mitbrachte, waren dabei sicher nicht von Nachteil. Bisher hatte sie es nur noch nicht übers Herz gebracht, mit ihrem Vater über diesen Plan zu reden. Er würde sich von ihr allein gelassen fühlen. Aber vielleicht war jetzt eine gute Gelegenheit? Jedenfalls keine schlechtere als sonst auch. In jedem Fall musste dieses Schweigen endlich ein Ende haben.
Das Schweigen hatte ein Ende. Für Irene völlig unvermutet, wurde es von ihrem Vater selbst gebrochen. Sie war so in ihre Betrachtungen vertieft gewesen, dass sie ein Klopfen an der Tür überhört haben musste. Jedenfalls hatte Adam Schweiger »Herein« gesagt. – Aus alter Gewohnheit laut und deutlich, wenn auch mit einer etwas brüchigen Stimme, der man anmerkte, dass sie nicht mehr regelmäßig gebraucht wurde, die aber immerhin den Raum mit einem Echo aus früheren Zeiten füllte. Die Tür hatte sich geöffnet. In ihr stand Else.
Else war die Frau eines armen Fischers gewesen, der kurz nach der Hochzeit während eines Sturms in der Ostsee ertrank. Wenige Tage darauf starb Adam Schweigers Frau bei Irenes Geburt. Der Pfarrer, der eine Amme für seine Tochter benötigte, holte die Witwe des Fischers zu sich ins Haus. Sie kam gerne zu ihm, vor allem, weil sie gerade selbst ein Kind zur Welt gebracht hatte, mit dem sie mutterseelenallein in einer dürftigen Hütte hauste. Dankbar war Else ins Pfarrhaus gezogen und hatte gehofft, dass sich ihr Leben nun zum Besseren wenden würde. Eine Erwartung, die enttäuscht wurde: Kurz nach ihrer Ankunft starb ihr Sohn, der zu lange unter den schlechten Bedingungen in der Fischerhütte gelebt hatte. Else hatte ihn begraben, hatte Irene aufgezogen und dem Pfarrer den Haushalt geführt. In seinen Diensten war sie langsam ergraut. Hatte sich aber die ungebrochene Tatkraft bewahrt, die sie schon als junge Frau befähigt hatte, mit den Schicksalsschlägen ihres Lebens fertig zu werden. Manchmal dachte Irene, es sei nur Elses Energie und Rührigkeit zu verdanken, ihrem unverbrüchlichen Lebensmut und ihrer Zuversicht, dass sie den Hungerwinter nach dem Einfall der Schweden überlebt hatten. Wie es Else geschafft hatte, alle im Pfarrhof regelmäßig mit Essen zu versorgen, war Irene immer noch ein Rätsel. Nur unter der zunehmend bedrückten Stimmung im Haus hatte auch die Alte zu leiden begonnen. Sie hatte sich verschlossen, war nicht mehr so fröhlich wie sonst. Wurde reizbar und schnell ungeduldig. Heute aber hatte ihr zerfurchtes Gesicht einen hoffnungsvollen Ausdruck, den Irene schon lange nicht mehr an ihr gesehen hatte. Auch Elses Haltung kam Irene aufrechter vor als in der letzten Zeit.
Sie trat ein paar Schritte in den Raum. »Verzeiht, dass ich störe.« Else war ein wenig außer Atem. »Aber ich habe gute Neuigkeiten.« Der Pfarrer sah sie fragend an, erstaunt über die ungewöhnliche Unterbrechung seiner Ruhe. »Draußen ist ein Buchhändler. Er bietet in der Gegend seine Waren an«, fuhr Else fort. »Ich weiß ja, dass Ihr doch gern Bücher kaufen würdet, und habe ihn gleich mitgebracht«, setzte sie aufmunternd hinzu. »Vielleicht hat er ja was, was Euch gefällt.«
Diese Worte wirkten wie Medizin auf den Pfarrer. Seine Lebensgeister erwachten. Er räusperte sich, straffte sich, stand vom Sessel auf und ging auf die Tür zu. Erst mit den stolpernden Bewegungen eines alten Mannes, dem das Aufstehen Mühe bereitete und der schon so verfallen und ausgetrocknet war, dass ihm die Schuhe zu groß geworden waren. Dann aber wurde sein Gang mit jedem Schritt, den er tat, fester. Er blickte erwartungsvoll nach draußen, räusperte sich abermals und winkte den Mann, den Else angekündigt hatte, ins Zimmer. »Tretet ein«, ermunterte er ihn und seine Stimme glich schon wieder fast derjenigen, mit der er früher seine Pfarrkinder angesprochen hatte, wenn sie ihn, wegen einer Verfehlung vom schlechten Gewissen geplagt, zu einer Unterredung aufgesucht hatten. »Kommt herein. Ich tue Euch nichts. Und meine Tochter Irene, die Ihr hier bei mir seht, ist mit ihrem eigenen Buch beschäftigt und wird uns nicht stören.« Der Pfarrer musste husten. Diese Schwächung seines Gegenübers aber war es, die den Angesprochenen offensichtlich ermunterte. Erst jetzt wagte er es, das Zimmer zu betreten.
Es trat ein kleiner, drahtiger Mann ein, dessen Ausdruck teils misstrauisch, teils bauernschlau war. Sein Gesicht war gebräunt. Seine Leinenkleider waren mit dem Staub der Landstraße bedeckt. Irene sah zu ihm hin. Sie kannte ihn nicht. Er war keiner der Buchhändler, die bei ihrem Vater vor dem Krieg ein und aus gegangen waren. Sie empfand Abneigung. Der Mann versuchte, in sein Gesicht einen freundlichen Ausdruck zu zwingen. Die Anstrengung, die ihn das kostete, war deutlich zu sehen. Er hatte überhaupt etwas Angespanntes an sich. Das Grinsen, zu dem er seinen Mund verzog und das er wohl für ein geschäftsförderndes Lächeln hielt, verlieh seinem Gesicht etwas Fratzenhaftes. Aber noch etwas anderes irritierte Irene, ohne dass sie sagen konnte, was es war. Etwas stimmte nicht mit ihm. Er hatte einen eigenartigen Blick. Lediglich mit dem rechten Auge schien er erst den hustenden Pfarrer, dann, argwöhnisch, sie selbst und schließlich das ganze Zimmer zu erfassen. Der Blick des linken Auges war seltsam tot und ging unbestimmt ins Leere. Er wirkte gehetzt und schien nicht ganz bei der Sache zu sein, was er durch übertriebene Höflichkeit zu kaschieren suchte.
Untertänig katzbuckelnd, kam er heran. »Herr Pfarrer, Jungfer Pfarrerstochter«, begrüßte er die Anwesenden. Sowie er die Lippen öffnete, sah Irene, dass ihm der untere rechte Schneidezahn und der obere linke zur Hälfte fehlten. Sie waren symmetrisch aus seinem Kiefer herausgebrochen und machten sein Gesicht vollends abstoßend. Er verbeugte sich schräg gegen Irene und fuhr mit schmeichlerischer Stimme fort: »Ich freue mich, Euch meine Angebote machen zu können. Ich komme direkt aus Frankfurt und habe auf dem Weg immer wieder von Eurer Bibliothek gehört.« Er unterbrach sich und sprach nach unmerklichem Zögern weiter: »Das letzte Mal war ich während der schwedischen Belagerung auf Usedom. Damals bin ich aber nicht bis nach Koserow gekommen. Ich hatte seinerzeit den Weg genommen, der über die einsame Mühle am Meer führt. Wollte ich eigentlich nicht. Man hört nichts Gutes von dort. Aber wenn ich eine andere Route gewählt hätte, wäre ich den Truppen von Gustav Adolph in die Hände gefallen. Und Schwierigkeiten wollte ich vermeiden. Also bin ich nicht nach Koserow, sondern bin vor der Mühle abgebogen.«
Einen Augenblick verlor sich sein Blick in der Vergangenheit. Gleich darauf aber besann er sich wieder und die Ruhelosigkeit, die Irene schon bei seinem Eintritt aufgefallen war, ergriff erneut von ihm Besitz. »Ist ja Gott sei Dank nichts passiert«, fuhr er mit einem Lächeln, das wahrscheinlich gewinnend sein sollte, fort. »Jedenfalls habe ich damals schon von den Plünderungen gehört. Ein Jammer, welch ein Jammer«, sagte er und sah sich mit einer Miene, der er nun offensichtlich einen mitleidigen Zug verleihen wollte, im Raum um. »Diese leeren Regale sind eine Schande. Aber mit meiner Hilfe sollten sie schon bald wieder gefüllt sein. Ich führe alle Messeneuheiten mit mir. Seht her«, er griff in die lederne Tasche, die er, über die Schulter gehängt, mit sich trug. Aus ihren Tiefen förderte er mehrere Blätter zutage, die zu einem Konvolut zusammengeheftet waren. »Überzeugt Euch selbst. Hier habe ich alle Titel derjenigen Bücher, die ich mitgebracht habe. Sie lagern im Moment noch auf dem Festland. In Wolgast. Bei Ratdolt und Speyer. Aber es wird mich keine Mühe und nur wenig Zeit kosten, Euch die gewünschten Bände nach Koserow zu bringen. Und hier«, an dieser Stelle griff er zum zweiten Mal in seine Tasche, »habe ich eine Übersicht über das ganze Sortiment, das ich in Frankfurt liegen habe. Ganz zu Euren Diensten.«
Adam Schweiger nahm die beiden Listen entgegen. »Ich danke Euch vielmals«, sagte er heiser und sichtbar von dem vorangegangenen Hustenanfall erschöpft. »Ich werde Euer Angebot in Ruhe studieren und mich mit meiner Tochter beratschlagen. Es ist erstaunlich, wie viele Bücher seit der letzten Messe erschienen sind.« Er blätterte mit zitternden Fingern in den Heften des Buchhändlers. »Die jüngeren Kollegen sind produktiv, wie es ihrem Alter entspricht. Das gibt mir Hoffnung. Ich bin sicher, dass ich etwas finden werde, was ich Euch abkaufen kann. Denn Ihr habt auf jeden Fall recht, was meine Bibliothek angeht: Das, was die Schweden von ihr übrig gelassen haben, ist ein Jammer und nichts sonst.« Hier unterbrach ihn erneut ein Hustenanfall.
Irene hatte die Szene aufmerksam beobachtet und wollte die Gelegenheit ergreifen, den unsympathischen Gast aus dem Zimmer zu komplimentieren. Sie wandte sich an Else: »Wie wäre es, wenn du unserem Gast in der Küche etwas zu trinken geben würdest?« Bevor die alte Dienerin antworten konnte, meldete sich abermals der Händler zu Wort. Eindringlich fixierte er Irene mit seinem Auge. »Aber nicht doch, Jungfer Pfarrerstochter.« Irene meinte, einen drohenden Unterton zu hören. »Wer wird es denn gleich so eilig haben? Das war ja erst der Anfang meines Angebots. Die Hauptsache habe ich Euch ja noch gar nicht gezeigt.« Sein Blick glitt zum Pfarrer. »Wie ich schon sagte: Mit meiner Hilfe soll es Euch gelingen, die leeren Regale wieder zu füllen. Und damit möchte ich nicht warten, bis Ihr eine Bestellung aufgegeben habt. Im Gegenteil. Ich werde sofort einen Anfang machen und habe Euch zu diesem Zweck etwas ganz Besonderes mitgebracht. Seht einmal her.«
Mit triumphierender Geste zog Melchior Lechter das Buch des toten Böhmen aus seiner Tasche und legte es vor den Pfarrer auf den Schreibtisch. »Seht Euch dieses Buch in Ruhe an. Ihr werdet feststellen, dass es von besonderer Schönheit und bester Qualität ist. Wegen des Preises macht Euch keine Sorgen. Wenn es Euch gefällt und Ihr es behalten wollt, bin ich bereit, es Euch zu einem Freundschaftspreis zu überlassen. Und nun nehme ich Euer freundliches Angebot gerne an, Jungfer Pfarrerstochter.«