Die Phileasson-Saga - Die Wölfin - Bernhard Hennen - E-Book

Die Phileasson-Saga - Die Wölfin E-Book

Bernhard Hennen

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Beschreibung

Nach ihren Abenteuern im Himmelsturm führt ihr Wettstreit mit Beorn dem Blender Asleif Phileasson und seine Mannschaft schließlich in den wilden Nordosten Aventuriens. Dort, in den verwunschenen Wäldern und weiten Ebenen, müssen sich Phileasson und seine Gefährten grimmigen Feinden und waghalsigen Herausforderungen stellen. Währenddessen wird auch Beorn mit dunklen Gefahren konfrontiert, die einen Schatten auf seine Seele legen. Beide, Beorn und Phileasson, beginnen zu begreifen, dass diese Wettfahrt sie vielleicht mehr kosten könnte als nur das Leben …

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DAS BUCH

Das hier war ihm vollkommen fremd. Es war Magie, wie kein Mensch sie wirken konnte. Auch das, was er von den Elfen wusste, passte nicht dazu. Mehr noch: Die Zauberlieder Salarins oder Galandels standen in weit stärkerem Widerspruch zu dem hier als das, was an den Akademien gelehrt wurde. Tylstyr blinzelte. »Dämonen«, hauchte er.

Nachdem er den Schrecken des Himmelsturms entkommen ist, führt Asleif Phileasson seine Mannschaft in den wilden Nordosten Aventuriens. Dort erwartet die Helden ihre nächste Aufgabe. Um sie lösen zu können, benötigen sie die Hilfe der Nivesen, eines Nomadenstammes, der in den verwunschenen Wäldern und weiten Ebenen zu Hause ist. Doch unter den Nivesen wütet eine geheimnisvolle Seuche, die alsbald auch das Leben von Asleif Phileasson und seinen Gefährten bedroht. Und damit nicht genug: Hier im Norden treiben Geschöpfe ihr Unwesen, die der Schrecken eines jeden Reisenden sind und deren Macht auch die Magie Salarins nichts entgegenzusetzen hat …

Währenddessen muss sich Phileassons Rivale, Beorn der Blender, ganz anderen Herausforderungen stellen: Er erfährt von einem uralten dunklen Geheimnis der Elfen. Ein Geheimnis, das so schrecklich ist, dass Beorn den Verstand zu verlieren droht. Als er den Kampf gegen Phileasson wieder aufnimmt, hat sich ein Schatten auf seine Seele gelegt.

Beide Kapitäne beginnen zu begreifen, dass diese Wettfahrt sie mehr kosten könnte, als nur das Leben …

DIE AUTOREN

Bernhard Hennen, 1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Vorderasiatische Altertumskunde. Als Journalist bereiste er den Orient und Mittelamerika, bevor er sich ganz dem Schreiben fantastischer Romane widmete. Mit seiner Elfen-Saga stürmte er alle Bestsellerlisten und schrieb sich an die Spitze der deutschen Fantasy-Autoren. Bernhard Hennen lebt mit seiner Familie in Krefeld.

www.bernhard-hennen.de

Robert Corvus, 1972 geboren, studierte Wirtschaftsinformatik und war in verschiedenen internationalen Konzernen als Strategieberater und Projektleiter tätig, bevor er mehrere erfolgreiche Fantasy-Romane veröffentlichte. Er lebt und arbeitet in Köln.

www.robertcorvus.net

Mehr über die Phileasson-Saga erfahren Sie auf:

www.phileasson.de.

BERNHARD

HENNEN

ROBERT CORVUS

DIE WÖLFIN

DIE PHILEASSON-SAGA

DRITTER ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Originalausgabe 01/2017Redaktion: Catherine BeckCopyright © 2017 by Bernhard Hennen Copyright © 2017 by Robert CorvusCopyright © 2017 by Ulisses Medien & Spiel Distribution GmbHCopyright © 2017 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT GbR, MünchenUmschlagillustration: Kerem BeyitInnenillustrationen: Nadine SchäkelKarte: Daniel JödemannSatz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-16217-7V004
www.heyne.de
www.twitter.com/HeyneFantasySF@heyneFantasySF
www.penguinrandomhouse.de

PROLOG WOLFSKIND

WOLFSKIND

Fünfzehn Meilen östlich von Leikinen, dreiundzwanzigster Tag im Kornmond, vor fünfundzwanzig Jahren

Winja zog den Elchfellmantel fester um ihre Schultern, obwohl sie so nah am großen Feuer saß, dass sie schon jetzt schwitzte. Der Mann mit dem bis auf einen Zopf geschorenen Schädel faszinierte sie. Bronzekugeln beschwerten die Spitzen seines Schnurrbartes, sodass sie vor seiner Brust baumelten, und dunkle Farbe umrandete seine Augen. Sie hoffte, dass er sein dreisaitiges Instrument bald gestimmt haben würde. Die anderen Norbarden vertrieben sich die Wartezeit durch ein Schwätzchen mit ihren Sippengenossen, mit den Nivesen, die ihr Weglager teilten, oder mit Winjas Eltern. Aber das allgemeine Gemurmel war leiser als der Gesang der Nacht. Es reichte nicht aus, um das Geheul der Wölfe zu übertönen.

Gleich mehrere Rudel mussten sich in dem Wald befinden, durch den sich die Handelsstraße wand, denn Winja hörte sie aus allen Richtungen. Ob sie einander antworteten? Der Gedanke war dem dreizehnjährigen Mädchen unheimlich, denn das hätte bedeutet, dass diese mit Reißzähnen bewehrten Hetzjäger über eine Sprache verfügten. Dann wäre es möglich gewesen, dass sie sich verabredeten. Die Feuer des Nachtlagers, in dem der Kastenwagen ihres Vaters zwischen den bunt bemalten Gefährten der Norbarden und den aus Bahnen grober Wolle zusammengesetzten Zelten der Nivesen fremd wirkte, waren den Wölfen bestimmt aufgefallen. Vielleicht luden sie die weiter entfernten Rudel zum Festmahl ein, bevor sie zuschlugen.

Trotz der Wärme zitterte Winja. Zu Hause in Norburg war das Wolfsgeheul ein angenehmer und harmloser Grusel. Dort schützte eine wehrhafte Palisade die Bürger vor wilden Tieren. Aber hier waren sie in der Wildnis. Winja hatte gehört, dass Handelszüge entlang des Svellts die Wagen nachts zu einem Kreis zusammenfuhren, um das Lager zu schützen. Die Norbarden hielten davon offenbar nichts. Die oft mit Bienenmustern verzierten Gefährte standen lose beisammen, und die Zugpferde grasten mit gefesselten Beinen zwischen den Bäumen. Man schien allzu sorglos.

Ein lang gezogenes Heulen stieg einsam zum Vollmond auf. Kam es aus der Kehle des Leitwolfs? Augenblicklich beschwor Winjas Vorstellungskraft ein Monstrum, so groß wie ein Ochse, mit blutroten Augen und einem Maul, das mühelos eines ihrer Beine durchbeißen und verschlingen konnte. Sie folgte dem Funkenflug, bis ihr Blick über den sternklaren Himmel wanderte, und versuchte, sich zu beruhigen. Sie war dreizehn Jahre alt, kein Kind mehr, auch wenn ihr Vater das nicht wahrhaben wollte.

Sie schielte zu ihm hinüber. Jasper Nutjes – eigentlich Jasu, aber den nivesischen Namen, den Großmutter ihm gegeben hatte, benutzte er nie – war bester Laune. Er versprach sich viel von diesem halben Jahr in Riva. Er brachte reichlich scharf gebrannten Meskinnes und anderen Schnaps in die Stadt im Norden, und auch eine Truhe voll Silber und Gold. Damit wollte er den Winter über Pelze aufkaufen und mit den besten Stücken seinen Wagen füllen. Wenn alles gut liefe, würde er noch einen zweiten und einen dritten dazukaufen, um die wertvolle Ware zurück nach Norburg zu bringen. Robbenfelle waren derzeit bei den Damen im Bornland besonders gefragt. Dadurch würde er sein Vermögen verdoppeln, sagte er, wenn er nüchtern war. Wenn er trank, stieg seine Schätzung für den Gewinn auf das Drei- oder Vierfache. Seit einem Jahr lag er Winjas Mutter damit in den Ohren, und schließlich hatte sie in das Abenteuer eingewilligt.

Jetzt sprach ihr Vater mit mehreren Norbarden, die in einem Halbkreis um ihn herumsaßen. Die Männer waren zu weit entfernt, als dass Winja die Worte verstanden hätte. An den über den Kopf gereckten Armen und den zu Krallen gebogenen Fingern erkannte sie trotzdem, dass ihr Vater wieder von dem Bären erzählte, dem er im Bornwald begegnet war. Das Biest hatte, ausgehungert vom Winterschlaf, das Packpferd gerissen und sich danach diesem Mahl gewidmet, sodass Winjas Vater entkommen war.

Auf der anderen Seite des Feuers küssten sich zwei Liebende hingebungsvoll. Winja wusste, dass ihre Mutter schimpfen würde, wenn sie bemerkte, dass die Tochter solche Sachen beobachtete, aber ihre Mutter war nirgendwo zu entdecken. Vielleicht hatte sie sich schon schlafen gelegt.

Also lugte Winja verstohlen zum Paar hinüber. Der Mann, ebenso kahl wie der Spieler, der sein Instrument stimmte, saß mit untergeschlagenen Beinen am Feuer. Die Frau lag halb auf seinem linken Oberschenkel, ihr Hemd war aufgeschnürt. Eine Hand des Mannes verschwand in der Öffnung und kreiste unter dem Stoff, während sich die Lippen bewegten, als würden die beiden an der Zunge des anderen lutschen. Winja fand das merkwürdig. Natürlich wusste sie, was ein Kuss war, aber wieso öffnete man dabei den Mund? Reichte es nicht, die Lippen aufeinanderzudrücken? Schon diese Vorstellung fand sie aufregend, aber was die beiden da taten, erschreckte und faszinierte sie zugleich. Der Frau schien es zu gefallen, sie streichelte den Nacken des Mannes und rückte ihren Oberkörper so zurecht, dass seine Hand beide Brüste erreichte. Als sich die Münder für einen Moment voneinander lösten, lächelte sie mit geschlossenen Augen.

Wie alt mochte sie wohl sein?

Sicher nicht so alt wie Winjas Mutter. Vielleicht zehn Jahre älter als sie selbst. Es war schwierig zu schätzen, weil das Licht des Lagerfeuers ständig in Bewegung war und sie das Haar auf diese merkwürdige Art trug, wie viele Norbardinnen im Lager, in der Mitte eine Schneise ausrasiert, an den Seiten offen fallend.

Winja erschrak, als plötzlich eine Hand auf ihre Schulter schlug. Aber es war nicht ihre Mutter, sondern ein Mädchen, das sich schwungvoll neben sie auf die Decke setzte. Es war ungefähr in Winjas Alter, aber die nivesischen Züge mit den schräg gestellten Augen und der kurzen Nase waren deutlicher ausgeprägt. Auch die Kleidung aus hellem Leder, versehen mit Stickereien und Glasperlen, die Schneeflocken, Geweihe und gezackte Linien bildeten, bewies, dass es sich um ein Kind des Nordlands handelte. Des echten Nordlands, das jenseits der Gelben Sichel begann.

»Hast du noch nie gesehen, wie Erwachsene den Atem tauschen?« Das Mädchen grinste.

»Doch«, beteuerte Winja. »Schon oft.«

Unverhohlen sah das Mädchen zum Paar hinüber. Die bunten Bänder, die es in die Zöpfe geflochten hatte, leuchteten im Feuerschein. »Die Norbarden sind viel freier in diesen Dingen.«

»Ja, frei sind sie bestimmt.« Winja seufzte. »Sie binden sich ja noch nicht einmal an enge Städte und ziehen, wohin sie wollen. So wie ihr.«

Das Mädchen schnappte nach Luft. »Das kannst du nicht vergleichen! Wir sind die Hüter der Herden. Wir folgen den Karenen auf ihrem ewigen Weg. Die Norbarden reisen nur dorthin, wo es ihnen gefällt.«

»Ob man Karenen folgt oder dem Wind, ist doch letztlich dasselbe. Mein Vater folgt zum Beispiel den guten Geschäften, wenn er …« Winja verstummte, als sie ein grimmiger Blick traf.

»Ich meine …«, setzte sie neu an. »Ich meine, ihr Leben ist viel farbiger als unseres. Diese bemalten Wagen …« Ihr Blick wanderte zur schreiend bunt bestickten Jacke ihrer Nachbarin.

Winja schrie auf, als sich ein Schlangenkopf aus einem Ärmel des Mädchens schob. Er war beinahe dreieckig, zwei schwarze Zungenspitzen zuckten heraus, und dunkle Schuppen bildeten eine Raute zwischen den starren Augen.

Das Mädchen sah erst Winja und dann die Schlange an. »Ihm wird nachts schnell kalt«, erklärte es. »Deswegen trage ich ihn am Körper. Das hat mir die Norbardin beigebracht, die ihn mir geschenkt hat.«

Winja nickte. Sie konnte den Blick nicht von dem Reptil wenden. »Ist er …« Sogar das Blinzeln fiel ihr schwer. »Ist er giftig?«

»Nein!« Das Mädchen lachte. »Jedenfalls nicht so richtig. Wenn er dich beißt, hast du eine Woche lang ein Kribbeln in der Hand, das ist alles. Er heißt übrigens Gron. Und ich bin Duri.«

»Winja Nutjes.«

»Ein komischer Name, Winjanutjes.«

»Eigentlich sind es zwei Namen. Du kannst Winja sagen.«

»Das ist besser.« Duri nickte. »Du sprichst gut Nujuka.«

»Die Sprache und meine Mutter sind das Einzige, was Vater an den Nivesen mag.« Schnell bedeckte Winja den Mund mit ihrer Hand, aber es war zu spät. Sie hatte die Worte ausgesprochen, bevor sie darüber nachgedacht hatte.

Duri schienen sie nicht zu stören. Sie fand die küssenden Norbarden interessanter. »Hast du auch schon mal …?«

»Natürlich!«, behauptete Winja.

Duri grinste. »Schon oft. Ich weiß. Und wie war er?«

»Wer?«

»Der Junge, mit dem du den Atem getauscht hast?«

»Na ja, er … er wohnt in Norburg. Nein, in Festum!« Winja war nie in Festum gewesen, wusste aber, dass es eine große und prächtige Stadt war, wo mutige Seefahrer und kampferprobte Helden lebten.

»Welche Haarfarbe hat er?«

Winja ging in Gedanken die Jungs durch, die sie kannte. Ksandr hatte hellblondes Haar, das war ungewöhnlich, aber seine Nase war so schief, dass sich Winja ungern vorstellte, ihn zu küssen. Die meisten anderen hatten schwarzes Haar, also wäre es wohl am sichersten gewesen, diese Farbe anzugeben. Aber Duri durfte auch nicht denken, dass Winja mit irgendwem geknutscht hätte. Es sollte jemand Besonderes sein! Also vielleicht kupferfarbenes Haar, so wie das von Duri? Aber das erschiene einer Nivesin wenig spektakulär.

Noch während Winja überlegte, heulten mehrere Wölfe ganz in der Nähe. Auf der gegenüberliegenden Seite des Lagers nahm ein Rudel den Ruf auf.

»Was ist?« Duri schnippte gegen Grons Kopf, woraufhin sich die Schlange in den Ärmel zurückzog. »Hast du Angst vor Wölfen?«

»Nein, gar nicht.« Sie wagte nicht, Duri anzuschauen. »Vielleicht ein bisschen …«

»Das solltest du auch«, riet das Nivesenmädchen in verschwörerischem Ton. »Sie sind unsere Geschwister, aber in solchen Nächten erinnern sie sich an Madas Frevel.« Bedeutungsschwanger sah Duri zum Vollmond auf.

»Was hat Mada damit zu tun? Sind die Wölfe etwa Wächter der Magie?«

Verblüfft sah Duri sie an. »Wie kommst du darauf?«

»Mada hat doch das Geheimnis der Magie gestohlen und zu den Menschen gebracht, und dafür hat der Herr Praios sie an einen Stein im Himmel gefesselt.« Winja zeigte auf den Mond. »Ihre Mutter Hesinde war sehr traurig, aber sie sah ein, dass die Strafe gerecht war. Immer wenn der Mond im vollen Rad steht, erinnert er uns daran, welche schlimmen Folgen ein Frevel gegen die Götter hat.«

»Was für eine seltsame Geschichte«, meinte Duri.

Winja runzelte die Stirn. »Das ist die Geschichte vom Madamal! Die kennt jedes Kind!«

»Ach – und was ist mit Liska und ihren Welpen?«

»Mit wem?«

»Willst du sagen, du weißt nichts vom Streit zwischen den Menschen und den Himmelswölfen?«

»Wer sind denn die Himmelswölfe?«

Mit einer weiten Bewegung umfasste Duri abertausend Sterne. »In wolkenlosen Nächten schauen sie auf uns herab.«

Winja betrachtete den Himmel, während der Musikant endlich zu spielen begann. Andere Instrumente fielen ein, Flöten und Maultrommeln, und die Sänger ließen ihre Stimmen hören.

»Wie kann es sein, dass du nie davon gehört hast?«, fragte Duri.

Unter dem Elchfellumhang zuckte Winja mit den Achseln. »Mein Vater hat mir nie etwas von den Nivesen erzählt. Er sagt, wir sind freie Bornländer, und darauf sollen wir stolz sein.«

»Und deine Mutter?«

»Die tut, was mein Vater sagt. Ihre Eltern sind Nivesen, aber sie leben sesshaft.«

»Also sind sie nicht frei.«

Winja nickte. »Sie sind Leibeigene.«

»Das ist schrecklich.«

»Sie sind versorgt.« Winja mochte Großmütterchen Unka, sie war immer freundlich. »Das gefällt ihnen. Sie sagen, es war ein hartes Leben, als sie hinter den Karenen hergezogen sind. Sie sind froh, dass es jetzt anders ist, und reden ungern von früher.«

Duri schüttelte den Kopf. »Siehst du die Schatten auf dem Mond?«

Winja spähte hinauf. Heute war die Scheibe beinahe golden. Die dunklen Stellen sahen aus wie Pocken in einem Gesicht oder die Abdrücke schmutziger Finger auf poliertem Metall.

»Wenn du genau hinschaust, kannst du erkennen, dass es zwei Wölfe sind. Welpen. Der Kopf des einen liegt an der Rute des anderen.«

Winja kniff die Augen zusammen, sah aber nicht, was Duri beschrieb.

»Das sind die Kinder der Himmelswölfin Liska. Sie brachte sie in einer Jurte der Menschen zur Welt. Dafür musste Mada seinen Platz räumen. Deswegen wurde er zornig, schlich sich zurück und nahm die beiden Welpen weg, als Liska schlief, weil die Geburt sie ermattet hatte. Aber Liska erwachte und suchte nach ihren Kindern. Sie winselten nach der Mutter. Mada schlug ihre Köpfe zusammen, um sie zu betäuben. Er unterschätzte seine eigene Kraft und tötete sie.«

»Das ist ja schrecklich!«, rief Winja.

Duri nickte. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden. »Lange zürnten die Himmelswölfe den Menschen. Sie verwüsteten die Erde. Deswegen ist unser Leben jetzt so schwer. Die toten Welpen legten sie auf eine Schüssel am Himmel.«

Zweifelnd betrachtete Winja den Mond. War er wirklich so etwas wie ein Grab? »Ich dachte, Nivesen und Wölfe wären Freunde.«

»So ist es auch wieder«, sagte Duri. »Liska hat uns verziehen, und ihr Volk mit ihr. Aber es ist nicht mehr wie früher, nicht so wie vor Madas Verrat. Das Misstrauen bleibt, und wenn das Madamal voll am Himmel steht, erinnern sich unsere Geschwister an das, was damals geschah. Dann bricht der Schmerz wieder hervor.«

Winja dachte nach. »Glaubst du das?«, fragte sie.

»Hörst du sie heulen?«, versetzte Duri.

Im sicheren Norburg hätte Winja über diese Geschichte geschmunzelt, aber hier, umgeben von dunklem Wald … Hier war sie fremd. Dies war das Land der Nivesen und vielleicht noch der Norbarden. Als sie den Rabenpass überquert hatten, war ihr die halb verweste Leiche eines Goblins am Wegesrand aufgefallen. Die Arme waren sehr lang gewesen, das rote Fell schütter, die Kleidung nur Lumpen, und das Gebiss hatte dem eines Hundes geähnelt. Und hier in den Wäldern sollten Elfen leben, deren Gesang einen Blut weinen ließ. Dies war nicht Winjas Heimat. Sie konnte nicht sagen, was hier draußen möglich war und was nur Legende.

Duri stieß sie in die Seite. »Die beiden sind weg.«

Sie meinte das Liebespaar. Wo sich die zwei eben noch miteinander beschäftigt hatten, spielte jetzt ein uralter Nivese auf einer Knochenflöte.

»Aber ich weiß, wo sie sind«, raunte Duri.

»Wo sollen sie schon sein?«, fragte Winja. »Sie werden sich schlafen gelegt haben.«

»Liegen tun sie bestimmt.« Duri kicherte. »Aber schlafen werden sie noch lange nicht.«

Winja dachte daran, wie sich die Hand des Mannes unter dem Gewand der Frau bewegt hatte. Ihre Kehle wurde trocken. »Du glaubst, sie …?«

Lachend sprang Duri auf. »Komm mit!« Sie streckte ihr eine Hand hin.

Winja ergriff sie. Es war nicht die Seite mit der Schlange.

Über die Schulter sah sie zu ihrem Vater. Er sprach mit zwei Norbarden. Seine Nase war stark gerötet, aber er wirkte dennoch konzentriert. Es ging wohl um Geschäfte.

Duri zog Winja zu einem Zelt, das sich aus so vielen rechteckigen Stoffbahnen zusammensetzte, dass es beinahe schon wieder rund war. Es durchmaß zehn Schritt. Der Eingang zeigte zum großen Lagerfeuer, das bunt gewebte Tuch mit einer großen Biene darauf war halb aufgezogen. Dennoch erkannte Winja, als sie fünf Schritt davor stehen blieben, kaum, was drinnen vor sich ging, weil die Kohlen im mittig aufgestellten Becken nur schwach glühten.

Während sich ihre Augen an das schummrige Zwielicht gewöhnten, nahm sie zuerst die Bewegungen wahr. Wenigstens ein Dutzend Menschen befand sich im Zelt. Hitze schoss Winja ins Gesicht, als sie begriff, dass sie nackt waren. Jetzt hörte sie auch Seufzen und Stöhnen.

Duri kicherte, als Winja rückwärtsstolperte und dabei gegen sie stieß. »Die Norbarden sind nicht so langweilig wie wir«, meinte die Nivesin.

»Aber … das …«

»Bei ihnen legen sich Männer und Frauen nur so zum Vergnügen zueinander.«

Winja wusste nicht, ob ihr heiß oder kalt war. Vielleicht beides. Sie zitterte, aber das kam von der Aufregung. Die Wildnis … die Wölfe … Duris Schlange … und jetzt das!

»Weißt du, wie man es macht?«, fragte Duri.

Winja kaute auf ihrer Unterlippe, bevor sie den Kopf schüttelte. »Und du?«

»Nur so ungefähr«, gestand Duri. Sie sah zum Zelteingang, schien sich aber nicht überwinden zu können, ihrer Neugier ans Ziel zu folgen.

Die Unsicherheit der anderen stärkte Winjas Mut. Sie nahm Duris Hand und machte einen Schritt auf das Zelt zu. Danach wusste Winja nicht mehr, ob sie noch führte oder ob sie dem anderen Mädchen folgte. Ihr Puls flatterte, als sie den Eingang erreichten. Ihr wurde übel vor Aufregung, aber sie wagte nicht, stehen zu bleiben. Zu groß schien die Gefahr, dann doch noch vor ihrer Schüchternheit zu kapitulieren.

»Nicht auf die Schwelle treten«, flüsterte Duri ihr zu. »Das bringt Unglück.«

Vorsichtig hob Winja den Fuß über den geschälten und polierten Ast, der außen von innen trennte. Sie roch das Kohlefeuer, aber das war nicht alles. Hatten die Norbarden Duftöl daraufgegossen? Oder waren es die schweißglänzenden Leiber, die die Luft mit diesem Geruch schwängerten? Etwas herb. Wild. Aufregend.

Und dann erst das Seufzen und Stöhnen, das Schnauben wie von einem Bullen! Winja starrte die Muskeln an, die sich in der nackten Brust eines breitschultrigen Mannes bewegten. Er hielt die Hüften einer Frau, die sich vor ihm auf alle viere niedergelassen hatte und ihm das Gesäß entgegenstreckte, das er mit seinem eigenen Unterleib bearbeitete. Als die Kniende die Augen aufriss und Winja anblickte, sah sie schnell weg.

Aber das half wenig. Überall fand sie einen ähnlichen Anblick. Manchmal beschäftigten sich zwei Männer mit einer Frau, dann wieder drei Frauen und ein Mann miteinander. Die üppigste Bekleidung trug eine Norbardin, die ein feuerfarbenes Tuch um den Bauch geschlungen und eine Pelzmütze aufgesetzt hatte.

»Sucht ihr beiden das Spiel der Geschlechter?«

Winja zuckte zusammen, als der Mann mit der kupferfarbenen Haut sie ansprach. Anders als die meisten Norbarden trug er einen Vollbart, aber sein Haupthaar war geschoren. Kurz nur zuckte Winjas Blick an ihm hinab. Sie hatte ihren Vater mehrfach nackt gesehen, etwa in einer Schwitzhütte oder auch wenn er einem Badezuber entstiegen war, aber sein Glied war immer klein und schlaff gewesen. Das des Norbarden dagegen wirkte bedrohlich. Konnte eine Frau wirklich so etwas in sich aufnehmen? Dafür war doch alles viel zu eng!

»Lass sie«, schnurrte eine Norbardin, deren Brüste zwar rund und voll waren, aber am Ansatz Falten zeigten. Ihr Mittelscheitel war gerade einmal zwei Finger breit, viel schmaler als die Schneisen, die Winja sonst beobachtet hatte.

»Ihr beiden seid noch nicht so weit.« Die Norbardin rollte die Konsonanten, sprach jedoch ansonsten klares Nujuka. »Wartet noch ein paar Jahre.«

»Aber das wäre doch Verschwendung!«, protestierte der Mann.

Tadelnd sah die Frau zu ihm hinauf. »Die beiden sind noch unverheiratet«, vermutete sie. »Wer wird sich um die Kinder kümmern, wenn es dazu kommt?«

Bedauernd verzog der Mann den Mund, ließ sich dann aber fortschieben.

»In ein paar Jahren«, wandte sich die Frau wieder an die Mädchen. »Dann werdet ihr uns willkommen sein. Man sieht die Schönheit, die in euch aufblüht.«

Winja fühlte sich halb erlöst und halb verstoßen, als sie über die Schwelle zurück in die Nachtluft trat.

Duris Gesicht war feuerrot. Erst jetzt ließ sie Winjas Hand los, warf sich dann herum und rannte davon.

Winja sah ihr nach. Vom Hauptfeuer drangen Musik und die Geräusche der Unterhaltungen herüber. In der anderen Richtung heulten die Wölfe.

Dies war eine Nacht der Abenteuer. Sie hatte bereits Unglaubliches gesehen, und sie stand noch immer hier, unbeschadet. Ihre Eltern ahnten nichts, aber Winja fühlte sich, als hätte sie in einem Kampf gestanden und gewonnen. Sie brauchte nur die Lider zu schließen, um wieder ineinander verschlungene Leiber zu sehen. Die lusterfüllten Gesichter der Frauen, die sich nicht darum scherten, was Winjas Mutter für Anstand hielt. Die angestrengten Züge der muskulösen Männer. Wie wäre es wohl, ihre Kraft zu spüren? Die Härchen an Winjas Nacken stellten sich auf, die Knospen an ihren Brüsten waren so hart wie noch nie, und ihr Schoß wurde warm.

Unmöglich konnte sie jetzt zum Feuer zurückkehren. Würde ihr Vater ihr ansehen, was mit ihr geschehen war? Dass seine kleine Tochter nun etwas wusste, das ein Mädchen noch nicht einmal ahnen sollte?

Trotz der Wölfe beschloss Winja, am Rand des Lagers zwischen den Zelten umherzuwandern. Sie sah zum Mond hinauf und versuchte, die Welpen zu erkennen, von denen Duri gesprochen hatte. Schwarz standen die Schattenrisse der Bäume vor den Sternen.

Sie wäre beinahe mit einem Mann zusammengeprallt.

»Entschuldigung«, stotterte sie. »Ich wollte nicht …«

Seine gelben Augen brachten sie zum Schweigen. Niemals hatte sie solche Iriden gesehen. Nicht bei einem Menschen, allenfalls bei einem Wolf. Einem Menschenfresser, auf den der Stadtrat von Norburg ein Kopfgeld ausgelobt hatte. Vier Jäger hatte die Bestie schwer verletzt, bevor ein Ritter sie erlegt hatte. Drei Tage lang war er im Rathaus ausgestellt worden. Die Augen hatte man offen gelassen.

»Ich wollte nicht …« Wieder verstummte sie.

Der Mann machte einen Schritt auf sie zu. War es nicht viel zu dunkel, um die Augenfarbe zu erkennen? Leuchteten sie etwa von innen?

Winja schauderte. Sie wollte sich umwenden und davonlaufen. Aber gleichzeitig wollte sie bleiben, sich selbst der in dieser Nacht neu gewonnenen Stärke versichern. Und die Stärke spüren, die sie in diesem Mann erahnte … sie roch seinen Schweiß, sah das krause Haar, das aus den Ärmeln und dem Kragen wucherte.

Ein Grollen stieg aus seinem Maul, in dem die größten Zähne schimmerten, die sie je bei einem Menschen gesehen hatte.

»Du bist ein Wilder«, hauchte sie. »Wahrscheinlich sprichst du nicht einmal unsere Sprache.«

Nochmals grollte der Mann. Das Geräusch vibrierte in Winjas Bauch.

Der Mann öffnete seine Jacke.

Winja zögerte nur kurz. Dann schnürte sie ihr Gewand auf.

Riva, dritter Tag im Vinmond, vor fünfundzwanzig Jahren

Jasper Nutjes küsste das Bildchen von Gronwulf, dem Bernsteinkönig. Der verschnörkelte Rahmen war aus dem Edelstein geschnitten, dem der findige Heilige den Beinamen verdankte. Die linke Seite war etwas dicker als die anderen, weil dort eine Libelle eingeschlossen war, die der Künstler wohl nicht hatte beschädigen wollen. Das eigentliche Bildnis zeigte vor einem mit hauchdünnem Silber überdeckten Hintergrund einen Mann mit buschigen Augenbrauen, der den Betrachter verschmitzt anlächelte. Man ahnte nur, wo sich der Mund unter dem schwarz wuchernden Vollbart verbarg.

»Wir beide haben gut lachen«, flüsterte der Pelzhändler dem Heiligen zu, der seit jeher der liebste in seiner Sammlung war. Ein gutes Dutzend hatte ihn in seinem Wagen durch die Wildnis hierher begleitet, aber der Bernsteinkönig war der Einzige, den er stets bei sich trug. Er mochte die Legende von Gronwulf, der den Bronnjaren und den Praiosgeweihten immer wieder ein Schnippchen geschlagen hatte, um den Bernstein dorthin zu schmuggeln, wo er den höchsten Preis dafür hatte verlangen können.

Die Zuneigung schien gegenseitig, denn Gronwulf hatte ihn mit Geschäften belohnt, die er sich nicht hätte träumen lassen. Riva war für Jasper zur goldenen Stadt geworden. Gleich zwei der hiesigen Aufkäufer hatten die Pelzjäger mit falschen Münzen betrogen, und als dies herausgekommen war, hatte er als unbelasteter Neuling so viele Angebote bekommen, dass er im Frühling bereits zwei Wagenladungen nach Norburg geschickt hatte. Bald würde er selbst mit fünf weiteren folgen.

Jasper hörte seine Tochter Winja schreien. Die Tür flog auf, seine Frau Kantala stürzte heraus. Er wollte sie fragen, ob alles in Ordnung sei, aber sie beachtete ihn nicht, sondern ging direkt zum Wasserkessel, der auf dem Ofen stand. Sie wickelte einen Lappen um den Henkel, bugsierte ihn vorsichtig ins Schlafzimmer und schloss die Tür wieder.

Jasper räusperte sich. »Bei solchen Dingen lassen wir mal lieber die Weiber machen, was, Gronwulf? Da sind sie uns über.« Eigentlich war Kantala ihm in vielerlei Hinsicht über, dachte er. Jasper hatte Glück mit seiner Frau, ihr Rat bewahrte ihn immer wieder vor Fehlern, zu denen sein Leichtsinn ihn verleiten wollte, und in Norburg kam sie mit dem Stadtrat besser aus als er. Ihr Geschick in der Auslegung der Gesetze hatte ihm manches Geschäft ermöglicht.

Der Bernsteinkönig hatte im Alter eine Bronnjarin geheiratet und war dadurch selbst in den Adel aufgestiegen, aber verliehene Titel waren bedeutungslos verglichen mit dem, den er sich schon zuvor mit eigenem Witz errungen hatte. Ob er auch Kinder gehabt hatte? Oder Enkel?

Der Gedanke, Großvater zu werden, war Jasper noch immer fremd. Er lehnte sich aus dem Fenster. Es stand bereits die ganze Nacht offen, sonst wäre es mit dem geheizten Ofen zu warm geworden. Der Sommer kannte auch in Riva angenehme Temperaturen, und gerade in diesen Nächten drängte sich das Volk auf den Straßen. Jasper hätte wohl ohnehin nicht schlafen können.

Hätte Winja nicht in den Wehen gelegen, hätte er sich allerdings selbst unter die Feiernden gemischt, die das Freudenfest zu Ehren der Göttin Rahja begingen. Schon, um die wichtigsten Geschäftspartner noch einmal zu sehen und vor dem Abschied die Verbindungen zu festigen.

So aber feierte er allein mit Gronwulf, dem Bernsteinkönig. Das Licht des vollen Mondes spiegelte sich so hell im Silber, dass Jasper Blinkzeichen mit dem Bildchen hätte geben können. Er schmunzelte bei dem Gedanken, dass es eher zu Gronwulf gepasst hätte, mit solch geheimen Signalen eine Geliebte herbeizulocken, als Kinder aufzuziehen oder Enkel auf den Knien zu schaukeln.

»Aber ich will dir ja nicht in allem nacheifern, Onkelchen«, flüsterte er. »Kantala ist ein gutes Weib, und Winjas Bastard hat mir Glück gebracht. Oder warst du das?«

Schließlich war Gronwulf ein Heiliger des Phex, der nicht nur für gute Geschäfte stand, sondern auch für unverdientes Glück. Und das war Jasper reichlich in den Schoß gefallen, schon ein paar Tage nachdem Winjas Schwangerschaft offenbar geworden war. Gerade hatte Kantala ihn überzeugt, dass die Rückfahrt zum geplanten Termin mit der hochschwangeren Tochter undenkbar sei, als die Hermelinfelle hereingekommen waren. Und dann der Zobel und der Silberfuchs, seine besten Stücke. Bis jetzt hatte sich jeder Tag in Riva gelohnt, und wäre nicht das Heimweh nach dem Bornland gewesen, hätte Jasper erwogen, hier ein festes Handelshaus zu errichten.

»Verzeih mir, Bernsteinkönig«, murmelte er. »Aber ich kann nicht immer nur ans Silber denken. Ich bin kein Heiliger, nur ein frommer Mann, der dir ewig dankbar sein wird.«

Wieder schrie Winja, doch kurz darauf mischte sich ein helles und quengelndes Schreien hinein.

Jasper hielt den Atem an, bis sich die Tür öffnete.

»Komm, Großväterchen, und gib deiner Enkelin deinen Segen«, bat Kantala.

Eigentlich stand das dem Vater zu, aber wer mochte das sein? Winja hatte gestanden, das Kind im Norbardenlager empfangen zu haben, doch sie kannte noch nicht einmal den Namen des Mannes, bei dem sie gelegen hatte. Ihrer abenteuerlichen Beschreibung nach hatte er beinahe so viel von einem Wolf wie von einem Menschen gehabt, aber das war wohl der Aufregung jener Nacht und dem Geheul der Rudel geschuldet.

Jasper steckte das Heiligenbildchen in die Brusttasche seines Hemds und ging mit festen Schritten zum Schlafzimmer. Er hoffte nur, dass das Kind nicht zu viel Nivesisches an sich hätte. Obwohl er selbst zur Hälfte und Kantala vollständig nivesische Eltern hatte, missfielen ihm diese primitiven Nomaden. Ein wahrer Mensch war man nur in einer Stadt.

Er schob den Gedanken beiseite, als er über die Schwelle trat. Schon vor seiner Geburt hatte dieses Kind Jaspers Reichtum gemehrt. Es war ein Geschenk Phexens, ein Glücksbringer.

Norburg, achtzehnter Tag im Kornmond, vor zwanzig Jahren

Die Menge war so still wie in einem Gottesdienst zu Ehren Borons, des Herrn von Schlaf, Tod und Schweigen. Dabei hatte man sich auf dem Vorplatz von Rondras Tempel versammelt. Vor dem Trutzbau stand seit drei Tagen das Bildnis der Kriegsgöttin. Der weiße Marmor wirkte so leicht, dass der Rossschweif auf dem Helm der Statue, die Haarsträhnen, die Bänder, die die Ärmel schnürten, und der Stoff ihres Gewandes in einer steifen Brise zu flattern schienen. Eine Hand streckte die Göttin mit gespreizten Fingern auf Hüfthöhe nach hinten, so als fordere sie eine in ihrem Rücken stehende Streitmacht auf, sich zurückzuhalten, da sie selbst in einen ehrenhaften Zweikampf mit dem feindlichen Feldherrn treten wollte. In der Rechten hielt sie ein gerades Schwert mit einer Lässigkeit, die Siegesgewissheit verriet. Das Gesicht erhielt seine Majestät aus dem vorgereckten Kinn und dem festen Blick.

Damit war die Göttin die Einzige, deren Aufmerksamkeit nicht dem Geschehen über ihr galt. Zwei Seile überspannten von den dreißig Schritt auseinanderstehenden Südtürmen des Tempels den Platz und trafen sich am Stufengiebel des Hauses, in dem Winjas Familie seit dem Beginn des Sommers wohnte. Gemeinsam mit Nossep, dem Seiler, stand die junge Frau auf dem Dach. Vier wassergefüllte Eimer würden einen möglichen Brand löschen, und sollte das nicht reichen, gab es unter der Luke ein randvoll gefülltes Fass. Aber die Frau, die auf dem östlichen Seil herantanzte, fing ihre brennenden Fackeln so sicher, als zöge Zauberei sie in die Handflächen zurück.

Winja war stolz auf den besonderen Platz, von dem aus sie der Vorführung zusehen durfte. Ihr Vater war natürlich unten neben der Statue, wo man ihn sah und er später mit Geschäftspartnern spräche. Das war nur möglich, weil er seiner achtzehnjährigen Tochter so weit vertraute, dass er ihr den Schutz des Hauses vor der Feuergefahr übertrug. Die zerstörerische Kraft der Flammen nahm man im beinahe vollständig aus Holz errichteten Norburg besonders ernst.

Von Winja aus gesehen schien es, als sei die Artistin direkt auf dem Weg zu ihr und Nossep. »Dreißig Schritt auf einem straff gespannten Seil«, hauchte sie.

»Vierunddreißigeinhalb«, korrigierte Nossep abwesend. »Dazu noch zehn Schritt für den Durchhang und die Befestigung.« Prüfend sah er auf die Winde, mit der das Seil gespannt worden war.

Winja dachte, dass Nossep ein ernster Mann war. Das musste kein Nachteil sein. Der Leichtsinn der anderen jungen Leute war Winja fremd. Ihre Eltern hatten ihr geholfen, die inzwischen vierjährige Nikascha aufzuziehen, aber sie hatten auch darauf bestanden, dass die Mutter ihre Pflicht erfüllte. Das hatte Winja schnell erwachsen gemacht.

Bei Nossep war es wohl die Strenge des Vaters, die den Ernst in seine Züge grub. In Norburg brauchte man immer Seile, viele Fuhrwerke passierten die Stadt auf dem Weg ins Bornland hinein oder in die Steppen der Nivesen, nach Bjaldorn oder sogar bis hinauf nach Paavi. Waren mussten darauf verzurrt und Tiere festgebunden werden. Auch die Flößer brauchten Seile, ebenso die durchziehenden Nivesen mit ihren Zelten, die ihren gesamten Hausstand mitführten. Die Nachfrage war also immer hoch, aber es gab auch viele Seilmacher, sodass Faulpelze schnell ohne Aufträge der Armut entgegensahen. Das hatte Nosseps Vater ihm wohl nicht nur mit Worten klargemacht. Der junge Mann ging ein wenig schief, und vorgestern beim Ringkampf auf dem Schwertfest hatte Winja die Narben auf dem nackten Rücken gesehen. Aber das Spiel der Muskeln unter der glänzenden Haut hatte sie ebenfalls bemerkt, und Nossep hatte drei Gegner bezwungen, bevor ein wahrer Bulle ihn in den Staub gedrückt hatte. Winja hatte dem hässlichen Kerl später in den Meskinneskrug gespuckt.

Die Gauklerin war jetzt so nah, dass Winja das Zischen der Fackeln hörte, wenn sich diese hoch über dem Kopf der dürren Frau überschlugen. Es klang beinahe wie ein Fauchen, als wäre das Feuer hungrig.

Winja schielte zu Nossep. Der Sommerhimmel war noch so hell, dass sich sein markantes Profil gut abzeichnete. Während er das Zittern des Seils beobachtete, ähnelte sein Gesicht dem der Kriegsgöttin. Er war ein stolzer Mann, und er wusste, dass jeder bemerken würde, wenn sein Werk zu sehr nachgäbe.

»Es wird halten«, versicherte Winja.

»Woher willst du das wissen?« Er wurde sich der ungewollten Schärfe seiner Worte bewusst und lächelte sie entschuldigend an.

Ihr Herzschlag stockte. »Weil du es gemacht hast. Dein Seil wird fest sein.«

»Jeder macht einmal einen Fehler.«

»Du nicht.«

Nachdenklichkeit mischte sich in seinen Blick, bevor er sich wieder der Gauklerin zuwandte. »Es reicht nicht, wenn ein Seil fest ist. Dann reißt es sogar eher, als wenn es ein wenig nachgeben kann. Dieses ist vielleicht zu hart. Ich wollte ein Gleichschlagseil nehmen, aber Vater hat auf dem Kreuzschlag bestanden. Er meint, sie würde sicherer darauf stehen.«

»Es wird halten«, wiederholte Winja.

Das Holz der Winde knackte, aber es brach nicht, und das Seil gab kaum nach. Es wippte nur leicht auf und ab, den federnden Bewegungen der Gauklerin folgend. Sie war noch vier Schritt entfernt. Kurz sah sie zum anderen Seil hinüber, auf dem sie zum Südwestturm des Tempels gehen würde. Winja überlegte, ob sie etwas zurücktreten sollte. Vielleicht wollte die Gauklerin hier auf dem Dach eine kurze Pause einlegen?

Aber in diesem Moment heulten Wölfe außerhalb der Stadt. Der Vollmond stand bereits deutlich sichtbar im Dämmerhimmel. Winja fröstelte und blieb neben Nossep. Sie lehnte sich sogar so weit hinüber, dass ihre Schulter sacht seine Seite berührte.

Sie verlor den Kontakt sofort wieder, weil Nossep aufschrie und die Arme nach vorn warf, als könne er die Gauklerin auffangen. Die Menge unten auf dem Platz teilte sein Entsetzen.

Aber die Frau spielte nur mit ihren Zuschauern. Statt bis zum Dach zu kommen, war sie auf das andere Seil gesprungen, wo die beiden eineinhalb Schritt auseinander waren. Sie lehnte sich weit zurück und drückte die spitzen Knie nach vorn, ruderte wild mit den Armen, bekam aber dennoch jede Fackel zu fassen und schleuderte sie wieder empor.

Es dauerte ein paar Herzschläge, bis sich alle gewiss waren, dass es sich um einen einstudierten Höhepunkt handelte. Dann brandete der Applaus auf. Auch Nossep schüttelte den Kopf und klatschte. »Das Weib ist mit Dämonen im Bunde.« So, wie er das sagte, klang es anerkennend.

Eifersüchtig starrte Winja den schmalen Rücken der Gauklerin an, die nun auf dem Weg zurück zum Tempel war, als sei nichts geschehen. Sie hatte Arme wie Stöcke. Die Oberschenkel hätte Winja an der dicksten Stelle mit ihren Händen umschließen können. Weibliche Rundungen fehlten ihr völlig. Konnte Nossep dennoch Gefallen an ihr finden? War er mit Winja aufs Dach gekommen, um der Gauklerin nahe zu sein, und nicht, um die Festigkeit der Seile aus der Nähe im Auge zu behalten, wie er behauptete? Oder weil er Winja mochte, wie sie hoffte?

»Ein gutes Seil!«, rief sie und zuckte gerade noch zurück, bevor sie es berührte.

Er lachte. »Fass es ruhig an.« Er legte seine Hand auf ihre und drückte sie auf die fest gespannten Fasern. »Das spielt für die Last keine Rolle.«

Ihr gefielen die Wärme seiner Haut und der herbe Duft seines Körpers. Er war ein Mann, der keine Arbeit scheute. Ob seine Muskeln genauso hart sein konnten wie das Seil in ihrer Hand?

Das Wolfsgeheul schien Winja jetzt besonders nah zu sein, aber in diesem Moment kümmerte sie das nicht.

»Die Litzen sind in die gleiche Richtung verdrillt wie das Seil«, erklärte Nossep. »Das macht es so fest.«

»Wirklich?«, fragte Winja. In den vergangenen Wochen hatte sie alles über Nossep und deswegen auch über die Seilerei gelernt. Fasern wurden zu Fäden, Fäden zu Litzen, Litzen zu Seilen. Alles wand sich umeinander und verband sich, je kraftvoller, desto besser …

Er nickte mit dem Ernst, der in seinem Wesen lag. »Deswegen gibt es kaum nach. Mein Vater hat recht. So ist es besser. Leichter für die Seiltänzerin.«

Winja lächelte. Die andere Frau war also in Nosseps Augen nur dazu da, die Güte seiner Arbeit unter Beweis zu stellen.

»Was ist das?«, fragte Nossep, als er vorsichtig über ihren Ärmel strich. »Ist das nicht zu warm?«

»Schlägst du mir vor, ich sollte mich ein wenig entkleiden?«, neckte sie.

Es war lustig, den großen Mann rot werden zu sehen. Er nahm die Hand von ihr, als hätte er sich verbrannt, konnte auf dem Spitzdach aber kaum zurückweichen. Nur schmale, von unten unsichtbare Trittbretter boten Halt.

Winja lachte. »Wenn es so wäre, müsste ich den Vorschlag ablehnen. Meine Tunika ist aus dem Sommerfell eines Elchs gemacht. Ganz luftig. Gut für milde Abende.«

Sie warteten, bis die Gauklerin ihr Ziel unter dem Jubel der Menge erreichte. Noch auf dem Seil brachte sie eine Verbeugung fertig, dann hüpfte sie in den Turm, wo man sogleich die Fackeln löschte.

»Ich mache das!«, bestimmte Nossep, als sich Winja anschickte, nach den Wassereimern zu greifen.

Sie stieg hinab. Er musste zweimal gehen, um alle Eimer herunterzuholen und neben dem Fass abzustellen.

Ein Stockwerk tiefer hörten sie ein Poltern aus Nikaschas Zimmer. Unwillkürlich blieb Winja stehen. Sie spürte, wie ihr unter Nosseps fragendem Blick die Hitze in die Wangen schoss.

»Ist das deine Tochter?«, fragte er.

Ihre Kehle wurde trocken, obwohl sein Tonfall freundlich war.

»Wie alt ist sie?«

»Vier.« Das Wort rollte aus Winjas Mund wie ein heißer Kloß. Zweimal hatte sie in den vergangenen Jahren einen Jungen geküsst, aber keinem hatte sie Nikascha gezeigt. Nicht weil sie sich für ihre Tochter geschämt hätte. Nikascha hatte das süßeste Gesicht von allen Kindern Norburgs, und ihr Lächeln konnte im Winter das Eis von den kostbaren Butzenglasfenstern tauen, auf die Winjas Mutter so stolz war. Aber junge Männer hatten andere Träume, als sich um ein kleines Mädchen zu kümmern, das schrie, wenn es zahnte oder in die Hosen machte. Das war jetzt überstanden, und ein Kind war wundervoll, aber es bedeutete auch Arbeit. Winja war nicht so hübsch, dass sie diesen Nachteil hätte ausgleichen können. Bei Nossep hatte sie gehofft, wenigstens noch eine oder zwei Wochen in ihrer Sehnsucht schmachten zu dürfen, ohne die Gewissheit, dass alles vergebliche Hoffnung war.

»Vier Jahre? Dann interessiert sie sich doch bestimmt schon für eine Seiltänzerin. Warum durfte sie nicht zusehen?«

Unsicher gestikulierte Winja zur Tür. »Ihr Zimmer hat ein Fenster auf den Platz hinaus. Sie konnte alles gut beobachten.«

Nossep nahm Winjas Hand. »Fragen wir sie, wie es ihr gefallen hat!«

Bevor Winja entscheiden konnte, ob sie Freude heucheln oder abwehren sollte, zog er sie zur Tür und öffnete sie.

Sie erstarrten, als sie die Bestie sahen, die zähnefletschend mitten im Raum stand, auf dem Teppich aus Biberpelz, zwischen dem Kinderbett und der Kleidertruhe. Die niedrig brennende Laterne schien auf das weiße Fell eines Wolfs. Seine Augen waren so gelb wie der Bernstein, der das Bildchen des Heiligen Gronwulf einrahmte, das Winjas Vater in so hohen Ehren hielt. Von Ferne drang das Geheul seiner Geschwister heran. Die Bestie sprang ihnen entgegen.

Nossep drückte Winja nach hinten, außer Gefahr, und riss den rechten Arm vor sein Gesicht.

Der Wolf schnappte zu.

Nosseps Hemd bot den Fängen keinen Widerstand. Winja sah, wie das Blut zwischen den Lefzen hervorquoll, während das Raubtier mit seinem ganzen Körpergewicht am Arm hing und wild daran riss.

Ob Nosseps Schreien dem Schmerz oder der Wut geschuldet war, konnte Winja nicht entscheiden. Sie sah nur das Blut und den Wolf, dessen schneeweißes Fell jetzt der Lebenssaft seines Opfers rötete, und sie dachte an Nikascha. Wie war diese Bestie ins Zimmer ihrer Tochter gekommen? Wer hatte sie dort hineingeschmuggelt? Wer hasste Winja so sehr? Ein Konkurrent ihres Vaters? Ein Pelzjäger, der glaubte, keinen gerechten Preis erhalten zu haben?

Nossep gab nicht auf. Trotz der Pein, die er zweifellos litt, riss er den Arm herum, sodass er den Wolf vor sich bekam. Er stieß dem Biest das Knie in den Bauch. Sein Arm entglitt dem Maul. Er trat nach. Der Wolf flog zurück in Nikaschas Zimmer. Irgendwo prallte er auf, vielleicht an der Truhe, und jaulte erbärmlich.

Winja stürzte zu dem Verwundeten. Auch auf dem Schoß und den Schenkeln war Blut, aber sein Ursprung war der rechte Unterarm. Weiß sah Winja die Elle durchschimmern. Sie kämpfte ihre Übelkeit nieder, zog die Elchfelltunika über den Kopf und verband damit die Verletzung.

Währenddessen beobachtete Nossep heftig atmend die offene Tür. Als Winja den Knoten festzog, knirschte er mit den Zähnen.

»Wir müssen …«, setzte sie an. »Wir müssen … Nikascha …«

Nossep sah sich in dem Zimmer um, das die Familie an Festtagen oder bei vornehmem Besuch zum Speisen benutzte. Er griff den Silberleuchter, der als Keule taugen mochte. Ohne Zögern schritt er der Bestie entgegen.

Winja wollte ihn zurückhalten, aber sie wusste, dass sie den Wolf schnell vertreiben mussten, um das Mädchen zu retten. Wenn das Biest Nikascha nur noch nicht … aber dann hätte das Kind doch geschrien, und das hätte Winja auch auf dem Dach gehört!

Oder hatte der Wolf direkt die Kehle angesprungen? Nikaschas Hals war so dünn, und der Fang war so kräftig …

Die Arme um den nackten Oberkörper geschlungen, setzte Winja vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um Nossep nachzugehen. Sie erwartete ein Knurren, ein Fauchen, das Reißen von Stoff und Fleisch, wütende Rufe von Nossep, vielleicht einen Fluch, dumpfe Schläge, gedämpft vom Fell.

Stattdessen hörte sie ein Schluchzen, das ihr sehr vertraut war. Das war Nikascha!

Winja lief die letzten Schritte.

Vom Wolf war keine Spur zu entdecken.

Nossep hatte die Arme sinken lassen, die Hand lag so locker um den Leuchter, dass ihm dieser beinahe entfiel.

Nikascha drückte sich ängstlich in die Ecke, wo die Truhe gegen die Wand stieß. Ihre Kleidung lag zerrissen neben dem Bett. Blut besudelte Mund, Hals und Brust.

Draußen heulten die Wölfe den Mond an.

In der Nähe der Tenjos, sechzehnter Tag im Sturmmond, vor zwanzig Jahren

»Tu es nicht!«, flehte Winja.

Unbarmherzig starrte ihr Vater auf sie herab. Draußen brüllte der Schneesturm und rüttelte am Wagen, in dessen Innerem die Familie alles mitführte, was sie für die lange Reise nach Riva brauchte. In drei weiteren Gefährten begleiteten sie Bedienstete ihres Vaters, dorthin hatte er auch die Magd geschickt, die normalerweise bei ihnen mitfuhr. Winja wusste, dass jetzt der Augenblick gekommen war. Was nun geschah, sollte niemand sehen, der nicht zur Familie gehörte.

»Gib sie mir!« Ihr Vater war bereits in dicke Robbenpelze gekleidet, nur einen Streifen an den Augen ließen Schal und Mütze frei. Fordernd streckte er ihr die in weiches Karenfell gehüllten Hände entgegen.

Winja legte die Arme schützend um Nikascha. Das Gesicht ihrer Tochter drückte gegen ihren Bauch. Von oben betrachtet, ähnelte ihr Kopf einem Schneeball. In den Monden seit dem Vorfall war ihr Haar beinahe weiß geworden, und ihre Augen hellten auf. Von ihrem Braun war kaum noch etwas geblieben, der Bernsteinton wurde immer kräftiger.

»Sie ist doch nur ein Kind«, stammelte Winja.

»Kein Kind wie andere Kinder«, stellte ihr Vater fest.

Ihre Mutter strich Winja eine Strähne aus dem Gesicht und betrachtete sie mit einem traurigen Lächeln. »Du bist jetzt eine Frau«, sagte sie so sanft, dass der Sturm die Worte beinahe übertönt hätte. »Du musst einen Mann finden, eine Familie gründen, Kinder großziehen …«

»Ich habe ein Kind!«, rief Winja.

»Dieses Kind gehört dir nicht«, knurrte ihr Vater. »Es ist ein Kind der Wildnis. Ein Wolf.«

»Das ist nicht wahr!«

Zwar konnte sie nur seine Augen sehen, aber das reichte aus, um den Zorn zu erkennen. »Misstraust du deinen eigenen Sinnen?«

Im letzten Mond, ausgerechnet in jenem, der Travia anvertraut war, der Göttin des Heims und der Familie, war es wieder geschehen. Ein Straßenhund hatte Nikascha ihre Puppe entrissen und sie auf der Suche nach etwas Fressbarem zerfetzt. Gerade noch rechtzeitig hatten sie das verzweifelte Mädchen zurück ins Haus gebracht. Hinter verrammelten Türen hatte es sich verwandelt. Winja zitterte bei der Erinnerung an die sich verbiegenden Glieder, das reißende Kleid und den weißen Pelz, der aus der Haut ihrer Tochter gesprossen war. Das Schrecklichste war das Gesicht gewesen. Die vorschnellenden Kiefer, aus denen sich Reißzähne schoben … Winja hatte vor dem Anblick fliehen wollen, die Tür aber verschlossen gefunden und sich in eine Blumenvase erbrochen.

»Außer uns hat es niemand gesehen«, sagte sie schwach.

»Wenn es dir in den Kram passt, kannst du Nossep also vergessen!«, warf ihr Vater ihr vor. »Sein Schweigen hat mich viel gekostet!«

»Ich hasse dich!«, rief Winja ihrem Vater entgegen.

Ihre Mutter verpasste ihr eine schallende Ohrfeige.

Winja wehrte sich nicht. Sie brauchte ihre Arme, um ihre Tochter festzuhalten.

»Wie konntest du uns das antun? Wir lieben uns!«

Ihr Vater lachte höhnisch. »Das hat Nossep nicht mehr erwähnt, als er nach Festum aufgebrochen ist. Er träumt davon, Seile für die prächtigen Schiffe zu schlagen, die dort in See stechen. Vielleicht will er selbst für eine Fahrt zu den Gewürzinseln anheuern.«

»Du lügst! Er kommt zurück!«

»Das bekäme ihm schlecht! Ich habe meinen ganzen Einfluss einsetzen müssen, um ihn bei Surjeloff unterzubringen. Ich erwarte, dass er hart arbeitet und wenigstens einen Teil meiner Kosten zurückerstattet.«

»Er hätte auch in Norburg bei Surjeloff arbeiten können!«

Drohend näherte sich der Handschuh Winjas Gesicht. »Wenn er in Festum erzählt, dass in unserem Haus ein Wolf umgeht, dann braucht uns das nicht zu kümmern. Aber solche Gerüchte in Norburg können alles zerstören, was ich aufgebaut habe! Und zwar auch für dich, Fräulein!«

Ihre Mutter nahm Winja in den Arm. Dazu musste sie sich umständlich vorbeugen, weil die vierjährige Nikascha zwischen ihnen stand. Außerdem war Winja inzwischen größer als sie, was sie wohl dem bornländischen Anteil im Erbe ihres Vaters verdankte.

»Ich weiß, wie du dich fühlst, Töchterchen«, beteuerte ihre Mutter. »Aber es muss sein. Es ist schwer genug, einen Mann zu finden, der ein fremdes Kind aufzieht. Aber einen Wolf, der ihm den Arm abreißt, wenn er wütend wird?« Sie tätschelte Winjas Hinterkopf. »Das geht doch nicht.«

»Außerdem können wir uns nicht leisten, dich an eine Liebelei zu verschwenden«, befand ihr Vater. »Nossep ist ein anständiger Bursche, aber deine Ehe muss uns vorwärtsbringen. Uns alle. Ich werde dir eine bessere Partie verschaffen, vielleicht sogar in Riva. Du bist noch jung.«

Nikascha regte sich zwischen Winja und ihrer Mutter.

»Sie wird sterben«, klagte Winja.

»Ihr Vater lebt in dieser Wildnis. Seine Leute werden sie finden und sich ihrer annehmen.«

»Aber draußen tobt so ein schrecklicher Sturm!«

Ihre Mutter löste die Umarmung, hielt Winja jedoch an den Schultern fest. »Für uns ist er furchtbar, aber für Nikascha ist das hier ihre wahre Heimat. In ihr steckt ein Wolf.«

Ihr Vater zog ein Heiligenbildchen aus der Jackentasche. Es hing an einem Lederband, das er um Nikaschas Hals legte. »Das ist der heilige Mikail von Bjaldorn«, erklärte er. »Der wird dich in Schnee und Kälte beschützen.«

Verwundert erkannte Winja die Tränen in den Augen ihres Vaters. Sie standen leicht schräg, was die nivesische Mutter des Mannes verriet, der nur ein Bornländer sein wollte.

»Sie ist auch meine Enkelin«, hauchte er.

»Wie kannst du sie dann in der Wildnis aussetzen?«, schluchzte Winja.

»Jetzt überleg einmal!«, forderte ihre Mutter. »Nikascha kann nicht unter Menschen leben. Jedenfalls nicht in einer Stadt wie Norburg oder Riva.« Sie verschränkte die Arme. »Vielleicht geht das hier draußen, bei den Wilden. Bei den Nivesen.« So wie sie das sagte, blieb kein Zweifel daran, dass sie selbst sich nicht als Nivesin sah, als hätte die sesshafte Lebensweise die Reihe ihrer Ahnen gegen eine andere ausgetauscht. »Wenn du mit ihr zusammenbleiben willst, dann musst du hierbleiben. Ihr werdet in Höhlen leben. Wenn du reich bist, dann hast du ein Zelt. Die Füße wirst du dir wund laufen und dein Essen roh hinunterschlingen wie ein Tier. Es wird keine edlen Kleider für dich geben, keine Gesellschaften mit feinen Manieren, und dein schönster Besitz wird eine Knochenflöte sein.« Sie strich ihr über die Wange. »Zu so einem Leben habe ich dich nicht erzogen, Töchterchen. Das kannst du doch nicht. Stell dir vor, du müsstest jetzt da draußen im Sturm sein, weil du noch nicht einmal einen Wagen hast. Und nicht nur in diesem Sturm, sondern in jedem, der noch kommen wird. In manchen Wintern wirst du solchen Hunger leiden, dass die Rinde von einem Baum dir wie köstliche Speise erscheinen wird. Willst du das?«

Winja schüttelte den Kopf. Stumme Tränen liefen über ihre Wangen.

Ihr Vater räusperte sich. »Leg Nikascha den Mantel an, und gib ihr auch eine Decke mit. Es ist so weit.«

Tenjos, achtundzwanzigster Tag im Frostmond, vor zehn Jahren

»Was, wenn er schon tot ist?«, fragte Crottet.

»Dann bringen wir seine Leiche zurück und verbrennen sie«, antwortete sein Vater, »damit sein Geist leichter den Weg in die Ewiggrüne Ebene findet.« Das Mondlicht schien auf die unzähligen Fältchen, die von seinen Augenwinkeln ausstrahlten. Crottets Mutter sagte, sie habe sich in seinen Vater verliebt, weil er so viel lachte. Auf dieser Suche aber war sein Gesicht ernst.

Crottet schauderte. Wenn erst der Rauch Hern’Sens Geist ins Jenseits trüge – wo befand er sich dann jetzt? War es nicht nur der Wind, der um die Felsnadeln strich, sondern auch das, was sich von Hern’Sens Fleisch gelöst haben mochte? Dieses Etwas wäre der Welt sicher nicht wohlgesinnt, die ihn schon mit elf Jahren verstieß. Es wäre zornig, aber woran könnte es seine Wut kühlen? Wohl kaum an den bizarren Felsnadeln, die hundert Schritt und höher dem Himmel entgegenstachen, wo der Vollmond prangte, das ewige Mahnmal, das an Madas Frevel erinnerte. Heulend beklagten die Wölfe den Mord an Liskas Welpen, und die halb wilden Hunde im Winterlager, das nun gut eine Meile hinter den drei nächtlichen Wanderern lag, fielen ein.

»Vielleicht ist Hern’Sen gar nicht tot«, murmelte Crottet, um sich selbst zu beruhigen.

»Wir werden ihn schon finden!«, rief Nirka.

Ihre Unbeschwertheit ärgerte Crottet. Hier in der Wildnis war das Mädchen mit den bernsteinfarbenen Augen und dem Schneehaar noch mutiger als im Lager. Als könne ihr hier keine Gefahr etwas anhaben. Dabei hatte Crottets Vater sie vor zehn Jahren einsam und verlassen in einem Schneesturm gefunden. Ihr einziger Begleiter war ein Heiligenbildchen gewesen, wie es die Bornländer gern bei sich trugen. Ihren für Nivesen schwierig auszusprechenden Namen hatten sie zum gebräuchlichen Nirka verändert, als nach dem Sturm klar war, dass ihre Eltern nicht aufzufinden waren und sie bei den Sairan-Hokke bliebe.

Eigentlich mochte Crottet sie, aber immerhin war er Häuptling Kuljuks ältester Sohn. Er hätte tapfer sein sollen, nicht Nirka, die bestimmt fünf Jahre jünger war, obwohl man das wegen der Umstände, durch die sie zur Sippe gekommen war, lediglich schätzen konnte. Damals hatte man nur wenig von dem bornländisch gefärbten Garethi verstanden, das sie gesprochen hatte, und als sie mit dem Nujuka zurechtgekommen war, hatte sie kaum noch Erinnerungen an ihre frühe Kindheit gehabt.

Crottet versuchte, sich mit der gleichen Sicherheit zu bewegen wie Nirka. Der Vollmond hatte den Vorteil, dass man gut erkennen konnte, wohin man trat. Jedenfalls außerhalb der tiefschwarzen Schatten, die die Felsnadeln warfen.

»Hier haben sie ihn zuletzt gesehen«, meinte Crottets Vater, als sie einen Hain mit winterkahlen Birken erreichten.

Die Schritte knisterten auf dem verdorrten Laub, das den schneefreien Boden bedeckte. Hier gab es kein Gras und nur wenig Gesträuch. Bissspuren bezeugten, dass die Karene an den Zweigen gefressen hatten. Bei dem kargen Mahl, das der Hain bot, konnte man es den Tieren, die nach schmackhafterem Futter gesucht hatten, nicht verdenken, dass sie sich von der Herde entfernt hatten und zwischen die Felsnadeln gewandert waren.

Trotz des Ernstes der Lage tollte Nirka im Laub umher, was alle Spuren verdarb, die es vielleicht noch geben mochte.

Crottet runzelte die Stirn. Ihm hätte sein Vater solchen Unsinn niemals durchgehen lassen. Aber er war ja auch nicht gesegnet. Bei Nirka hingegen lächelte der Häuptling nur.

»Wieso haben wir nicht Tse Kal mitgenommen?«, murrte Crottet. »Der wäre eine bessere Hilfe gewesen.«

»Tse Kal weiß viel über Karene«, räumte sein Vater ein. »Aber hier geht es nicht darum, eine Herde zusammenzutreiben oder die Bänder unserer Sippe so in ein Geweih zu flechten, dass sie sich nicht lösen. Wir brauchen jemanden, der Spuren lesen kann.«

»Auch da gibt es Bessere«, brummte Crottet.

»Bessere als dich?« Sein Vater hob eine Braue so hoch, dass sie unter der bunten Mütze verschwand.

Crottet wusste, dass er nur ein mittelmäßiger Jäger war, aber das wollte er nicht zugeben. Eigentlich hatte er Nirka gemeint. Seiner Meinung nach hätte man das Mädchen im Lager lassen und stattdessen einige erfahrene Frauen und Männer mitnehmen sollen. Aber da sein Vater das erst recht nicht hören wollte, zuckte Crottet nur mit den Achseln.

»Zeig mir, was du gelernt hast, Sohn!«

»Nirka hat alle Spuren verdorben.«

»Wie soll sie denn das geschafft haben? Sie bewegt sich doch nur zwischen den Bäumen. Dass die Karene hier gestanden haben, wissen wir bereits. Den Weg, den die Hauptgruppe zurück ins Lager genommen hat, kennen wir auch schon. Jetzt müssen wir herausfinden, wohin sich Hern’Sen gewandt hat, als er den abspenstigen Tieren nachgeritten ist.«

Crottet sah ein, dass er ein Streitgespräch mit seinem Vater nur verlieren konnte. Also machte er sich daran, den Hain zu umrunden und nach Spuren zu suchen, die herausführten.

Der gefrorene Boden hätte das schon bei Tageslicht zu einem schwierigen Unterfangen gemacht. In der Nacht war es kaum zu schaffen. Ein Karen wog nur wenig mehr als ein Reh, vor allem mitten im Winter, wenn die in Sommer und Herbst angefressenen Fettpolster abnahmen und die Tiere die Wanderung von den Sommerweiden hinter sich hatten. Ein schwerer Bock mochte das Eis in einer Pfütze zertreten oder auch die eine oder andere Bodenkrume, aber auf eine deutliche Fährte durfte Crottet nicht hoffen. Hinzu kamen noch die tiefen Schatten der Felsen.

Das Seufzen des Windes rief Crottet wieder den Geist des toten Hern’Sen in Erinnerung, der auf der Suche nach Leben hier umherstreifen mochte. Es gab viele Geschichten darüber, wie jene, die plötzlich starben, zurückkehrten, um Rache zu nehmen oder einfach nur, um etwas vom Leben der Zurückgebliebenen aufzusaugen. Hern’Sen trug den Namen eines großen Helden, wenn auch etwas abgewandelt. Erm Sen war ein furchtloser Krieger gewesen, sogar ein Anführer, dessen starker Arm die Sippe durch viele Winter gebracht hatte. Manche glaubten zu wissen, dass er später im tiefen Süden, wo die Sonne glühte, weitere Heldentaten vollbracht hatte. Darüber sang man noch zweieinhalb Jahrhunderte nach seinem Tod Lieder in den Jurten der Sairan-Hokke.

Wen mochte der kleine Hern’Sen für sein Dahinscheiden verantwortlich machen? Vielleicht die ganze Sippe, deren Karene er gehütet hatte? Dann doch wohl besonders deren Häuptling. Und Crottet war der Sohn dieses Häuptlings … Wenn etwas von der Härte Erm Sens in ihm war … Ein Kinderleben für ein Kinderleben.

Crottet straffte sich. Wahrscheinlich war Hern’Sen gar nicht tot! Also gab es hier auch keinen Geist.

Er durchquerte den Schlagschatten einer gedrehten Felsformation und hockte sich nieder, als er mondbeschienenen Boden erreichte. Crottet war kein Kind mehr. Beinahe zwanzig Winter hatte er kommen und gehen sehen. Er war nicht der beste Jäger, aber im letzten Jahr hatte er gute Fortschritte gemacht. Große Anerkennung war ihm zuteilgeworden, weil er nahe dem Sommerlager eine Walrossbank gefunden hatte.

»Wenn Hern’Sen noch lebt, werde ich ihn finden«, murmelte er.

Die Spurensuche und der Gedanke an einen Geist beschäftigten ihn so sehr, dass ihm erst nach einer Weile auffiel, dass er weder seinen Vater noch Nirka sah. Befanden sie sich noch im Hain?

Crottet spähte zwischen die hellen Stämme. Ihre Farbe ähnelte der von Knochen. Obwohl sie ihr Laub abgeworfen hatten, konnte Crottet seine Begleiter nicht ausmachen, weil die Bäume zu dicht standen. Zudem waren die Schatten trügerisch. Bewegte sich dort etwas?

Crottets Herz klopfte. Er hörte das Rascheln des Laubs, das der Wind hin und her schob. Wieso war es nicht schon längst fortgeweht, zwischen den Felsen hindurch, hinaus in die sanften Hügel? Gab es hier Dämonen, die alles festhielten, was in den Schatten dieser Bäume geriet?

»Das ist Unsinn«, flüsterte Crottet seinem klopfenden Herzen zu. »Ich war auch im Hain und bin wieder hinausgekommen. Und die Hirten und die Karene auch.« Er schluckte. »Bis auf Hern’Sen.« Was, wenn Crottet gar keine Spur finden konnte, weil der Junge und sein Pony die Herde nie verlassen hatten? Jedenfalls nicht auf Wegen, die Füße und Hufe zu gehen vermochten?

»Es sind nur Luftwirbel, die das Laub hier halten.« Zweifelnd betrachtete Crottet die senkrechten Felspfeiler. Ein paar Hundert bildeten diese auffällige Formation, die man die Tenjos nannte. Die höchsten ragten hundertfünfzig Schritt auf und boten guten Schutz gegen die Witterung, weswegen die Sairan-Hokke – trotz des Heulens und Zischens bei jedem Wind – immer wieder das Winterlager in diesem Gebiet aufschlugen. Sogar die Kinder der Sippe wussten, dass die Luft hier seltsamen Bahnen folgte. Die alte Lunka glaubte gar, der Wind entstünde an diesem Ort. Die Tenjos zögen ihn aus dem Boden und schickten ihn in alle Welt.

»Solange sie nur Wind aus der Erde ziehen und nicht rachsüchtige Seelen aus den Niederhöllen, soll es mir recht sein«, murmelte Crottet.

Von den Niederhöllen hatten ihm einige Norbarden erzählt. Dort herrschten Erzdämonen, Feinde von Göttern, die Crottet nicht kannte. Diese Götter aus dem Süden, die man auch in den Städten verehrte, glichen Menschen mehr als Wölfen. Aber einer von ihnen, der grimmige Firun, liebte die Wildnis trotzdem.

Crottet liebte die Wildnis nicht. Er hasste sie auch nicht. Er nahm sie hin. Sie bestimmte sein Leben.

Er verscheuchte diese Gedanken und setzte seine Suche fort.

Seltsam, dass auch nichts von Nirka und seinem Vater zu hören war, dachte er, als er wieder einen Felsschatten durchquerte. Er blieb stehen, um zu lauschen. Aber von Nirkas Herumtollen war tatsächlich kein Laut mehr zu vernehmen.

Crottet überlegte, ob er nach seinem Vater rufen sollte, aber das hätte ihn hilflos erscheinen lassen. Er hatte einen Auftrag erhalten, also würde er ihn erfüllen oder es zumindest versuchen. Ein guter Jäger kehrte erst zurück, wenn er die Beute erlegt hatte.

Doch was, wenn die Geister gerade jetzt über Nirka und seinen Vater herfielen? Wenn diese nicht um Hilfe schreien konnten, weil die Toten alle Laute erstickten? Wenn sie nun stumm mit unsichtbaren Feinden rangen und verzweifelt auf Crottets Eingreifen hofften?

Aus einem löchrigen Felsen drang ein Heulen, dessen Tonlage immer höher wurde, zu einem Fiepen anstieg, bis Crottet es nicht mehr hören konnte. Seine Finger zitterten. Als seine Brust zu schmerzen begann, zwang er sich, wieder zu atmen.

Dieser Ort oder diese Nacht oder beide waren verflucht! Was für ein Wahnsinn, hier allein herumzustolpern! Er griff das aus einem Walrosszahn geschnitzte Messer und wollte gerade schnurstracks in den Hain zurückkehren, als sein Blick auf ein helles Band fiel, das sich an einem Dornbusch verfangen hatte.

Skeptisch sah Crottet zu dem löchrigen Felsen hinüber, der aber kein Geräusch mehr machte. Er ging zu dem stacheligen Gewächs, das etwa auf Brusthöhe in einer Nische wurzelte, und betrachtete das Stoffband. Im Mondlicht verblasste die Farbe zu einem fahlen Grau. Crottet hätte ein Feuer machen können, um herauszufinden, ob dann das Orange seiner Sippe zum Vorschein käme, aber eigentlich war das unwichtig. Dieses Band bestand aus widerstandsfähigem, raufaserigem Gewebe, unangenehm kratzig auf der Haut, aber gut geeignet, um es in das Geweih eines Karens zu knoten. So kennzeichneten die Nivesen ihre Tiere. Ein Band für die Sippe, eines für die Familie, manchmal weitere für einzelne Besitzer.

Hier war ein Karen vorbeigekommen, das Band war an den Dornen hängen geblieben. Voraus war dürres Gras zwischen den Felsen zu sehen. Lächelnd steckte Crottet seine Beute ein und machte sich auf den Rückweg.