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Seit vielen Monden schon liefern sich die beiden Kapitäne Asleif Phileasson und Beorn der Blender eine erbitterte Wettfahrt um den Kontinent Aventurien. Nur wer das Rennen gewinnt und alle zwölf Aufgaben löst, darf sich mit dem Ehrentitel »König der Meere« schmücken. Zehn Abenteuer liegen bereits hinter den verfeindeten Helden und ihren Gefährten, doch was nun auf sie wartet, übersteigt all ihre Vorstellungskraft, denn manche Dinge sind größer als der glänzendste Ruhm, als der sagenumwobenste Recke. Mancher Frevel liegt länger zurück, manches Unrecht ist älter als die Sagas aus der Zeit, als die Hjaldinger ihren Fuß auf aventurischen Boden setzten. Wird es gelingen, den großen Weltenlauf ein Stück weit zu korrigieren, um verloren geglaubtes Licht zurückzuerlangen?
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Seitenzahl: 883
DASBUCH
»Sie würde zu neuen Küsten aufbrechen, um Menschen zu finden, die sie anstelle der Verbrecher aus jenem Winter würde jagen können. Ihre Mannschaften würden sie begleiten, um zu plündern. Sie dagegen würde ausfahren, um die kurzen Momente zu finden, in denen sie wieder etwas fühlen könnte. Sie würde herausfinden, dass das Leid Unschuldiger sie am tiefsten berührte …«
Vor ihre elfte Prüfung setzt der Oberste Hetmann ein Hjalding aller Anführer des Landes: Wieso entsprechen die bisherigen Abenteuer nicht den geplanten Aufgaben? Will eine fremde Macht Thorwals Schicksal bestimmen? Ist es weise, die Wettfahrt fortzusetzen?
Phileasson und Beorn nutzen die erzwungene Rast, um ihre Schiffe auf die letzten Etappen der Reise vorzubereiten, Mannschaften und Vorräte zu ergänzen und sich feiern zu lassen. Doch auf der Fahrt um die bekannte Welt herum und darüber hinaus haben sie nicht nur Ruhm und Schätze errungen. Dunkle Taten haben Hass gezeugt. Wird sich die Gewalt auf Beorns und Zidaines Hochzeit Bahn brechen?
Seit undenklicher Zeit wartet ein Mann dunklen Sinnes in seinem Kerker auf Befreiung. Ein Stern muss fallen, die Erde muss beben – dann wird sich entscheiden, wer den Sieg in der elften Prüfung des längst legendären Wettkampfs erringen kann.
Mehr über die Phileasson-Saga erfahren Sie auf:
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DIEAUTOREN
Bernhard Hennen, 1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Vorderasiatische Altertumskunde. Als Journalist bereiste er den Orient und Mittelamerika, bevor er sich ganz dem Schreiben fantastischer Romane widmete. Mit seiner Elfen-Saga stürmte er alle Bestsellerlisten und schrieb sich an die Spitze der deutschen Fantasy-Autoren. Hennen lebt mit seiner Familie in Krefeld.
www.bernhard-hennen.de
Robert Corvus, 1972 geboren, studierte Wirtschaftsinformatik und war in verschiedenen internationalen Konzernen als Strategieberater tätig, bevor er mehrere erfolgreiche Fantasy-Romane veröffentlichte. Er lebt und arbeitet in Köln.
www.robertcorvus.net
BERNHARD
HENNEN
ROBERT CORVUS
ELFENKÖNIG
DIE PHILEASSON-SAGA
ELFTER ROMAN
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Originalausgabe 07/2022
Redaktion: Catherine Beck
Copyright © 2022 by Bernhard Hennen
Copyright © 2022 by Robert Corvus
Copyright © 2022 by Ulisses Medien & Spiel Distribution GmbH
Copyright © 2022 dieser Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
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die Michael Meller Literary Agency GmbH, München
Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT GbR, München
Umschlagillustration: Kerem Beyit
Innenillustrationen: Nadine Schäkel
Karten [>>], [>>]: Steffen Brand
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-26700-1V001
www.heyne.de
PROLOG
DER DREIÄUGIGE DRACHE
Daranel,
fünfter Tag im Sturmmond, vor drei Jahren
»Die Augen eines Drachen sehen den Tod«, meinte Irulla düster. »Auf wen sein Blick fällt, der muss sich seines Feuers und seiner Zähne erwehren. Die meisten scheitern an dieser Prüfung.«
Asleif Phileasson sah vom Tisch auf, den man im Wandelgang aufgestellt hatte. Diener brachten so viele Karten, aufgerollt oder in Atlanten gebunden, dass sie Schwierigkeiten hatten, eine freie Stelle zu finden, auf der sie die Werke myranischer Entdecker ablegen konnten. Sie auf den Boden zu stapeln wagten sie wohl nicht. Zu groß war die Gefahr, dass einer der angetrunkenen Festgäste darauf treten könnte.
Im blauen Licht der Fackeln, die in floral geformten Wandhalterungen aus schwarzem Eisen steckten, bekam Irullas eigentlich braune Haut einen grünlichen Schimmer. Die Spinnenzeichnung auf ihrem vorn rasierten Kopf hatte die Farbe von Eis. Die Robe, die man ihr am Eingang zum Geschenk gemacht hatte, lag zusammengefaltet in einer Nische vor einer sechsarmigen Statuette. Die Waldmenschenfrau trug nur einen Schurz und ein kurzes Wildlederhemd, das ihren Bauch frei ließ. Das schwarze Haar hatte sie lange nicht mehr geschnitten, es fiel über ihre Schultern.
»Wie kommst du jetzt auf Drachen?« Phileasson sprach laut, um das Rauschen des Fests zu übertönen.
Sicher einhundert Gäste plauderten im von Säulengängen eingefassten Innenhof des Atriumhauses, den ein Wasserbecken beherrschte. Leider verhüllten dichte Wolken die Sterne. Wenigstens regnete es nicht. Ein Gewitter hätte sicher die Stimmung gedrückt. So unterhielt man sich unbeschwert, ließ sich Getränke und kleine Speisen reichen und begrüßte Neuankömmlinge, die die Menge noch bunter machten.
Phileasson bezweifelte, dass er in Aventurien eine Versammlung derart unterschiedlicher Wesen hätte finden können. Hier gab es Menschen jeden Alters und Geschlechts, verschiedener Hautfarbe, mit ausgefallener Haartracht und farbenfroher Kleidung. Hinzu kamen vierarmige Neristu, Amaunir, die aufrecht gehenden Katzen glichen, und ein löwenartiger Leonir, der Knochen in seine dunkle Mähne geflochten hatte. Wie man das Wesen nannte, das mit höflicher Geste um ein wenig Platz bittend zwischen Phileasson und Irulla hindurchging, wusste der Thorwaler nicht zu sagen. Der Mann war einen Kopf größer als er und sehr schlank. Sein silbergraues Gewand umfloss ihn wie Wasser im Mondschein. Das Auffälligste war jedoch der Flügel, der unter der linken Schulter aus dem Rücken wuchs. Geformt wie eine Adlerschwinge, war er mit weißen Federn bedeckt. Auch das lange Haupthaar hatte die Farbe von Schnee.
Fasziniert blickte Phileasson dem Mann nach. Wo die rechte Schwinge hätte sein sollen, zeichnete sich nur eine kopfgroße Wölbung unter dem Gewand ab.
Das Knacken, mit dem Irulla ein Stück von der gerösteten Tarantel im Knuspermantel abbiss, lenkte Phileassons Aufmerksamkeit zurück zur Gefährtin.
Sie legte das angeknabberte Tier auf den Silberteller, den sie mit der linken Hand hielt. Der starre Blick ihrer dunklen Augen blieb auf eine Nische gerichtet, die sich etwas über Kopfhöhe auftat. Offenbar erachtete Irulla das als Antwort auf Phileassons Frage nach dem Drachen für ausreichend.
Er hatte Mühe zu erkennen, was sich in der Nische befand. Die nächsten Fackeln brannten vier Schritt entfernt.
Während ein Springer auf dem Hof eine drei Schritt hoch gespannte Kordel überwand und unter dem höflichen Beifall der Menge in das Wasserbecken platschte, trat Phileasson näher an die Nische heran. Eilfertig nahm ein Diener eine Öllampe vom Kartentisch und begleitete ihn.
Tatsächlich stand dort ein Drachenhaupt. Es war mit kantigen Formen aus dunkelgrünem Holz gearbeitet. Seine zurückgezogenen Lefzen gaben Reißzähne frei. Gerade die grobe Darstellung ließ Phileassons Herz kräftig schlagen. Dieses Bildnis kündete von einer urwüchsigen Kraft.
Runen bedeckten das Drachenhaupt und auch den knapp einen Arm langen Hals. Phileasson kniff die Lider bis auf Schlitze zusammen. In der Form ähnelten die Spiralen und Zacken denen auf den Steinen der Alten, aber er fand kein Zeichen, dessen Bedeutung ihm bekannt gewesen wäre.
»Kannst du lesen, was dort steht?«, fragte er.
Irulla stellte sich auf die andere Seite des Dieners. Sie nahm noch einen Bissen von der Tarantel. Geduldig kaute sie und schluckte. »Diejenigen, die diese Zeichen ins Holz gegraben haben, waren schon Würmerfraß, als dein Urgroßvater das erste Mal Salzwasser geschmeckt hat. Ein Drache mit drei Augen sieht noch mehr Tod als einer mit zweien.«
Bittend legte Phileasson zwei Finger unter die Lampe des Dieners. Er hob die Lichtquelle an.
Über dem Drachenmaul war eine Eisenmaske mit drei Augenschlitzen befestigt. Mehrere Stahlbolzen hielten sie dort. Beulen und Rost zeugten von der bewegten Vergangenheit dieses Schmuckstücks. Es gefiel Phileasson, dass man sie nicht geschmirgelt oder poliert hatte. Die Spuren überstandener Härten gehörten zu einem Recken.
»Wie kommt so etwas hierher?«, murmelte der Thorwaler.
Er blickte sich um, als müsste er sich versichern, wie fein, oft sogar zart, die anderen Kunstwerke in diesem Haus waren. Die Säulen, die das Dach über dem Wandelgang stützten, waren so dünn, dass man fürchten musste, sie könnten bei einer zünftigen Prügelei zu Bruch gehen. Das Mosaik um das Becken hatte man aus farbigen Steinen gelegt, die so winzig waren wie der Nagel an Phileassons kleinem Finger. Die Kleidung der meisten Festgäste hätte bei einem Marsch durch die Wildnis schon nach einem Tag in Fetzen gehangen. Man trank aus Kelchen, so durchsichtig wie klares Wasser. Üppige Blumengestecke waren in schlanken Vasen drapiert, jeder Luftzug bewegte hauchfeinen Stoff – Schals und Schleier –, der an Vorsprüngen oberhalb der Kopfhöhe befestigt war.
»Der Tod verschafft sich überall Einlass«, meinte Irulla verträumt.
»Wie ein Drachenboot, das vor keiner noch so rauen See zurückschreckt«, erwiderte Phileasson mit grimmiger Befriedigung. Kaum jemand in Aventurien glaubte, dass man das Meer der Sieben Winde überqueren konnte. Er hatte die Seeadler nun schon das zweite Mal durch den fürchterlichen Efferdswall geführt. Diesmal war er sogar durch die Sümpfe bei Balan Cantara ins Meer der Schwimmenden Inseln vorgedrungen, bis hierher nach Daranel. Er bedauerte, keinen Skalden an Bord zu haben, der aus den Wundern, die er entdeckte, würdige Verse schmiedete. Das würde er künftig besser machen.
Die Kordel für die Hochspringer spannte sich zwischen Fenstern, die im mittleren der drei Geschosse auf den Innenhof hinausgingen. Die Diener dort oben hoben sie eine Handbreit an.
Ein Amaun bat die Menge vor Phileasson, zurückzutreten, damit er weiten Anlauf nehmen konnte. Gespannt machten die Gäste ihm Platz und drängten dabei auch den Drachenführer zurück.
Die eng an den schlanken Beinen anliegende Hose des Katzenwesens wies eine Öffnung für den mit dunkelgrauen Flecken gemusterten Schwanz auf, der lauernd pendelte. Offenbar ging der Amaun im Geiste die Schritte durch, die er mit seinen bloßen Pfoten setzen wollte. Schuhe trug er nicht, wohl aber so etwas wie weich aussehende Beinschienen, die die blaue Hose über den Fußgelenken zusätzlich rafften. Der Oberkörper war nackt bis auf eine Weste, die so eng saß, dass ihr Schnitt einem verschnürten Mieder ähnelte. Die grauen Tupfen zeichneten das weiße Fell an allen sichtbaren Stellen, auch im Gesicht. Die Schnurrhaare wippten, während der Amaun ruckartig nickte.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs stand Darimeliope e Daranel an Alantinos. Die junge Frau war die Gastgeberin dieses Abends, mit dem Fest feierte sie den Einzug in das Haus. Sie trug eine Maske, die ebenso wie jene des Drachenhaupts drei Augen aufwies. Das war allerdings die einzige Ähnlichkeit. Bei Darimeliope waren die äußeren Augen als Öffnungen gestaltet, durch die sie die Gesellschaft beobachtete. Das dritte, jenes vor ihrer Stirn, schien aus dichtem Rauch zu bestehen. Die Maske selbst war aus Glas gefertigt, das graue Schlieren durchzogen. Silberkörner glänzten darin. Sie reichte seitlich ein Stück über den Kopf hinaus und lief in jeweils vier Spitzen aus, wodurch ihre Form entfernt zwei an den Ballen zusammengelegten Händen ähnelte.
Darimeliope trug ein in komplizierten Falten fallendes, knöchellanges Wickelkleid. Der weiße Stoff leuchtete vor der mit Goldfarbe bemalten Haut, die in der unteren Hälfte des Gesichts, am Hals, im Ausschnitt und an den nackten Armen zu sehen war. In Gold waren auch die schwarzen Steine ihrer Kette gefasst. Phileasson vermutete, dass es sich bei den kleineren, die in die Form von Rosenknospen geschnitten waren, um Onyxe handelte. Beim größten, der als volle Blüte zwischen ihren Brüsten lag, funkelte das Licht jedoch so sehr auf der Schwärze, dass es sich nur um einen Diamanten handeln konnte. Der Entdecker fragte sich, ob man in Myranors Boden schwarze Diamanten fand, oder ob Magie für diese Färbung verantwortlich war.
Die Optimatin stellte ihren Kelch auf dem Silbertablett eines Dieners ab und klatschte in die Hände. Das wiederholte sie in einem langsamen Takt, den die Festgäste aufnahmen. Phileasson begriff, dass sie den Springer ermutigten, und fiel ein.
Der Amaun wippte in den Knien, bevor er loslief. Schon sein Lauf glich einer Folge von kurzen Sprüngen. Die Gäste versuchten, ihr Klatschen dem Aufsetzen der Pfoten anzupassen.
Es sah aus, als wollte der Athlet am Seil vorbeilaufen, so spitz war der Winkel, in dem er sich näherte. Als er die Mitte erreichte, riss er jedoch beide Arme in die Höhe und sprang ab.
Nur einzelne Klatscher begleiteten das Katzenwesen hinauf. Die meisten beobachteten in erstarrter Spannung.
Mit dem Rücken nach unten bog sich der Amaun über das Seil. Ein beeindruckender Beweis nicht nur seiner Schnelligkeit und Sprungkraft, sondern auch seiner Geschmeidigkeit. Verspielt tippte seine Schwanzspitze an das Seil. Er hatte noch zwei Handbreiten Platz.
Mit einem lauten Platschen stürzte er ins Wasser des Beckens.
Phileasson reckte eine Faust in die Höhe und stimmte in den Jubel ein. »Wenn der will, springt er übers Dach, das wohl!«, rief er begeistert.
Irritiert wandten sich einige Gäste zu ihm um. Hier war man die rauen Laute der thorwalschen Sprache nicht gewohnt.
Phileasson nickte entschuldigend. »Sehr gut, der Mann«, sagte er auf Myranisch. Das war die einfache Verkehrssprache, die im Güldenland nahezu jeder beherrschte. Darüber hinaus hatte jede Volksgruppe ihre eigene Sprache, und die Optimaten, die man an der Triopta – der Dreiaugenmaske – erkannte, benutzten eine spezielle Variante, die das einfache Volk nicht verstand. Ähnlich wie die Skalden in Phileassons Heimat das alte Hjaldingsch lernten.
Die Menge teilte sich, um respektvoll eine Gasse für Roxxennis e Calacar an Alantinos zu schaffen. Hätte Phileasson nicht gewusst, dass es sich bei der Optimatin mit der goldenen Triopta um Darimeliopes Mutter handelte, wäre er niemals darauf gekommen. Zwar verdeckte die ausladende Maske auch bei dieser Frau die obere Gesichtshälfte, aber Wangen und Kinn waren straff, und was das Kleid von ihrem Körper erahnen ließ, hätte ebenfalls zu einer Mitte Zwanzigjährigen gepasst. Phileasson war unwohl bei dem Gedanken daran, was für Kräfte man aufbot, um eine solche Jugendlichkeit bei einer mindestens doppelt so alten Frau zu erhalten. Sicherlich waren sie zauberischer Natur, die herrschenden Optimaten waren allesamt Magier. Aber machtvolle Magie, so wusste der Thorwaler, forderte oftmals einen grausamen Preis. Nicht immer zahlte diesen der Zauberer selbst.
Roxxennis lächelte Phileasson an. »Amüsiert Ihr Euch?« Sie sprach die Silben langsam und betont aus, schließlich wusste sie, dass ihr ein Fremdling gegenüberstand.
»Ich danke für die Einladung, Exzellenz.« Er deutete eine höfliche Verbeugung an. »Auch im Namen meiner Begleiter.«
Neben ihm und Irulla war seine Base Ragnild Gast auf diesem Fest. Auf ihrer ersten großen Reise bekam die Sechzehnjährige wirklich etwas zu sehen. Das hatte sie sich nach der entbehrungsreichen Ausbildung zur Magierin an der Runajasko von Olport auch verdient. Die junge Frau hatte bereits einige Härten überstanden, nicht zuletzt den frühen Tod beider Eltern, die das Meer behalten hatte.
»Weit gereiste Gäste sind stets interessant«, beteuerte Roxxennis. »Sie bringen Glanz für unser kleines Optimatenhaus.« Die Alantinos waren Diplomaten. Auch in anderen Städten Myranors hatten sie die Thorwaler freundlich aufgenommen. Sie handelten mit Neuigkeiten, notfalls mit Gerüchten, und hatten Verwendung für Erzählungen aus dem fernen Aventurien. »Meine Tochter darf sich glücklich schätzen, Euch am Tag ihres Einzugs zu begrüßen.«
Darimeliope beobachtete den nächsten Springer, wenn auch mit wesentlich weniger Interesse als den Amaun. Es handelte sich um eine Echse, deren Haut ständig die Farbe wechselte und deren Zunge weit aus ihrem Maul schoss. Sie trug eine rote Weste mit einem gelben Spiralmuster.
»Ich hatte gehofft, Euch mit unserer Kartensammlung eine Freude zu machen.« Roxxennis nickte zum Tisch hinüber. Die goldene Maske vergrößerte die Bewegung.
»Das tut Ihr«, versicherte Phileasson. »Karten sind die Leidenschaft jedes Entdeckers. Aber zu meiner Freude habe ich dieses Kunstwerk erspäht.« Er zeigte auf das grüne Drachenhaupt mit der Eisenmaske. »Die Handwerker meiner Heimat schaffen Ähnliches.«
»Ist das wahr?«, fragte Roxxennis.
Phileasson überlegte, ob sie seine Ehrlichkeit anzweifelte, aber die Frage war wohl nur eine hierzulande gebräuchliche Redewendung. »Mit solchen Darstellungen schmücken wir die Giebel unserer Langhäuser und die Vordersteven unserer Schiffe.«
»Auch dieser hier saß auf dem Bug eines Schiffs.« Irulla gab dem Diener mit der Lampe ihren leeren Silberteller.
»Wirklich?« Begeistert trat Phileasson nah an die Wand. »Du hast recht! Der Hals ist hohl …«
»Ich fürchte, Ihr irrt Euch«, sagte Roxxennis. »Dieses Stück erreichte uns mit einer Karawane, die aus der Wüste kam. Dort wird man kaum Schiffe finden.«
Irulla knackte mit den Fingern und starrte die Optimatin an. »Dieses Drachenhaupt hat ein Schiff in den Tod geführt«, beharrte die Spinnenfrau.
Phileasson hoffte, dass die Adlige das Verhalten seiner Gefährtin nicht als Mangel an Respekt empfand. Durch die Maske war ihre Miene nur schwer zu deuten.
Ragnild Snorjadottir bot eine willkommene Gelegenheit für einen Themenwechsel. Die sechzehnjährige Magierin gesellte sich mit einem Satyar im Arm zu ihnen.
Die gedrehten Hörner des bocksbeinigen Manns reichten der rothaarigen Thorwalerin gerade mal bis zur Brust. Wie die meisten männlichen Teilnehmer des Fests trug er eine Weste. Bei ihm stand sie offen und gab den Blick auf eine dichte Behaarung frei. Der Bart spross reichlich, aber nur entlang des Unterkiefers. Er trug einen grünen Rock mit bronzenen Zierplättchen, der seine Beine nicht ganz bis zur Hälfte bedeckte.
»Ah, ich sehe: Erthalyrias hat Euch gefunden, Frau Magierin«, stellte Roxxennis mit mehr Respekt in der Stimme fest, als Phileasson zuvor wahrgenommen hatte.
»Das wohl.« Ragnild beugte sich herab und küsste den Satyar auf die Wange. »Er scheint mir eine sehr angenehme Gesellschaft zu sein.«
»Es ist seine Aufgabe, ein angenehmer Gesellschafter zu sein.«
»Er hat ein schönes Hautbild«, meinte Phileasson. Über dem Herzen waren drei goldene Kronen in die Brust des kleinen Manns gestochen. Das wollige Haar wuchs dort nicht nach.
»Erthalyrias ist schon seit seiner Geburt in unserem Besitz«, erklärte die Optimatin. »Wir würden uns nie von ihm trennen. Aber einer Zauberkundigen leihen wir ihn gern für eine Nacht …« Sie lächelte anzüglich.
Phileasson sah in Ragnilds Augen. Sie verstand. Die Unbeschwertheit in ihrer Miene wich der Beklommenheit.
»Ihr braucht keine Folgen zu befürchten«, versicherte Roxxennis. »Satyare eignen sich sehr gut für erste Erfahrungen. Mit Menschenfrauen können sie keine Kinder zeugen.«
Phileasson hielt Ragnilds Augen noch immer mit seinem Blick fest.
Sie zupfte an dem grauen Überwurf, den man ihr am Eingang geschenkt hatte. Es war eine Art bodenlanger Mantel, der sich aber kaum eignete, seine Trägerin zu wärmen. Die Ärmel fehlten, und der Schnitt verhinderte, dass man ihn schloss. Das hätte einen Teil der kunstfertigen Silberborte verdeckt. »Willst du das auch, Erthalyrias?«
Roxxennis lachte. »Ihr seid wirklich fremd. Sklaven haben nur den einen Wunsch, ihren Herren zu gefallen. Dafür leben sie.«
»Ich wäre Euch sehr gern zu Diensten«, beteuerte Erthalyrias hastig.
Phileasson wechselte ins Thorwalsch. »Du wüsstest niemals, ob er dir aus freien Stücken gibt, was du begehrst. Das hast du nicht nötig. Es wird viele Männer in deinem Leben geben, und sie werden dich ebenso wollen wie du sie.«
Er spürte das Widerstreben in ihr.
»Wie würde es dir gefallen«, legte er nach, »bei jemandem liegen zu müssen, weil dein Hetmann oder deine Spektabilität es von dir verlangt?«
Ragnild schluckte und löste die Umarmung.
Erthalyrias’ Hufe klackten auf dem Pflaster, als er einige Schritte zur Seite trippelte. Unsicher wechselte sein Blick zwischen der Thorwalerin und seiner Herrin.
»Wenn ich Euch mit einem Mann keine Freude mache, habe ich andere Möglichkeiten, Euch die Nacht zu verschönern«, bot Roxxennis an. »Für jene, die auf den Pfaden der Magie wandeln, ist jeder Wunsch statthaft.«
Ragnild räusperte sich. Phileasson merkte ihr an, dass es sie Überwindung kostete, den Satyar nicht mehr anzusehen. Mit einem Ruck wandte sie sich dem Tisch zu, auf dem sich inzwischen Rollen und Bücher stapelten. »Wie steht es mit den Kartenwerken?«
Roxxennis winkte ihren Sklaven fort.
Phileasson warf einen bedauernden Blick auf das Drachenhaupt, schloss sich ihr aber an.
Während um sie das Fest seinen Gang nahm und die Kordel für die Hochspringer immer weiter angehoben wurde, studierten sie die Karten. Sie alle waren kunstfertig erstellt, oft mit prächtigen Abbildungen geschmückt, die achtbeinige Monstren und himmelstrebende Paläste zeigten. Manchmal waren die Küstenlinien mit Goldfarbe nachgezogen, in einem Atlas ließen Saphirsplitter Wasserflächen blau glitzern. Phileasson wären die ursprünglichen Skizzen der Entdecker lieber gewesen. Bei den Kopien der Kalligrafen und Schönzeichner schlichen sich unweigerlich Ungenauigkeiten ein. Doch auch mit diesem Material bestätigte sich, dass der Kontinent Myranor enorme Ausmaße haben musste.
»Wie weit reicht das Land in den Westen?«, fragte er nach einer Weile.
»Das weiß niemand«, gestand Roxxennis. »Das Imperium versickert in der Weite. Wüsten und Gebirge schützen es vor den barbarischen Landen, die dahinter folgen mögen, begrenzen aber auch seine Ausdehnung.« Lächelnd strich sie mit einer Geste über die weiße Fläche einer Karte aus Ziegenleder. »Wenn Ihr danach strebt, Unbekanntes zu entdecken: Dort erwartet es Euch.«
»Das Unbekannte reizt mich immer«, räumte Phileasson ein. »Aber wir sind schon lange unterwegs. Wir haben bereits Eure nördlichen Küsten bereist, bevor wir hierherkamen. Es wird allmählich Zeit, den Bug meines Schiffs wieder nach Osten zu richten. Meine Ottajasko ist betrübt, dass wir den Schlachtmond fern der heimatlichen Feuergruben verbracht haben.« Außerdem lag die Seeadler mittlerweile tief im Wasser. Viel mehr Waren würden sie nicht über das Meer der Sieben Winde schaffen können.
»Werdet Ihr wiederkehren?«, fragte Roxxennis.
»Ich wüsste nicht, was mich davon abhalten sollte«, sagte Phileasson.
»Und was ist mit Euch, Ragnild? Wäre es nicht interessant, in einen längeren Austausch über unsere magischen Traditionen zu treten? Euer Oheim könnte Euch bei seiner nächsten Fahrt wieder abholen.«
Phileasson hielt den Atem an. Er versuchte, Ragnild einen Sinn für Freiheit zu vermitteln, nicht nur, was den Umgang mit Sklaven anging. Wenn er ihr verböte, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, würde er sich unglaubwürdig machen.
»Der Foggwulf ist nicht mein Onkel«, stellte sie klar. »Ich bin die Tochter seiner Tante.«
»Und seid Ihr die Einzige in Eurer Familie, die magische Kräfte zeigt?«
»Niemand sonst ist mir bekannt.«
»Wie interessant!«
Fragend sah Ragnild Phileasson an.
Er nickte aufmunternd.
»Bei mir zeigte sich die magische Kraft schon früh. Jeder in Brattasö wusste, dass ich anders war als andere Kinder.«
»Haben sie Euch verehrt?«
Entschieden schüttelte sie den Kopf. »Ich habe die Schweinekoben ebenso ausgemistet wie alle anderen. Aber ein wandernder Magier hat mich untersucht, als ich sechs war. Er hat lange mit meinen Eltern gesprochen.«
»Sicher eine große Ehre für sie.«
»Sie sind zwei Jahre später gestorben. Das Meer hat sie genommen.«
»Sie waren Seefahrer?«
»In unseren Adern fließt Salzwasser«, sagte Phileasson stolz.
»Der Foggwulf brachte mich zur Runajasko nach Olport.« Dankbar sah Ragnild ihn an. »Eigentlich war ich ein Jahr zu jung, erst acht. Aber sie nahmen mich auf.«
»Ragnild hat sich ausgezeichnet geschlagen, das wohl!«, warf Phileasson ein. »Sie ist eine der jüngsten Absolventinnen der Akademie. Zeige ihr dein Siegel!«
Die Adepta Minor errötete leicht. Sie öffnete ihre rechte Hand. Darin prangte das erst vor wenigen Monden gestochene Hautbild. Inmitten verschlungener Symbole zeigte es drei Drachen, die gebogene Knochen bewachten. »Gemeinsam hiermit habe ich mein Buch und meinen Stab erhalten.«
»Die Bedeutung dieser Insignien ist mir unklar, aber Ihr müsst sehr stolz sein«, vermutete Roxxennis.
»Ich habe nun das Recht, in die Welt hinauszureisen. Der Foggwulf hatte mir versprochen, mich sofort nach meiner Prüfung auf seine nächste Fahrt mitzunehmen. Deswegen hatte ich es so eilig.«
»Und ich halte meine Versprechen, das wohl!«, warf Phileasson ein.
»Das ist wirklich hochinteressant«, meinte Roxxennis, »und so anders als bei uns. Ich hätte gern mehr Zeit, um mich mit Euch darüber auszutauschen. Ihr würdet in unserem Haus keinen Mangel leiden.« Vielsagend sah sie hinüber zum Satyaren, der nun etwas verloren an einer Säule lehnte. »Überhaupt keinen Mangel. An nichts.«
»In der Tat scheint mir hier in Myranor vieles anders zu sein«, meinte Ragnild. »Nicht nur, was die Ausbildung angeht. Auch der Strom der astralen Kräfte erscheint mir unterschiedlich. Hier fällt es mir schwerer, meine Zauber zu wirken.«
»Vielleicht würde sich das mit der Zeit legen«, schlug die Optimatin vor. »Wenn Ihr erst besser mit unserer Art, Magie zu wirken, vertraut wäret.«
Phileasson war sich nicht sicher, ob er die Unterhaltung richtig verstand. Die beiden gebrauchten Wörter, die ihm unklar waren. Ragnild dagegen tat sich leichter. Vielleicht, weil man sie an der Akademie auch in der Sprachenkunde unterwiesen hatte.
»Ich fühle mich noch nicht reif für einen solchen Austausch«, gestand seine Base zu Phileassons Erleichterung. »Ich habe schon jetzt so viele Eindrücke gesammelt, dass ich darauf brenne, sie mit den Magistern an der Runajasko zu teilen.«
»Ein weiser Entschluss«, bestärkte Phileasson die junge Frau. »Und auch ich werde von unserer Reise und unserer freundlichen Aufnahme in Daranel berichten. Die Kunde wird sich bestimmt rascher verbreiten, wenn ich etwas Interessantes vorweisen kann, das sich auch anfassen lässt. Wie etwa«, er wandte sich halb um, »diesen Drachenkopf.«
»Das ist ein sehr seltenes Stück«, versetzte Roxxennis frostig.
»Ihr sollt ihn mir natürlich nicht schenken«, versicherte Phileasson. »Ich würde dafür bezahlen. Gut bezahlen.«
Die Optimatin lachte leise. »Ich weiß, dass Ihr nur ein kleines Schiff Euer Eigen nennt, keine Flotte. Ich will Euch nicht zu einem Bettler machen, edler Foggwulf.«
»Wie hoch wäre denn der Preis, den Ihr verlangen würdet?«
Nun lachte sie etwas lauter. Die maskierte Mimik verunsicherte Phileasson, aber er glaubte, einen Hauch von Spott zu hören. »Ich werde Euch nicht beleidigen, indem ich einen Preis aufrufe, der Eure Möglichkeiten übersteigt.« Sie nickte Ragnild zu. »Ich hoffe, wir werden vor Eurer Abreise noch Gelegenheit zu einem längeren Gespräch finden.«
Mit säuerlicher Miene sah Phileasson ihr nach, während sie sich wieder unter die Gäste mischte.
»Das ist nur gerecht.« Ragnild grinste. »Du hast mir den strammen Kerl madig gemacht, und dir gleitet das Drachenhaupt durch die Finger.«
»Der stramme Kerl ist ohnehin nur eine halbe Portion«, murrte Phileasson.
»Bedenkt: Am Ende ist der Tod der Einzige, der alles bekommt«, tröstete Irulla.
Seufzend betrachtete Phileasson die Festgesellschaft im Hof. Der Hochsprungwettbewerb war beendet, man stand nun in kleinen Gruppen beisammen und unterhielt sich gepflegt. Aus einem der Fenster im Mittelgeschoss, zwischen denen die Kordel gespannt gewesen war, drangen dagegen Rufe und Gelächter.
»Mir scheint, da oben versteht man zu feiern«, sagte Phileasson. »Lasst uns nachsehen, ob wir dort etwas Starkes zu trinken bekommen.«
»Das wohl!« Ragnild nickte entschlossen.
Daranel,
sechster Tag im Sturmmond, vor drei Jahren
»Wo sind wir?« Die Worte kratzten in Asleif Phileassons Hals wie ein Reibeisen.
»Musst du so laut sein?«, brummte Irulla.
Das war eine berechtigte Frage, gestand Phileasson ihr in Gedanken zu. Schließlich brachte jedes Geräusch seinen Schädel zum Vibrieren. Andererseits lenkte das vom pochenden Schmerz in seinem Unterkiefer ab.
Er beschloss, etwas gegen die völlige Finsternis zu unternehmen, die ihn umgab. Er nahm den Ellbogen vom Gesicht und öffnete die Lider.
Schmerzhaft stach die Helligkeit in die Augen des Thorwalers. Er verzog die Miene und blinzelte.
Über ihm war ein Zierband an die rote Zimmerdecke gemalt. Es bestand aus einem Geflecht goldener Winkel und kreuzte sich mit zwei anderen ebenso gestalteten Schmuckbändern. Dunkel erinnerte sich Phileasson, während der nächtlichen Feier versucht zu haben, die Winkel zu zählen. Über ihre Anzahl war er mit einem wuchtigen Kerl in Streit geraten, der bestimmt dreimal so viel wog wie er. War der für den pochenden Schmerz in seinem Kiefer verantwortlich? Phileasson tastete mit der Zunge an seinen Zähnen entlang. Auf der linken Seite wackelte einer, und er schmeckte Blut.
Er öffnete und schloss die Rechte. Der Wuchtige war ihm als leichtes Ziel erschienen. Schließlich hatte seine Faust ihn kaum verfehlen können.
Vorsichtig setzte er sich auf. Zuerst stach der Schmerz in seinen Kopf, ebbte dann aber ab.
»Anscheinend hatten wir eine Menge Spaß«, sagte er, reckenhaft das Dröhnen seines Schädels bei jedem Vokal ignorierend.
Irulla lag in zwei Schritt Höhe in einem Blumenbeet. Dort bildete die Zimmerwand einen Absatz, den man für die Begrünung nutzte. Die Decke befand sich einen Schritt über der Waldmenschenfrau, die ihr langes Haar über den rasierten Teil ihres Kopfs und das Gesicht gelegt hatte.
Der ovale Tisch aus dunkelbraunem Holz, in dem elfenbeinerne Schuppen Spiralmuster bildeten, hielt sich wacker, wenn man berücksichtigte, dass er nur noch drei Beine hatte. Unter ihm hatte sich Ragnild Snorjadottir zusammengerollt. Ihr Kopf ruhte auf einer zusammengeknüllten Jacke aus blauem Samt. Brummend wischte sie eine Fliege von ihrer Nase.
Scherben glitzerten im dunkelblauen Teppich, der den Großteil des Bodens bedeckte. Vielleicht hatte Phileasson deswegen auf dem harten Stein gelegen. Oder …
Nachdenklich runzelte er die Stirn. Hatte er wirklich einen Vortrag darüber gehalten, dass ein Entdecker auch auf härtestem Grund zu schlafen vermochte? Ja, dass ein Drachenführer sogar jede Weichlichkeit verachtete und sich deswegen nur unter Protest in ein Bett legte?
Zweifelnd drückte er die Fingerkuppen gegen die Schläfen und bewegte sie in kleinen Kreisen. Sein Blick schweifte über einen einsamen Schuh, eine umgekippte Weinflasche und ein Bild, bei dem jemand mit einem Stück Kohle einen schwungvollen Bart auf der Oberlippe der Dame ergänzt hatte. Er blieb auf einem Backenzahn hängen, der zwischen den Glasscherben lag. Vorsichtig hob er ihn auf.
Nochmals tastete er mit der Zunge, fand aber keine Lücke.
»Klafft bei einer von euch ein Loch im Schildwall eures Munds?«, fragte er auf Thorwalsch.
»Alles gut«, erwiderte Ragnild träge. »Wir haben gewonnen, das wohl.«
Phileasson grinste zufrieden.
»Den Zahn hast du dem Kerl abgenommen, der gebaut ist wie ein Hinkelstein«, nuschelte Irulla.
Beschwingt stand Phileasson auf. Leichter Schwindel befiel ihn, aber er stellte die Füße auseinander wie im Sturm auf der Seeadler und ließ sich nicht davon beeindrucken. »Nach dem trägen Beginn muss das doch noch ein erfreulicher Abend geworden sein!«
»Myranischer Alkohol.« Irulla hob eine Hand, ließ sie aber gleich wieder zwischen die Blumen sinken. »Tückisch wie die Geister, die in Schlingpflanzen wohnen. Tut erst so harmlos, und dann …« Mit der anderen Hand ordnete sie das Haar auf ihrem Gesicht. »Schlägt zu wie Kekeyatonba.«
Phileasson drehte den Backenzahn zwischen den Fingern. »Nette Leute waren das. Der mit dem Knebelbart … ich glaube, der kann in die Zukunft sehen. Habe mich gut mit ihm unterhalten. Ob der auch Runen wirft, wie ein Godi?«
»Was hat er dir denn erzählt?«, fragte Ragnild, ohne unter dem Tisch hervorzukommen.
»Das weiß ich nicht mehr genau …« Er runzelte die Stirn. »Er dient einem Herrn namens Agiz … oder so ähnlich.«
»Und wie kommst du darauf«, brummte Ragnild, »dass er ein Godi sein könnte?«
»Weil er von der Zukunft erzählt hat! Er hat mich zu meiner Seemannskunst beglückwünscht. Meinte, furchtlose Kapitäne hätte man bald bitter nötig. Weil nämlich das Meer das Land verschlingen wird.«
Irulla drehte den Kopf und sah ihn durch die Lücken zwischen ihren verrutschten Haarsträhnen an. »Welches Meer wird welches Land verschlingen?«
Vorsichtig, um den Schmerz nicht noch einmal herauszufordern, schüttelte Phileasson den Kopf. »Das weiß ich nicht mehr. Aber es müssen ein großes Meer und ein großes Land sein.«
»Dann werden viele sterben«, überlegte die Waldmenschenfrau.
»Aber nicht diejenigen, die es verstehen, zur See zu fahren!«
»Ein Seefahrer mag nicht ertrinken«, gestand sie zu, »aber wenn er keine Küste findet, muss er verdursten.«
»Er hat nicht gesagt, dass die gesamte Welt vom Meer verschlungen wird!« Phileasson knetete seinen Nacken. Eine Taubheit ersetzte weitgehend den Schmerz, den er beim Aufwachen verspürt hatte. »Oder?«
»Das können wir nicht beantworten. Uns hat er die Zukunft ja nicht offenbart.« Ragnild kroch jetzt doch auf allen vieren unter dem Tisch hervor. »Du hättest besser aufpassen sollen, Vetter.«
»Pass du lieber auf, sonst packst du noch in eine Scherbe.«
»An gebrochenem Glas kann man sich tief schneiden, ohne dass man es merkt«, meinte Irulla. »Es sind schon Leute verblutet, weil ihnen der Schnitt nicht aufgefallen ist.«
Phileasson reichte seiner Base eine Hand und half ihr auf. »In deinem Alter habe ich das Saufen noch besser weggesteckt«, neckte er.
»Das kannst du leicht behaupten. So alt, wie du bist, wird es schwer, einen Lebenden zu finden, der das Gegenteil bezeugt.«
»Ich bin gerade mal dreiunddreißig!«, entrüstete er sich.
»Eben. Doppelt so alt wie ich.«
»Die meisten sterben auf ihrer ersten Fahrt.« Irulla legte sich wieder auf den Rücken. »Die erste Fahrt ist die gefährlichste. Der Tod liebt die Unerfahrenen.«
»Da hörst du es«, meinte Phileasson. »Du solltest mich nicht ärgern, sonst passe ich vielleicht nicht mehr so gut auf dich auf.«
»Wenn du nicht so ein Traviaprediger wärst, hätte ich die Nacht mit dem strammen Satyar verbracht, und der Schädel wäre mir erspart geblieben.« Die rothaarige Maid verzog das Gesicht.
»Besser, wir kühlen uns erst einmal den Kopf«, schlug Phileasson vor. »Das Wasser im Hof wird uns erfrischen.«
»Im Becken unter dem offenen Dach?«
»Genau.«
»Keine schlechte Idee«, befand Ragnild. »Kommst du auch, Irulla?«
»Später«, beschied die Spinnenfrau.
Phileasson legte den Zahn auf die Tischplatte. Er war etwas dunkler als das Elfenbein in den Einlegearbeiten. »Ich glaube wirklich, er war ein Godi. Er hat sogar gesprochen wie ein Skalde.«
»In Versen?«
»Nein, aber er hat so ein paar Worte benutzt … die klangen wie Alt-Hjaldingsch.«
»Merkwürdig«, meinte Ragnild. »Das habe ich auch gedacht. Also, dass deren Muttersprache dem Hjaldingsch ähnlich klingt.«
Phileasson merkte auf. »An der Runajasko hast du doch die Sprache unserer Vorfahren gelernt?«
»Nur wenig«, schränkte die Magierin ein. »Was man eben für die Formeln braucht. Und um die wichtigsten Werke der Ahnen zu lesen.«
»Aber unsere neuen Freunde haben Alt-Hjaldingsch gesprochen?«, fasste Phileasson nach.
»Es klang ähnlich. Wahrscheinlich ein Zufall. Schließlich sind wir auf der anderen Seite des Meers der Sieben Winde.«
»Das stimmt …« Der Drachenführer schüttelte den Kopf. »Erst mal das Wasser. Dann lässt sich besser denken.«
Sie verließen das Zimmer und traten auf eine auf den Innenhof gehende Empore. Zwei Stockwerke unter ihnen lag das Becken. Von hier aus war das umgebende Mosaik, das Vögel und Affen zeigte, gut zu erkennen. Die Morgensonne schien auf die roten Dachziegel und beleuchtete auch das weiße Geländer an der Westseite der Empore. Phileasson und Ragnild befanden sich im Süden, der im Halbschatten lag. Schweigend schlugen sie den Weg zur Treppe ein.
Verspielt strich Ragnild über den Handlauf zu ihrer Linken. Dann bewegte sie Zeige- und Mittelfinger, als wären sie die Beine eines Menschen, der weite Hüpfer machte, und kicherte dabei. Die Lehrzeit an der Runajasko hatte die Kindlichkeit in ihr also noch nicht völlig vertrieben.
In der Hochsprache des myranischen Adels geschriene Worte, gefolgt von Gepolter, tönten aus der doppelflügeligen Tür, die sie gerade passierten. Unwillkürlich griff Phileasson an seine Hüfte, aber das Schwert hatte er auf der Seeadler lassen müssen, und selbst das kleine Wurfbeil hatte man ihm beim Betreten des Anwesens abgenommen.
Die Tür flog auf. Gerade noch rechtzeitig riss Phileasson den Arm hoch und den Kopf zurück, sodass sie nur gegen seinen Ellbogen krachte, statt in sein Gesicht zu schlagen.
Verblüfft sah Ragnild den Mann an, der auf die Empore rannte. Es war der Geflügelte, der nur noch eine Schwinge hatte. Er stieß die junge Frau aus dem Weg.
Mit einem Aufschrei fiel Ragnild über das Geländer.
Phileasson sprang vor und bekam den Ärmel ihrer Tunika zu fassen. Mit einem schmerzhaften Stich protestierte sein Kopf gegen die schnelle Bewegung.
Ein reißendes Geräusch verriet ihm, dass der Stoff ihr Gewicht nur kurze Zeit halten würde.
»Foggwulf!«, rief sie erschrocken. Ihre Füße traten in die Luft. Sieben Schritt unter ihr wartete der Steinboden.
Phileasson griff mit der anderen Hand nach und umklammerte ihren Unterarm. »Ich habe dich!«
Während er seine Base hochzog, sah er dem Geflügelten nach. Der Mann erreichte gerade die abwärts führende Treppe. Er hatte es augenscheinlich eilig, die Sandalen klackten im schnellen Takt seiner Schritte.
»Was sollte das denn?«, rief Phileasson ihm nach. »Sie hätte sich den Hals brechen können!«
Der Mann beachtete ihn nicht.
Zitternd kletterte Ragnild über das Geländer zurück auf die Empore.
Ein hoher Schrei drang aus den Gemächern hinter der aufgestoßenen Tür. Wieder verstand Phileasson die Worte nicht, aber offenbar befand sich dort jemand in Not.
»Warte hier«, sagte er zu Ragnild und betrat den Raum.
Warmes Sonnenlicht badete eine luxuriöse Ausstattung. Blumen quollen üppig aus schneeweißen, mit goldenen Schnörkeln verzierten Vasen. Ein in den Putz der Decke gemaltes Fresko zeigte in goldbestickte Gewänder gehüllte Männer und Frauen, die sich unterhielten, während sie in einem Park lustwandelten und sich dabei Kelche und Trauben von Satyaren anreichen ließen. Acht silberne Statuetten standen in Nischen an der Ostwand, sie mochten die Hauptgottheiten darstellen, die man hier in Myranor verehrte. Drei gezackte Reife, wie die drei Kronen des Hauses Alantinos, hingen an dünnen Ketten von der Decke. Die Kerzen, denen sie Halt boten, waren erloschen.
Auch ohne ihr Licht erkannte Phileasson die Hausherrin sofort. Die Goldfarbe auf der Haut von Darimeliope e Daranel an Alantinos war zwar verwischt, aber nicht abgewaschen. Offenbar hatte sie sich damit in den riesigen Diwan gelegt, auf vielen der drei Dutzend weißen Kissen fanden sich Streifen dieser Farbe. Davon abgesehen war die junge Frau splitternackt. Das Kleid, das sie gestern getragen hatte, lag zusammengeknüllt auf dem Boden. Die Dreiaugenmaske dagegen sah Phileasson nirgendwo.
Das Fehlen dieses Schmuckstücks schien die Optimatin am meisten zu besorgen. Mit einem spitzen Schrei riss sie beide Hände hoch, sodass sie ihre Stirn bedeckten.
Verblüfft sah Phileasson sie an. Die Knospen ihrer kleinen, festen Brüste waren tiefbraun, ihre Scham so sorgfältig rasiert, als wäre dort nie ein Haar gesprossen.
»Geht es Euch gut?«, fragte er lahm. »Ich meine … Ich habe Euch schreien hören. Seid Ihr in Sicherheit?«
Mit einem Ruck drehte sie sich um, sodass sie Phileasson nun ihre Kehrseite zuwandte. Mit ihrem Körper hätte sie für ein Bildnis der Schönen Göttin Modell stehen können.
Phileasson räusperte sich. »Verzeiht mein Eindringen. Ich werde mich jetzt zurückziehen.«
Gegen das Tageslicht, das durch das große Fenster drang, sah er sie zittern. Da es nicht kalt war, vermutete er, dass sie wütend war. Er hoffte, dass der Geflügelte und nicht er selbst das Ziel ihres Zorns war.
Daranel,
sechster Tag im Sturmmond, vor drei Jahren
»Eine romantische Verabredung, die nicht ganz so geendet ist, wie sich die Beteiligten das gewünscht haben.« Asleif Phileasson zuckte mit den Achseln. »Jedenfalls vermute ich, dass das dahintersteckt.«
Mit tropfnassen Köpfen saßen sich Ragnild Snorjadottir und er am dreibeinigen Tisch gegenüber. Irulla kletterte vom Sims. Den Blumen hatte es nicht gutgetan, dass sich die Spinnenfrau auf ihnen zur Nachtruhe gebettet hatte.
»Danke, dass du mich gerettet hast«, sagte Ragnild.
Der Drachenführer winkte ab. An Selbstverständlichkeiten verschwendete er ungern Gedanken. »Wir werden die Ottajasko zusammenrufen. Ich hoffe, sie hat sich nicht über zu viele Schenken verteilt. Besser, wir tauchen die Riemen noch heute ins Wasser.«
»So schnell?« Enttäuscht sah die Magierin ihn an. »Ich hatte gehofft, ein wenig mehr über die Zauberei lernen zu können, wie die Optimaten sie ausüben.«
»Und ich hätte die Karten gern genauer studiert. Vielleicht ein paar Kopien angefertigt. Aber das wird bis zum nächsten Mal warten müssen. Wenn sich die Dame durch meine Blicke beleidigt fühlt, kann sie uns eine Menge Ärger machen.«
Irulla streckte sich und bog den Oberkörper zur Seite. Obwohl er auch ihr die Härten der durchzechten Nacht ansah, bewunderte Phileasson die Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen.
Es klopfte an der Tür.
Der Thorwaler stellte sich darauf ein, den Bütteln des Hauses Alantinos zu erklären, dass alles nur ein Missverständnis gewesen sei. Schließlich hatte er die Optimatin in Not gewähnt. »Herein!«
Ein Amaun schob die Tür auf. An den grauen Tupfen auf dem weißen Fell erkannte Phileasson den Katzenmann, der sich gestern im Hochsprung hervorgetan hatte. Auch heute trug er eine eng geschnürte Weste, diesmal in Weinrot. Eine schwarze Pumphose vervielfachte das Volumen der Beine. Auf einem Silbertablett trug der Amaun drei Zinnbecher, die trotz der Ziselierungen im Vergleich zu den sonst in diesem Haus üblichen Kristallkelchen plump aussahen. Der dünne Schwanz pendelte, als er den Raum betrat und die Tür hinter sich schloss.
Phileasson stand auf. Die beiden Frauen stellten sich an seine Seiten, nur wenig hinter ihm. Erwartungsvoll sah er den Amaun an.
Das Katzenwesen verbeugte sich. Schon diese einfache Geste unterstrich sein Geschick, weil es das Silbertablett mit den Getränken vollkommen ruhig hielt. »Ich darf mich vorstellen«, sagte es langsam: »IaoPao Kerr Alantinos, wenn es Euch gefällt. Ich erfreue mich daran, der Herrin Darimeliope e Daranel an Alantinos als Leibdiener zur Verfügung zu stehen und ihr auch die Last abzunehmen, die diskreten Verbindungen zu pflegen, die sie als Optimatin benötigt.«
»Ich bin Asleif Phileasson, Hetmann der Glutströhm-Ottajasko und Drachenführer der Seeadler.« Er erwiderte die Verbeugung. »Diese beiden gehören zu meiner Ottajasko: Irulla und Adepta Minor Ragnild Snorjadottir. Wir danken für die Gastfreundschaft dieses Hauses.«
Vielsagend huschte der Blick des Amaun über die Glasscherben, den zerstörten Tisch und die plattgelegenen Blumen. Nach Art der Katzen bewegte er die Augen kaum und ruckte stattdessen mit dem gesamten Kopf hin und her. »Ich sehe, dass Ihr zu feiern versteht.«
»Vielleicht haben wir ein wenig über die Stränge geschlagen«, gestand der Thorwaler.
»Das Haus Alantinos ist froh, wenn seine Gäste ein Fest genießen.« Die bloßen Füße mühelos zwischen die Scherben setzend, trat IaoPao so nah heran, dass Phileasson in die Becher sehen konnte.
In jedem davon trieb etwas, das wie Eigelb aussah, auf einer dunkelgrünen Flüssigkeit.
»Gegen die Schmerzen, die ernsthaft Feiernde zu erdulden haben«, erklärte der Leibdiener.
Ragnild griff als Erste zu und stürzte den Trunk hinunter. Nach ihrer Miene zu urteilen war es nicht gerade ein Genuss.
Phileasson nahm die beiden noch vollen Becher und drückte Irulla einen davon in die Hand. Es galt, den schlechten Eindruck auszugleichen, den sie möglicherweise hinterlassen hatten. Todesmutig stürzte er den Inhalt hinunter.
Es war wohl tatsächlich ein Ei, und die grüne Flüssigkeit brannte nach Pfeffer.
»Sehr freundlich von Euch.« Sie stellten die Becher zurück.
Wieder verbeugte sich IaoPao. Sein Blick ruckte zwischen den Menschen hin und her. »Meine Herrin geruht, Euch eine Audienz zu gewähren.«
»Jetzt gleich?«, fragte Phileasson.
»Sie hofft, Ihr habt keine unaufschiebbaren Pläne für den Tag.«
»Nein, natürlich nicht. Wir kommen gern mit Euch.«
Das Katzenwesen stellte das Tablett auf dem Tisch ab, bevor es kehrtmachte, die Tür öffnete und einladend auf die Empore deutete. Zu Phileassons Überraschung brachte es sie nicht in einen Empfangsraum, sondern in das Schlafzimmer, das er bereits kannte.
Darimeliope trug jetzt eine weiße Robe, die in Dutzende raffinierte Falten fiel. Ihr war wohl wichtiger, dass die wie Rauchglas aussehende Triopta wieder ihre obere Gesichtshälfte verbarg. Die Reste der Goldfarbe hatte sie entfernt. Sie stand am Fenster, hinter dem die Mittagssonne hell vom Firmament brannte.
IaoPao schloss die Doppelflügeltür und lehnte sich dagegen.
»Ich gedenke, Euch das Privileg zu gewähren, mich von einem Kummer zu befreien«, eröffnete die Optimatin statt einer Begrüßung.
»Nichts lieber als das«, erwiderte Phileasson vorsichtig.
Darimeliope faltete die Hände vor dem Bauch. Es geriet ihr zu einer verkrampften Geste, deren eigentlicher Zweck wohl darin lag, das Zittern der Finger zu verbergen. »Zunächst werdet Ihr mir schwören müssen, Stillschweigen über alles zu bewahren, was in diesem Raum gesprochen wird.«
Zwar fand Phileasson das Auftreten der Adligen unangemessen arrogant, aber er wollte keinen Ärger. Also nickte er. »Ich verspreche es.«
»Schwört bei Eurem barbarischen Gott! Bei diesem dicken Fisch.«
»Swafnir ist ein Wal«, stellte Phileasson mühsam beherrscht klar. »Und mein Wort wird Euch reichen müssen. Das Wort eines Drachenführers wiegt schwerer als der Schwur eines Ränkeschmieds. Wir Thorwaler neigen nicht zur Falschheit.«
Darimeliope blickte hinter ihn, wohl zu IaoPao. Phileasson wusste nicht, was der Amaun tat. Er sah weiterhin offen in die Augen hinter der Maske.
Die Optimatin schluckte. »Nun gut, das soll mir genügen, wenn es Euren Sitten entspricht. Wisset denn, dass mir schreckliches Unrecht angetan wurde.«
Phileasson runzelte die Stirn. »Inwiefern? Hat sich der Geflügelte Euch gegen Euren Willen aufgedrängt?«
»So etwas würde auch ein Ashariel niemals wagen.« Huldvoll schüttelte sie den Kopf. »Aber Uheramin hat sich mein Vertrauen erschlichen. Ich erwies ihm meine besonders innige Gunst.«
Auf den Kissen waren noch Streifen der Goldfarbe zu sehen.
»Er jedoch bestahl mich.«
»Die Kette, die Ihr gestern Abend getragen habt«, vermutete Irulla.
Trotz der Maske war der Optimatin die Überraschung anzusehen. »Woher wisst Ihr das?«
»Es ist offensichtlich«, behauptete Irulla.
Auch Phileasson fragte sich, woran die Waldmenschenfrau erkannt hatte, dass es um das auffällige Schmuckstück aus Gold und schwarzen Edelsteinen ging, aber er zeigte es nicht. Vielleicht würde er sie später danach fragen, wahrscheinlich jedoch nicht. Meistens kam er sich dumm vor, wenn sie ihm auseinandersetzte, welche Spuren er übersehen hatte.
»Diese Kette«, Darimeliope rang sichtlich um ihre Fassung, »ist ein Pfand des Hauses Onachos.«
»Das sind doch diejenigen, die den Tod verehren«, warf Ragnild ein.
»Vereinfacht könnte man das so sagen«, gestand Darimeliope zu. »Das Haus Onachos erforscht die Mysterien des Nereton bis in dunkelste Tiefen.«
»Ich kann diesen Uheramin verstehen«, sagte Irulla. »Die Kette hat mir sogleich gut gefallen.«
»Er ist ein schmieriger Dieb!«, rief Darimeliope.
»Das ziehen wir nicht in Zweifel!«, versicherte Phileasson. »Wir sind zutiefst empört über seine schändliche Tat.«
»Es muss Euch sehr betrüben, einen so schönen Schmuck verloren zu haben«, vermutete Ragnild.
»Wir hoffen, dass die Diener Eures Hauses den Dieb rasch ausfindig machen, ihn bestrafen und die Kette zurückbringen.« Vor seinem geistigen Auge sah Phileasson knüppelschwingende Grobiane, die auf den Geflügelten einprügelten. Der Gedanke, dass sie ihm auch die zweite Schwinge ausreißen mochten, betrübte ihn.
Darimeliope seufzte und nickte IaoPao zu.
»Da Ihr fremd in Daranel seid«, sagte der Amaun, »könnt Ihr die besondere Pein, die dieser Raub meiner Herrin bereitet, nicht ermessen. Das Haus Onachos hat die Kette als Pfand hinterlegt. Dieses Kleinod ist kein bloßer Schmuck, sondern viel wertvoller, als der Preis von Edelsteinen und Gold vermuten ließe.«
»Also wird das Haus Onachos dem Haus Alantinos zürnen, wenn die Kette nicht wieder auftaucht«, folgerte Phileasson. »Ich nehme an, Ihr habt Eure Büttel bereits ausgeschickt.«
Der Amaun strich über das Fell in seinem Gesicht. Die Geste erinnerte an eine Katze, die sich putzte. »Nicht nur das Haus Onachos wird uns zürnen. Auch die anderen Optimatenhäuser in Daranel. Ihr müsst wissen, dass das Haus Onachos mehrere einflussreiche Ämter in der Stadt besetzt. Es hat alle überzeugt, die bei Weitem besten Anwärter dafür zu haben, und versprochen, sie wieder freizugeben, sobald sich andere brauchbare Kandidaten dafür finden. Das Pfand soll absichern, dass sie ihre Macht nicht missbrauchen.«
»Und es wurde bei Haus Alantinos hinterlegt, weil Ihr als Vermittler geschätzt seid«, vermutete Ragnild. »Das ergibt Sinn. Alle vertrauen Euch.«
»Bis jetzt«, versetzte Irulla trocken.
»Es braucht eine ganze Generation, um einen guten Ruf aufzubauen«, meinte Phileasson. »Zerstört werden kann er in einer einzigen Nacht.«
Betreten suchte IaoPao den Blick der Optimatin. Sie nickte kaum merklich.
»Alle, die bislang von diesem Missgeschick wissen, befinden sich in diesem Raum.«
»Ah!«, rief Phileasson. »Ihr könnt Eure Büttel nicht ausschicken, ohne unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen. Das ist es, nicht wahr?«
»Niemand hätte einen Vorteil davon, wenn diese Angelegenheit bekannt würde«, behauptete Darimeliope. »Im Gegenteil: Es wäre für alle von Nachteil.«
»Für Euch besonders, scheint mir.« Es gefiel Phileasson, die Verlegenheit der zuvor so arroganten Frau zu sehen. »Auch Eure Mutter wäre nicht erfreut, nehme ich an.«
»Meine Mutter«, erwiderte sie scharf, »hat mit dem hier nichts zu tun. Wir sollten sie keinesfalls damit belästigen.«
»Natürlich nicht«, lenkte Phileasson ein.
Darimeliope atmete durch. »Dann helft Ihr mir, die Kette ohne Aufsehen zurückzuholen?«
»Helfen?« Phileasson konnte sich nicht verkneifen, überrascht zu tun. »Verzeiht, dass ich in Eurer Sprache noch unsicher bin.«
Er wusste sehr wohl, dass die Optimaten das Myranisch nicht als ihre Sprache betrachteten. Es war das Gestammel, mit dem sich Fremdlinge und der Pöbel untereinander verständigten.
»Aber helfen würde doch wohl bedeuten, dass Ihr diese Sache persönlich erledigt und wir Euch lediglich begleiten«, heuchelte der Thorwaler. »Ihr stöbert also den Dieb auf, ringt ihn nieder und führt ihn der Gerechtigkeit zu. Habe ich das richtig verstanden?«
Eisiges Schweigen breitete sich aus.
»Was die Hand tut, hat zunächst der Kopf beschlossen«, vermittelte Ragnild. »Die Optimatin wird sicher das Hirn sein, während sie wünscht, dass wir die Hände seien.«
»Ich würde Euch begleiten«, stellte IaoPao klar.
»Und ich würde Euch vorübergehend in unsere Hausgarde aufnehmen«, ergänzte die Optimatin. »Damit würde niemand anzweifeln, dass Ihr das Recht habt, innerhalb der Stadt Waffen zu tragen.«
Phileasson kraulte seinen Bart. »Ich habe vierzig Recken an Bord …«
»Das sind viel zu viele!«, rief Darimeliope entsetzt.
»Meine Herrin meint«, vermittelte IaoPao, »das würde unangemessenes Aufsehen erregen. Einzelne Söldner werden immer wieder angeheuert, aber eine Horde von vierzig Fremdländern unter Waffen … das ist unvorstellbar.«
Nachdenklich musterte Phileasson den Amaun. Vermutlich war er ein guter Ratgeber, er schien die Dinge schnell zu erfassen und einen Überblick zu haben. Und der Trunk gegen den Brummschädel wirkte bereits.
»Das klingt nach einem gefahrvollen Unternehmen«, sagte der Drachenführer gedehnt.
»Ihr steht im Ruf besonderen Muts«, schmeichelte IaoPao.
»Diesen Ruf will ich keinesfalls gefährden.« Er wandte sich wieder an die Optimatin. »Darf ich hoffen, dass Ihr auch etwas für uns tun werdet, wenn wir Euch aus der Klemme helfen?«
»Ihr wollt Bedingungen stellen?«, fragte Darimeliope empört.
»Ihr müsst verstehen, dass es eine große Ehre ist, einer Optimatin zu Diensten zu sein«, erklärte IaoPao.
»Das fand ihr nächtlicher Gesellschafter sicher auch.«
»Ihr vergesst Euch!«, rief Darimeliope.
Phileasson unterdrückte den Impuls, sie weiter zu reizen. »Ich würde lediglich bedauern, wenn ich kein Andenken daran hätte, einer so edlen Freundin wie Euch geholfen zu haben.«
»Ihr wollt Silber«, sagte sie verächtlich.
»Mitnichten«, beteuerte er.
Interessiert sah sie ihn an. »Was dann?«
»Habe ich richtig verstanden, dass Euch alles gehört, was sich in diesem Haus befindet?«
Zögernd nickte sie.
»Ich habe ein Auge auf das Drachenhaupt geworfen, das in einer Nische des Wandelgangs steht …«
Daranel,
sechster Tag im Sturmmond, vor drei Jahren
»Ah, jetzt weiß ich, wer ihr seid! Ein paar Trottel, die eine Wette verloren haben.« Der Ashariel klatschte in die Hände und breitete gleichzeitig seine Schwingen aus. Sie erreichten eine beeindruckende Spannweite, beinahe hätten sie die abgebrochene Säule zu seiner Rechten gestreift. »Die Leibchen mit den drei Kronen haben mich in die Irre geführt. Ich habe doch tatsächlich geglaubt, ihr wäret Gesandte des Hauses Alantinos.« Der Geflügelte lachte spöttisch. »Aber selbst die eingebildeten Speichellecker der Optimaten wären nicht so vermessen zu glauben, sie würden zum Windflüsterer vorgelassen, ohne ihr Begehr mitzuteilen.«
»Wir werden deinem Herrn selbstverständlich mitteilen, was wir wollen.« Asleif Phileasson genoss es, Fejris wieder an der Seite zu haben. Er schloss die Faust um den in Form eines springenden Wolfs geschnitzten Schwertgriff. »Wir können es nur nicht jedem Lakaien auf die Nase binden.«
Die Augen seines Gegenübers verengten sich zu Schlitzen. »Das Volk der Lüfte kennt keine Lakaien. Wir sind frei wie der Wind.« Er spreizte seine Schwingen noch weiter, bis sie gänzlich gestreckt waren. Drei Schritt lagen ihre Spitzen nun wenigstens auseinander.
»Ich bin sicher, dass es der Windflüsterer schätzen wird, wenn eine Optimatin ihm wohlgesinnt ist«, versuchte IaoPao zu vermitteln. Sofern sich Phileasson nicht täuschte, untermalte er seine Worte sogar mit einem Schnurren.
»Welche Optimatin wäre das denn?«
»Das werden wir ihm selbst mitteilen«, versprach IaoPao.
Auflachend stieß sich der Ashariel ab und schwang sich in die Luft. Phileasson blickte ihm nach. Der Geflügelte trug nur ein weit fallendes, ärmelloses Hemd und eine Hose, die noch nicht einmal bis zur Hälfte der Oberschenkel reichte. Dadurch war die Feingliedrigkeit seines Körpers gut zu erkennen. Er hatte etwas von einem Vogel, nicht nur wegen der Flügel. Am wenigsten menschenähnlich waren seine Füße. Die Zehen machten die Hälfte ihrer Länge aus und ließen sich sehr weit krümmen. Offenbar konnte ein Ashariel auf einem Ast sitzen wie ein Adler.
»Vielleicht sagt er oben Bescheid, dass wir da sind«, hoffte Ragnild Snorjadottir.
Der Turm des Windflüsterers hatte schon bessere Tage gesehen. Zwar war er nicht in gleichem Maß verfallen wie die Ruinen ringsum, aber den Putz hatten die Stürme der Vergangenheit abgeschmirgelt, und auch so mancher Stein war herausgebrochen. Trotzdem erhob er sich noch vierzig Schritt hoch, schätzte Phileasson. Dieses Bauwerk war wie ein alter Recke, der die Narben seiner Abenteuer stolz trug, ohne sich zu beugen.
Der Ashariel umkreiste den Turm mehrmals, während er sich dem grau bewölkten Himmel entgegenschraubte. Statt sich jedoch auf der Spitze niederzulassen – unterhalb des obersten Stockwerks waren alle Öffnungen vermauert –, flog er nach Westen davon.
»Das war wohl nichts«, meinte Phileasson.
Gleichmütig setzte sich Irulla auf ein Trümmerstück, das aus einem der eingestürzten Bauwerke stammen mochte. Selbst der dünne Stoff des grün-roten, mit den drei Kronen des Hauses Alantinos verzierten Wappenrocks war ihr augenscheinlich zu dick. Sie hatte ihn bis knapp unter ihre Brüste aufgerissen und die Enden auf ihrem Rücken verknotet. IaoPao hatte nichts dazu gesagt.
»Abgesehen von diesem Windflüsterer …«, überlegte Phileasson, »… wer könnte noch etwas darüber wissen, wo wir diesen Uheramin finden könnten?«
»Jeder«, meinte IaoPao. »Es gibt nicht viele Ashariel in Daranel. Er kann sich nur schwer verbergen. Er ist wahrscheinlich sogar der einzige mit nur einem Flügel.«
»Dann hätten wir doch gute Aussichten, wenn wir uns einfach in den Tavernen umhören würden«, meinte Ragnild.
Beim Gedanken an Alkohol begann Phileassons Kopf wieder zu pochen.
»Er wird wissen, wie auffällig er ist«, gab Irulla zu bedenken. »Also wird er Orte meiden, an denen er sofort Aufmerksamkeit erregt.«
»Dann müssen wir in die entgegengesetzte Richtung denken«, sagte Phileasson. »Wo könnte sich jemand wie er verstecken?«
»In der Nekropole, zwischen den Gräbern«, schlug IaoPao vor.
»Gut, dann sehen wir dort nach!«
»Oder in der Unterstadt, südlich des Rusiar«, fuhr IaoPao fort. »Dort wohnen viele, die es schätzen, wenn keine Fragen gestellt werden, und die auch selbst keine Fragen stellen.«
»Dann gehe ich mit Ragnild dorthin, während du mit Irulla in der Nekropole suchst.«
Dieser Vorschlag schien der Spinnenfrau zu gefallen, sofort stand sie auf.
»Er könnte Daranel natürlich auch schon verlassen haben«, meinte IaoPao. »Mit einem Schiff oder über die Straße nach Janel.«
»Wenn er sich bewegt, entfernt sich die Kette mit jedem Herzschlag weiter von uns«, kombinierte Irulla.
Phileasson sah in IaoPaos Katzenaugen. »Ich nehme an, wenn du noch ein bisschen überlegst, fallen dir zehn weitere Orte ein, an denen er sich verkrochen haben könnte?«
»Wenigstens«, stimmte der Amaun zu. »Daranel ist eine Stadt mit vielen schattigen Winkeln.«
Missmutig sah Phileasson den Turm hinauf. »Aber dieser Windflüsterer weiß sicher, wo wir ihn finden?«
»Das hoffe ich. Vilianol fühlt sich für die Ashariel in Daranel verantwortlich. Und sie alle wissen, dass sie ihn besser nicht enttäuschen.«
»Was bedeutet das?«
»Wenn ein Ashariel nach Daranel kommt, stellt er sich bei Vilianol vor und bittet um das Gastrecht. Ebenso verabschiedet er sich beim Windflüsterer, wenn er die Stadt verlässt. Falls er das nicht tut, nehmen sich die Geflügelten seiner an, wenn er das nächste Mal erscheint.« IaoPao schlug die Faust in die geöffnete Linke.
»Das klingt gut.«
»Darum habe ich ja auch vorgeschlagen, mit ihm zu sprechen. Wenn der nächste Ashariel nach uns sieht, sollten wir vielleicht etwas freigiebiger mit unseren Informationen sein.«
Phileasson starrte ihn an. »Du bist doch derjenige, der unbedingt alles geheim halten will.«
»Je weniger von diesem Vorfall erfahren, desto besser.« Der Amaun wand sich. »Aber wenn wir das Pfand nicht zurückbekommen, nützt uns auch die Geheimhaltung nichts. In ein paar Tagen werden sich die Leute wundern, dass Darimeliope die Kette nicht mehr trägt. Eine Woche kann sie vortäuschen, dass sie krank ist und deswegen allen Festen fernbleibt. Auch zwei oder drei. Spätestens dann wird man Fragen stellen.«
Phileasson nickte Irulla zu. »Also sprechen wir mit dem Windflüsterer.«
»Willst du hinaufrufen, damit sie uns die Strickleiter herunterlassen?«, fragte IaoPao.
»Nein, das wäre unwürdig«, lehnte er ab. »So gewinnen wir keinen Respekt.«
Irulla gab ihren Speer an Ragnild.
Die Magierin rieb sich die Hände. »Jetzt bekommst du etwas zu sehen, Katermann!«
»Ihr wollt doch nicht etwa klettern?« Der Amaun sah sie entsetzt an.
»Bleib ruhig unten«, sagte Phileasson. »Du bist schließlich nicht als Kind in Thorwals Klippen gestiegen.«
Er beobachtete genau, in welchen Ritzen und auf welchen vorstehenden Steinen Irullas Finger und Zehen Halt fanden. Er nutzte dieselben Stellen.
Auf halber Höhe begannen seine Muskeln zu brennen, aber er bekam auch ein Gefühl für den Turm. Die Windböen, die ihn hier, über den Hausdächern, trafen, empfand er als Gruß der Luft. Sie trugen erfrischende Feuchtigkeit mit sich, denn Nieselregen setzte ein.
Der machte den Stein jedoch auch rutschig. Irulla griff ebenso sicher wie zuvor, aber Phileassons Rechte glitt an einem gewellten Quader ab.
Seine Gefährtin bemerkte es, kletterte ein Stück zurück und bot ihm ihre Hand. Von Irulla nahm er diese Hilfe gern an.
Ragnild und IaoPao sahen zu ihnen herauf. Was sie sprachen, verstand er nicht.
Er sah wieder nach oben und vergaß sie. Der Thorwaler genoss die Anstrengung. Er mochte die Einfachheit der Aufgabe: nur Stein und Wind und Regen.
Gemeinsam zogen er und Irulla sich in das Stockwerk unmittelbar unter der Plattform hinein. Dort war die Mauer zwischen zwei Fenstern eingebrochen, was eine große Öffnung schuf. Ein knapp zwei Schritt durchmessendes Feuerbecken stand in der Mitte des Raums.
»Glaubst du, das hier war einmal ein Leuchtturm?«, fragte Phileasson.
Irulla blickte nach Westen. »Wenn die Küste früher näher gewesen ist … schon möglich. Oder das Feuer diente dazu, Botschaften ins Umland zu schicken.«
Eine Leiter führte nach oben, auf die Plattform. Im schwachen Tageslicht unter bewölktem Himmel war die Luke im Boden, durch die man ins nächsttiefere Stockwerk gelangen musste, kaum auszumachen.
Phileasson umrundete die Feuerschale. Sie war leer.
Durch die Fenster hatte er einen guten Blick über die Stadt. Er machte die Orte aus, die er in den vergangenen Tagen besucht hatte. Darimeliopes Atriumhaus, das Hippodrom, das Aquädukt, das aus dem Norden Trinkwasser heranführte, den alten Handelshafen, in dem die Seeadler lag, den Marktplatz, das Theater. Den beherrschenden Eindruck erzeugten aber nicht einzelne Bauten, sondern die Vielzahl quadratischer Wohnblocks. Von oben betrachtet wirkte Daranel wie ein sorgfältig bestellter Acker.
Im Süden, jenseits der Häfen, floss der Rusiar. Am gegenüberliegenden Ufer lag die Unterstadt, zu der jedoch keine einzige Brücke führte. Man brauchte eine Fähre, wenn man hinübergelangen wollte.
»Ist hier jemand?«, rief Phileasson. »Wohnt hier der Windflüsterer?«
Sie brauchten nicht lange zu warten, bevor ein Geflügelter durch die Bodenluke kam. Er war kahl bis auf einen grauen Flaum in seinem Nacken. Die weißen Federn an seinen Flügeln hingegen leuchteten in jugendlicher Frische. Das Licht seiner Öllampe brachte die Silberfäden in seinem lockeren Gewand zum Glänzen. »Wo kommt ihr denn her?« Die Frage klang amüsiert.
»Wir hoffen, unser Besuch ist nicht ungelegen.«
Er hob die Lampe, um Phileassons Wappenrock zu beleuchten. »Schickt Haus Alantinos mir Schwalben oder Kletteraffen? Oder seid ihr gar mit einem Insektopter angeflogen?«
Phileasson lachte. »Bleiben wir bei den Kletteraffen. Ich nehme an, du bist Vilianol, der Windflüsterer?«
Die überlangen Zehen an den nackten Füßen des Ashariel irritierten Phileasson.
»Du vermutest richtig. Und wer seid ihr?«
»Das hier ist Irulla, und mich kannst du Foggwulf nennen. Ich bin ein Entdecker aus Aventurien und genieße es, Dinge zu sehen, die ich noch nicht kenne.«
»Und deswegen lädst du dich in fremde Häuser ein?«
»Eher selten«, schränkte Phileasson ein. »Aber ich habe eine dringende Frage, die jemanden aus deinem Volk betrifft. Kennst du Uheramin?«
Vilianol schien zu überlegen, nickte dann aber. »Er macht mir viele Sorgen.«
»Weil er verkrüppelt ist?« Phileasson hob die Schulter auf der rechten Seite, wo Uheramins Flügel fehlte.
»Von Geburt an, hat er gesagt, als er in die Stadt gekommen ist. Er kann nicht fliegen, er konnte es nie, und er wird es auch nie können. Aber deswegen müsste er sich nicht zum Gespött machen.«
»Wie meinst du …«
Schnaufend zog sich Ragnild in den Turm. »Eine ganz schöne Plackerei, das wohl!«, klagte die Sechzehnjährige.
»Was für eine Sprache spricht sie?«, fragte Vilianol interessiert. »Solche Worte hat der Wind noch nie an meine Ohren getragen.«
»Ich sagte doch: Wir kommen von jenseits des großen Meers.«
Aus dem Augenwinkel beobachtete Phileasson, wie Ragnild aufstand und sich neben Irulla stellte. Die Waldmenschenfrau nahm es mit dem gewohnten Gleichmut, aber er würde die junge Frau später zur Rede stellen! Was fiel ihr überhaupt ein, allein und ungesichert, dazu noch im stärker werdenden Regen, den Aufstieg zu wagen? Sie hatte die Schuhe ausgezogen und die Hosenbeine hochgekrempelt, wohl, um besseren Halt zu haben. Aber dennoch blieb es gefährlich! Sie war beinahe so unvernünftig, wie es Phileasson selbst in seiner Jugend gewesen war. Das konnte er ihr unmöglich durchgehen lassen.
»Wie viele von euch kommen denn noch?«, erkundigte sich Vilianol.
»Niemand mehr, hoffe ich.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass ein Flügelloser jemals meinen Horst erklommen hat.« Er schmunzelte. »Und nun gleich drei …«
»Wir wollen dich nicht lange aufhalten«, versicherte Phileasson. »Eigentlich sind wir nur auf der Suche nach Uheramin. Weißt du, wo wir ihn finden können?«
»Was hat er denn angestellt?«
»Das ist eine vertrackte Angelegenheit … Ich versichere dir jedoch, dass es auch für ihn von Vorteil ist, wenn wir diese Sache rasch wieder in Ordnung bringen. Solange er sich nicht allzu verstockt anstellt, kann es für ihn glimpflich abgehen.«
Ein Wutschrei erklang im Westen. Von dort flog der Ashariel heran, mit dem sie am Fuß des Turms gesprochen hatten. Er hatte jetzt einen Speer mit breiter Klinge dabei.
»Der war vorhin schon so unfreundlich«, meinte Ragnild.
»Ich fürchte, er mag es nicht, dass ihr allein heraufgekommen seid«, stellte Vilianol fest.
»Aber wir sind doch deine Gäste«, sagte Phileasson.
»Seid ihr das? Da bin ich mir nicht so sicher.«
Ragnild breitete die Arme aus und drehte sich dreimal um die eigene Achse. Dabei rief sie etwas, das sich für Phileassons Ohren so ähnlich anhörte wie die Sprache der netten Kerle, mit denen sie gezecht hatten. Alt-Hjaldingsch, vermutete er. Die Zauberer aus Olport benutzten diese Sprache gern.