13,99 €
Asleif Phileasson, der größte aller Entdecker, führt den Zug der Bettler einer Heimat entgegen. Dort finden die Elenden Hoffnung, doch auch Gefahren drohen – von eitlen Reichen ebenso wie vom geschuppten Volk des Dschungels und den Bestien, die in grünen Schatten jagen. Beorn den Blender hat es derweil in eine fremde Welt verschlagen. Nebelverhangene Gestade locken mit Zauber und einer Schönheit, die Aventurien seit Jahrtausenden entbehrt – und mit Schätzen, die dem größten aller Plünderfahrer einen Hort versprechen, wie ihn noch kein Thorwaler jemals besessen hat.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 936
DAS BUCH
»Flieg, Nachtigall, flieg, lasse hinter dir den Krieg, reise hinweg über weite See mit Kind und holder Blütenfee. Denn hinter dem Nebel liegt ein Land, dem Goldenen gänzlich unbekannt …«
Die Inseln im Nebel sind ein magischer Ort, an dem sich der schlimmste Albtraum aus der Erinnerung der Elfen immer wieder aufs Neue manifestiert: der Untergang der prächtigen Königsstadt Tie’Shianna, der Gleißenden. In diesen Mahlstrom der Gewalt reißt der Wunsch der Schicksalsgöttin Orima Beorn den Blender samt seiner Ottajasko. Schnell lernen sie, dass in dieser fremden Welt auch Albträume tödlich sein können.
Währenddessen begleitet Asleif Phileason die Karawane der Hoffenden aus Fasar durch das Liebliche Feld, das Land der Geheimgesellschaften und Hofintrigen. Sie folgen dem Traum des Propheten von einem besseren Leben in die dampfenden Dschungel des Südens. Hier treffen sie auf die kriegerischen Stämme der Waldmenschen mit ihren uralten Riten. Doch die Menschen des Urwalds sind nicht die größte Gefahr: Die Geschuppten senden ihre Flugechsenreiter aus, um den Glatthäuten gnadenlos klarzumachen, wer die wahren Herren dieses Landes sind.
DIE AUTOREN
Bernhard Hennen, 1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Vorderasiatische Altertumskunde. Als Journalist bereiste er den Orient und Mittelamerika, bevor er sich ganz dem Schreiben fantastischer Romane widmete. Mit seiner Elfen-Saga stürmte er alle Bestsellerlisten und schrieb sich an die Spitze der deutschen Fantasy-Autoren. Hennen lebt mit seiner Familie in Krefeld.
www.bernhard-hennen.de
Robert Corvus, 1972 geboren, studierte Wirtschaftsinformatik und war in verschiedenen internationalen Konzernen als Strategieberater tätig, bevor er mehrere erfolgreiche Fantasy-Romane veröffentlichte. Er lebt und arbeitet in Köln.
www.robertcorvus.net
Mehr über die Phileasson-Saga erfahren Sie auf:
www.phileasson.de
Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Für Axel, der Aventurien und Bücher liebt.
BERNHARD
HENNEN
ROBERT CORVUS
ELFENKRIEG
DIE PHILEASSON-SAGA
ACHTER ROMAN
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Originalausgabe 04/2020
Redaktion: Catherine Beck
Copyright © 2020 by Bernhard Hennen
Copyright © 2020 by Robert Corvus
Copyright © 2020 by Ulisses Medien & Spiel Distribution GmbH
Copyright © 2020 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch
die Michael Meller Literary Agency GmbH, München
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT GbR, München
Umschlagillustration: Kerem Beyit
Innenillustrationen: Nadine Schäkel
Karte Aventurien: Daniel Jödemann [[>>]]
Karte Inseln im Nebel: Steffen Brand
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN: 978-3-641-23430-0V001
www.heyne.de
www.twitter.com/HeyneFantasySF@heyneFantasySF
PROLOG
GRANDEZZA
Arivor,
fünfter Hranngar-Tag, vor dreißig Jahren
»Der Erzherrscher von Arivor wird sicher ein paar Novizen auf seinem Fechtboden durchprügeln, sobald seine verkalkte Sittenstrenge es ihm gestattet, wieder eine Klinge zu ziehen.« Thalionmel ay Nidecis schadenfrohes Kichern hätte besser zu einem Mädchen gepasst als zu dieser Greisin. Das aus dem Theater heraufscheinende Licht grub die Falten noch tiefer in ihr Gesicht.
Die Mauer, die das Gelände mit der Ruine der Alten Burg einfasste, diente nicht der Wehrhaftigkeit des Goldenhelm genannten Stadthügels. Sie sollte nur hübsch aussehen und nächtliche Wanderer davor bewahren, den Steilhang hinunterzustürzen. Vascal della Rescati reichte sie bis zum Bauch.
Er legte die in schwarzen Samt gehüllten Hände auf die Mauerkrone und beugte sich vor, um in das Rund des Theaters hinabzuschauen, das in die Hügelflanke hineingebaut war. Vielleicht hätten sich die fünfhundert Plätze gefüllt, wenn die empörten Geweihten ihre Prediger nicht an jedem Tag in der letzten Woche des gerade zu Ende gegangenen Jahrs durch die Straßen Arivors geschickt hätten. In jeder Schenke, auf jedem Fest hatten sie mit unheilschwangerer Stimme gemahnt, dass der Schutz der Götter in den schrecklichen Tagen zwischen den Jahren schwächer war als zu jeder anderen Zeit. Klingen sollte man wegschließen und alles vermeiden, was zu einem Unfall führen könnte. Der wahrhaft Fromme harrte in der Sicherheit seines Heims aus – vor allem nachts. Offenes Feuer war eine Einladung für eine Katastrophe, die nicht nur den Leichtsinnigen, sondern auch seine Nachbarn, ja, die gesamte Stadt schädigen mochte.
In diesem letzten Punkt hatten sich die Prediger durchgesetzt. Unten in der Arena brannten geschlossene Laternen, keine Fackeln. Aber die hätten ohnehin die etwa zweihundert Augenpaare geblendet, die in den Himmel gerichtet waren. Im Zentrum des Runds stand Ferdico Tolabur, der berühmte Astronom, auf dem Holzturm, der als Basis für sein Teleskop diente. Seine Gehilfen hatten den gesamten Tag beim Aufbau geschwitzt. Die Auflagen der Sittenwächter dazu, welches Werkzeug zu verwenden sei, hatten die Arbeit verzögert. Nun aber stand Ferdico allein bei dem Instrument, dessen Konstruktionspläne er eifersüchtig hütete. Für die erste Beobachtung dieser Nacht duldete er niemanden neben sich.
»Wie still sie sind«, flüsterte Vascal. »Dabei werden die meisten von ihnen noch vor einer Woche in Ballsälen gelärmt haben.«
Wieder kicherte Thalionmel. »Sie spüren, dass ein Moment der Heiligkeit naht. Kein Popanz, wo man sich unwürdig vor einer Gottheit auf den Bauch wirft. Ein Triumph des menschlichen Geists.« Auch sie flüsterte, ihre Begeisterung fand Ausdruck in ihrer Gestik. Wie Adlerkrallen waren die Finger gekrümmt, als sie die Hand zum sternenklaren Himmel emporreckte. Sie ballte sie, als griffe sie die Sprosse einer unsichtbaren Leiter, auf der sie in den Äther hinaufsteigen wollte.
Thalionmel war ebenso gekleidet wie Vascal: schwarze Handschuhe, ein schwarzes Hemd, eine schwarze Hose, schwarze Schuhe ohne glitzernde Schnallen, ein schwarzer Umhang mit Pelerine und Kapuze. Obwohl das Sternenlicht und der Laternenschein aus dem Theater nicht ausreichten, um es zu erkennen, vermutete Vascal, dass die Greisin ebenso schwitzte wie er. Gut möglich, dass sie es in ihrer Begeisterung gar nicht bemerkte.
»Sie sind gekommen, mehrere Hundert«, stellte sie fest. »Der menschliche Geist windet sich aus seinen Fesseln. Ein neues Zeitalter bricht an.«
Ein Grund, aus dem Thalionmel die Götterdiener so sehr verachtete, lag darin, dass sie wegen dieser Aussage mit einem Konzil aneinandergeraten war. Es war eines der wenigen Wortgefechte gewesen, in denen sie unterlegen war – und das öffentlich. Die Geweihten hatten sie abgekanzelt, jedes Kind wisse, dass kein Karmakorthäon, keine Weltzeitenwende, anbreche, ohne dass der Lichtvogel dergleichen verkünde. Man hatte Thalionmel ausgelacht. So etwas verzieh die Alte nicht.
Sie holte ihren Zeitmesser, ein Vinsalter Ei, hervor und klappte ihn auf. Im Deckel war ein leuchtender Gwen-Petryl-Stein eingearbeitet, der das Ziffernblatt mit bläulichem Licht beschien. Vierundzwanzig Splitter aus einem Aquamarin hob die filigran gearbeitete Mechanik ein Stück heraus, wenn die entsprechende Stunde erreicht war. Um Mitternacht sanken sie alle zurück. Ein schlanker Arm mit einer Hand und ausgestrecktem Zeigefinger wanderte in jeder Stunde durch das Rund. Dabei durchquerte er neun farblich voneinander abgegrenzte, identisch große Winkelabschnitte. Die Bedeutung dieser Zahl war Vascal klar: Jeder Zirkel der Herolde der Morgendämmerung bestand aus einem Erleuchteten, der bis zu neun Schleier führte. Was es aber mit den dreizehn feineren Einteilungen in jedem Winkelabschnitt auf sich hatte, wusste Vascal nicht. Er traute Thalionmel zu, dass es sich lediglich um einen Seitenhieb auf die Zwölfgötterverehrer handelte, denen die unheilige Zahl ein Schaudern über den Rücken jagen mochte.
»Es ist gleich so weit«, flüsterte die Alte. »Du musst nicht mehr lange auf deine Prüfungen warten.« Wieder kicherte sie.
Vascal sah auf die Burgruine hinaus. Nur im Süden waren die Gebäude in alter Pracht wiederhergestellt, dort residierte die Königin, wenn sie zum Turnier nach Arivor kam. Der weitaus größte Teil der Anlage dagegen bestand aus verfallenen Bauwerken, zumeist sogar nur aus Mauerresten, von denen viele gerade einmal Hüfthöhe erreichten. Die Zerstörung lag weit zurück, inzwischen war die Burgruine ein Garten, in dem Gräser, Blumen, Hecken und sogar hohe Bäume wuchsen. Der Duft der Sommerblüten trieb in der Luft. Wenn die Sternbilder des Götterkreises nicht gerade der dunklen Kluft der Namenlosen Tage den höchsten Punkt am Himmel überließen, war die nächtliche Ruine ein beliebtes Ziel für die Jugend der Stadt und für Verliebte, die zwischen Rosen Schwüre tauschten.
Thalionmel sah weiterhin auf ihren kostbaren Zeitmesser.
Noch einmal beugte sich Vascal über die Mauer und blickte hinunter in das Theaterrund. Es war ein seltsames Gefühl, hier oben zu stehen, über den Menschen, die heraufsahen und ihn doch nicht erkennen konnten, weil er ein Schatten in der Dunkelheit war. Ein Gefühl von Macht.
Von unten stieg schwaches Gemurmel herauf. Die gegen den Willen der Geweihten Versammelten löschten die letzten Laternen.
Thalionmel hob die Rechte und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger in den Himmel. Mit der anderen Hand klappte sie das Vinsalter Ei zu. Das Verlöschen des schwachen Scheins verstärkte die Dunkelheit merklich. »Jetzt«, flüsterte sie und folgte mit dem Blick ihrer eigenen Geste.
Auch Vascal legte den Kopf in den Nacken.
Ein Dutzend Sternschnuppen leuchtete am Himmel auf, zog helle Streifen zwischen den Sternen und erlosch. Doch zuvor erschien eine weitere Handvoll Sternschnuppen. Und bevor diese vergingen, kamen neue. Mal waren zwanzig zu sehen, mal nur drei. Zusammengezählt waren es schnell über einhundert. Der von Maestro Ferdico Tolabur berechnete Lichtregen hatte eingesetzt.
Unten im Theater stellten sich die Menschen an der Leiter an, die zum Teleskop hinaufführte. Immer nur einem zur Zeit würde der Astronom gestatten, zu ihm emporzusteigen. Dennoch würde jeder einen Blick durch das Instrument auf die Sternschnuppen erhaschen. Eine Stunde, drei der Neunteleinteilungen auf Thalionmels Uhr und vier der Untereinheiten lang würde das Phänomen andauern. So hatte Ferdicos genialer Geist es berechnet.
»Welch ein Triumph«, flüsterte Thalionmel ergriffen.
»Nun ist es an der Zeit für meinen eigenen Triumph«, verkündete Vascal kühn. Er zog die Maske aus einer Innentasche seines Umhangs. Sie war weiß, schmucklos, bescheiden – wie es einem Aspiranten geziemte, der die Aufnahme in den Zirkel begehrte.
Thalionmels Larve dagegen war mit feuerroten Schnörkeln verziert, deren Muster ein fauchendes Dämonenhaupt ergaben. Die schwarzen Hörner über den Schläfen waren sogar modelliert.
Wie es die Regel verlangte, zogen sie zusätzlich die Kapuzen über.
»Bist du bereit?« Thalionmels Stimme bekam durch die Maske einen Hall, der sie bis zur Unkenntlichkeit verfremdete.
»Ich bin es«, bestätigte Vascal.
»So begehrst du zu sterben?«
»Das tue ich.«
»Willst du alles abwaschen, was dumm und schwach ist und dich mit dem Niederen verbindet?«, fragte Thalionmel fordernd.
»Keine Liebe wohnt in meiner Brust für Erbärmliches.«
»Dann folge mir.«
»Nein!«, widersprach Vascal, wie es die Zeremonie vorgab. »Ich bin niemand mehr, der folgt. Ich schreite voran.«
Zustimmend nickte die maskierte Frau und deutete auf einen Durchbruch in der von wilden Rosen überwucherten Mauer.
Vascal hörte ihre Schritte hinter sich, während er ins Innere der Burgruine ging. Sein Puls pochte in seinem Hals. Dreiundzwanzig Jahre war er alt. Bevor er das erste Vierteljahrhundert seines Lebens vollendete, würde er bereits zur Loge der Herolde der Morgendämmerung zählen! Tore zu Wissen, vor dem selbst die Geweihten der Hesinde zurückschreckten, würden sich vor ihm öffnen. Aber nur, wenn er die Prüfungen dieser Nacht bestünde.
Die Sternschnuppen sorgten für zusätzliche Helligkeit, aber die Orientierung innerhalb der Ruine fiel dennoch schwer. Die Hecken bildeten gemeinsam mit den Mauerresten ein Labyrinth, das die Besucher tagsüber für heitere Versteckspiele nutzten, während es nachts angenehme Schauder auslöste. Immerhin konnte der große Kirschbaum zur Orientierung dienen. Der Legende nach hatte die Horaskaiserin Niothia ihn gepflanzt – vor eineinhalb Jahrtausenden. Einerseits offenbarte dieses Märchen die Leichtgläubigkeit des einfachen Volks. Andererseits zeigte seine Verbreitung aber auch die Raffinesse der Königin Amene, die bei jedem ihrer Besuche Mußestunden im Schatten dieses Kirschbaums verbrachte. Ohne ein Wort zu sprechen, inspirierte sie damit Gerüchte über den Anspruch, an die Größe des gefallenen Kaiserreichs anzuknüpfen und somit dem Kaiser im fernen Gareth die Stirn zu bieten, wenn die Zeit erst gekommen wäre.
Doch Vascal musste es in dieser Stunde um die eigene Größe gehen, nicht um die Glorie der Horaskaiser. Er schritt zu einem Torbogen, der keine Funktion mehr hatte, weil die Mauern neben ihm ebenso fehlten wie das Gitter. Nur die Aufhängungen ließen noch erkennen, wie es sich einst geöffnet hatte.
Zwei Gesichter waren in den Stein des Bogens geschlagen. Das linke zeigte einen freundlich schauenden Jüngling, das rechte einen fauchenden Jaguar. Ein Gönner hatte diesen Raubtierkopf erneuern lassen, die spitzen Zähne waren sogar frisch mit Kupfer überzogen, sodass sie schwach im Sternenlicht schimmerten.
Vascal zog ein Beutelchen aus einer Umhangtasche und schüttete den Inhalt in seine linke Hand. Trotz seiner Aufregung tat er es vorsichtig. Jeder der dreizehn Smaragde hatte ein Vermögen gekostet. Er wünschte sich bessere Augen oder helleres Licht, um sich versichern zu können, dass sie wirklich alle auf seinem von schwarzem Samt bedeckten Handteller lagen. So blieb ihm nur, den Beutel zu schütteln. Er schien leer zu sein.
Vascal schloss die Hand um die leise klackernden Edelsteine. Er machte eine feste Faust, die er in den steinernen Rachen des Jaguars schob.
Thalionmel trat dicht hinter ihn und flüsterte in sein Ohr. »Entrichte den Zoll für den Weg, der dich aus deinem Leben voller jämmerlicher Unsicherheit hinausführen kann, wenn du beweist, dass du das Wissen um die Wahrheit hinter den Dingen ertragen kannst.«
Er drehte die Hand mit den Fingern nach unten und öffnete sie. Die auf den Stein fallenden Smaragde prasselten wie Hagel, den ein Windstoß an eine Butzenscheibe wehte.
Ohne auf Erlaubnis zu warten, ging Vascal durch das Tor. Von hier an musste er auf sich gestellt den Weg finden.
Arivor,
fünfter Hranngar-Tag, vor dreißig Jahren
Über Vascal della Rescati schossen die Sternschnuppen lautlos über den Himmel. Ein ebenso stiller Schatten flog an Niothias Kirschbaum vorbei auf die südlichen Gebäude zu. Wahrscheinlich eine Eule. Einige helle Blüten schimmerten an den Schattenrissen der Hecken. Dornen rankten um eine abgebrochene Säule.
Vascal sah nichts, was ihm einen Hinweis auf den richtigen Weg zu seinen Prüfungen gegeben hätte.
Aber er hörte etwas. Leise nur, doch unverkennbar die Töne einer Geige. Ein Stück aus der Oper Der Kalif von Unau, eigentlich für ein Orchester geschrieben, doch die eingängige Melodie war auch von einem Solisten vorgetragen ein Genuss. Vascal folgte ihr.
Er musste ein paarmal abbiegen, weil Hecken und Mauern den direkten Weg versperrten. Er achtete darauf, dass sein Mantel nicht an Dornen hängen blieb. So gelangte er in den Mosaikensaal der Asmodena, der noch mehrere Jahrhunderte älter war, als die Legende es von Niothias Kirschbaum wissen wollte. In diesem Fall war Vascal geneigt, dem Volksglauben recht zu geben. Der Saal war eigentlich eher ein Platz, von den Mauern war nahezu nichts mehr übrig. Das Mosaik dagegen war gut erhalten, wenn man das Alter bedachte. Sicher war es lange Zeit überdacht geblieben, und vermutlich schützten auch Zauber die Darstellungen rätselhafter Tiere. Bis vor ein paar Jahren hatte man einige davon für bloße Fabeln gehalten, aber dann hatten Fernhändler das Güldenland bereist und von dort das gelbe Fell eines sechsbeinigen Schweins und einen Affen mit einem Bärenkopf, dessen Schnauze farbige Schwielen entstellten, mitgebracht. Zwischen den Mosaiksteinen wucherte Gras, das sich manchmal ebenfalls anschickte, das Bild zu vervollständigen oder zu interpretieren. Ein paar Büschel wurden zum Pelz am Rücken eines Bären, eine Dornenranke zum Fangarm eines Kraken, der sich um eine junge Frau legte.
Das Geigenspiel verklang im Knall eines Zeremonienstabs. Wer ihn schwang, blieb Vascal verborgen. Dennoch wusste er, was die Aufforderung bedeutete.
Er löste den Umhang und ließ ihn von den Schultern gleiten. Dann schnürte er die Schuhe auf und zog sie von den Füßen. Die Socken steckte er hinein, die Hose faltete er sorgfältig, bevor er sie auf das Mosaik legte. Seine Hände kamen ihm aufdringlich hell vor, als er die Handschuhe abzog. Mit dem Hemd musste er vorsichtig sein, damit sich die Maske nicht löste, als er es über den Kopf zog.
Die Unterwäsche brauchte er nicht auszuziehen. Das erledigte Thalionmel ay Nideci für ihn. Mit einem Stilett zerschnitt sie das Leinen an seinen Hüften, dann auch das Hemd, sodass es von ihm abfiel.
Vascal lächelte hinter seiner Larve. Andere mochten an dieser Stelle der Zeremonie peinlich berührt sein, aber er war nie übermäßig schamhaft gewesen. Der Schutzpatron seiner Familie war der Heilige Ascandear von Baburin, der sich ganz der Liebe zur Schönen Göttin hingegeben hatte. So verzichtete Vascal auch jetzt darauf, sein Gemächt mit den Händen zu bedecken oder ähnliche alberne Verrenkungen zu vollführen. Stattdessen genoss er die milde Nachtluft auf seiner nackten Haut.
Glühwürmchen tanzten über dem Mosaik. Durch das Laub einer Hecke leuchtete jedoch ein stetiges Licht.
Sicher war hier in dieser Nacht niemand unterwegs, der dem Zirkel fremd war. Also durfte Vascal davon ausgehen, dass man dieses Licht für ihn aufgestellt hatte. Geduldig suchte er einen Weg, zu ihm vorzudringen. Thalionmel, die unter ihren Gewändern gewiss noch immer schwitzte, folgte ihm stumm vom Mosaik herunter, über grasbewachsene Wege, drei Stufen hinauf, durch ein Loch in einer Hecke, bei dem sie sich tief bücken mussten.
Auf der anderen Seite fand Vascal einen zerbrochenen Brunnen. Einstmals war das Wasser durch eine Anordnung steinerner Muscheln in ein rundes Becken gefallen. Jetzt standen zwei Laternen auf den Muscheln, und im Becken war ein opulentes Mahl auf einer roten Decke angerichtet. Gebratene Tauben dampften auf einem Silbertablett, ein Mus aus Beeren stand bereit, duftendes Brot, die Weinflasche war geöffnet, in den beiden gläsernen Kelchen war eingeschenkt. Messer und Gabeln lagen ordentlich neben den Porzellantellern, auf die eine kundige Hand Fasanen und Hunde gemalt hatte.
Thalionmel nahm den linken Kelch. »Das kommt mir gerade recht.« Sie schob ihre Maske so weit hoch, dass sie das Getränk an die faltigen Lippen führen konnte. Sie nahm einen tiefen Schluck. »Vorzüglich«, urteilte sie. »Du solltest dich stärken. Für dich wird die Nacht anstrengender als für mich.«
Misstrauisch musterte Vascal den zweiten Kelch. Er sah ganz anders aus als jener, aus dem Thalionmel nun einen weiteren Schluck nahm. Der Stiel war gerade, nicht in drei einander umspielenden Spiralen gedreht.
»Ich verrate schon nicht, wenn du deine Maske lockerst«, neckte Thalionmel. »Ich schaue noch nicht einmal hin. Dann lüge ich auch nicht, wenn mich der Erleuchtete fragt, ob ich dein Gesicht vor der Zeit gesehen habe.« Demonstrativ wandte sie ihm den Rücken zu.
Vascal zweifelte nicht daran, dass die Loge hervorragenden Wein besorgt hatte. Auch die Tauben waren bestimmt exquisit zubereitet, alles andere wäre unter der Würde der Herolde gewesen.
Aber er war ebenso sicher, dass er sich einer Prüfung gegenübersah. Nur – worin bestand sie? Verhielte er sich richtig, wenn er beherzt zugriff und damit zeigte, dass er über starren und letztlich albernen Regeln wie jener stand, dass er seine Maske nicht lösen dürfte, bevor er die letzte Vorbereitung auf die entscheidende Begegnung träfe? Oder ging es um Standhaftigkeit?
Er nahm den Kelch auf. Durch das Glas sah er das satte Rot des Weins. Im Hause della Rescati huldigte man der Schönen Göttin und nahm dankbar den Rebensaft an, den sie den Sterblichen geschenkt hatte. Vascal erkannte sofort, dass er einen hervorragenden Tropfen vor sich hatte.
Ohne die Maske zu lockern, führte er den Kelch vor die modellierten Lippen. Zwar konnte er den Mund nicht öffnen, aber der Duft stieg durch die Atemöffnungen. Er glaubte, die Sonne zu riechen, deren Kuss die Trauben hatte reifen lassen, und das klare Wasser, das die Knechte den Weinberg hinaufgeschleppt hatten, wenn der Regen einen Tag zu lange ausgeblieben war. Dieser Wein kam eindeutig aus den Eternen, nicht von der Küste. Kein Südhang, der einen mit aufdringlichen Aromen bestürmte. Südwesten, wo ein milderer Wind die Pflanzen umschmeichelte. Älter als fünf Jahre.
Aber da war auch eine Note in dem Geruch, die nicht hineingehörte. Etwas Ätherisches, das die Nase störend weitete.
Hinter der Larve lächelnd stellte Vascal das Glas zurück.
Thalionmel wandte sich ihm zu. »Nicht durstig?« Sie löste die Verschnürung ihrer Dämonenmaske und nahm sie ab.
»Ich möchte noch nicht schlafen. Bei dem Pulver, das in mein Glas gemischt ist, würde ich vor dem Sonnenaufgang nicht mehr erwachen. Dabei ist es doch eine so schöne Nacht.« Er öffnete seine Hände zum Himmel, über den die Sternschnuppen zogen.
»Womöglich bist du zu misstrauisch.« Der Schweiß glänzte auf Thalionmels Gesicht. Sie ließ sich im Schneidersitz vor dem Brunnen nieder. Für ihr Alter bewies sie Geschick, sie verschüttete keinen Tropfen aus ihrem Kelch. Allerdings war dieser nur noch halb voll, und jetzt nahm sie einen weiteren Schluck. »Welche von den Tauben willst du?«
»Keine.«
Sie nahm ihre Gabel, spießte den linken Vogel auf und hob ihn auf ihren Teller. »Es wäre ein Jammer, wenn wir das hier kalt werden ließen.«
»Ich werde nichts essen.«
Sie zuckte die Achseln, eine Bewegung, die der Umhang beinahe unkenntlich machte. »Ich schon.« Sie nahm das Messer und schnitt eine dünne Scheibe ab. Dann nahm sie sich von dem Mus.
»Ich will weitergehen«, sagte Vascal.
»Ohne Begleiterin? Das ist tapfer.« Sie nahm das Scheibchen auf die Gabel, zog es durch das Mus und steckte es in den Mund. »Dumm«, befand sie kauend, »aber tapfer.«
Vascal überlegte, wie lange Thalionmel für ihr Nachtmahl brauchen würde. Er war sicher, dass sich ein Schlafpulver in seinem Wein befand, also hatte er diese Probe wohl durch das Zurückweisen des Getränks bestanden. War das Warten auf Thalionmel eine Prüfung seiner Geduld? Oder sollte er seine Entschlossenheit beweisen, indem er allein weiterginge? Im Gegensatz zu der klaren Anweisung, seine Maske zu tragen, bis er dem Weisen begegnete, der die Antworten auf all seine Fragen kannte, war die Begleitung keine klar formulierte Regel der Zeremonie.
Vascal runzelte die Stirn. Er wollte den Herolden der Morgendämmerung beitreten, um endlich so schnell auf dem Weg des Wissens voranzuschreiten, wie es sein brillanter Verstand ermöglichte. Er wollte sich nicht nach der Langsamkeit anderer richten. Zauderer waren ihm zuwider, und gerade diese Loge schätzte einen entschlossenen Geist.
»Ich werde nicht warten«, verkündete Vascal.
»Dann geh«, erwiderte Thalionmel gleichmütig. »Mir wird auch die zweite Taube munden.«
Vascal ärgerte sich über sein Zögern. Je länger er Thalionmel beim Essen beobachtete, desto mehr schwand seine Entschlossenheit, und Zweifel krochen in sein Herz.
Dabei hatte er sich doch schon entschieden! Würde er jetzt noch mit seiner Begleiterin speisen, hätte er endgültig die Führung abgegeben. Doch dies war seine Nacht, seine Aufnahmezeremonie, in der er beweisen musste, dass er jemand war, der nach mehr strebte, als ein gewöhnlicher Mensch wagte.
Er presste die Zähne aufeinander und verließ den Brunnen. Zunächst brachte er nur einige Hecken zwischen sich und das Mahl, dann sah er sich wieder um und suchte nach einem Hinweis, wo die nächste Prüfung auf ihn warten mochte.
Er fand keinen.
Vascal begriff, dass er allein war.
Sicher, Thalionmel war ebenso in der Nähe wie die anderen Mitglieder des Zirkels, die für diese Zeremonie auf getrennten Wegen von Kuslik nach Arivor gereist waren. Aber Vascal war der Einzige, der wirklich wollte, dass er die Prüfungen bestand und in die Loge aufgenommen wurde. Die Smaragde, die er zu Beginn gegeben hatte, würde er nie wiedersehen, dieses Vermögen gehörte nun dem Erleuchteten der Herolde.
Vascal war ein kluger Kopf. Kaum jemand rechnete so schnell und so präzise wie er. Die Geometrie hatte nur noch wenige Geheimnisse für ihn. Er konnte das alte Bosparano lesen, fand sich in der Historie zurecht, er erkannte die wichtigsten Bildhauer am Fall der Haare ihrer Statuen und die angesehensten Maler am Strich ihrer Pinsel. Doch reichte das, um für diese Loge interessant zu sein? Oder brachen die anderen bereits jetzt auf und lachten über den Nackten, der durch das Labyrinth irrte?
Vascal ging weiter, aber er fand die nächste Prüfung nicht. Sie fand ihn.
Eine Schönheit mit hüftlangem schwarzen Haar kam ihm auf einem grasbewachsenen Weg zwischen zwei Rosenhecken entgegen. Sie trug eine bis auf einen Spalt abgeblendete Laterne, Sandalen, eine schmale Maske vor den Augen – und sonst nichts. Ihre lächelnden Lippen waren dunkel bemalt, die Brüste trotz ihrer Größe straff.
»Es ist vorbei, Vascal«, flüsterte sie ihm zu.
»Du kennst mich?«
»Natürlich. Ich wurde bezahlt und zu dir geschickt, um dich zu trösten.«
»Wie heißt du?«
»Das ist unwichtig.« Sie öffnete die Blende ein Stück. Das zusätzliche Licht zeigte, wie hell ihre Haut war. Ihre Scham war so weit rasiert, dass sie ein klar abgegrenztes Dreieck bildete. »Ich bin ein Teil dieser Nacht. Den Preis, den du begehrst, hast du nicht errungen. Noch nicht. Du bist noch jung, viele Nächte liegen noch vor dir.«
Vascal sah hinauf zum Regen der Sternschnuppen. »Keine wie diese.«
»Andere Nächte mit anderen Gelegenheiten.« Sie trat so nah an ihn, dass ihr blumiges Duftwasser in seine Nase stieg. »Aber in dieser Nacht bin ich deine Gelegenheit. Lass die quälenden Gedanken für ein paar Stunden ruhen. Erschöpfe dich in meinen Armen, und erwache mit neuer Kraft.«
Vascals Körper reagierte in eindeutiger Weise auf die Nähe der willigen Frau. Das konnte ihr nicht entgehen. Aber sie berührte ihn nicht.
Das kam ihm seltsam vor. Eine entschlossene Verführerin hätte begonnen, ihn zu streicheln. Vielleicht nicht sofort an seinem edelsten Teil, obwohl manche Frauen auch forsch vorgingen. Aber vielleicht seinen Hals, sein Haar, die Brust …
Nur ein paar Fingerbreiten trennten die nackten Körper voneinander, aber diese unsichtbare Grenze respektierte Vascals Versucherin. Ihr Lächeln lockte, ihr Duft umspielte ihn, ihre Worte waren ein eindeutiges Versprechen … aber ihre Hände behielt sie bei sich.
Die Entscheidung blieb ihm überlassen. Ein flüchtiges Vergnügen oder … oder was? Ein offenes Tor zu verbotenem Wissen? Oder doch nichts? Eine große Enttäuschung? Leere? Versagen?
Ohne die Gefahr des Versagens gab es kein Wagnis. Ohne Wagnis besaß kein Sieg einen Wert.
»Lösche dein Licht«, bat Vascal. »Du blendest mich, und ich brauche die Schärfe meiner Sinne, um meine Aufgabe zu bestehen.«
Sie sah gekränkt aus, als sie die Laterne öffnete und die Flamme auspustete.
Vascal machte einen Schritt rückwärts, um sie nicht versehentlich zu berühren, und sah sich um. Es dauerte eine Weile, bis er einen dunklen Umriss ausmachte, der vorher nicht hier gewesen war. Ein dreieckiger, lang gezogener Wimpel, der vor den Sternen wehte.
Vascal fand den Weg dorthin. Der Stoff flatterte an einer Stange vor einem runden Zelt, das gerade einmal zwei Schritt durchmaß. Auf der anderen Seite des Eingangs stand ein gebogener Tisch, hinter dem sich ein Spiegel erhob. Diesen Spiegel hielten zwei Statuen: ein Minotaurus mit zornig blickendem Stierhaupt und ein bocksbeiniger Faun, der verschmitzt schaute.
Auf dem Tisch stand der Schädel eines Zyklopen. Er war doppelt so groß wie der eines Menschen. Durch das einzige Auge fiel rotes Licht, das so gleichmäßig leuchtete, dass Vascal keine Kerze hinter farbigem Glas, sondern einen verzauberten Stein als Quelle vermutete.
Der rote Schein fiel auf ein beschriebenes Pergament. Auf einem zusammengelegten Tuch daneben lag ein geschwungenes Messer, auf der anderen Seite stand ein Schälchen mit Wasser neben einem Rasierpinsel und einem Stück Seife.
Die Botschaft auf dem Pergament war nicht in Kusliker Zeichen, sondern in den geheimen Glyphen der Loge abgefasst. Davon abgesehen, war sie uncodiert, Vascal konnte sie ohne Hilfsmittel entziffern.
Den Lebenden verachten wir, denn er ist dumm.
Sterben muss er.
Verfaulen mitsamt allem, was ihn jämmerlich macht.
Entblöße dich nun.
Gib dem Weisen, dem Herrn deiner neuen Welt, deinen Stolz.
Dann tritt ihm gegenüber und sieh den Pfad zu allen Antworten, nach denen du verlangen wirst – jetzt und in Zukunft.
Vascal las die Botschaft noch einmal und suchte nach verborgenen Hinweisen. Die Anweisung erschien ihm allzu eindeutig.
Da er bereits nackt war, konnte er sich nur noch weiter entblößen, indem er seine Maske ablegte.
Er trug keinen Bart, also war das Rasiermesser wohl für sein Haupthaar gedacht. Das mochte mit dem Stolz gemeint sein, den er dem Weisen opfern sollte. Es würde einige Wochen dauern, bis sein Kahlkopf zugewachsen wäre und er wieder eine standesgemäße Frisur tragen könnte. Das würde Fragen in der gehobenen Gesellschaft provozieren, Gerüchte würden hinter Fächern getuschelt.
Er blickte zum Zelt hinüber. Es mochte Platz für ihn und den Weisen bieten. Dieser musste sich bereits darin befinden.
Aber wenn Vascal einträte, ohne die Anweisung zu befolgen, würde er wohl keine Antworten erhalten.
Er sah in den Spiegel. Die Maske saß fest.
Vascal schnaubte. Was für ein Mummenschanz.
Das Haar? Das sollte es sein? Das sollte ausreichen, um den Weg zum verbotenen Wissen zu ebnen?
Er nahm die Maske ab und sah in sein eigenes enttäuschtes Gesicht. Das rote Licht aus dem Zyklopenschädel gab ihm etwas Feuriges.
Wenigstens trat niemand aus dem Dunkel, um ihm zu sagen, dass er gescheitert sei.
Er legte die Maske auf den Tisch.
Thalionmel musste diese Prüfung ebenfalls bestanden haben, schließlich war sie ein Schleier der Loge im Zirkel zu Kuslik.
Vascal stützte sich auf und schüttelte den Kopf. »Mein Haar, …«
Thalionmel war nur ein Schleier, und sie war sechsundsechzig Jahre alt. Sie war keine Erleuchtete. Von einer gehobenen Position in der Loge, über den Kusliker Zirkel hinaus, ganz zu schweigen.
Forschend musterte Vascal die Augen seines Spiegelbildes. Wäre er damit zufrieden? Jetzt war er dreiundzwanzig … Noch dreiundvierzig Jahre dazu … mehr, als sein Leben bis jetzt zählte – um dann ein einfaches Mitglied zu sein? Jemand, der froh sein musste um alles, was der Erleuchtete ihn gnädig wissen ließ?
»Nein«, flüsterte Vascal. »Ich werde mehr sein als Thalionmel.«
Die Ironie dieser Aussage wurde ihm bewusst. Thalionmel war nicht nur der Name der Greisin, die es gerade mal zum einfachen Mitglied gebracht hatte. So hatte auch die Heldin von Neetha geheißen, die die Brücke vor der Stadt gegen die anstürmenden Novadis gehalten hatte. Sicher hatten die Eltern der Thalionmel, die in dieser Nacht mit ein paar gebratenen Tauben zufrieden war, hochfliegende Träume gehabt, als sie ihre Tochter nach dem Vorbild aller Krieger benannt hatten. Stattdessen hatten sie einer Frau das Leben geschenkt, die am liebsten auf die Göttin des ehrenhaften Kampfs gespuckt hätte, ebenso wie auf alle anderen Götter auch.
Vascal stieß diese lästerliche Haltung ab, aber ihm fehlten die Argumente, dagegen vorzugehen. War er vielleicht selbst nur das Opfer einer Erziehung in einem Haus, das die Treue zur Herrin Rahja und ihren Geschwistern als Teil seines Stolzes begriff? Erbe einer erstarrten Tradition? Nicht besser als jene, die glaubten, der Kirschbaum in den Ruinen der Alten Burg sei eineinhalb Jahrtausende alt?
War Vascal eine Witzfigur für jeden wahrhaft Wissenden?
Vielleicht, gestand er sich ein. Aber das würde er nicht bleiben. Er würde den Weisen in diesem Zelt beeindrucken. Er würde schon jetzt, in der Nacht seiner Aufnahme, deutlich machen, wie ernst er es meinte, wenn er schwor, dem Pfad des Wissens zu folgen.
Mit einem grimmigen Lächeln nahm er das Messer und schnitt einen Streifen aus dem Tuch, das dazu gedacht war, seine Haut nach der Rasur zu trocknen. Es bestand aus weichem, aber festem Leinen.
Vascal formte eine Schlinge, die er über den kleinen Finger seiner linken Hand schob, bis zum Anschlag. Mit den Zähnen und der rechten Hand zog er die Schlinge fest zu und verknotete sie.
Der Finger pochte, schwoll aber nicht an. Gut. Das bedeutete, dass der Blutfluss hinein unterbrochen war.
Herausfordernd grinste Vascal sein Spiegelbild an. Er drückte die Linke gespreizt auf den Tisch und setzte die Klinge an wie ein Koch, der eine Rübe in Streifen schneiden wollte.
»Mein Haar behalte ich«, flüsterte er. »Ich opfere etwas anderes.«
Was die groben Söldner konnten, die Kor grölend die Treue schworen, das konnte er schon lange! Ein Mann des Geists stand solchen Grobianen in nichts nach, und das würde er beweisen.
Er sah nicht auf seine Hand, sondern beobachtete sich im Spiegel. Das machte es leichter, die Klinge hinunterzudrücken und sich, sobald er den Schnitt spürte, mit vollem Gewicht auf das Messer zu lehnen. Vascal hielt die Luft an. Er musste die Schneide ein wenig kippen, um die Stelle zwischen dem ersten und dem zweiten Fingerglied zu finden.
Dann ertönte ein Knacken, der Stahl glitt durch das Gelenk bis auf den Tisch. Ein bestialischer Schmerz jagte durch Vascals Hand, durch den Unterarm, den Ellbogen, seiner Schulter entgegen, bis in sein Herz, das die Pein in jeden Winkel seines Körpers pumpte. Er presste die Zähne aufeinander, um nicht zu schreien, aber ein Wimmern vermochte er nicht zu unterdrücken.
Er zwang sich, auf den Tisch zu sehen. Die vorderen beiden Glieder des linken kleinen Fingers blieben zurück, als er die Hand wegnahm. Ein dunkler Blutfleck besudelte das Holz, aber die Abschnürung wirkte. Es kam nichts nach.
Vascal atmete durch. »Da hast du deinen Lohn«, brachte er hervor.
Er verband den Stumpf mit drei Lagen, sodass die oberste rein und weiß blieb.
Dann trat er in das Zelt.
Zunächst war es stockdunkel.
Dann öffnete sich mit einem vernehmlichen Klacken ein auf dem Boden stehender Kasten. Mehrere Leuchtsteine strahlten so hell daraus hervor, dass Vascal blinzeln musste.
Vor ihm stand ein hoher Spiegel mit einem vergoldeten Rahmen, dessen Schnitzwerk geflügelte Figuren zeigte, die dem Himmel entgegenstrebten. Nicht die kleinste Unreinheit trübte das Spiegelbild des nackten Vascal mit dem Verband an der linken Hand.
Antworten findest du in dir selbst, stand auf dem Querbalken über der Spiegelfläche, oder nirgendwo in der ganzen Weite der Welt.
Kuslik,
siebter Tag im Goimond, vor zwanzig Jahren
Vascal della Rescati sah über die Schulter zur Treppe.
Ein Mann Mitte vierzig stieg in den zweiten Stock herauf. Er trug ein Barrett mit einer Fasanenfeder und eine grüne Samtweste über einem grauen Hemd.
Vascal nickte ihm höflich zu. Vermutlich war der andere auf der Suche nach einem Buch. Das war der häufigste Grund, in die Hallen der Weisheit zu kommen. So nannte man den Haupttempel der Hesinde, der Göttin des Wissens. Auf drei Stockwerken lagerten hier mehr Schriften als an jedem anderen Ort Aventuriens. Bücher drängten sich in Regalen, die bis zu den Decken reichten. Schriftrollen lagen in rautenförmigen Fächern. Ein Brett von Maraskan, in das unterschiedlich lange Stöcke gesteckt waren, enthielt eine Botschaft. Steinplatten, in die Echsenmenschen ihre Glyphen gehauen hatten, standen an den Wänden oder waren sogar in ihnen verbaut. Eine besonders unheimliche war aus schwarzem Basalt geschnitten. Sie zeigte einen Ssrkhrsechu, ein vierarmiges Wesen mit dem Oberkörper eines Menschen, aber dem Kopf und dem Unterleib einer Schlange. Aufgrund der Schriftzeichen hielten die Geweihten die Darstellung für Jahrtausende alt und vermuteten ihren Ursprung im äußersten Süden des Kontinents.
Vascal betrachtete wieder das Rätsel, das vor ihm auf einem Sockel stand. Es hatte nichts mit Schrift zu tun. Zwei Fäuste – eine grüne und eine rote – hielten ein Seil, das in einer simpel wirkenden Verschlingung durch einen Reif gezogen war, der auf der Spitze eines zwei Handspannen hohen Stabs steckte. Ein Kupferring, etwa so groß wie das Rund, das Vascal mit Zeigefinger und Daumen bilden konnte, lag auf der roten Faust. Man konnte ihn anheben, aber da er das Seil umschloss, musste man ihn daran entlangführen. Obwohl der simple Aufbau nahelegte, dass man ihn auf der grünen Faust ablegen sollte, schien es keine Möglichkeit zu geben, ihn über die Mitte hinaus zu bewegen. Dort blockierte der hölzerne Reif den weiteren Weg. Sein Durchmesser war kleiner als der des Kupferrings.
Vascal hörte Schritte in seinem Rücken näher kommen. »Kniffelig, nicht wahr?« Der Mann sprach die Silben deutlich akzentuiert.
»Es ist unlösbar.« Vascal zog am Seil. Die durch den Reif führende Verschlingung weitete sich an einer Stelle, um sich an einer anderen zu verengen. »Ich vermute, jemand hat es für den Tempel gekauft und jemand anderes hat es gedankenlos auf den Sockel genagelt. Die Lösung besteht wohl darin, das Spiel anzuheben und das Seil unten um den gesamten Aufbau herumzuführen.« Er tippte auf das hölzerne Viereck, auf das sowohl die Fäuste als auch der Stab mit dem Reif geleimt waren. »So könnte man das Seil aus dem Reif lösen. Es wäre dann nur noch eine Verbindung zwischen den Fäusten. Man könnte den Metallring problemlos hin- und herführen, ohne jedes Hindernis.«
»Aha«, machte der Fremde.
»Ihr wisst es wohl besser, Signor …?«
»Acivio ist mein Name.« Er stellte den rechten Fuß nach hinten und verbeugte sich. Die Fasanenfeder wippte an seinem Barrett.
»Vascal della Rescati.«
Acivio lächelte schalkhaft. »Ich kenne Euren Namen, Logenmeister.«
Vascal runzelte die Stirn.
»Habe ich etwas gesagt, das Euch verärgert, Signor?«, fragte Acivio.
»Solche Dinge gehören nicht an die Öffentlichkeit.«
Acivio sah sich um. Sie standen auf der Empore, die sich in den vieleckigen Innenraum öffnete. Von hier aus hatte man einen guten Blick auf die überlebensgroße Statue der Göttin Hesinde, die einen Menschenschüler unterwies. Nach außen hin luden Gänge dazu ein, durch die Regalreihen zu wandeln. Hohe Fenster ließen Licht ein, das die nahe der Decke angebrachten Spiegel verteilten. Vascal wusste, dass sich wenigstens zwei Dutzend weitere Besucher und doppelt so viele Geweihte im Tempel aufhielten, aber zu sehen war keiner davon.
»Wenn es Euch unangenehm ist, will ich von Euren Rängen schweigen.« Acivio holte einen Stapel Spielkarten aus einer Tasche seiner Weste. Sie waren so klein, dass sie in seine Handfläche passten. »Tut Ihr mir einen Gefallen, und helft mir beim Mischen?« Er zog die Karten in schneller Folge auseinander und steckte sie wieder zusammen.
Vascal musste wohl ein wenig dümmlich schauen, während er überlegte, was denn am Kartenmischen so schwierig war, dass sein Gegenüber das nicht allein erledigen konnte.
Acivio lächelte gewinnend und streckte ihm den Stapel entgegen. »Bitte, hebt ab.«
Vascal vermutete, an einen Scharlatan geraten zu sein. Vielleicht lief das Geschäft auf der Straße an diesem Morgen so schlecht, dass er an ungewöhnlichen Orten nach Opfern suchte, die er mit einem blumigen Orakelspruch übertölpeln könnte.
So hob Vascal zwar ab – die Karten waren so klein, dass Acivios Hand genug Platz für beide Teilstapel bot –, hielt den Blick aber misstrauisch auf das Gesicht des Mannes gerichtet. Er hatte seine Wangen ordentlich geschabt, sodass er bartlos wie ein Elf erschien, aber das war die einzige Ähnlichkeit mit den Spitzohren. Seine Augen waren nicht besonders groß, und auf der linken Seite saß der Wangenknochen ein wenig höher als auf der rechten.
Acivio legte die Teilstapel wieder zusammen. Auf seiner Stirn bildete sich die Andeutung einer Falte, als die Brauen aufeinander zuzuckten, während er die Karte betrachtete, die nun ganz unten lag.
Solch eine Reaktion hatte Vascal erwartet. Nun käme unweigerlich die Prophezeiung einer Krankheit, die man aber noch abwenden könne, wenn man dieses oder jenes Kraut rauchte. Oder die Beteuerung, für ein paar Silberstücke könnte man von einem lukrativen Geschäft erfahren, das hohen Gewinn versprach.
Vascal wollte das nicht hören. Er wandte sich ab, ging zum Geländer und stützte sich auf den Handlauf.
Im Erdgeschoss durchquerte eine Dreiergruppe den zentralen Raum, zwei Frauen und ein Mann. Sie sahen nach Studiosi einer Magierakademie aus. Wegen ihrer harten Gesichter tippte Vascal auf die Halle der Antimagie. Dort wähnten sich viele als legitime Sittenwächter, die den anderen Magiern zum Wohle der Allgemeinheit ihre Grenzen aufzeigten.
Die drei hielten respektvoll Abstand zu der Grube, die um das Standbild der Göttin herumführte. Darin krochen Schlangen. Bei den meisten Tieren waren die Schuppen weiß, wodurch eine kleine, aber intensiv grüne Viper besonders auffiel.
»Wissen verkümmert, wenn man es einsperrt«, sagte Acivio hinter Vascals Rücken. »Es vermehrt sich, wenn man es teilt.«
Das war im Grunde einer dieser Sprüche, mit denen die Scharlatane ihre bedeutungsschwangeren Reden gern einleiteten. Aber an diesem Morgen fiel er bei Vascal auf fruchtbaren Boden. Er hatte ein halbes Dutzend Logen gegründet, Mitglied war er in dreimal so vielen. Inzwischen war er das Brimborium leid, das man aufzog, um die niederen Grade bei der Stange zu halten. Masken, Kerzen, nächtliche Treffen, Rituale mit Tierblut und kostspieligen Paraphernalien … Am schlimmsten war es, wenn auch die hohen Ränge diesem Mummenschanz verfielen. Wenn sie selbst an die Wirksamkeit von geraspeltem Minotaurenhorn oder ausgerissenen Feenflügeln glaubten. Dann wurde es nahezu unmöglich, an echtes Wissen zu gelangen, selbst wenn es sich irgendwo in den Tiefen der Aufzeichnungen einer Loge verbarg. Aber die meisten Menschen hatten eine Sehnsucht nach dem Geheimnisvollen und damit auch der Geheimnistuerei, die dem Teilen des Wissens entgegenstand. Dadurch wurde vieles mühsam – und langwierig. Vascal war nun vierunddreißig, und er ahnte bereits, dass es ihm nicht gelingen würde, innerhalb der verbliebenen Lebensspanne alles zu lernen, was es zu lernen gab. Zumal er gezwungen war, einen erheblichen Teil seiner Zeit auf Intrigen zu verwenden, die ihm dabei halfen, die erreichten Positionen in den Logen zu halten oder weiter aufzusteigen.
Ein Klicken erklang hinter Vascal.
Er drehte sich um.
Acivio betrachtete lächelnd den Kupferring, der auf der grünen Faust lag. »Mir war dieses Rätsel schon vertraut«, sagte er entschuldigend. »Seine Lösung erfordert nur ein paar Handgriffe. Wenn man sie kennt, ist es beschämend einfach.«
Neugierig trat Vascal näher. Der Aufbau des Rätselspiels schien unverändert, auch wenn das Seil bewegt worden war – Acivio musste daran gezupft und gezogen haben wie Vascal zuvor. Allerdings hatte er erheblich besseren Erfolg damit gehabt.
»Mit einem Mal finde ich die Vorzüge geteilten Wissens sehr überzeugend«, gestand Vascal.
»Wenn man jemandem eine Angelrute gibt, kann er auf Wanderschaft gehen und findet in vielen Teichen und den meisten Flüssen etwas zu essen«, sagte Acivio. »Legt man ihm dagegen Fische vor die Tür, hat er zwar weniger Mühe, aber er wird träge und muss hungern, wenn er den Ort verlässt, wo man ihn versorgt. Und das, obwohl er dieselben Gewässer besuchen mag wie sein Bruder, der die Angelrute dabeihat.«
»Ihr stellt mir ein Rätsel, Signor?« Erst jetzt entdeckte Vascal, dass die Silberbrosche, die die Fasanenfeder am Barett hielt, als Einhornkopf ausgeformt war. »Spreche ich mit einem Geweihten des Nandus?«
Acivio verbeugte sich.
»Verzeiht, dass ich Euren Stand nicht sogleich erkannt habe, Grazioso«, bat Vascal. Die Hesindegeweihten im Tempel trugen ein grünes Wickelgewand und ein Schlangenhalsband aus Leder oder Metall, je nach ihrem Rang.
Acivio zuckte mit den Achseln und mischte seine Karten.
»Die Angel und die Fische …«, überlegte Vascal. »Damit meint Ihr, dass es schädlich ist, wenn man Wissen unverdient weitergibt.«
»Der Weg zur Erkenntnis ist oft wertvoller als die Erkenntnis selbst«, sagte Acivio. »Diesem Rätsel würde eine einfache Erklärung den Zauber nehmen. Löst Ihr es aber mit eigener Geistesschärfe, wird berechtigter Stolz an die Stelle der Neugier treten.«
»Ist hier Magie im Spiel?«, fragte Vascal skeptisch.
»Nur ein Minimum an Fingerfertigkeit. Das werdet Ihr auch mit Euren neun Fingern aufbringen. Wie habt Ihr eigentlich den zehnten verloren?«
Vascal winkte ab. »Das ist keine Geschichte über Klugheit, sondern über eine Eselei. Sie wird Euch unbefriedigt zurücklassen.«
»Ein Überfall in einer dunklen Gasse kann es nicht gewesen sein«, überlegte Acivio. »Sonst wäret Ihr so rasch wie möglich zu einem Magier geeilt, der sich auf Heilzauber versteht. Er hätte das verlorene Glied nachwachsen lassen, bevor sich die Matrix der Verstümmelung angepasst hat.«
»Wenn Ihr es sagt«, wich Vascal aus.
»Möglicherweise wurdet Ihr gefangen gehalten? Man hört davon, dass Gewissenlose ihren Opfern Körperteile abschneiden, um die Angehörigen zu rascher Zahlung zu bewegen. In Eurem Fall müsste diese aber so spät gekommen sein, dass der Heilzauber nichts mehr ausrichten konnte. Ich sehe den Stumpf gut versorgt, aber er wurde genäht, nicht magisch geheilt. Die sich kreuzenden Narben verraten es.«
»Das stimmt«, bestätigte Vascal. »Dass ich einen Medicus aufgesucht habe, meine ich.«
»Und die Entführung nicht?«
»Es war eine Eselei, die mich heute peinlich berührt.«
Problemlos hätte Vascal nach jener Nacht den Finger magisch heilen lassen können. Das hatte er nicht getan, weil er sich selbst stets daran erinnern wollte, dass auch größte Klugheit bei der Verfolgung eines Wegs nicht garantierte, dass der Weg zum angestrebten Ziel führte. Ein dummer Spruch und sein Spiegelbild! Wenn er die Lektion nicht behielte, wäre das das Einzige gewesen, was er in jener Nacht erhalten hätte. Die gebratenen Tauben oder die Umarmung der Schönen wären mehr wert gewesen. Zumal er schon ein paar Wochen später im Streit von den Herolden der Morgendämmerung geschieden war.
Vascal nahm den Ring mit den Fingerspitzen und hob ihn an. Auch jetzt sah er keine Möglichkeit, ihn am Seil entlang am Reif vorbeizuführen. »Es scheint, wir hüten beide unsere Geheimnisse.«
»Und bei uns beiden liegt die Lösung wohl vor unseren Augen, ohne dass wir sie erkennen.« Acivio betrachtete den Stumpf an Vascals Hand.
Die Männer grinsten sich an.
Vascal ließ den Ring los.
»Seid Ihr die Intrigen nicht leid?«, fragte Acivio. »Diese Kinderspiele um Titel und Pfründe, aus Langeweile begonnen, aus Gewohnheit fortgeführt? Überlasst die Logen den Unreifen und kommt zu uns, wenn es Euch wirklich um Wissen und Erkenntnis geht.«
»Vor Nandus das Knie beugen?« Vascal lachte abwehrend. »Für diese Generation hat meine Familie ihren Tribut an die Götter bereits entrichtet. Mein kleiner Bruder ist vor drei Jahren in die Gefolgschaft der Schönen Göttin eingetreten.«
»Da war Ladovico sechzehn, nicht wahr?«
»Ihr habt sorgfältig Erkundigungen eingezogen.«
»Von ›Erkundigungen einziehen‹ kann keine Rede sein. Solche Dinge sind nicht geheim.«
»Aber auch nicht jedem bekannt. Der Aventurische Bote berichtet nicht über die Familie della Rescati.«
»Die Interna Eurer Familie erfährt man nicht aus diesem respektablen Druckwerk … Einer Zofe, die sich über ein hübsches Kleid und ein erlesenes Mahl freut, perlt ihr Wissen dagegen von den Lippen.«
Vascal hätte besorgt oder verärgert sein sollen, weil der andere mehr über ihn wusste, als es umgekehrt der Fall war. Aber er mochte Acivios schelmische Art.
»So ist es Tradition in unserem Hause«, erklärte Vascal. »Das jüngste Kind für eine Kirche, um den Göttern auszugleichen, was wir ihren Geboten schuldig bleiben. Deswegen hat es Ladovico getroffen, nicht Stella oder mich. Aber es gefällt ihm, er empfindet den Dienst an der Schönen Göttin nicht als Bürde.«
»Ich rede nicht von einer Last, die Ihr für das Wohl Eurer Familie schultern sollt. Ich rede von Euch.«
»Das lässt sich kaum trennen. Zwar erfreut sich meine Mutter noch guter Gesundheit, aber eines Tages werde ich Titel und Würden von ihr erben.«
»Cavalliere Vascal della Rescati … so wollt Ihr genannt werden?«
»Wie sonst?«
»Grazioso. Und mein Schüler.«
»Welch selbstloses Angebot.«
»Nein, nicht selbstlos. Auch meine Zeit ist begrenzt, ich kann mich nicht um alles kümmern. Ihr fallt als guter Wissenssammler auf. Als einer, der sich nicht mit zu wenig zufriedengibt.«
»Und so jemand ist in der Kirche des Herrn Nandus richtig?«
»Das kommt darauf an, welche Sehnsucht wirklich in seinem Herzen wohnt.« Acivio steckte das Kartenspiel zurück in seine Westentasche. »Ich denke, Ihr seid jemand, der sich nicht mit Macht und Silber abspeisen lässt. Stattdessen sucht Ihr das Wissen um seiner selbst willen. Jedenfalls hoffe ich das.«
Sie sahen sich in die Augen.
»Es geht nicht darum, möglichst viel auswendig zu lernen. Papier und Pergament haben ein besseres und dauerhafteres Gedächtnis als jeder von uns.« Vielsagend sah sich Acivio um. Sein Blick strich über die Regalreihen. »Das hier«, er tippte an seine Schläfe, »ist einzigartig. Jeder Kopf, jeder Verstand. Er muss mit Wissen gefüllt werden, ja. Aber das ist nur wie der Hafer, den ein Pferd frisst. Kein Ross wird dafür bewundert, dass es gut fressen kann. Es soll galoppieren, am besten über einen rasanten Waldweg, auf dem es auch einmal über einen umgestürzten Baum springt. Das bestehende Wissen nutzen, um neues zu entdecken, Vascal.« Beschwörend sah Acivio ihn an. »Spürt das Rätsel auf, das Euch allein zu lösen bestimmt ist. Wenn Ihr diese eine Frage findet und beantwortet, die unser Herr Nandus allein für Euch zwischen all den Nichtigkeiten und Ablenkungen dieser Welt versteckt hat, war Euer Leben gut gelebt.«
Angel und Fisch … Acivios Worte waren die Angel, und Vascal war der Fisch. Und er hatte angebissen. Man sah seiner selbstsicheren Miene an, dass Acivio das wusste.
Der Geweihte ging zur Treppe. Auf der dritten Stufe drehte er sich zu Vascal um. »Kommt Ihr?«
Thegûn,
achtzehnter Tag im Schlachtmond, vor elf Jahren
Der Gang im Obergeschoss, der zum Zimmer von Vascal della Rescatis Schwester führte, duftete nach Reichtum. Er merkte, dass er tiefer einatmete als üblich, weil er den Odor besten Bienenwachses genoss. Alle zwei Schritt brannten Kerzen auf muschelförmigen Tellern, die eine Handspanne weit aus den Wänden kamen. Sie rußten kaum, der Putz und die helle Farbe an der Decke wiesen nur leichte Grauspuren auf. Vermutlich hatte man sie vor nicht einmal einem halben Jahr frisch gestrichen.
Die beiläufige Zurschaustellung des Reichtums beeindruckte Vascal. Dass man schon jetzt, am Nachmittag, Lichter aufstellte, war angesichts des Gewitters, das den Himmel verdunkelte, sehr aufmerksam, würde aber eine zusätzliche Garnitur Kerzen verbrauchen. Und derzeit hielt sich nur eine einzige Adlige im Obergeschoss der Festung auf, nämlich Vascals Schwester, die zudem angekündigt hatte, ihr Zimmer bis zum Abendmahl nicht mehr zu verlassen.
Vascal klopfte.
Von unten drangen die Geräusche der Gesellschaft gedämpft herauf, man vergnügte sich beim Kartenspiel. Das mochte eine etwas derbe Unterhaltung für eine solche Runde sein, aber nachdem Maga Istrina Telessin, Trägerin des Pentagramms in Arkanium, die Schatulle mit ihrem persönlichen Kartensatz geöffnet hatte, war diese Gestaltung des Nachmittags natürlich für niemanden mehr anrüchig. Im Gegenteil, mit der verdienten Magierin zu spielen, war eine Auszeichnung.
Draußen heulte der Wind um die Erker der Festung. Er fand viele Ecken und Kanten, das Bauwerk war nur teilweise wiederhergestellt. Thegûn hatte seine alte Größe eingebüßt, auch wenn manche forderten, den Status der Landstadt von einer Kronvogtei zu einem Grafensitz anzuheben. Vor allem die romantisch Gesinnten schätzten jedoch die an einigen Stellen gebrochenen Mauern, das Fehlen von Zinnen und das Storchennest auf dem eingefallenen Turm.
Vascal klopfte nochmals und brachte das Ohr nah an die Tür. »Stella?« Aus dem Zimmer erhielt er keine Antwort.
Er drückte die Klinke hinunter. Die Tür war nicht verschlossen. Er zog sie auf.
Die Hausdiener hatten das Himmelbett mit einer Tagesdecke in Hellrot, der Farbe der della Rescatis, bezogen. Auf dem Tischchen daneben stand eine silberne Statuette in Form eines Schäfers, den ein Kreis von Lämmern umgab. Solche Figuren waren oft mit einem Schwungrad im Innern versehen; wenn man nicht einschlafen konnte, ließ man die Schäfchen um den Hirten tanzen. Der Regen prasselte gegen ein großes Bleiglasfenster, dessen bunte Scheiben bei anderem Wetter wohl ein farbenfrohes Bild bildeten, nun aber nur indifferente Grauschattierungen zeigten.
Stella della Rescati saß auf einem der sechs Stühle am Tisch in der Mitte des Raums. Auf einer weißen Decke, die mit der Darstellung eines Ritters bestickt war, der in der Nacht seiner Schwertleite vor einem Bildnis der Rondra kniete, stand ein voll bestückter fünfarmiger Leuchter. Sein Licht fiel auf das Buch, das vor Stella auf dem Tisch lag. Es war in einem der vorderen Kapitel aufgeschlagen. Stella hielt die Hände unter dem Tisch und saß vorgebeugt mit ausdruckslosem Gesicht. Sie schwitzte, obwohl sie die Brokatjacke über die Lehne eines leeren Stuhls gehängt hatte, ebenso wie ihren Zierdegen. Das Halstuch hatte sie jedoch nicht gelockert.
Vascal betrat das Zimmer. Er achtete darauf, die Tür sorgfältig zu schließen. Am liebsten hätte er abgeschlossen, aber der Schlüssel steckte nicht. Mit drei schnellen Schritten stellte er sich an den Tisch.
»Was tust du?« Er musste sich beherrschen, um sie nicht anzuschreien.
Noch immer reagierte Stella nicht. Ihre gesamte Aufmerksamkeit galt den fremdartigen Schriftzeichen, die sie unmöglich entziffern konnte. Dafür genügte es noch nicht einmal, mit den Glyphen der echsischen Achaz vertraut zu sein. Die Sprache, in der dieses Buch abgefasst war, wurde selbst im tiefsten Dschungel nicht mehr verwendet. Sie war weit vor dem Fall der Stadt Bosparan in nahezu vollständige Vergessenheit geraten. Dass sich der Verfasser ihrer bedient hatte, mochte auf ein Minimum an Verantwortungsgefühl hindeuten. Vascal vermutete allerdings, dass er die Macht, die in den Kontrakten des Amazeroth steckte, allein sich selbst und seinen engsten Günstlingen gegönnt hatte.
»Stella!« Energisch klappte Vascal das Buch zu.
Sie blinzelte und sah auf in sein Gesicht.
Er versuchte, in ihrer Miene zu erkennen, ob sie vielleicht doch etwas von den finsteren Gedanken verstanden hatte, die in diesem Buch über die Anrufung dämonischer Wesenheiten festgehalten waren. Eigentlich war das unmöglich, aber auch in der Nanduskirche war man sich unsicher, ob nicht doch unerklärliche Kräfte in dieser Schrift wirkten, die sich ihre Leser selbst erwählten.
Vascal hatte das Buch in seinem Herbergszimmer in Grangor gefunden. Oder besser gesagt die Truhe, die es enthalten hatte. Ein unförmiges Stück, geschmückt mit eingekerbten Bannzeichen, gefertigt aus Urwaldholz, an dem die meisten Stemmeisen zerbrochen wären, und gesichert mit Eisenbändern und drei dicken Schlössern. Die Dienerschaft der Herberge hatte unter Tränen geschworen, niemanden in sein Zimmer gelassen zu haben. Damit blieb nur die Möglichkeit, dass die Truhe durch das Fenster, das zum Kanal ging, hereingeschafft worden war.
Vascal bezweifelte, dass ihn jemand in Versuchung hatte führen wollen, sich dem Gefolge jenes Erzdämons anzuschließen, der für verbotenes Wissen, aber auch für Irrsinn und Wahn stand. Stattdessen glaubte er dem knappen Begleitschreiben, das die Truhe und ihren Inhalt als Erbstück beschrieb – zu gefährlich, um es zu behalten. Aber der neue Eigentümer wollte auch nicht den Zorn gehörnter Wesenheiten erregen, indem er das Buch vernichtete.
Das wusste man in der Kirche des Nandus zu schätzen. Gefährliches Wissen konnte auch rettendes Wissen werden, wenn seine Stunde kam. Obwohl im hinteren Teil einige Seiten fehlten, auf denen offenbar die wahren Namen von gestaltwandelnden Quitslinga verzeichnet waren, die Amazeroth Gefolgschaft schuldeten, ließ sich aus den Kontrakten bestimmt viel über den Widersacher der Göttin Hesinde lernen. Aber bis dafür Verwendung war, sollten sie an einem sicheren Ort verwahrt werden. Dem sichersten im Königreich.
So hatte Vascal gegenüber seinen Mitgeweihten argumentiert. Den anderen Mitgliedern der Gesandtschaft wollte er jedoch nicht offenbaren, was seine Schwester und er mit sich führten – schon allein, um keine unheilvollen Begehrlichkeiten zu wecken. Er hatte das Buch seiner schützenden, aber allzu auffälligen Truhe entnommen. Etwas, das er nun bereute. Die kantigen Schriftzeichen auf dem Ledereinband erschienen ihm wie Echsenaugen, die ihn höhnisch anstarrten.
Stella tupfte sich mit ihrem spitzenbesetzten Taschentuch den Schweiß vom Gesicht. Der weiße Stoff nahm etwas von der ockerfarbenen Schminke auf. »Ist Fürstin Kusmina eingetroffen?«
Vascal brauchte ein paar Herzschläge, um die Aufmerksamkeit von dem Buch zu lösen und die Frage zu erfassen. »Bei diesem Unwetter?« Er zeigte zum Fenster, hinter dem das Gewitter den Tag verdunkelte, wenn nicht gerade ein Blitz niederging. »Sie wird sich irgendwo einen Unterstand gesucht haben, und wenn es nur eine Scheune ist. Nein, ich bin hier, weil ich nach dir sehen wollte. Ich nehme an, du bist nicht wirklich unpässlich?«
»Doch, natürlich bin ich unpässlich.« Energisch rückte sie ihren Stuhl zurück und stand auf. »Unpässlich, was das Silber angeht. Unsere Familie leidet an Armut, auch wenn wir es leidlich kaschieren. Ich könnte meine Spielschulden nicht zahlen, wenn ich gegen die Maga, den Magister oder den Hohen Lehrmeister verlöre. Ich könnte mir allenfalls aussuchen, ob man den Namen della Rescati an der Magierakademie, an der Universität oder im Hesindetempel verspotten würde. Nicht dass das einen Unterschied machen würde. Die ehrenwerten Herrschaften dort unten«, sie zeigte auf den Fußboden, »genießen Ansehen in dermaßen vielen Logen und an so vielen Adelshöfen, dass ein solcher Vorfall uns innerhalb eines Monds im gesamten Königreich unmöglich machen würde – egal, wem von ihnen wir auch nur einen Silbertaler schuldig bleiben.«
»Ich weiß«, sagte Vascal.
»Weißt du auch, wie es sich anfühlt?« Sie schlug die Faust gegen ihre Brust. Ihre braunen Augen blitzten. »Ja, vielleicht tust du das. Deswegen hast du die Verantwortung für unser Haus auf meine Schultern gelegt.« Trotz ihrer Wut wirkte Stella, als sehnte sie sich danach, dass ihr zehn Jahre älterer Bruder sie in die Arme schloss und ihr sagte, dass alles gut werden würde.
Er hätte ihr die Verletzlichkeit wohl abgenommen, wenn er sie nicht seit ihrer Geburt gekannt hätte. Sie weinte sogar eine stumme Träne, die sie nicht mit ihrem Tuch abtupfte. Es sah zugleich edel und Mitleid heischend aus, wie der Tropfen über ihre runde Wange lief. »Deine Zeit bei der Schauspiel-Compagnie hat sich gelohnt, aber du hättest nicht in diesem Buch lesen dürfen. Ich nehme es wieder an mich.«
»Ja, du machst es dir leicht!« Mit beinahe stampfenden Schritten umrundete sie den Tisch und rannte aus ihrem Zimmer.
Vascal durfte das Buch auf keinen Fall in einem ungesicherten Raum zurücklassen. Er nahm es auf und schob es unter seine Weste, wobei er bemerkte, dass es sich ungewöhnlich warm anfühlte. Dann eilte er Stella nach.
Sie bog gerade mit wehendem Kleid in einen Gang zur Linken ab.
Vielleicht war es besser, nicht weiter mit ihr über das Buch zu sprechen, überlegte Vascal. Das mochte nur dazu führen, dass die Sache noch mehr Gewicht erhielt und sich die Zeichen, die Stella gesehen hatte, umso fester in ihr Gedächtnis einbrannten.
An den Wänden des Gangs, in den Vascal seiner Schwester folgte, gab es zwar ebenfalls muschelartige Teller, die aber nicht mit Kerzen bestückt waren – ein Hinweis darauf, dass die Dienerschaft nicht damit gerechnet hatte, dass jemand diesen Teil der Feste betreten würde. Er nahm ein Licht aus dem Hauptgang mit. Die Flamme flackerte in einem kühlen Luftzug, der Vascal entgegenwehte. Gern hätte er sie mit der hohlen Hand geschützt, aber er hatte keine frei, weil er das unheilvolle Buch unter seiner Weste festhalten musste.
Vor der Helligkeit eines aufgleißenden Blitzes sah er Stellas Schattenriss. Zudem erkannte er, dass der Gang nicht etwa an einer Tür oder an einem Fenster endete, sondern an einer Maueröffnung mit gezacktem Rand. Besorgt beschleunigte er seinen Schritt.
Stella wartete vor einer Kordel, die auf Hüfthöhe einen lädierten Balkon absperrte. Im Licht des nächsten Blitzes erkannte Vascal, dass er kein Geländer mehr hatte, nur noch kümmerliche Reste steinerner Streben waren übrig. Sie boten den Ranken von Schlingpflanzen Halt, die herüber zur Hauswand und sogar hinauf zum nächsten Balkon griffen, sodass sich so etwas wie ein sehr grobmaschiges Netz ergab. Vascal gab sich jedoch nicht der Illusion hin, dass die dünnen Pflanzenstränge das Gewicht eines Menschen halten würden. Auch dann nicht, wenn es sich um eine so zierliche Person wie seine Schwester handelte.
Bevor er sie erreichte, duckte sie sich geschmeidig unter der Kordel hindurch und stellte sich auf den Balkon. Etwas war an dieser Bewegung, das ihn an ihre Kindheit erinnerte, die Jahre, in denen Stella ein abenteuerlustiges Mädchen gewesen war, das die Kunststücke der Akrobaten nachgespielt hatte.
»Was soll das?«, fragte Vascal.
Stella hob das Kinn und sah ihm entschlossen entgegen. Der Wind zerrte an ein paar Strähnen, die sich aus ihrer hochgesteckten Frisur gelöst hatten, an ihrem Halstuch und am Kleid. Hinter ihr, im Grau des Gewittertags, riss er das Herbstlaub von den Bäumen und wehte es auf den See hinaus, an dem die Feste stand. An einigen Stellen wirkte die Wasseroberfläche dadurch wie Waldboden.
Vascal wagte nicht, seiner Schwester zu folgen. Er konnte nicht erkennen, ob die dunklen Linien auf dem Boden des Balkons tiefe Risse oder nur Schatten waren. Er stellte sich so, dass die linke Wand Windschatten für die Kerze spendete. Die Flamme richtete sich auf und schwoll an.
»Komm zurück auf sicheren Grund«, bat er.
»Meinst du, das bisschen Wind bringt mich in Gefahr?« Der Regen durchnässte sie. Vor dem Abendmahl würde sie das Kleid wechseln müssen. »Und davor willst du mich beschützen? Oder vor einem Sturz in die Tiefe?« Sie stampfte auf. »Es gibt einen anderen Sturz, der mir droht. Nur noch mir! Ladovico und du, ihr habt euch in die sicheren Arme eurer Kirchen geflüchtet. Aber weißt du was: Das wird euch noch leidtun!« Ihre Schultern strafften sich. »Ich werde zu Größe, zu wahrer Grandezza, aufsteigen. Das ist mein Schicksal!«
Es beruhigte Vascal, dass er diese Impulsivität schon oft bei seiner Schwester erlebt hatte. Bei einem ruhigeren Gemüt hätte er eine Auswirkung der verbotenen Lektüre vermuten müssen.
Stella dagegen war eine von jenen Patrizierinnen, die darunter litten, sich in der mittleren Position zwischen Bürgerlichen und Hochadel zu befinden. Das schürte die Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg ebenso wie das Gefühl der Unzulänglichkeit gegenüber Grafen und Fürstinnen. Als trüge man persönliche Schuld an der Geburt in ein Haus, das nur beinahe echten Respekt genoss.
Vascal überlegte, ob er Stellas Stolz nutzen könnte, um sie zur Vernunft zu bringen. Für sie gab es kaum Wichtigeres als ihren Ruf. Dass Vascal ihren Ausbruch nicht erwähnen würde – sie kannte ihn gut genug, um sich dessen sicher zu sein. Aber wenn jemand anderes sie zeternd auf dem Balkon sähe … Schon eine Magd oder ein Knecht würden ausreichen. Stella würde das Getratsche darüber scheuen, dass sie sich merkwürdig verhielte, denn früher oder später würde es auch an bedeutende Ohren dringen.
Aber wie sollte es Vascal gelingen, Stella befürchten zu lassen, er könnte einen Zeugen herbeischaffen?
Er verwarf den Gedanken.
»Die Ehre wohnt im Herzen«, probierte er es stattdessen. »Sie klebt nicht am Silber.«
»O doch!«, fauchte Stella. »Das hier …« Sie hob das Kinn noch ein Stück, reckte den Hals und deutete auf die Kamee, die ihr inzwischen wegen der Nässe schlaffes Tuch vor der Kehle zusammenhielt. Dieses Schmuckstück war einer Brosche ähnlich, aber erhaben gearbeitet. Ein rote Koralle, in Form eines Schwerts geschnitten, saß auf einem Oval aus nur leicht gelbstichigem Mammuton und bildete so das Wappenzeichen des Ordens der Heiligen Ardare zu Arivor. »Es hat mich ein Vermögen gekostet, wenigstens als Laienschwester bei den Ardariten akzeptiert zu werden. Eine teure Ehre.«