Die Phileasson-Saga – König der Meere - Bernhard Hennen - E-Book

Die Phileasson-Saga – König der Meere E-Book

Bernhard Hennen

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Schon zu ihren Lebzeiten sind die Abenteuer Asleif Phileassons und Beorn des Blenders zur Legende geworden. Die Skalden besingen die Taten der Helden an Lagerfeuern, in den Hallen der Könige und in Tavernen. Treue Freunde haben die beiden Seebären während ihrer Wettfahrt gewonnen, sich aber auch erbitterte Feinde gemacht. Nun da sie Einblick in das tiefere Verständnis Welt erhalten haben, gilt es, dieses Wissen zu nutzen – zum Guten oder zum Bösen. Nach diesem Abenteuer wird Aventurien nie wieder sein wie zuvor, und bei aller Rivalität stimmen Beorn und Phileasson in einer Sache überein: Es kann nur einen König der Meere geben!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 969

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DASBUCH

Phileasson schob Edda zur Seite und trat an ihn heran, obwohl es ihm schwerfiel. »Einst waren wir Freunde. Vielleicht hätten wir es wieder werden können.«

Beorn steckte die Klinge in die Scheide. »Trotz allem?« Der Spott kehrte in seine Stimme zurück.

»Oder wegen allem.«

Es ist die letzte und entscheidende Aufgabe der legendären Wettfahrt: den zersplitterten Verstand des Elfenkönigs zu heilen. Nur die Lichtelfe Niamh vermag dies zu vollbringen. Um zu ihrem Zauberwald zu gelangen, durchqueren der Foggwulf und der Blender erneut den wilden Nordosten Aventuriens.

In den Steppen, bei den Goldsuchern am Oblomon, in Elfenwäldern und in der reichen Stadt Norburg treffen die weithin gerühmten Helden auf alte Freunde – aber auch auf entschlossene Feinde.

Intrigen, die seit Jahrtausenden in der Sphäre der Götter gesponnen werden, fordern einen hohen Preis von jenen Sterblichen, die die Aufmerksamkeit der Ewigen erregt haben. Als alle Masken fallen, wird diese Aufgabe zur härtesten der gesamten Wettfahrt. Werden die erbitterten Rivalen ihren Streit begraben und Seit an Seit fechten, obwohl nur einer von ihnen Sieger sein kann?

Mehr über die Phileasson-Saga erfahren Sie auf:

www.phileasson.de

DIEAUTOREN

Bernhard Hennen,1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Vorderasiatische Altertumskunde. Mit seiner Elfen-Saga stürmte er alle Bestsellerlisten.

www.bernhard-hennen.de

Robert Corvus, 1972 geboren, veröffentlichte mehrere erfolgreiche Fantasy- Romane. Als Gastdozent betreute er ein Fantasy-Schreibprojekt an der Uni Münster.

www.robertcorvus.net

BERNHARD HENNEN

ROBERT CORVUS

KÖNIG DER MEERE

DIE PHILEASSON-SAGA

ZWÖLFTERROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte des Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 09/2023

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2023 by Bernhard Hennen

Copyright © 2023 by Robert Corvus

Copyright © 2023 by Ulisses Medien & Spiel Distribution GmbH

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Das Werk wurde vermittelt durch

die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT GbR, München

Umschlagillustration: Kerem Beyit

Innnenillustrationen: Nadine Schäkel

Karten [>>]: Steffen Brand

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26701-8V001

www.heyne.de

PROLOG

DAS AUGE ZAKULLIS

Port Peleiston, zweiundzwanzigster Tag im Heimamond, vor achtzehn Jahren

»Lasst mich sterben. Haut ab!« Bera Frenjadottir wedelte mit der Hand, als wollte sie lästige Fliegen verscheuchen. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Sie war nicht mehr in der Lage, sich aufzurichten. Ein Pfeil hatte sie weit unten im Rücken getroffen. Jetzt lag sie mitten auf der Straße aus rötlichem, festgestampftem Lehm im Staub.

»Wir müssen sie holen«, drängte Beorn Asgrimmson. »Sie ist die Drachenführerin. Wir können sie doch nicht zurücklassen!«

Gilda Asgrimmdottir beschlich der Verdacht, dass es ihm auch um die Beutel mit den Perlen ging, die ihre Anführerin bei sich trug. Auch wenn er erst fünfzehn Winter zählte, wusste ihr kleiner Bruder um den Preis des Lebens. Nur deshalb waren sie hier: um Beute zu machen. Sein Freund Asleif war da etwas verträumter. Er erfreute sich daran, einfach in die Fremde zu ziehen und neue Küsten zu sehen. Die beiden waren die Jüngsten auf dieser Plünderfahrt: stark wie Ochsen, selbstbewusst wie alte Hetleute und völlig unerfahren.

Hinter ihnen ertönte das Getöse von Waffen, die auf Schilde schlugen. Die drei Ottajaskos kämpften sich den Weg zu ihren Drachenbooten frei, die im kleinen Hafen lagen. Dort warteten weitere zwanzig Thorwaler, die bei den Schiffen geblieben waren, um sie vor etwaigen Angriffen zu schützen.

Bis der Pfeil ihre Drachenführerin getroffen hatte, war alles nach Plan gelaufen. Im ersten Morgenlicht waren sie in den Hafen von Port Peleiston eingelaufen, quer durch die kleine Stadt zum Palast des Gubernators gestürmt, hatten die Wachen dort im Halbschlaf überrumpelt und die eingelagerten Perlen sowie eine Truhe voller Silbertaler geraubt. Dann hatte der Großteil der Mannschaft den Rückzug zu den Schiffen angetreten. Völlig zu Recht hatte Bera vermutet, dass sich die Bewohner der schmuddeligen, kleinen Hafenstadt zusammenrotten würden, um den Raub ihrer Schätze zu verhindern. Seeleute von den drei Koggen im Hafen, Jäger und Glücksritter, die von Port Peleiston in die dichten Dschungel Al’Toums aufbrachen, um nach versunkenen Städten zu suchen oder kostbare Schlangenhäute und seltene Kräuter zu finden. Auch einige Bergarbeiter, die unweit von Port Peleiston jenen grünen Stein abbauten, der in den letzten Jahren in den Palästen des Südens in Mode gekommen war, hatten sich den Verteidigern der Hafenstadt angeschlossen.

Deutlich sichtbar für alle führten die Recken und Schildmaiden die schwere, eisenbeschlagene Truhe des Gubernators mit sich, in die sie auch noch alles Tafelsilber gepackt hatten, das ihnen in die Hände gefallen war. Hinter den Schilden verschanzt, sich nach allen Seiten absichernd, zog die Streitmacht zum Hafen. Sie waren die Ablenkung.

Der wertvollere Teil des Schatzes hing unter dem Umhang verborgen hinten an Beras Gürtel. Sechs Beutel voller Perlen. Ein Vermögen, groß genug, um zwei Dörfer zu Hause in Thorwal durch den Winter zu bringen, ohne dass einer dort auch nur einen Tag Hunger leiden müsste – hoffte sie zumindest. Für eine Prüfung der Perlen war keine Zeit geblieben. Deshalb waren sie hier: um das zu erbeuten, was die Äcker ihrer kargen, steinigen Heimat nicht hergaben, was aber zum Überleben nötig war. Bera hatte sich mit kleiner Eskorte abseits des Tumults zu den Schiffen durchschlagen wollen. Und dann hatte dieser swafnirverfluchte Jäger dort oben auf den Dächern den schönen Plan mit einem einzigen Schuss zunichtegemacht.

»Wir lassen niemanden zurück«, insistierte jetzt auch Asleif Phileasson. Ihn verdächtigte Gilda nicht, dass es ihm um die Perlen ginge. Er hatte den Kopf voller Heldengeschichten von großen Entdeckern. Gestern noch hatte er Bera bedrängt, doch nicht den Hafen zu überfallen, sondern tief im Wald nach einer Stadt eines längst versunkenen Echsenreichs zu suchen, von dem er gehört hatte. Er schnappte ständig solchen Unsinn auf und lag dann allen damit in den Ohren, dass die wahren Herausforderungen Entdeckerfahrten seien. Er wollte die Löwen- und Katzenmenschen in den fernen Reichen, jenseits des Efferdswalls, sehen, herausfinden, ob sich das Feuermeer in einem Drachenboot aus Holz befahren ließ und hatte den Kopf in den Wolken.

Bera Frenjadottir hingegen stand mit beiden Füßen fest auf dem Deck der Wirklichkeit. Sie hatte Spitzel hier im Süden und kannte auch Hehler, die ihr Plündergut zu einem besseren Preis aufkauften, als sie in Thorwal je bekommen würden. Wegen dieser Spitzel waren sie jetzt hier. »Port Peleiston ist leichte Beute«, hatte es geheißen. Ein winziger Hafen ganz im Osten von Al’Toum, wo die Perlenfischer der Region ihre Beute an den Gubernator verkauften, der im Namen des winzigen Königreichs Brabak regierte. Keine große Sache, da waren sie sich alle sicher gewesen. Selbst als das Fieber auf den drei Drachen ausgebrochen war. »So ein paar fettleibige Kaufherren und hagere Fischer haut man doch weg«, waren Beras Worte gewesen. Doch ihre Plünderfahrt stand einfach unter keinem guten Stern. Es war Gildas erste große Fahrt, und alles, aber auch wirklich alles lief anders als in den Sagas der Skalden.

Gilda Asgrimmdottir klatschte sich in den Nacken und spürte, dass sie dieses Mal eine der widerlichen Stechmücken erwischt hatte.

»Ich gehe sie jetzt holen.« Beorn hob seinen Schild, machte sich bereit, aus der Deckung der niedrigen Mauer zu springen, hinter die sie sich geflüchtet hatten.

Gilda legte ihm eine Hand auf die Schulter und hielt ihn zurück. »Du weißt, was für ein Spiel das ist, Bruderherz. Der Bogenschütze wartet auf dich … Er hat Bera am Leben gelassen, damit jemand kommt, um ihr zu helfen. Dich wird er töten. Und den nächsten und übernächsten.«

»Wir könnten zu dritt …«

Gilda schnaubte verächtlich. »Genau. Er wird uns kommen lassen, seelenruhig abwarten, bis wir bei Bera sind und sie aufheben. Wir stehen dann auf freier Straße zwischen den Häusern, und bevor wir es zurück in Deckung schaffen, wird er uns alle drei erwischen.« Sie klatschte sich erneut in den Nacken. Dieses Mal vergebens. Vermutlich … Die schwüle Hitze machte sie gereizt. Die aussichtslose Lage. Sie war sich darüber im Klaren, dass ihre Ehre für immer besudelt wäre, wenn sie Bera zurückließen.

»Es ist eine Bogenschützin, kein Schütze«, bemerkte Asleif Phileasson. »Ich hab sie kurz gesehen. Sie stand auf dem Dach eines der niedrigen Häuser, nahe der Residenz des Gubernators, wo die Straße in den Marktplatz mündet.«

»Also ist sie genau vor uns«, bemerkte Beorn gut gelaunt. »Verschränken wir unsere Schilde und stürmen vor. Dann haben wir genug Deckung.«

»Wenn sie eine gute Jägerin ist, wird sie jetzt nicht mehr dort sein, wo ihr Wild sie vermutet«, gab Asleif zu bedenken.

»Und da wir kluge Thorwaler sind, werden wir uns nicht mit wilden Schlachtrufen den Pfeilen entgegenwerfen und bei einem dummen Versuch sterben, Bera dennoch zu retten.« Gilda deutete auf einen mit Säcken beladenen Wagen in der Gasse auf der anderen Seite der Straße. »Den holen wir uns jetzt.«

»Wir werden immer noch durch ihr Schussfeld laufen«, murmelte Asleif.

»Das Risiko ist die Würze in der Fischsuppe.« Beorn grinste breit und hob seinen Rundschild, den eine graue Schlange auf schwarzem Grund schmückte. »Wir sollten alle gleichzeitig laufen.«

»Dann los!«, rief Asleif voller Enthusiasmus.

Sie stürmten über die lehmrote Straße, ohne dass ein Pfeil sie behelligt hätte.

Vielleicht hatte sich die Bogenschützin ja verzogen, dachte Gilda, als sie den großen Wagen erreichte.

Plötzlich schrie Beorn auf und versetzte ihr einen Stoß. Sie strauchelte, drehte sich halb im Fallen und sah die Jägerin keine zehn Schritt entfernt auf einem Flachdach stehen.

Es krachte. Die Wucht des Treffers riss Beorn von den Beinen. Ein Pfeil zitterte in seinem Schild. Und schon hatte die Jägerin den nächsten Pfeil auf der Sehne.

»Unter den Wagen!«, rief Phileasson und versuchte, sie so gut es ging mit seinem Schild zu schützen.

Gilda ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie duckte sich, packte Beorn bei seinem Waffenrock und zog ihn unter den hochrädrigen Wagen, dafür gebaut, auch auf den schlammigen Wegen des Südens nicht so leicht stecken zu bleiben. Die Ladefläche befand sich auf Gildas Brusthöhe. Ihr Bruder war von der Wucht des Pfeiltreffers noch benommen. Die Schildkante war ihm gegen das Kinn geschlagen. Wie ein eiserner Zahn ragte die Spitze des Pfeils aus der Innenseite des Schilds.

»Die geh ich mir holen«, murmelte ihr Bruder zornig.

Gilda hielt ihn weiterhin bei seinem Waffenrock. »Erst holen wir Bera, dann sehen wir weiter.« Sie stemmte sich gegen den Boden des Wagens und versuchte, ihn vorwärts zu schieben, doch er bewegte sich um keine Fingerbreite. »Schieb!«, zischte Gilda ihren Bruder an. »Los jetzt!«

Phileasson gesellte sich zu ihnen unter den Wagen. Er hielt den Schild angewinkelt, um weiterhin Deckung zu geben.

Sie alle drei standen geduckt, den Rücken durchgebogen zwischen den hohen Speichenrädern. Der Wagen stand offensichtlich schon eine Weile. Seine Räder hatten sich in den weichen Lehmboden gedrückt.

»Stemmt den Wagen!«, befahl Gilda und drückte mit aller Kraft ihren Rücken gegen den Wagenboden. Ihr Bruder und Asleif taten es ihr gleich. Endlich bewegte sich etwas.

»Vorwärts!«

Die Speichenräder ruckten.

»Sie schleicht um den Wagen«, flüsterte Beorn. »Sie wird versuchen, uns in die Beine zu schießen.« Er ließ seinen Schild vom Arm gleiten.

»Was hast du vor?« Gilda kannte den Hang ihres Bruders, sich in tollkühnen Unsinn zu stürzen, nur zu gut. Er wollte sich unbedingt einen Namen machen! Wollte seine ersten Verse in den Liedern der Skalden bekommen.

Natürlich hörte er nicht auf sie, sondern schleuderte seinen Schild wie einen Diskus. Ein dumpfer Schlag war zu hören, ein Schmerzenslaut. Beorn rollte sich unter dem Wagen hervor und zog die Axt aus dem Eisenring an seinem Gürtel.

Gilda folgte ihm.

Die Bogenschützin hockte am Boden. Es sah aus, als habe der Schild ihr Knie getroffen. Statt sie anzugreifen, stand Beorn wie versteinert. Und dann erkannte Gilda den Grund dafür.

Tiefer in der Gasse, im Schatten eines verblichenen Sonnensegels, stand ein zweiter Bogenschütze. Ein glatzköpfiger Kerl mit wettergegerbtem Gesicht, der ein rotes Schweißband um die Stirn trug.

»Schieß, und deine Freundin hier stirbt!«, rief Beorn. »Du kannst nicht mich und meine Schwester mit nur einem Pfeil töten. Bevor du den zweiten auf den Weg bringst, hat deine Gefährtin hier eine Axt im Schädel stecken.«

Der Schütze spuckte aus. Ein gelblicher Speichelfaden blieb in seinem strähnigen, grauen Bart haften. »Wie kommst du darauf, dass sie meine Freundin ist?«, knurrte der Alte in holprigem Garethi. »Sie ist Jägerin wie ich, und draußen in den Wäldern ist sie wie ein Pfahl in meinem Arsch. Sie ist nicht besser als ich, sie hat einfach nur unverschämtes Glück.«

»Der Kerl hat dieselbe Nase wie die Jägerin«, flüsterte Beorn. »Ich glaube, er ist ihr Vater.«

Gilda trat neben ihn und schob ihren Schild halb vor Beorns Brust.

»Glaubst du, du hebst den Schild schneller, als ich dir in den Kopf schieße, Piratin?«

Ihr gefiel es, Piratin genannt zu werden. Eine Räuberin war sie ohne Zweifel. Jemand, der es liebte, sich aus der Enge der Welt zu stehlen. Andere wären vielleicht beleidigt gewesen. Für sie war es wie zur Hetfrau gewählt zu werden: Piratin. »Ich bin geneigt herauszufinden, wer von uns beiden schneller ist.«

Der Schütze zog die Sehne durch, während Beorn einen Fuß auf den Bogen stellte, der vor ihm auf der Straße lag. Die Jägerin drückte ihre Arme durch, hob den Körper an und entfernte sich Hand um Hand rückwärts krabbelnd von ihnen, ohne sie dabei aus dem Blick zu lassen.

»Wie machen wir weiter?«, rief Asleif hinter ihr.

Gildas Plan war gewesen, sich in der Deckung des Wagens langsam bis zu Bera vorzuarbeiten, die Drachenführerin aufzuheben und dann weiterhin geschützt vorsichtig bis zum Hafen vorzurücken. Das Risiko dabei war, dass es alles andere als schnell gehen würde. Wenn jemand den Mob holte, der jetzt noch dem Hauptteil der Mannschaft nachstellte, dann waren sie verloren. Ein neuer Plan musste her und das sofort!

Gilda betrachtete den Bogen, der im Lehm lag, und sie bemerkte, wie auch der Blick der Jägerin immer wieder zu der Waffe huschte. Und die Jägerin dachte nicht darüber nach, wie sie ihn an sich bringen könnte. Stattdessen lag Sorge in ihrem Blick.

Es war eine schöne Waffe, geschmückt mit Lederbändern und Amuletten, die aus den Platten von Schildkrötenpanzern gefertigt waren. Von der oberen Nocke hing ein Seidenfaden, der einen kaum daumendicken Ball aus hauchzarten Federn hielt. Wahrscheinlich zeigte er der Schützin Richtung und Stärke des Winds an, wenn sie die Waffe hielt. So konnte sie die Drift des Pfeils im Flug besser abschätzen.

Gilda bückte sich nach dem Bogen und zog ihre kurze Axt aus dem Gürtel.

»Nicht!«, rief die Jägerin und bedeutete dem graubärtigen Schützen, die Waffe zu senken.

»Warum stellt ihr uns nach?«, fragte Asleif plötzlich. Für einen Thorwaler in seinem Alter sprach er diese fremde Zunge, das Garethi, beeindruckend flüssig.

»Wegen des Kopfgelds, das der Gubernator für jeden erschlagenen Räuber zahlen wird«, bekannte die Jägerin ohne Zögern.

»Du liebst diese Waffe?« Gilda hob den Bogen. »Sie sieht aus, als würde sie dich schon lange begleiten.«

Die Jägerin nickte.

»Den Bogen und eine Handvoll Perlen, wenn ihr uns auf Schleichwegen bis zum Hafen bringt«, bot Beorn an.

»Warum sollte ich euch nicht alle drei erlegen und mir dann den ganzen Perlenschatz nehmen?«, mischte sich der Graubart ein. Ohne den Bogen zu senken, kam er ein paar Schritte näher.

Jetzt kam auch Asleif unter dem Wagen hervor. »Du siehst aus wie ein Mann, der in die Abgründe des Lebens geblickt hat. Ganz sicher weißt du um die zwei Arten des Reichtums.«

Der Jäger legte den Kopf schief, sagte aber nichts.

»Es gibt einen Reichtum, der das Leben verbessert«, fuhr Asleif fort, ließ den Schild von seinem Arm gleiten und lehnte ihn an eines der Wagenräder. »Und einen Reichtum, der das Leben zerstört. Für eine Handvoll Perlen könnt ihr eine Geschichte erfinden. Vielleicht habt ihr sie mit den Waldmenschen gegen Fleisch, Felle und ein gutes Messer getauscht. Besitzt ihr zu viele Perlen, dann wird man wissen, dass ihr den Schatz des Gubernators an euch gebracht habt. Man wird euch jagen, einkerkern, foltern und hinrichten. Im besten Fall erwartet euch eine endlose Flucht. Eine Handvoll Perlen schenkt euch ein oder vielleicht sogar zwei leichte Jahre. Was wählt ihr?«

»Sehe ich aus, als sei ich so dumm, den Versprechen von ein paar Piraten zu vertrauen?«

Gilda lachte ihn an. »Du bist alt und hager, du siehst aus, als würdest du den Hunger oft zu Gast an deiner Tafel haben. Du bist ein Mann, der nicht den leichten Weg gegangen ist, sondern den, den er gehen wollte. Deshalb bin ich sehr zuversichtlich, dass du die Perlen nimmst.« Sie wandte sich um. »Asleif, Beorn, holt jetzt Bera. Wir sollten uns beeilen.« Ganz so leicht, wie sie tat, fühlte sie sich nicht. Als sie den Kopf zu ihren Gefährten wandte, spürte sie ein Kribbeln zwischen den Schultern. Jetzt wäre der Augenblick zu schießen, wenn der Jäger es auf einen Kampf anlegen wollte.

Ihr Bruder behielt den Bogenschützen im Blick. Beorn schnitt eine Grimasse. Er mochte ihre Entscheidung nicht, aber er fügte sich. Wenn sie an Bord wären, würde sie sich vermutlich anhören müssen, was er von ihren Alleingängen hielt.

»Los, Jungs!« Sie wedelte mit der Hand, und die beiden liefen die Straße hinauf.

Der Kampflärm in der Ferne veränderte sich. Er wurde leiser, das helle Klirren von Metall und das dumpfe Krachen von Hieben, die auf Schilde trafen, nahmen ab. Vermutlich hatten die Mannschaften begonnen, in die Langboote zu springen, und nur ein letzter Schildwall hielt auf dem engen Bootssteg, der weit hinaus in die Bucht reichte, die Verfolger zurück.

Gilda wandte sich wieder dem Jäger zu. Seine Gefährtin war inzwischen aufgestanden. Sie stützte sich an einer lehmverputzten Hauswand ab. Beorn hatte sie wohl mit seinem Schildwurf übel am Knie erwischt.

Der Jäger hatte die Sehne noch immer durchgezogen. Sein Arm zitterte nicht, obwohl es erhebliche Kraft erforderte, die Sehne so lange bis zur Wange gezogen zu halten.

»Wenn du schießen wolltest, hättest du es längst getan.« Gilda legte alles Selbstbewusstsein ihrer neunzehn Winter in ihre Stimme. Dies war ihre erste Plünderfahrt, und sie würde Ruhm ernten. Das war ihr wichtiger als die Perlen. Ruhm war es, was die Lebensspanne eines Menschen überdauerte, wenn er groß genug wurde. Die schwüle Hitze in dieser stinkenden, kleinen Hafenstadt, die Entbehrungen der langen Fahrten über das Meer, der Hunger, der Gestank eiternder Wunden, all der Dreck, der ein Leben füllte, wurde von den Skalden herausgewaschen, wenn sie ihre Verse webten und schließlich von den Helden sangen. Was blieb, war die Essenz eines Lebens. Die wenigen strahlenden Augenblicke. Dies hier konnte einer davon sein, wusste Gilda in aller Klarheit. Sie musste es nur richtig machen.

Gilda senkte den Schild und gab den letzten Schutz auf. Langsam ging sie dem alten Jäger entgegen. Ein Huhn schaute hinter ihm vorwitzig um die Häuserecke und wagte sich dann nervös pickend in die Gasse. Ein zweites folgte und sah sie auf jene dümmliche Art skeptisch an, wie es nur Hühner vermochten. Wenn der Jäger sich entscheiden sollte, den Pfeil losschnellen zu lassen, dann war es nun unmöglich, sie zu verfehlen, dachte Gilda mit einem Frösteln. Nur sieben Schritt trennten sie noch.

Deutlich sah Gilda die Schweißperlen auf der Stirn des Alten. Er hatte sich immer noch nicht entschieden, das spürte sie, und seine Gefährtin achtete sorgsam darauf, ihm nicht in die Schussbahn zu treten.

»Was für Wünsche hast du?« Sie musste ihn dazu bringen, an etwas anderes zu denken.

»Ich wünsche mir, dass du stehen bleibst«, knurrte er. Er sprach das Mittelreichische mit einem schweren, südlichen Akzent.

Gilda verharrte für einen Augenblick.

Die jüngere Jägerin sagte etwas in einer Sprache, die Gilda nicht verstand. Es klang drängend und ganz anders als die Worte zuvor, mehr wie die Sprache der Waldmenschen. Offensichtlich wollte die Jägerin, dass sie nicht verstanden, was die beiden beredeten.

Der Alte blinzelte. Er wirkte nervös. Er war ein drahtiger Kerl. Wie viel Kraft steckte in diesen Armen? Deutlich zeichneten sich die zähen Muskeln ab. Wann wäre es leichter zu schießen, als den Bogen länger gespannt zu halten? Sie musste ihn nun schnell herumkriegen!

»Ich werde im nächsten Hafen in ein Badehaus gehen.« Gilda seufzte sehnsüchtig. »Weißt du, dort, wo ich herkomme, wird bald der erste Schnee fallen. Ich vermisse die Kälte, das Gefühl, wie die zarten Schneeflocken an einem windstillen Tag meine Wangen streicheln. In den guten Badehäusern gibt es Becken mit kaltem Wasser.« Ein wohliges Schaudern überlief sie bei dem Gedanken an kühles, kristallklares Nass.

Sie wagte es, einen weiteren Schritt auf den Jäger zuzugehen. »Nach dem Bad werde ich mich massieren lassen.« Noch ein Schritt. »Von einem drahtigen jungen Kerl. So einem, der vor Selbstbewusstsein nur so platzt. Einem mit einem spöttischen, leicht selbstverliebten Lächeln auf den Lippen, der denkt, alle Frauen dieser Welt würden ihm verfallen.« Ein weiterer Schritt. »Den werde ich nach allen Regeln der Kunst vernaschen. Und dann werde ich aus dem Badehaus stolzieren und ihn vergessen, denn Kerle wie ihn gibt es in jedem Hafen, aber eine so hinreißende Blondine wie mich wird er nur ein einziges Mal in seinem Leben treffen. Und er wird sich für immer daran erinnern, wie ich gegangen bin, ohne mich auch nur umzusehen.«

Der Jäger maß sie mit Blicken, und genau das hatte sie erreichen wollen. Sie machte noch zwei Schritte nach vorne. Jetzt war sie fast so nahe, dass sie nach dem Bogen hätte greifen können. Gilda roch den säuerlichen Schweiß des Alten und hörte das leise Rasseln in dessen Lunge, wenn er ausatmete.

»Asleif ist der Schlaue von uns«, sagte sie ganz ruhig und zuckte resignierend mit den Achseln. »Was er von sich gibt, hat meistens Hand und Fuß. Was für eine Art Reichtum brauchst du?«

»Ihr habt alle hier bestohlen …« Er sagte das nur, um zu widersprechen. Es klang nicht sonderlich überzeugt.

»Ist das so?« Gilda trat noch einen Schritt näher. »Sind Perlen, die dir gehören, in den Beuteln aus dem Palast des Gubernators? Wer in dieser großartigen Stadt wird dir helfen, wenn dir ein Keiler die Beine zerschmettert und du von morgen an ein Krüppel bist?«

»Ich!«, erklang eine klare Stimme hinter ihr. Die Jägerin!

War es ein Fehler gewesen, sie aus den Augen zu lassen? Gilda widerstand der Versuchung, sich umzudrehen. »Ab wann wirst du dich wie ein unnützer Esser fühlen, wenn deine Tochter dich allein durchbringen muss?« Sie hoffte zutiefst, dass sie richtig geraten hatte.

Etwas im Blick des Alten brach.

Gilda triumphierte innerlich. Sie sah auf die schimmernde Pfeilspitze, die genau auf ihr Herz zeigte und nicht einmal einen Schritt entfernt war. Beide Arme des Jägers zitterten inzwischen von der Kraftanstrengung, den Bogen gespannt zu halten.

Behutsam, ohne den Blickkontakt abreißen zu lassen, drückte Gilda die Waffe zur Seite.

Der Alte seufzte. Alle Spannung wich aus ihm. Er löste den Pfeil von der Sehne.

Jetzt erst wagte Gilda den Blick über die Schulter. Die Jägerin stand auf Armeslänge hinter ihr und hielt ein gekrümmtes Messer in der Rechten, während sie sich mit der Linken immer noch an der Hauswand abstütze. Beorn und Asleif standen vor dem Wagen. Sie hielten Bera, deren Beine schlaff herabhingen. Die Drachenführerin hatte jedem der beiden einen Arm auf die Schultern gelegt und rang sich ein verbissenes Lächeln ab. »Zu den Schiffen«, forderte sie mit fester Stimme.

Port Peleiston, zweiundzwanzigster Tag im Heimamond, vor achtzehn Jahren

Der Jäger führte sie durch ein Labyrinth aus schäbigen Hütten, die aus Treibholz, Palmwedeln und windschiefen Lehmwänden bestanden. Hier und dort spähten Augenpaare aus dem Halbdunkel der Fensternischen, doch niemand stellte sich ihnen in den Weg.

Mit jedem Schritt in Richtung Hafen glaubte Beorn Asgrimmson wieder fester an einen guten Ausgang der Sache. Dieser Überfall war ein Desaster gewesen. Ein paar Ledersäckchen mit Perlen waren eine erbärmliche Beute für drei Langboote. Sie würden unter mehr als einhundert Recken und Schildmaiden teilen müssen. Wie viel konnte da für jeden übrig bleiben? Eine Handvoll Silbertaler? Und es war schon bedenklich spät im Jahr. Würden sie es noch bis Thorwal schaffen, bevor die Winterstürme jede Seereise zu einem unkalkulierbaren Risiko machten?

Ein streunender Hund beäugte sie misstrauisch von einem Müllhaufen neben der offenen Kloake, die mitten durch die Gasse lief. Unzählige Fliegen summten um sie herum, es stank nach Fäkalien und faulendem Fisch. Die schwüle Hitze war Beorn unerträglich. Das Leinenhemd unter seinem mit Schafwolle gepolsterten Waffenrock war ein nasser Lappen, seine Zunge geschwollen vor Durst. Kopfschmerzen peinigten ihn. Er wünschte sich hinaus auf See. Wenn dort eine Brise wehte, wurde die bedrückende Hitze ein wenig erträglicher.

Bera stöhnte leise. Mehrfach hatten Asleif und er versucht, sie auf ihre Beine zu stellen, doch sie sank sofort in sich zusammen. Sollte sich Halvar Oleson, der Bordmagus, um sie kümmern. Bera hatte ihn vor allem deshalb angeheuert, weil er den Ruf hatte, ein exzellenter Heiler zu sein. Er würde schon richten, was immer nicht mit ihr stimmte.

Der Jäger, der begleitet von seiner hinkenden Tochter voranging, hob plötzlich den Arm. Er deutete in eine Gasse, die nach rechts abzweigte und an deren Ende Bootsschuppen und der Strand zu erkennen waren. Deutlich war nun der Lärm von Waffen, die auf Schilde hämmerten, zu hören. Ein Kriegshorn wurde geblasen. Der Klang war Beorn fremd. Es mussten ihre Feinde sein.

Seine Schwester nahm Bera einen der Beutel ab, öffnete die Lederschnur, griff hinein und drückte dem alten Jäger eine Handvoll Perlen in die Hand. »Man hat euch beide mit uns gesehen. Ich rate euch dringend, in den Schutz des Walds zu flüchten.«

Die Drachenführerin zog eine Grimasse, als sie sah, wie Gilda so viele Perlen fortgab, doch sie sagte nichts dazu.

Der Jäger knurrte etwas und verstaute seinen Lohn im Köcher an seiner Hüfte. Gilda gab seiner Tochter den Bogen zurück.

»Wenn ihr etwas für die da tun wollt«, der alte Jäger zeigte auf Bera, »dann segelt nach Aram Balayan. Dort gibt es einen Heilkundigen, der weithin berühmt ist. Für sein Talent und seine Goldgier. Er ist der Einzige an diesen Küsten, der ihr helfen kann. Er ist ein guter Heiler und ein schlechter Mensch.«

»Dort gibt es doch eine Garnison von Al’Anfanern«, wandte Asleif ein.

Der Alte schüttelte den Kopf. »Lange nicht mehr. Ihr müsst wissen, was ihr tut.« Ohne ein weiteres Wort zogen die beiden von dannen.

Beorn folgte ihnen mit dem Blick. Er traute diesem Pack nicht. Was sollte sie davon abhalten, ihnen erneut ein paar Pfeile zu schicken? Es gab hier so eine seltsame Bruderschaft auf den Inseln. Die Bukanier. Wildbeuter, entlaufene Sklaven, Rebellen und Gestrandete. Sie waren ein verschrobener Schlag. Menschen, die Beorn nicht richtig einzuschätzen vermochte. Gehörten die beiden dazu?

»Los!«, drängte Gilda.

Sie würde eine gute Drachenführerin werden, dachte Beorn. Aber sobald sie weit draußen auf See wären, würde er ein ernstes Wort mit ihr reden müssen. Die Art, wie sie den alten Jäger angegangen war … das war zu leichtfertig gewesen. Beorn schätzte Mut, aber das war geradezu selbstmörderisch tollkühn gewesen. So eine Anführerin wollte niemand, denn die würde ihre Ottajasko in den Untergang führen.

Sie eilten die Gasse entlang, Richtung Strand. Gilda blieb hinter ihnen und sicherte sie mit erhobenem Schild. Doch von den Bogenschützen ließ sich niemand blicken. Auch keiner der Bewohner der ärmlichen Hütten stellte sich ihnen in den Weg. Irgendwo außer Sicht weinte ein Kleinkind. Beorn hörte eine leise, beschwichtigende Stimme, die das Weinen aber nicht zum Verstummen bringen konnte. Er dachte an die Hungerwinter, die er erlebt hatte. Sein Bruder war in einem solchen Winter gestorben. Nicht einmal ein halbes Jahr hatte der Kleine gelebt. Deshalb waren sie hier. Das Silber, das sie heim nach Thorwal brachten, kaufte sie frei vom Hunger. Deshalb fuhren die Drachenboote nach Süden, Jahr für Jahr, um dem Hunger etwas entgegenzustellen. Und in diesem Jahr waren sie zu spät dran. Sie mussten unverzüglich den Rückweg nach Norden antreten. Dann würden sie es vielleicht noch schaffen.

Sie erreichten das Ende der Gasse. Von dort ging es abwärts zum Meer. Ein Sandstreifen, kaum mehr als fünfzig Schritt breit. Die einzige Deckung waren Fischernetze, die auf Gerüsten zum Trocknen hingen. Einige Boote lagen am Strand. Etwa einhundert Schritt entfernt führte ein langer Holzsteg zu tieferem Fahrwasser. Dort lag noch ein letztes Drachenboot. Die Glückszwinger, Beras Schiff. Ein gutes Dutzend Schildmaiden und Recken stand im Schildwall auf dem Landungssteg und hielt den wütenden Mob auf, der immer noch versuchte, die Schatztruhe aus dem Palast des Gubernators zurückzuerobern. Beorn sah nur vereinzelt die gelben Waffenröcke der Krieger Brabaks. Die Mehrzahl der Streiter waren Seeleute und Fischer, die mit Äxten, Entermessern und mehr Wut als Geschick versuchten, den Schildwall zu brechen. Ihre Gefährten würden den Pöbel noch den ganzen Tag zurückhalten können. Der Schildwall stand stark wie die Festungsmauern von Grangor. Nichtsdestotrotz war ihnen der Rückweg zur Glückszwinger versperrt.

»Wir nehmen eines der Fischerboote«, entschied Asleif, der offensichtlich dieselben Gedanken gewälzt hatte.

Wieder erscholl das Kriegshorn. Und jetzt war klar, aus welcher Richtung der Ruf kam. Die Karracke, die am zweiten hölzernen Landungssteg lag, wurde gefechtsklar gemacht. Das Kriegsschiff erhob sich mit seiner turmartigen Vorder- und Achtertrutz zehn Schritt hoch über das Wasser. Es musste etliche Rotzen an Bord geben, Torsionsgeschütze, die riesigen Armbrüsten ähnelten und kopfgroße Steinkugeln verschossen. Eine einzige dieser Kugeln könnte den Schildwall zerschmettern. Neben der Karracke sahen ihre Drachenboote aus, als seien sie lediglich zu groß geratene Ruderboote. Das war ein Feind, den sie nicht bekämpfen konnten. Auszuweichen war die einzige Möglichkeit, die blieb.

Sie hasteten über den leeren Strand zu einem blau gestrichenen Boot mit seitlichem Ausleger. Der Mast war umgelegt. Niemand beachtete sie, noch waren alle Augen auf den Kampf beim Steg gerichtet.

Sie wuchteten Bera ins Boot. Ihre Drachenführerin zog sich aus eigener Kraft ins Heck. Immer noch waren ihre Beine schlaff. Doch ihre Stimme hatte nun wieder die Entschlossenheit einer Anführerin. »Ich übernehme das Ruder«, stellte sie in einem Ton klar, der keine Widerworte erlaubte.

Beorn, Asleif und Gilda warfen die Schilde ins Boot, als Alarmrufe erschollen.

Beorn stemmte die Füße in den nassen Sand. Mit aller Kraft drückte er. Der Rumpf löste sich nur widerwillig vom Ufer. Mit Schrecken sah Beorn, wie sich der Mob am Landungssteg aufzulösen begann.

Mit einem Ruck kam das Fischerboot frei. Sie schoben weiter, bis sie mehr als hüfthoch im Wasser standen, dann zogen sie sich über die niedrige Reling.

»Pullt!«, befahl Bera, so wie sie es Hunderte Male auf der langen Reise der Glückszwinger getan hatte. »Pullt!«

Im Boot lagen nur die kurzen Paddel, die von den Fischern des tiefen Südens häufig benutzt wurden. Beorn kniete sich vorne in den Rumpf und stach das Paddel mal links, mal rechts in die See. Aus dem Augenwinkel sah er die Ersten ihrer Verfolger ins Wasser laufen. Noch war das Boot kaum zehn Schritt vom Ufer entfernt.

»Pullt!«, befahl Bera erneut, als säßen sie an den langen Riemen einer Otta. »Glückszwinger auf See!«, schrie sie mit der unbändigen Kraft, die es mit Sturmwind und sprühender Gischt aufnahm.

Der Schildwall auf dem Steg löste sich auf. Die Thorwaler sprangen in das Langboot. Leinen wurden gekappt, die Riemen in die Dollen gelegt.

Aus Leibeskräften paddelnd sah Beorn, wie sich wassertriefend und fast mannshoch ein Anker der Karracke hob. Zwei große Boote erschienen vor dem Kriegsschiff. Den Ruderern wurden Leinen zugeworfen.

»Die holen uns niemals ein.« Bera lachte ausgelassen und lenkte ihr Fischerboot ins Kielwasser der Glückszwinger. »Bevor die alle Segel gesetzt haben, sind wir hinter dem Horizont verschwunden.«

Beorn befürchtete, dass es dem Kapitän der Karracke nicht darum ging, sie jetzt schon zu verfolgen. Wenn er kein Narr war, musste ihm klar sein, dass es unmöglich war, den schnellen, wendigen Drachenbooten mit seinem riesigen Schiff nachzustellen. Wenn er mit vollen Segeln vor dem Wind fuhr, war er vielleicht eine Bedrohung. Hier verfolgte der Brabaker Kapitän einen anderen Plan. Obwohl er bloß die Steuerbordseite einsehen konnte, war sich Beorn sicher, dass nur der eine Anker gehoben worden war, und er verdoppelte seine Anstrengungen mit dem Paddel.

Die Riemen der Glückszwinger hoben sich aus dem himmelblauen Wasser und verharrten seitlich ausgestreckt, als würde gleich einer der jungen Recken über die Rundhölzer balancieren wollen. Die Ottajasko wartete auf ihre Drachenführerin.

Indessen schwang die Karracke an der verbliebenen Ankertrosse langsam herum.

»Hranngarverfluchtes Dreckspack!«, keifte Bera, als offensichtlich wurde, was sie erwartete. Das große Kriegsschiff richtete seine Längsseite auf die Glückszwinger aus, um ihr eine Breitseite zu verpassen. Auch an Bord des Langboots hatte man nun verstanden. Die Riemen senkten sich wieder ins Wasser.

Sie waren nur noch sechs oder sieben Schritt vom Heck der Glückszwinger entfernt, als zwischen ihnen und dem Drachenboot eine Wassersäule aufstieg.

Erik Erikson, Beras Steuermann, winkte ihnen vom Heck aus zu. Kurz verschwand er hinter dem Schanzkleid der Glückszwinger. Als er wieder hochkam, hielt er ein Tau in den Händen.

Auch wenn die Riemen wieder im Wasser waren, begann die Mannschaft noch nicht zu pullen. Sie wartete auf die Drachenführerin.

Der erste Seilwurf verfehlte das Fischerboot um eine Armeslänge.

Beorn paddelte weiter. Der Abstand verkürzte sich.

Weitere Wassersäulen stiegen rings um sie empor.

»Swafnir lacht sie aus!«, rief Gilda ausgelassen. »Die Brabaker Geschützmeister schielen allesamt!«

Erik warf das Tau ein weiteres Mal, und jetzt gelang es Beorn, das Ende zu schnappen. Sofort begann der Steuermann, aus Leibeskräften zu ziehen.

Sie hatten die Glückszwinger fast erreicht, als der wie ein Drachenschweif gewundene Achtersteven in einer Wolke von Splittern zerbarst. Wie Hagel im Sturmwind stach Beorn das zerfetzte Holz ins Gesicht. Er hatte im Reflex die Augen geschlossen. Als er sie wieder öffnete, war Erik verschwunden. Vom stolzen Heckschmuck der Glückszwinger war nur ein ausgefranster Stumpf geblieben.

Beorn drehte sich um. Gilda hatte eine Schramme auf der Wange. Asleif und Bera hatten gar nichts abbekommen.

»Pullt!«, rief die Drachenführerin. »Bringt uns außer Reichweite der Geschütze!«

Die Riemen wühlten das Wasser auf. Zunächst schwerfällig setzte sich die Glückszwinger in Bewegung. Beorn hielt das Tau umklammert. Ihr Fischerboot wurde nun geschleppt.

Bald gewann das Gespann an Fahrt, und es dauerte keine hundert Herzschläge, bis die Gischtfontänen der Einschläge deutlich hinter ihnen lagen.

Auf der Karracke wurden nun die Segel gesetzt. Es war klar, dass der Kapitän dort drüben das Rennen noch nicht aufgegeben hatte, aber für den Augenblick hatte er verloren.

Die Wogentänzer und die Nachtwind erwarteten sie eine halbe Meile von der Küste entfernt.

Jetzt erst schloss das Fischerboot zur Glückszwinger auf. Armlänge um Armlänge zog sich Beorn an das Flaggschiff ihrer kleinen Flotte heran. Als sie Rumpf an Rumpf lagen, zog er das Tau durch einen Eisenring am Bug des Fischerboots.

Bera musste getragen werden. Nach wie vor versagten ihr die Beine den Dienst.

Es setzte Beorn zu mitzuhelfen, die sonst so tatkräftige Drachenführerin über die Reling an Bord ihres Schiffs zu heben. Beim Achtersteven, gegen das Schanzkleid gelehnt, saß Erik, ihr Steuermann. Sein Gesicht war übel zerschnitten. Ein großer Holzsplitter ragte aus seinem linken Auge.

»Wo ist Halvar?«, rief Asleif. »Die Wunde der Drachenführerin muss versorgt werden.«

Erik hob den linken Arm und deutete zum Mast. Dort lagen zwei Schildmaiden und drei Recken. »Hat Pech gehabt. Halvar ist als Erster gefallen. Pfeil ins Herz. Er war sofort tot.« Während er sprach, troff Erik Blut von den aufgeschlitzten Lippen.

»Mir geht es gut«, murmelte Bera unwirsch. »Setzt mich neben Erik, sodass ich mich ans Schanzkleid lehnen kann.«

Beorn brachte sie in sitzende Position. So sehr sie sich mühte, ihre Verletzung zu überspielen, sah er doch das Entsetzen in ihren grünen Augen.

Sie räusperte sich. »Alle herhören! Die Brabaker werden uns verfolgen. Mit ihrem lahmen Pott werden sie uns nicht erwischen, aber es wird bald auch andere Verfolger geben. Wir müssen unsere Feinde in die Irre führen. Wir segeln gen Osten, als wollten wir auf einer der Waldinseln Zuflucht suchen. Wenn wir an Nikkali vorüber sind, setzen wir Südkurs.«

Beorn las den Unmut in den Gesichtern der Ottajasko. Dieser Kurs bedeutete, dass es keine Hoffnung mehr gab, vor den Winterstürmen Thorwal zu erreichen. Die Entscheidung kostete sie mehr als nur gemütliche Monde in den Langhäusern ihrer Ottajaskos. Für manche daheim, die auf die Erlöse aus dem Plündergut angewiesen waren, um durch den Winter zu kommen, mochte es den Hungertod bedeuten.

Nur Asleif wirkte begeistert. Immer weiter ins Unbekannte vorzustoßen war seine Leidenschaft. Beorn sah das anders. Sie waren nicht aufgebrochen, um neue Küsten zu entdecken. Sie waren hier, um mit prall gefüllten Geldkatzen heimzukehren und den Daheimgebliebenen zu helfen.

»Nikkali Feuer Berg«, erklärte Can-Ka auf Garethi. Sie hatten den Haipu vor drei Wochen weit draußen auf dem Meer gefunden. Er war auf einem bunt bemalten Brett getrieben, von dem er behauptete, dass es sein Boot sei. Da er eine Zeit lang mit den Bukaniern herumgezogen war, sprach er ein paar Brocken Garethi und hatte sich als sehr hilfreich bei Tauschgeschäften mit den Waldmenschen in den Mangroven erwiesen. Can-Ka schien eine Reise nach Osten ebenfalls zu begeistern. Er hatte ihnen immer wieder mit Händen und Füßen erklärt, dass er noch viele Inseln sehen wollte. Gerüchteweise erstreckte sich die Inselkette östlich Al’Toums über Hunderte Meilen. Eine Karte dieser Gewässer besaßen sie nicht. Sie kannten nur die unzähligen Geschichten über die Schätze und die Gefahren. Über versunkene Echsenstädte mit Grabkammern voller Edelsteine, gestrandete Schiffe mit einem Frachtraum gefüllt mit Gold und Perlen, riesige Kraken oder Haie, so groß, dass sie mit einem Rammstoß ein Drachenboot versenken konnten. Gilda liebte diese Geschichten. Die ganze Reise über hatte sie von einem Schatz geträumt, doch langsam gewann auch bei ihr die Sehnsucht nach dem kühlen Norden die Oberhand.

Bera konnte in den Gesichtern ihrer Ottajasko lesen. »Wir segeln nach Süden, um kehrtzumachen. Wir werden Al’Toum an der Südküste passieren. Dort wird man nicht nach uns suchen. So werde ich uns alle sicher nach Hause bringen. Und jetzt an die Riemen! Wir haben einen langen Heimweg.«

Beorn laschte das Tau, an dem das Fischerboot im Schlepp hing, am zerfetzten Achtersteven fest. Die selbstbewusste Sicherheit Beras hatte ihn beeindruckt. Sie konnte nicht wissen, ob die See südlich von Al’Toum ungefährlich für sie war. Und es lag nicht in ihrer Hand, sie sicher nach Hause zu bringen. Aber so, wie sie es gesagt hatte, klang es wie unumstößliche Gewissheiten. Sie hatte der Ottajasko Mut gemacht. Jeder an Bord würde sein Letztes geben, weil er Bera vertraute. So war man ein Anführer. Beorn schwor sich, eines Tags genauso zu sein, sollte er je zu einem Drachenführer aufsteigen.

Nikkali, zweiundzwanzigster Tag im Heimamond, vor achtzehn Jahren

Sie hatten die drei Langboote an der Ostküste Nikkalis an Land gezogen. So waren sie so weit wie möglich vom Piratenschlupfloch Ingrimsport entfernt, das auf der anderen Seite der Insel lag.

Gilda Asgrimmdottir sah fasziniert zu den Wolken am Nachthimmel empor, deren Unterseite der Vulkan inmitten der Insel in glutrotes Licht tauchte. Ab und an stieg eine gelbe Feuersäule über dem Gipfel empor. Dann war ein fernes Grollen zu vernehmen, und einmal hatte der Boden unter ihren Füßen gebebt. Gilda liebte dieses Schauspiel und stellte sich vor, dass der Berg die Esse des Schmiedegotts Ingerimm sei.

Auch Asleif Phileasson sah fasziniert zu dem Berg hinauf. Seine unbändige Neugier, die fremden Welten jenseits des Horizonts zu ergründen, begeisterte sie. Und genau wie sie bekam er nie genug Geschichten zu hören. Er hatte sich auf die Ruderbank hinter Can-Ka umgesetzt, um mit dem Waldmenschen über Al’Toum und das Leben hier im tiefen Süden zu reden. Und darüber, wie man sich mit nichts als einem bemalten Brett hinaus auf See wagen konnte.

Alle drei Ottajaskos waren auf dem Strand versammelt. In einem weiten Kreis saßen sie um Bera Frenjadottir. Ein Pfahl war in den Sand gehauen worden, an dem sie lehnte. Neben ihr kauerte Erik Erikson. Das Gesicht des Steuermanns war übel von Schnitten entstellt. Ein blutiger Verband bedeckte sein linkes Auge.

Die Drachenführerin sprach von den Toten. Von ihrem Bordmagus Halvar Oleson und den vier anderen, die für den Überfall auf Port Peleiston den höchsten Preis gezahlt hatten. Nur in der Ottajasko der Glückszwinger hatte es Tote gegeben. Die Mannschaften der Nachtwind und der Wogentänzer waren mehr oder weniger glimpflich davongekommen.

Beras Worte kamen bei den Besatzungen gut an. Immer wieder wurde ihre Rede von Das-wohl!-Rufen unterbrochen. Sie hatte ihr letztes Fass Met anstechen lassen, das schwere Honigbier machte in Trinkhörnern die Runde.

Die Toten hatten ein Seebegräbnis bekommen. In ihre Decken eingenäht, beschwert mit ihren Waffen und Rüstungen, hatten sie die fünf im letzten Abendlicht in der Bucht vor ihrem Liegeplatz versenkt. Das Wasser war hier so klar, dass sie den aufrecht auf dem Meeresboden stehenden Leichensäcken, wenn sie morgen Früh wieder in See stächen, einen letzten Gruß entrichten könnten.

Als Bera endete, erzählten noch einige andere über ihre Reisen mit den Toten. Bald war das Fass geleert, die Zungen wurden schwerer, und die Drachenführerin ließ die große, eisenbeschlagene Truhe aus dem Palast des Gubernators bringen.

Der Met hatte eine seltsame Wirkung auf Can-Ka. Er begann, inmitten des weiten Kreises zu tanzen, legte seinen Lendenschurz ab, strich sich wohlig seufzend über die verschlungenen Hautbilder, die weite Flächen seines Körpers bedeckten. Völlig in sich versunken, nahm er jene, die über ihn spotteten und ihn mit unflätigen Zurufen traktierten, gar nicht wahr.

Gilda strich sich selbst über die nackten Schenkel und genoss den wohligen Schauder. Sie trug nichts als ein weites Hemd, denn obwohl es längst dunkel geworden war, herrschte immer noch eine drückende Hitze. Zumindest belästigten einen hier am Strand nur noch wenige Fliegen und Stechmücken.

Die Truhe wurde geöffnet. Einige schwere Silberleuchter waren darin, zwei silberne Teller und einige Beutel mit Münzen. Bera regelte die Verteilung. Den drei Drachenführern stand ein Drittel der Beute zu, um es untereinander aufzuteilen. Dafür waren sie verpflichtet, sich um Schiffe und Ausrüstung zu kümmern. Die übrigen zwei Drittel wurden so gerecht wie möglich unter den Mannschaften verteilt.

Am Ende hielt Gilda zwei Silbertaler Vinsalter Prägung und fünf Kupferstücke in der Hand. Eine erbärmliche Ausbeute für eine Plünderfahrt, die nun schon fast ein halbes Jahr dauerte.

Überall im weiten Rund der Recken und Schildmaiden wurden leise Flüche gezischt.

Bera saß an ihrem Pfahl, die Arme vor der Brust verschränkt. Eine Anführerin sollte sich stolz erheben, zwischen ihren Kriegern auf und ab gehen und ihnen mit forschen Reden neuen Mut einflößen. Wahrscheinlich würden sie Bera als Anführerin der Plünderfahrt abwählen, dachte Gilda traurig. Aber da waren noch die Perlenbeutel. Noch war nicht alles verteilt. Perlen waren kostbar, aber wie viel sie genau wert waren, davon hatte Gilda keine Ahnung. Sie blickte auf den jämmerlichen Beuteanteil in ihrer Hand. Hoffentlich war es mehr als das hier.

»Ich sehe eure Enttäuschung!«, rief Bera. »Es liegt nun an euch, wie reich wir heimkehren.« Sie griff hinter ihren Rücken und holte die Säckchen mit den Perlen hervor. »Dies hier ist der eigentliche Schatz, den wir erbeutet haben. Die Perlen der Taucher von Al’Toum. Der Gubernator hat sie aufgekauft, und deswegen war bei ihm nur noch wenig Silber zu holen. Es steckt hier drin.« Sie warf einen der Beutel hoch und fing ihn wieder auf, sodass die Perlen klackerten. »Das ist die Ausbeute eines halben Jahrs.« Bera öffnete die Säckchen und schüttete deren Inhalt vor sich in den Sand.

Gilda beugte sich unwillkürlich vor, obwohl sie dadurch nur unwesentlich besser sah. Neben der Drachenführerin brannte ein kleines Feuer. Das Licht der Flammen tanzte über die Kleinode und gab den Perlen einen rötlichen Schimmer. Etliche waren kleiner als Erbsen. Manche aber auch groß wie ein Daumennagel. Einige waren schwarz.

»Wenn wir diesen Schatz in Thorwal verkaufen, werden wir einen schlechten Preis dafür bekommen. Die Händler, die spät im Jahr noch in unserer Heimat weilen, wissen genau, dass sie den Verzweifelten, die unbedingt ihre Beute zu Silber machen müssen, fast jeden Preis bieten können. Uns nennen sie Plünderfahrer, die Herren Pfeffersäcke, aber die größten Räuber sind in Wahrheit sie. Handelshäuser wie die Cayserlich Adiventiurische Compagnye oder die Brabacische Vereinigte Occidental-Compagnie und die großen Kaufmannsfamilien, wie die Horrad oder die Gorbarans aus Havena, saugen unser Blut.« Bera sah in den weiten Kreis ihrer Recken und Schildmaiden.

Ihre Worte entfachten einen unbändigen Zorn in Gilda. Auch etliche andere fluchten und schimpften auf die Kauffahrer.

»Es ist nicht nur eine abgedroschene Phrase.« Bera wies auf Erik an ihrer Seite. Auf sein von tiefen Schnitten entstelltes Gesicht und den blutgetränkten Verband über seinem linken Auge. »Wir zahlen mit unserem Blut für die Beute, die wir einfahren. Welchen Preis zahlen die Kaufherren?« Wieder machte Bera eine kurze Pause und schüttete den Inhalt des letzten Perlenbeutels in den Sand. »Ich sag es euch: Die einzige Mühe, die sie auf sich nehmen, ist die, ihre fetten Ärsche nach Thorwal zu bewegen und uns kurz vor dem Winter Korn, Öl, Salz und Räucherfleisch zu völlig überzogenen Preisen zu verhökern.« Sie schnaubte. »Aber uns nennt man Plünderfahrer. Ich …« Sie stockte und sah mit weiten Augen auf den Perlenhaufen im Sand. Aus dem letzten Säckchen war neben Dutzenden kleinen Perlen eine gefallen, die fast so groß wie ein Hühnerei war und von tiefem Schwarz.

»Ein Schatz, für einen König geschaffen«, sagte Beorn mit belegter Stimme. »Diese eine Perle allein muss mehr wert sein als alle anderen zusammen.«

»Und ich kenne einen Kaufherrn in Mengbilla, der uns einen viel besseren Preis für unsere Perlen machen wird, als wir ihn irgendwo sonst bekämen.« Beras Augen funkelten im Licht des Feuers, und zum ersten Mal an diesem Abend lag in ihrer Stimme der Stolz einer Schildmaid, die einen großen Sieg errungen hatte.

»Nicht gut!«, rief Can-Ka mit schriller Stimme. »Viel nicht nix gut!« Der Waldmensch war aus seinem selbstverliebten Tanz aufgeschreckt. Vorsichtig, als wäre er auf der Pirsch, um ein gefährliches Wild zu erlegen, näherte er sich dem Perlenhaufen. Er zuckte zurück, wich seitlich aus, zuckte erneut zurück und trat wieder etwas zur Seite. »Auge von Zakulli hier!«

»Wer zum Henker ist Zakulli?«, herrschte ihn Bera an.

»Ist sich Achtarm. Lauert sich tief in See. Frisst nicht Fleisch, frisst nicht Seelen, frisst Leid«, erklärte Can-Ka mit Händen und Füßen. »Wenn nicht Leid genug, legt Auge in große Muschel.« Er deutete auf die große Perle. »Da wo ist sich Auge, ist sich Leid.«

»Was für ein Unsinn«, wiegelte Erik ab.

»Geh zu Wasser, das ruhig schläft. Sieh es an! Was du siehst? Was noch da von Gesicht, das Himmelsfeuer begrüßt heute früh?« Can-Ka wies auf Bera. »Schiffshäuptling kann nicht stehen. Fünf Krieger in Schatten nun. Häuptling von Brabak bestohlen. Sein Dorf voll mit Räubern.« Er wandte sich mit weit ausholenden Gesten an alle im Kreis. »Ihr nicht sehen könnt? Leid ist gekommen mit Auge von Zakulli. Viel Leid! Und kommt noch mehr.«

»Und was sollten wir jetzt tun?«, fragte Asleif ruhig.

»Nicht mehr an Auge von Zakulli rühren. Nicht mehr an Perlen rühren.« Er sah die Drachenführerin an und schüttelte traurig den Kopf. »Bist du verloren, Häuptling. Hast du Auge mit dir getragen. Du Zakulli gehören jetzt. Du groß Fressen für ihn. Du bleib hier. Warte auf Achtarm.« Er zeigte zum Strand auf die Glückszwinger. »Müsst ihr Feuer geben groß Kanu. Leid schon da. Ihr müsst laufen. Schneller laufen als Leid, das euch folgt.«

»Wir sollen den Schatz hier im Sand liegen lassen?« Bera lachte laut. »Wir sollen mein Langboot verbrennen? Das ist doch verrückt. Hier im Sand liegt ein Schatz, groß genug, alle, die in Thorwal auf euch warten, durch zwei Winter zu bringen. Ich sage euch, was großes Leid bringt: diesen Schatz hier liegen zu lassen und nur mit ein paar Münzen in der Hand heimzukehren. Das alles ist nur dummer Aberglaube! Heute haben wir kein Leid gefunden. Ganz im Gegenteil. Wir haben die Möglichkeit gefunden, Leid von unseren Familien abzuwenden.«

Raunen und Reden begann. Der weite Kreis löste sich auf. Ursa Hildgardsdottir und Sven Ulrikson, die Drachenführer der Nachtwind und der Wogentänzer, eilten zu Bera, um sich mit ihr zu besprechen.

»Er hat recht! Lassen wir alles zurück!«, schrie jemand erbost inmitten der Menge.

»Das ist doch Wahnsinn!«, schimpfte Hulda Alvadottir, die Steuerfrau der Nachtwind. »Den Schatz zurücklassen, heißt, unsere Gefährten zu verhöhnen, die in Port Peleiston gefallen sind. Das werde ich nicht zulassen!«

»Eine Wahrheit zu ignorieren, weil sie nicht gefällt oder die Lippen, die sie aussprachen, die falsche Farbe hatten, ist dumm«, war die klare, weittragende Stimme Ursa Hildgardsdottir zu vernehmen, die nicht nur Drachenführerin, sondern auch eine weithin bekannte Skaldin war.

»Das hier ist keine Heldensaga«, entgegnete Bera aufgebracht. »Wir entscheiden über Wohl und Wehe, über Leben und Tod, und das jetzt. Es ist leicht, die Heldentaten und Irrtümer im Nachhinein zu erkennen und ihnen mit schönen Worten zu huldigen. Nun gilt es, die richtigen Entscheidungen zu treffen und bereit zu sein, für deren Konsequenzen einzustehen.«

Gilda zog sich zurück und sah sich nach ihrem Bruder und Asleif um. Die beiden waren die Plünderfahrt über ihre engsten Gefährten gewesen. Bei jeder Gefahr hatten sie Schulter an Schulter im Schildwall gestanden, bei jedem Fest Seit an Seit gezecht.

Sie entdeckte die beiden etwas abseits bei der Nachtwind stehend, unterhalb des wunderschön geschnitzten Vorderstevens, der einen Falkenkopf zeigte. Gilda platzte mitten in ihr aufgeregtes Gespräch. »Und was denkt ihr über die Perle?«, fiel sie mit der Tür ins Haus, ohne erst einmal höflich zu lauschen, was die beiden besprachen.

»Ich nehme sehr ernst, was er sagt«, bekannte Asleif. »Diese Kette von Unglücksfällen … da scheint etwas dran zu sein. Es ist …«

»Unsinn«, unterbrach ihn Beorn barsch. »Zufälle, sonst nichts. Manchmal hat man eben Pech. So wie wir auf dieser Plünderfahrt. Ein halbes Jahr lang haben wir keine nennenswerte Beute gemacht. Und dann hat ein Fieber die Mannschaften geplagt. Jede Menge Unglück, ohne dass wir eine große schwarze Perle an Bord gehabt hätten.«

»Das stimmt«, gestand Asleif ein, »und doch sollten wir Can-Ka ernst nehmen. Er kommt von hier. Er kennt die Geschichten der Inseln. Er weiß um Gefahren, die wir nicht einmal dann erkennen, wenn sie uns bereits anlächeln.«

»Dieser Waldmensch ist nichts als ein faselnder Narr, Asleif. Sieh ihn doch nur an. Von Kopf bis Fuß mit seltsamen Hautbildern bedeckt, lässt er sich auf einer bemalten Planke aufs Meer treiben, die er stolz ein Boot nennt. Der ist nicht ganz richtig im Kopf. Und weil diesem Waldmenschen ein Furz quer sitzt, sollen wir uns vor Angst einpissen?«

»Can-Ka heißt er. Nenn ihn nicht abfällig Waldmensch. Er hat einen Namen. Dich nennt schließlich auch keiner Seemensch.«

»Seemensch würde ich als Ehrentitel tragen.« Beorn grinste breit. »Klingt fast so schön wie König der Meere. Aber Spaß beiseite. Der erzählt uns Märchen. Sieh ihn dir doch nur an, wie er mit Händen und Füßen seine Worte begleitet, mit völlig übertriebenen Gesten.«

»Etwa so, wie es ein guter Skalde tut?«, entgegnete Asleif aufreizend gelassen.

Beorn lachte zynisch. »Ja, etwa so. Und was erzählen uns Skalden in ihren schönen Heldenliedern? Märchen! Du hast selbst im Schildwall gestanden, Asleif. Was hat die Wirklichkeit mit den Heldentaten der Recken in den Sagas zu tun? Nichts. Hast du je von einer Drachenführerin gehört, der die Beine lahm geschossen worden sind und die ihre Ottajasko nur noch im Sitzen befehligen konnte? Ich nicht! Das ist die schmutzige Wirklichkeit. Ebenso wie die Tatsache, dass unseren Liebsten zu Hause der Hungertod droht, wenn wir nur wegen ein paar Worten aus Feigheit diesen Perlenschatz hier am Strand liegen lassen.«

Gilda nickte. Sie stand voll und ganz hinter ihrem Bruder. Seine Worte waren schlicht und ergreifend wahr.

»Und wenn doch stimmt, was Can-Ka sagt?«, gab Asleif zu bedenken. »Ist unseren Liebsten geholfen, wenn der Perlenschatz neben geborstenen Planken und unseren faulenden Knochen auf dem Meeresboden liegt? Dann werden wir nie mehr ausziehen, um ihnen die Schrecken des Winters zu erleichtern.«

Beorn knurrte etwas Unwilliges und sah sie dann beide lange an. »Ich werde nicht aus Angst vor einer Perle sterben, von der ich weiß, dass sie mich reich machen wird!«

Südlich von Al’Toum, fünfundzwanzigster Tag im Heimamond, vor achtzehn Jahren

Beorn Asgrimmson war den Posten oben auf der Rah leid. Sein Hintern tat ihm weh, seine Muskeln waren steif geworden, und obwohl er sich einen Strohhut mit einem Kinnband aufgesetzt hatte, schmerzte sein Kopf von der Sonne.

Eine beständige Brise füllte das Segel zu seinen Füßen und ließ die Glückszwinger gute Fahrt machen. Dennoch war die Nachtwind unter der Drachenführerin Ursa Hildgardsdottir an ihnen vorübergezogen. Den ganzen Morgen über lieferten sich die drei Langboote ein unbeschwertes Rennen, etwa fünf Meilen vor der Südküste Al’Toums. Hier gab es keine Korallenriffe und Sandbänke. Sie hatten sieben Faden und mehr Wasser unter dem Rumpf, und die einzige Sorge, die sie an diesem Morgen umtrieb, war die, wie sie die Drachenboote härter am Wind segeln konnten. Der Fluch, von dem Can-Ka gefaselt hatte, schien nicht mehr zu sein als eine Geschichte.

Sie hatten Nikkali vor zwei Tagen im ersten Morgenlicht verlassen, und seitdem hatte es kein weiteres Unglück gegeben. Ja, ihre Drachenführerin Bera Frenjadottir schien nie wieder laufen zu können. Die Pfeilspitze hatte die Knochensäule, die ihren Rücken trug, durchschlagen, aber allen, die auf Plünderfahrt gingen, war bewusst, dass es für die Beute einen Preis zu entrichten galt. Und den hatte Bera eben bezahlt. Ebenso wie Erik Erikson, ihr Steuermann, der ein Auge verloren hatte, oder ihr Bordmagus Halvar Oleson, den der Überfall das Leben gekostet hatte. Und dennoch war ihre Fahrt in den tiefen Süden dank dieser einen Perle ein Erfolg.

Beorn verlagerte sein Gewicht. Er saß auf der Rah, die Mastspitze, um die er die Arme geschlungen hatte, vor der Brust, und beobachtete den Horizont.

Die Küstenlinie Al’Toums im Norden war ein verschwommener, grüner Streifen, wo Mangrovenwald und Meer ohne klare Trennlinie ineinander übergingen. Der Wald stieg in Wellen zu fernen Berggipfeln hin an.

Südlich von ihnen lag ein karges Eiland, auf dem sich schroffe Klippen erhoben. Nach Westen und Osten gab es nur das Meer, so weit das Auge reichte.

Den Blick unverwandt auf die im gleißenden Sonnenlicht schillernde See zu heften, ermüdete die Augen. Beorn sah flüchtig ins Boot hinab. Der größere Teil der Mannschaft döste in der Sonne. Asleif Phileasson stand mit Gilda Asgrimmdottir backbord, blickte auf das Meer hinaus und wies mit ausgestrecktem Arm nach Süden. Wahrscheinlich fabulierte er wieder über mythische Länder jenseits des Horizonts und setzte seiner Schwester Flausen in den Kopf, dachte Beorn. Das war ärgerlich. Gilda würde gewiss eine große Plünderfahrerin werden, wenn sie sich nicht durch Phileasson vom Kurs abbringen ließe.

Sein Blick wanderte zum notdürftig reparierten Achtersteven. Bera hatte sich an das Rundholz binden lassen, um aufrecht zu stehen, obwohl ihre Beine sie nicht mehr trugen. Neben ihr führte Erik das Ruder und hielt die Glückszwinger auf Kurs. Wenn der Wind so beständig bliebe, dann würden sie es vielleicht doch noch vor den Winterstürmen in die Heimat schaffen, sinnierte Beorn.

»Schiffe! Schwarze!«, erscholl Can-Kas volltönende Stimme, und in den zwei Worten lag unverkennbar Panik. Der Eingeborene stand auf der Rah der Nachtwind, hielt sich mit einer Hand am Mast fest und deutete mit der anderen aufgeregt zur Küste hin.

Beorns Blick folgte der Geste, doch es dauerte eine Weile, bis er den kleinen Schiffsverband entdeckte, der dicht unter der Küste segelte. Obwohl seine Augen scharf waren, blieben die Rümpfe vor den dunklen Stämmen der Mangroven nur verschwommene Schemen. Es waren die roten oder weißen Segel, die ihn die Schiffe erkennen ließen. Vier Biremen, deren Segelfläche an ein liegendes Rechteck erinnerte, und zwei Koggen, deren Segel stehende Rechtecke waren. Die beiden Letzteren dienten vermutlich als Versorgungsschiffe des Galeerenverbands. Wenn die Rümpfe schwarz waren, wie Can-Ka behauptete, dann stammte die Flottille aus Al’Anfa, der Stadt des Totengotts Boron.

»Was siehst du?«, rief Bera betont gelassen.

»Ein kleiner Flottenverband. Vermutlich Al’Anfaner.«

»Sklavenjäger!«, rief Can-Ka schrill. »Turmschiff, voll Sklaven!«

Beorn vermutete, dass der Insulaner mit Turmschiff die Koggen mit ihrer turmartigen Vorder- und Achtertrutz meinte. Sollten das wirklich Sklavenjäger sein, waren die Gefangenen gewiss auf den beiden bauchigen Frachtschiffen eingekerkert.

»Sklaven frei machen!«, forderte Can-Ka so lautstark, dass es auf allen drei Drachen zu hören sein musste.

Bera lachte auf. »Wir sollen einen al’anfanischen Flottenverband angreifen? Das kostet zu viel Blut für zu wenig Beute. Außer Fleisch werden die nicht viele Schätze an Bord haben.«

Beorn verachtete Sklavenhändler, aber Bera hatte ohne Zweifel recht. Die Al’Anfaner waren Menschenjäger. Sie überfielen die Dörfer der Waldmenschen an der Mangrovenküste und verschleppten jeden, der auf den Sklavenmärkten des Südens einen Gewinn versprach. Die Waldmenschen besaßen meist nichts von Wert. Plündergut würde sich auf den beiden Koggen und den schwarzen Galeeren nicht finden.

»Menschen helfen Menschen!«, appellierte Can-Ka.

Beorn sah, wie unten im Boot einige beklommen auf ihre Füße starrten. Sklavenhandel wurde in Thorwal verachtet. Freiheit durfte nicht gestohlen werden. Aber die Flotte anzugreifen wäre die blanke Unvernunft. Bei der Menge von Schiffen vermochten die Al’Anfaner mindestens genauso viele Krieger aufzubieten wie sie auf den drei Drachenbooten, und die meisten davon wären erfahrene Söldner.

Beorn kniff die Augen zusammen und versuchte, mehr zu erkennen. Standen Krieger an Deck? Gab es Geschütze? Aber die Entfernung war zu groß. Da sah er vor dem Rumpf einer der Galeeren ein goldenes Funkeln dicht über der Wasseroberfläche. Die Bireme war mit einem bronzebeschlagenen Rammsporn ausgestattet. Er würde ihre leichten Drachenboote glatt in zwei Teile spalten, wenn er mit voller Fahrt mittschiffs träfe. Die Drachen waren schnell und wendig, aber in der Hitze des Gefechts waren immer Fehler möglich, vor allem wenn so viele Schiffe darin verwickelt waren.

»Menschen helfen Menschen!« Can-Ka klang nun flehend.

»Wir meiden die Al’Anfaner und halten Kurs West!«, befahl Bera in einem Ton, der keine weitere Debatte duldete.

Südküste Al’Toums, fünfundzwanzigster Tag im Heimamond, vor achtzehn Jahren

Dichter Rauch wogte über dem Wasser. Sie hatten das Feuer an der Küste etwa eine Stunde nach der Begegnung mit den Al’Anfanern entdeckt. Gilda Asgrimmdottir stand am Vordersteven der Glückszwinger. Asleif Phileasson an ihrer Seite holte das Senkblei ein. »Noch sechs Faden!«, rief er.

Das war mehr als genug Wasser unter dem Rumpf. Doch die Küstengewässer waren tückisch. Sandbänke, Korallenriffe, die Stümpfe abgestorbener Mangrovenbaumriesen … hier lauerten viele Gefahren.

Can-Ka hatte versucht, mit seiner bemalten Planke von Bord der Nachtwind zu gehen, als er den Rauch entdeckt hatte. Es schien sein Dorf zu sein, das dort brannte, was merkwürdig war, denn sie waren ihm mehr als zweihundert Meilen weit entfernt im Meer nördlich von Al’Toum begegnet. Ein langer Weg von seinem Dorf.

Immer noch war das Klagen des Waldmenschen zu hören. Manchmal verfiel er in das Gebrabbel der Bukanier, in dem sich Garethi mit anderen Sprachen des Südens vermischte, dann wieder sang er endlose, traurige Lieder in der Zunge seines Volks.

Unter dem Vorwand, ihre Frischwasservorräte zu ergänzen, hatte Bera Frenjadottir den Befehl gegeben, das Dorf anzusteuern. Vielleicht auch, um Can-Ka loszuwerden.

»Noch fünf Faden!«, rief Asleif in monotonem Singsang.

Die Klagelieder des Waldmanns drückten die Stimmung an Bord. Gilda war bewusst, dass ihre Drachenführerin keinen Angriff auf die Al’Anfaner hatte befehlen können. Das wäre die blanke Unvernunft gewesen. Dennoch lastete die Entscheidung auf ihnen allen.

»Fünf Faden! Sehe Korallen unter uns!«, rief Asleif.

Das Wasser war erstaunlich klar dafür, dass sie von der Waldgrenze kaum noch hundert Schritt entfernt waren. Die Glückszwinger führte die kleine Flottille aus Drachenbooten an, die Nachtwind und die Wogentänzer folgten in ihrem Kielwasser.

Der Rauch wogte wie Nebel über dem Wasser. Der Geruch von verbranntem Fleisch ließ das Schlimmste erwarten. Can-Ka verstummte.

Sie hatten jetzt fast die Bäume erreicht, die mit ihren mächtigen Pfahlwurzeln tief in den Schlamm griffen. »Hindernis steuerbord!«, warnte Gilda. Etwas Dunkles, von Moosen und Schlingpflanzen Überwuchertes ragte fünf Schritt voraus aus dem Wasser. Vielleicht ein toter Baum oder doch ein Fels.

Erik Erikson änderte den Kurs ein wenig, und sie passierten das Hindernis in geringem Abstand. Die Segel der Drachenboote waren eingeholt. Fast die gesamte Ottajasko pullte. Es waren langsame, bedächtige Schläge. Das Fahrwasser erlaubte nichts anderes.

Einzelne Mangroven standen ein wenig vor der Front der Bäume, als seien sie Vorposten, die der Dschungel ins Meer hinausgeschickt hatte. Die Masse bildete eine unregelmäßige Linie, eine graugrüne Mauer. Das Wasser wurde brackig. Gilda erkannte erste Häuser, die an den Bäumen hafteten. Auf Pfählen erhoben sie sich etwa zwei Schritt über das Meer. Manche der Hütten hatten nur ein Dach aus Röhricht. Wo es Wände gab, waren sie aus miteinander verflochtenen Blattstreifen gefertigt. Nur hier und dort sah man ein paar Planken. Laufstege verbanden einen Teil der Hütten. Einige standen auch einzeln für sich.