Die Phileasson-Saga - Nebelinseln - Bernhard Hennen - E-Book

Die Phileasson-Saga - Nebelinseln E-Book

Bernhard Hennen

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Beschreibung

Bereits seit zwei Jahren überzieht Beorn der Blender die Nebelinseln mit einem Krieg, wie ihn die Elfen seit Jahrtausenden nicht mehr gesehen haben. Inzwischen wagt man in dieser verzauberten Welt seinen Namen nur noch zu flüstern. Währenddessen leitet die Prophezeiung der zehnten Aufgabe Asleif Phileasson durch den undurchdringlichen Nebel. »Weise gilt es zu finden, den Tod in den eigenen Reihen willkommen zu heißen.« Für Phileasson heißt das, dass er sich dem mächtigen Schlangenkönig stellen muss. Doch um diese Herausforderung zu meistern, braucht er möglicherweise die Hilfe seines alten Erzfeindes Beorn ...

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Seitenzahl: 1122

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DAS BUCH

»Mochte die Flotte in der Bucht dort unten noch so gewaltig sein, mochte das Heer das Größte sein, das er je auf den Inseln befehligt hatte, so schwebte über diesem Feldzug doch eine düstere Vorahnung.«

Vor Jahrhunderten raubte der Schlangenkönig den Elfen den Kessel des Lebens. Immer wieder verjüngte er sich darin. Seine Bosheit und seine Macht wuchsen mit jeder Häutung. Wo die Elfen kapitulierten, liegt es an den Helden aus Thorwal, das Unmögliche zu vollbringen. Mit einem Zauberschiff bereisen sie die magische Inselwelt. In der Stadt der Artefaktschmiede suchen sie einen Weisen, von dem die Prophezeiung spricht. Sie belagern Städte, sie wandern auf dem Grund des Meeres. Sie sammeln Verbündete und bringen eine Streitmacht gegen sich auf, treffen auf Wunder, Schönheit, Verzweiflung und Verrat. Feinde finden sich überall: bei Elfen und Echsen, in Gestalt der Rivalen und selbst im eigenen Schildwall. Doch ihr Ziel ist nur gemeinsam zu erreichen: der magische Kessel. Dort, so verrät es die Prophezeiung, erwartet sie der Tod. Aber zugleich bringt er sie dem näher, was ihnen wertvoller ist als das Leben: dem Titel König der Meere!

Mehr über die Phileasson-Saga erfahren Sie auf:

www.phileasson.de

DIE AUTOREN

Bernhard Hennen, 1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Vorderasiatische Altertumskunde. Mit seiner Elfen-Saga stürmte er alle Bestsellerlisten.

www.bernhard-hennen.de

Robert Corvus, 1972 geboren, veröffentlichte mehrere erfolgreiche Fantasy-Romane. Als Gastdozent betreut er ein Fantasy-Schreibprojekt an der Uni Münster.

www.robertcorvus.net

BERNHARD

HENNEN

ROBERT CORVUS

NEBELINSELN

DIE PHILEASSON-SAGA

ZEHNTER ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 01/2022

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2022 by Bernhard Hennen

Copyright © 2022 by Robert Corvus

Copyright © 2022 by Ulisses Medien & Spiel Distribution GmbH

Copyright © 2022 dieser Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch

die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT GbR, München

Umschlagillustration: Kerem Beyit

Innenillustrationen: Nadine Schäkel

Karten [>>]: Steffen Brand

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-25863-4V002

www.heyne.de

PROLOG

DER SEHNENDE

Niedermarschenpfad nahe Auweiler,

sechster Tag im Vinmond, vor sechs Jahren

Am liebsten hätte Bronak eine der biegsamen Ruten von der Weide am Wegesrand geschnitten und Morgel damit durchgeprügelt. Das faule Maultier machte keine Anstalten, den festgefahrenen Wagen des Wanderhändlers aus dem Schlamm zu ziehen. Aber wenn er sich um das Vieh gekümmert hätte, wäre niemand mehr hier hinten am Rad gewesen, um in die Speichen zu greifen, und das war ebenso wichtig.

Natürlich hätte er mit dem Elfen die Plätze tauschen können, aber sein Mitreisender war nicht besonders kräftig. Dafür verstand er sich gut mit jedem Köter, jeder Katze und sogar jeder Krähe, der sie begegneten. Warum sollte er nicht auch das Maultier dazu bringen können, sich ins Geschirr zu legen?

»Ihr müsst ziehen!«, rief Bronak nach vorn. »Ziehen!«

»Morgel ist noch betrübt, weil der Wagen stecken geblieben ist«, sang Salarin Trauerweide mit seinen beiden Stimmen. »Ich suche ihm eine Rübe, um ihn zu trösten.«

»Ein Zugtier tröstet man nicht, man …« Bronak brach ab. Es hatte keinen Sinn. Der Elf verließ bereits die Straße und schritt mit wippendem Gang durch den Nieselregen auf die Büsche zu. Bronak überlegte, ob ein Mensch wohl tiefer eingesunken wäre, aber das Gras mochte den unebenen Boden, wo er ging, fester machen als den Schlamm der Straße. Salarins eng gezogener Gürtel betonte seine schlanke Taille. Er trug grünes Wildleder mit Fransen an den Ärmeln, diese Kleidung hatte der Wanderhändler ihm gekauft. So stellten sich die Leute einen Elfen vor, und sie sollten nicht enttäuscht werden. Bei der nächsten Vorführung müsste Salarin natürlich die Kapuze der Gugel, mit der er sich jetzt vor dem Regen schützte, abnehmen, damit der Kopf deutlich zu sehen wäre.

Mürrisch schob Bronak seine Kappe zurück und sah hinauf in den grauen Himmel. Es regnete nicht stark, nur kleine Tröpfchen, dafür aber beständig. Bronaks Mantel fühlte sich an wie eine Decke aus Wasser. Er überlegte, ob er ihn ausziehen sollte. Trocken hielt er ihn schon lange nicht mehr, und sein Gewicht zog an seinen Schultern.

Er trat ein paar Schritte zurück, um die Misere in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Selbst die gelb-rot gestreifte Plane des Wagens wirkte an diesem Vormittag trüb. Morgels Mähne klebte nass am Hals, seine ungewöhnlich großen Ohren hingen schlaff herunter. Die Gabeldeichsel war mit der Vorderachse verbunden, die schräg nach rechts stand. Bronak fragte sich, ob er die Kurve zu eng genommen hatte.

»Habe ich wohl«, murmelte er. »Sonst würden wir ja nicht feststecken.«

Das hintere rechte Rad war bis eine Handspanne unter der Nabe in ein Schlammloch gesunken. Dadurch stand der kastenförmige Wagen schief. Bronak verspürte keine Lust nachzusehen, welche Waren im Innern durcheinandergeflogen sein mochten. Er hoffte, dass kein Glas zu Bruch gegangen war.

Was den Wagen selbst anging, hatte er Glück im Unglück. Alle Speichen waren heil geblieben, der Eisenreif, der das Holzrad verstärkte, saß noch fest, und vor allem war die Achse unbeschädigt. Dafür, dass er so dämlich gewesen war, die Kurve dermaßen ungeschickt zu nehmen, dass er in das einzige tiefe Schlammloch geriet, war er glimpflich davongekommen.

Er hockte sich hin und suchte nach einem harten Auflagepunkt, am besten einem großen Stein. Wenn er so etwas fand, konnte er einen halbwegs geraden Ast suchen und damit das Rad emporhebeln. Leider war jedoch nichts dergleichen zu entdecken.

»Zu blöd, um einen Wagen zu lenken, was?«, rief eine Stimme hinter Bronak.

Er sah über die Schulter.

Ein bulliger Mann mit einem roten Schultertuch stand vor Morgel auf dem Weg. Ein schwarzer Bart lag wie eine Bürste auf seiner Oberlippe. Seine braune Leinenkleidung war durchnässt, ein Beutel hing an einem Riemen, der quer über seine Brust lief. In der rechten Hand hielt er eine bauchige Flasche.

»Ich habe Hunger«, sagte der Mann.

»Kommst du nicht gerade aus Auweiler?« Der kleine Ort konnte höchstens noch fünf Meilen entfernt sein, schätzte Bronak. »Gibt es da nichts zu essen?«

»Doch, aber mein Liebchen will mich da nicht mehr.« Versonnen stierte der Mann auf das Maultier. »Hat alles von mir gekriegt, was sie haben wollte, sagt Tilde. Will jetzt die letzten Tage des Fests der Freuden ohne mich genießen. Stattdessen mit einem, der noch ein paar Münzen hat. Meine sind ja jetzt alle weg. Habe ein Jahr darauf gespart, mit Tilde zu feiern, und jetzt will sie mich nicht mehr …«

»Tut mir leid«, sagte Bronak teilnahmslos.

»Ich will dir nicht leidtun!«, brauste der Mann auf. »Das Mitleid von jemandem, der zu blöd ist, einen Wagen zu lenken, brauche ich nicht! Gib mir was zu essen.«

»Ich habe selbst nichts«, behauptete Bronak, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Zwar hatten sie zum Frühstück die letzten Würstchen verspeist, aber ein paar Hartrationen lagerten noch im Notfach unten im Wagen.

»Du lügst doch!« Der Mann steckte die Flasche in seinen Beutel und kam auf Bronak zu. »Alle furzen mir ins Gesicht und glauben, ich wäre so blöd, mich auch noch dafür zu bedanken. Aber von so einem Trottel wie dir lasse ich mir nicht dumm kommen!«

Bronak stand auf und hob beschwichtigend die Hände. »Ganz ruhig …«

»Beim Fest der Freuden ist man nicht ruhig!«, rief der Kerl. »Da lässt man der Schönen Göttin zuliebe seinen Gefühlen freien Lauf.« Er packte Bronak am Mantel über der Brust und schob ihn gegen den Wagen. »Aber meine Gefühle will die Tilde nicht!« Der Gestank aus seinem Mund erzählte vom billigen Fusel, den er in sich hineingeschüttet hatte.

Bronak versuchte, ihn von sich zu schieben, aber dazu war der andere zu massig. Schmerzhaft lehnte er gegen die Brust des Wanderhändlers. »Was soll das?«, ächzte Bronak. »In dieser Woche soll man sich doch Freude schenken …«

»Freude?«, brüllte der Mann aufgebracht. »Ich geb dir gleich Freude!«

Bronak begriff, dass er dabei war, eine Tracht Prügel zu beziehen. Das entbehrte nicht einer gewissen Ironie, wenn man bedachte, dass es Hunderte Leute gab, die wirklich einen Grund hatten, ihm eine Abreibung zu verpassen. Die Wirksamkeit der Mittel, die er den Einfältigen andrehte, hing ausschließlich von deren Glauben ab, das wusste Bronak selbst. Manchmal redete er sich ein, dass er ihnen wenigstens Hoffnung verkaufte, und die war schließlich auch etwas wert. Die hätten sie nicht bekommen, wenn sie selbst ein paar Wiesenblumen und Grashalme zerrieben und in Schnaps aufgelöst hätten. Aber ein Ausschlag ließ sich damit natürlich nicht kurieren. Deswegen blieb Bronak ja auch ständig in Bewegung. Besser, er war außer Reichweite, wenn auffiel, dass die versprochene Wirkung seiner Tinkturen ausblieb.

Wenn ihm einer der Betrogenen gefolgt wäre, um ihn seine Enttäuschung spüren zu lassen, dachte Bronak, dann wäre das sicher gerecht gewesen. Aber was hatte er mit diesem Mann und seiner Tilde zu schaffen? »Nun beruhige dich doch! Wie heißt du überhaupt?«

»Trelian. Aber was geht dich das an?«

»Also gut, Trelian. Lass uns doch vernünftig reden. Ich habe zwar nichts zu essen …«

»Du lügst!« Das Gesicht des Dicken lief dunkel an. »Du willst mir nur nichts abgeben.«

»Hör mal, vielleicht habe ich ein bisschen Hartwurst.«

»Ha!«, triumphierte Trelian. »Wusste ich es doch, dass du ein Lügner bist! Genauso wie die Tilde. Die hat auch gelogen, als sie gesagt hat, dass sie mich mag. Tut sie gar nicht. Die wollte nur, dass ich ihr alles kaufe, und dann hat sie …«

Er hielt inne und sah nach rechts, zur Front des Wagens.

Da er noch immer gegen Bronaks Brust lehnte, bekam der Wanderhändler Atemnot. Funken tanzten durch sein Sichtfeld. Aber er hörte ein vernehmliches Schmatzen. War das Morgel?

»Was ist denn da los?«, fragte Trelian.

Leichtfüßig kam Salarin Trauerweide zu ihnen. »Was macht ihr da?«, sang er.

»Ist das …«, stotterte Trelian. »Bist du ein Elf?«

Die Kapuze verdeckte Salarins spitze Ohren und machte die großen Augen und das perfekt symmetrische Gesicht schwer zuerkennen, aber die Doppelstimme war ein eindeutiger Hinweis.

»Ich bin ein Elf«, bestätigte Salarin. »Willst du mich anfassen?«

»Ich … nein, wieso?« Verwirrt trat Trelian einen Schritt zurück.

Erleichtert atmete Bronak durch. Aber er wusste, dass die Stimmung eines Betrunkenen schnell umschlagen konnte, und dieser hier neigte offensichtlich zu Aggressivität. Leider hatte Salarin weder seinen Degen noch den Bogen bei sich, beide Waffen lagen im Wagen. Ob er sich gegen den bulligen Kerl behaupten könnte?

»Ich bewundere deine Kraft«, sang Salarin.

»Du verspottest mich!« Trelian ließ Bronak los und stapfte mit geballten Fäusten auf den Elfen zu. »Genau wie Tilde, die hat mich auch ausgelacht. Aber von dir lasse ich mich nicht auslachen!«

»Bian bha la da’in …« Salarins zwei Stimmen klangen noch schöner, noch harmonischer als sonst, während sie diese Silben hervorbrachten.

Bronak merkte, wie seine eigene Aufregung nachließ, und das beobachtete er auch bei Trelian. Der Kerl blieb stehen und glotzte den Elfen an. Nach einer Weile entspannten sich seine Schultern, und er öffnete die Hände.

»… dein Freund ich bin«, schloss Salarin.

»Ja …«, sagte Trelian dumpf. »Wir sind Freunde.«

Bronak erkannte, dass hier ein Elfenzauber am Werk war. Wieso setzte das Spitzohr so etwas nie ein, wenn es darum ging, ein paar gute Geschäfte zu machen?

Darüber könnten sie später reden, beschloss Bronak. Erst einmal mussten sie Land gewinnen. Wer wusste schon, wie lange die Wirkung anhielt?

»Wir haben ein Problem mit unserem Wagen«, erinnerte er.

»Ich helfe euch gern!«, rief Trelian. »Dafür sind Freunde doch schließlich da. Lass mich in die Speichen greifen!«

»Nichts lieber als das.« Mit beiden Händen machte Bronak eine einladende Geste zum festgefahrenen Rad.

Trelian fasste die Speiche, die senkrecht nach oben wies, und lehnte sich mit seinem gesamten Gewicht dagegen. Tatsächlich bewegte sich das Rad ein Stück, stieß aber nach einer Handspanne auf die steile Kante des Lochs und kam nicht weiter. Trelian ächzte.

»Wir wollen unserem neuen Freund helfen«, verkündete Salarin und ging nach vorn, wo er auf Morgel einredete. »Du hast doch jetzt eine leckere Rübe bekommen. Magst du nicht weitergehen?«

Diese Gelegenheit durfte Bronak nicht verstreichen lassen! Er eilte zu dem Zugtier, griff das Zaumzeug unmittelbar unter dem Maul und riss kräftig daran.

Das Vieh schrie auf, setzte aber einen Huf nach vorn.

»Ja!«, rief Trelian von hinten. »Weiter so! Wir schaffen es.«

»Jetzt komm schon, du störrisches Biest!«, zischte Bronak und lehnte sich nach hinten, um das Maultier mit seinem Gewicht zu ziehen.

Salarin blickte verstört. »Mir gefällt nicht, wie du Morgel behandelst.«

»Und mir gefällt nicht, dass das Vieh so faul ist!«, gab Bronak zurück. »Schließlich füttern wir es jeden Tag, jetzt soll es auch etwas dafür tun.«

Der Elf sah nachdenklich aus. Auch nach Wochen des gemeinsamen Reisens hatte er Schwierigkeiten damit, zu verstehen, dass man arbeitete, um einen Lohn dafür zu erhalten. Bronak gab sich allerdings auch keine allzu große Mühe, ihm dieses Konzept zu vermitteln. Sonst käme Salarin am Ende noch auf den Gedanken, seinerseits eine Bezahlung zu verlangen.

Endlich setzte sich Morgel in Bewegung und zog den Wagen mit sich. Vernehmlich knirschend kam das Rad aus dem Schlammloch. Ein Platschen verriet, dass Trelian hinfiel.

»Ho!« Bronak hielt das Tier an und sah nach ihrem Helfer.

Trelian drückte sich hoch. Bauch, Brust und Gesicht waren verschlammt, als hätte er sich in einer Suhle gewälzt, aber er strahlte. »Mir ist nichts passiert, Freunde! Alles in Ordnung. Eine gute Weiterfahrt wünsche ich euch. Genießt das Fest der Freuden! Schade nur, dass ihr nichts zu essen dabeihabt.«

»Aber wir haben …«, setzte Salarin an.

»… es sehr eilig«, schnitt Bronak ihm das Wort ab. »Die guten Leute von Auweiler warten auf uns.«

Der Elf war ausgesprochen nützlich, aber er bedurfte der ständigen Aufsicht und Anleitung durch einen welterfahrenen Mann.

Auweiler,

sechster Tag im Vinmond, vor sechs Jahren

Salarin Trauerweide sah Bronak zu, wie er auf dem Boden hockend die Abspannleine am eingeschlagenen Hering festband. Das sollte die gelb-rot gestreifte Plane straff halten, die von der Seite des Wagens hochgeklappt war, denn die Leine hielt eine der beiden Stangen. Skeptisch sah sich der Wanderhändler um.

Sie waren den Weg von Nordosten gekommen. Hier mündete ein weiterer Weg aus Südosten ein, während der ursprüngliche nach Südwesten weiterführte. An der Gabelung gab es einen rund gemauerten Brunnen, an den ein kahlköpfiger Krieger, dem der kleine Finger an der linken Hand fehlte, seinen Rucksack gelehnt hatte. Dafür hatte er sich eine halbwegs trockene Stelle ausgesucht. Nach dem Mittagsregen stand das Wasser in zahllosen Pfützen und tropfte von den reetgedeckten Dächern der zwei Dutzend Häuser, die locker gruppiert in der Nähe der Straßen standen. Aus den Ställen drang das Muhen der Rinder, Federvieh gackerte, ein Hund bellte. Eine Katze pirschte an einer Mauer entlang, offenbar hatte sie im Gras ein kleines Beutetier erspäht.

Bronak stand auf, drückte die Hände gegen die Nieren und überstreckte den Rücken. Seine Wirbelsäule knackte vernehmlich. Das Alter färbte nicht nur die ersten Strähnen in seinem Haar grau, sondern machte auch seine Knochen morsch,klagte er oft. »Spiel auf deiner Flöte«, bat er. »Wir müssen unser Publikum hervorlocken.«

Salarin zog das Instrument aus dem Wildlederfutteral, das er am Gürtel trug. Zögerlich drehte er es in den Fingern. »Die Melodie passt nicht für ein Lied.«

Bronak runzelte die Stirn. »Du kennst doch so viele Melodien. Nimm irgendeine!«

»Du verstehst nicht«, wehrte Salarin ab. »Die Melodie dieses Orts ist zu uneinheitlich.« Mit einer hilflosen Geste strich er über die Häuser. »Sie bilden kein Ganzes. Die bunten Tücher an den Giebeln wären fröhlich, wenn die Sonne schiene, aber nass und im Schatten der Wolken … Es ist weder eine kompakte Siedlung, noch befinden wir uns in der Natur. Menschen haben diesen Ort gewoben, aber man sieht sie nicht. Dort steht ein Pflug, Dreschflegel und Sense lehnen an der Wand. Sie sehnen sich nach Arbeit, aber niemand benutzt sie.«

»Das liegt am Fest der Freuden«, erklärte Bronak. »Die Menschen wollen die Last des Alltags für eine Woche beiseitelassen.«

»Aber sie können es nicht. Das Vieh muss gemolken werden, ihre Felder brauchen die rührige Hand.« Salarin fand es noch immer grausam, wie die Menschen mit dem Land umgingen. Es lag daran, dass sie nicht zu singen verstanden. Sie konnten die Bäume nicht zu ihren Freunden machen, damit sie ihnen freiwillig Früchte schenkten, und das Wild kam nicht, wenn sie nach ihm riefen. Also war ihr gesamtes Leben ein Ringen, in dem sie an sich bringen mussten, was sie brauchten, um zu essen und zu trinken und sich zu kleiden. Sie rissen den Boden auf, spannten Netze in den Flüssen und hielten Tiere als Gefangene.

»Die rührigen Hände der guten Leute von Auweiler könnten uns einen gemütlichen Schlafplatz und eine warme Mahlzeit verschaffen«, gab Bronak zu bedenken. »Aber dafür müssen sie uns erst einmal bemerken.«

Der Krieger drehte die Kurbel am Brunnen, bis der Schöpfeimer zum Vorschein kam. Er zog das Behältnis heran und stellte es auf die gemauerte Einfassung. Dann benutzte er die hohle Hand, um zu trinken. Er vermied es, zum Wanderhändler und dem Elfen herüberzusehen, aber sein Lied sang nicht von Schüchternheit. Im Gegenteil, der Grundton war Wut. Dieser Mann hatte gelernt, sie im Zaum zu halten und alles zu vermeiden, was zu einer Konfrontation führen konnte. Aber das bedeutete nicht, dass der Drang dazu fort wäre. An seinem Rucksack lehnte ein kleiner Rundschild, einfarbig grau.

Bronak trat neben Salarin. »Starr ihn nicht so an«, raunte er. »Das ist ein Söldner ohne Dienstherrn. Möglich, dass er so abgebrannt ist, dass er Schwache sucht, um seine Börse aufzufüllen.«

»Woher weißt du, dass er ein Söldner ist?«, wollte Salarin wissen.

Bronak umfasste den kleinen Finger der linken Hand, der bei dem Krieger fehlte. »Er hat dem Herrn der neun Streiche geopfert, und weder auf seinem Schild noch an seinem Wams findet sich das Wappen eines Dienstherrn.«

Eine blonde Frau kam mit einem Topf aus einem der Häuser. Der Körper eines Menschen, das hatte Salarin auf seiner Wanderung gelernt, veränderte sich ständig. Anders als bei den Elfen, die das Alter erst zeichnete, wenn es ans Sterben ging, bekamen Menschen die ersten Falten, sobald sie erwachsen waren. Ihre Haare wurden grau und fielen aus, ein Buckel krümmte den Rücken, die Fingergelenke schwollen an, Flecken zeigten sich auf der Haut. Dennoch konnten sie damit noch viele Sommer und Winter erleben. Sie schienen keine Lebensaufgabe zu kennen, nach deren Erfüllung sie ins Licht zurückkehrten. Davon lehrten auch ihre Geweihten nichts. Gerade das machte sie für Salarin so interessant.

Die blonde Frau in dem hellgrauen Leinenkleid mit der weißen Schürze zeigte jedoch kaum Anzeichen des Alters. Wahrscheinlich war sie etwa so alt wie Salarin, ungefähr zwanzig Jahre. Sie stellte den Topf vor dem Brunnen ab und wechselte ein paar Worte mit dem Söldner.

Der Krieger grinste schief und ließ den Schöpfeimer ab. Die Kette rasselte. Er griff die Kurbel und holte den Eimer wieder hoch. Währenddessen sah die junge Frau ihn mit großen Augen an und sprach weiter mit ihm. Der wie eine Mondsichel geformte Säbel, den er an der Seite trug, schien ihr besonders zu gefallen.

»Junge Dame!«, rief Bronak hinüber. »Wie wäre es mit einem Veilchenduft, der zum Fest der Freuden jeden Jüngling betören wird? Die Schönheiten von Gareth schwören darauf!«

Die Angesprochene errötete.

Eine rundliche Frau erschien in der Tür des Hauses, aus dem die Blonde gekommen war. Dieses Gebäude war eines der wenigen, das keine roten Bänder schmückten. Stattdessen standen Sonnenblumen in Bottichen an der Wand, und eine orangefarben bemalte Schnitzerei von einer Gans zierte den Giebel.

Interessiert reckte Bronak den Hals. »Das scheint die Herrin des Hauses zu sein. Der kann ich bestimmt etwas aufschwatzen.« Er führte allerlei Gewürze, Salben und Tinkturen mit, deren Melodie für Salarin nach kaum etwas anderem klang als nach Wasser, Essig und Fett, für die er aber immer wieder kupferne oder sogar silberne Münzen bekam.

»Altima!«, rief die ältere Frau. »Trödele nicht herum!«

Der Söldner zuckte mit den Achseln und goss das Wasser aus dem Schöpfeimer in den Topf.

Die Blondine nahm ihn auf und eilte zurück ins Haus. Die ältere Frau war schon wieder darin verschwunden.

»Da laufen meine schönen Heller und Kreuzer davon«, seufzte Bronak. »Keine Zuschauer bedeutet: kein Geschäft.« Er tätschelte seinen Bauch. »Wieder nur Hartbrot.«

Der Söldner schulterte seinen Rucksack. Auch er schenkte dem Angebot in ihrem Wagen keine Beachtung.

»Kannst du nicht doch auf deiner Flöte spielen?«, fragte Bronak. »Bitte?«

Salarin betrachtete die braunen Augen seines Gegenübers, die leicht gebückte Haltung, er sah die verschränkten Finger und hörte die Traurigkeit in der Stimme. Das mochte reichen, um den Grundton vorzugeben, um den herum er eine Melodie weben konnte. Er hob die Flöte an die Lippen und begann zu spielen.

Der Söldner, der gerade den Schild angehoben hatte, hielt inne und stellte ihn wieder ab. Die Traurigkeit des Stücks schien ihn zu berühren.

Salarin spürte eine Verbindung zu diesem Krieger. Der Schorf an seinem Hals, die Verkrüppelung der Hand, die unter dem schwarzen Lederhemd schwellenden Muskeln fanden Eingang in die Melodie seiner Flöte. Die Töne gewannen an Klarheit. Sie schwebten empor, breiteten sich aus. Salarin lauschte ihnen nach, schickte ihnen weitere hinterher. Er hob den Blick zu den Wolken, zwischen denen sich nun blaue Stellen zeigten.

Bronak winkte derweil die Menschen heran, die nun aus den Häusern kamen. Eine Gruppe junger Leute, die ihre Leinenkleidung um rote Tücher ergänzt hatte, sah müde aus. Sie hatten den Vormittag wohl im Stall verschlafen, Stroh hing in ihren Haaren. Eine Frau mit Holzschuhen gefiel Salarin besonders, weil sie sich so fantasievoll hergerichtet hatte. Geflochtene Feenflügel waren auf ihrem Rücken befestigt, und ihr Gesicht war grün bemalt. Auch Kinder fanden sich in dieser Gruppe.

»Wer von euch hat schon mal einen Elfen gesehen?«, rief Bronak. »Er ist echt! Für einen Kreuzer dürft ihr ihn anfassen, und der Erste, der mir einen Heller gibt, bekommt eine Strähne von seinem goldenen Haar!«

Salarin fand es schön, dass seine pure Anwesenheit den Menschen Freude machte. So war es an den meisten Orten, die er gemeinsam mit dem Wanderhändler besuchte. Oft gab es zunächst ein wenig Scheu, aber sobald die Ersten seine Arme oder seinen Bauch berührten, kamen weitere. Nur ins Gesicht ließ er sich ungern fassen.

Bronak hatte auch viele andere interessante Dinge dabei. Ein rotes Tuch wurde gelb, wenn man es kräftig rieb. Er führte es vor und gab es einer Maid, die es unbewegt festhalten sollte. Nach einer Weile kehrte das Rot wieder zurück. Während dieser Zeit pries Bronak die Vorzüge der Salben, die jedes Jucken verschwinden ließen, und eines Trunks, der ungestörten Schlaf brachte. Ein Vinsalter Ei, dessen Zeiger verrieten, wie die Zeit verstrich, wollte er nicht verkaufen. Es diente ebenso wie Salarin dazu, die Aufmerksamkeit der Menge zu bannen, während es von Hand zu Hand ging.

Der Menschenauflauf, der sich um den Wagen sammelte, aus dem Bronak immer neue Dinge holte und anpries, erregte die Neugier einer Handvoll Viehtreiber, die ihre Rinder die Straße herabführten. Zwei blieben bei den Tieren zurück, während die drei anderen schauten, was es hier zu bestaunen gab.

»Ihr guten Leute von Auweiler!«, rief Bronak zum wiederholten Mal. Mit gute Leute sprach er sein Publikum am liebsten an. »Seid vorsichtig mit dieser Tinktur!« Er hielt eine irdene Flasche hoch. »Nicht dass ihr sie versehentlich an die Lippen setzt und einen Zug davon nehmt. Das hier ist kein Wein!«

»Das ist aber schade!«, rief der Jüngling neben der Maid mit den Feenflügeln. »Wir haben nur noch eine Flasche. Wie sollen wir damit noch eineinhalb Tage der Göttin der Freude huldigen?«

Bronak lachte. »Nicht so ungeduldig – für euch habe ich auch etwas dabei. Aber das hier«, er klopfte gegen die Flasche, »ist ein Wunderwasser.« Er machte eine Pause, um die Spannung seiner Zuhörer zu steigern. »Es sorgt für ein sauberes Heim.« Er zog die Pfanne hervor, die sie am Morgen benutzt hatten, um die Würstchen vom vergangenen Abend aufzuwärmen. Das Bratfett war längst wieder erstarrt. Zusätzlich hatte Bronak Dreck hineingerieben.

Die Zuschauer rümpften die Nasen.

»Ja, widerlich, nicht?« Der Wanderhändler verzog ebenfalls das Gesicht. »Wie lange muss man wohl daran schrubben, um das hier sauber zu bekommen?«

»Eine Viertelstunde bestimmt«, schätzte die rundliche Frau, die Altima zurück ins Haus gerufen hatte.

»Ganz recht, da spricht die Erfahrung!«, bestätigte Bronak. »Und hinterher sind Bürste und Lappen verdreckt, nicht wahr?«

»Das ist eine Schweinerei!«, klagte die Frau.

Zwei der Jünglinge verloren das Interesse und gingen zurück in die Scheune.

»Elf! Schöpfe Wasser«, forderte Bronak.

Salarin setzte die Flöte ab. Behutsam schob er die beiden kleinen Mädchen zur Seite, die an ihm herumtasteten, und ging zum Brunnen. Der Söldner hatte den Rucksack wieder abgestellt und saß auf der Einfassung.

Der Schöpfeimer war beinahe leer. Salarin ließ ihn ab und holte ihn wieder hoch. Derweil pries Bronak seine Tinktur, die hinter dem Schmutz her sei wie der Dämon hinter der armen Seele.

»Von solchen Kreaturen solltest du nicht leichtfertig reden«, tadelte die Rundliche.

»Verzeih, meine Begeisterung reißt mich mit.« Bronak kam zu Salarin und goss etwas Wasser in die Pfanne. »Tretet näher, sonst verpasst ihr es!«, forderte er die Menge auf. »Es geht ganz schnell. Nur ein Schuss hiervon …« Er entkorkte die Flasche und goss ein wenig von der enthaltenen Flüssigkeit in die Pfanne. »Jetzt mit dem Wasser schwenken … da seht ihr schon, wie sich das Zeug löst!«

Salarin fand die beiden Mädchen interessanter als Bronaks Vorführung. Er hockte sich hin und ließ zu, dass sie sein Haar und sogar seine Ohren befühlten. Ihre eigenen Ohrmuscheln waren rund wie Rosenblüten. Sie kicherten, als der Elf darüberstrich.

»Dein Haar hat dieselbe Farbe wie Morgels Fell«, sagte er zu dem kleineren Mädchen.

»Wer ist Morgel?«, wollte es wissen.

»Unser Anführer.« Salarin zeigte auf das Maultier. »Wohin wir unseren Wagen auch wenden: Er geht uns immer voraus.«

Es kicherte. »Warum hast du zwei Stimmen?«

»Alle Elfen haben zwei Stimmen«, wusste das andere Kind. Es hatte einen blauen Fleck am rechten Ellbogen und Sommersprossen im Gesicht.

»Singst du auch immer?«, fragte die Brünette.

»So hört es sich an, wenn ich rede.«

»Ich kann auch schön singen«, sang sie. »Aber ich habe nur eine Stimme.«

»Zusammen haben wir zwei«, sagte ihre Freundin. »Was wollen wir singen?«

»Das Lied vom faulen Müller«, schlug die Brünette vor.

Die beiden sangen nur selten dieselbe Silbe, aber sie waren mit Herz bei der Sache. Da Salarin den Text nicht kannte, der sich um einen Mann drehte, der so klug war, die Wärme des Sonnenscheins und den Duft einer Wiese der Plackerei in einer Mühle vorzuziehen, versuchte der Elf, die Melodie zu erraten und mitzusummen.

Nach dem Lied zeigten die Mädchen Salarin ein Spiel, bei dem die drei ihre Hände in einer komplexen Folge abklatschten. Sie lachten viel.

Schließlich hockte sich Bronak neben sie. »Habt ihr beide denn auch einen Heller?«, fragte er.

Die Mädchen sahen ihn verwirrt an.

Die meisten Zuschauer waren gegangen. Der Söldner hatte sich auf den Weg gemacht, er war bereits ein paar Hundert Schritt entfernt. Die rundliche Frau verschwand im Haus mit der Gans am Giebel.

»Ich habe doch gesagt: Wer den Elfen anfasst, muss bezahlen«, erinnerte Bronak. »Eigentlich ein Kreuzer für jede Berührung, und ihr habt ihn oft angefasst. Aber ich will mal nicht so sein, mit einem Heller von jeder von euch bin ich zufrieden.«

»Aber …«, stotterte das brünette Mädchen, »unsere Mutter gibt uns keine Münzen.«

»Wo ist denn eure Mutter?«

Suchend sahen sich die beiden um. Die mit den Sommersprossen zeigte auf eine dicke Frau mit einer roten Schürze, die neben dem Scheunentor mit zwei jungen Männern tratschte.

»Dann gehen wir jetzt zu ihr«, bestimmte Bronak. »Sagt auf Wiedersehen zu dem Elfen.«

»Haben wir etwas Schlimmes getan?«, fragte die Brünette.

»Nein, gar nicht!«, versicherte Salarin. »Ich freue mich, euch kennenzulernen.«

»Aber ein Heller für jede von euch muss es trotzdem sein«, sagte Bronak streng.

Salarin wurde traurig, weil die Unbeschwertheit verklungen war. »Wieso tust du das?«, fragte er.

»Geht schon einmal vor«, forderte Bronak die beiden Mädchen auf.

Mit hängenden Schultern zogen sie ab.

»Keiner hat etwas gekauft«, raunte Bronak. »Kein Einziger! Die Alte hat zwei Flaschen von meiner Tinktur genommen, aber sie gibt keine Münzen dafür. Wir kriegen ein warmes Abendessen und dürfen in der Scheune schlafen, das ist alles. Ein schönes Fest der Freuden ist das dieses Jahr! Wir hätten es in Gallys versuchen sollen.«

»Du hast doch gesagt, dass in den Städten so viele Wanderhändler sind, dass sich die Münzen zu sehr verteilen.«

»Ja.« Missmutig öffnete und schloss er das Vinsalter Ei. »Aber nach Auweiler verirrt sich überhaupt niemand, der bereit ist, auch nur einen Heller für sein Vergnügen auszugeben. Es war ein Fehler hierherzukommen.«

Das fand Salarin nicht. Er sah zu den Mädchen hinüber, die nun mit ihrer Mutter sprachen. Er freute sich wirklich, die Kinder kennengelernt zu haben.

Auweiler,

sechster Tag im Vinmond, vor sechs Jahren

Wenn er sich einmal niederlassen und ein Haus bauen würde, überlegte Bronak, würde er sich auch Gänse anschaffen. Die waren besser als jeder Wachhund. Wenn sich ein Fremder näherte, weckten sie nicht nur den Besitzer, sondern das ganze Dorf. Während Bronak mit seinen Schlafdecken auf dem Arm am Gehege mit dem hüfthohen Zaun entlang zur Scheune schritt, schnatterte das Federvieh unentwegt. Jede Gans schien alle anderen an Lautstärke übertreffen zu wollen.

Das hölzerne Klappern hörte er erst, als er das Tor aufzog. Altima, die Tochter des Hauses, saß an einem Webstuhl, groß wie ein Bettgestell. Mit den Füßen kippte sie ein Brett, wodurch die senkrecht stehenden Schäfte ihre Position wechselten. Eine Hälfte der längs verlaufenden Kettfäden wurde angehoben, die andere abgesenkt. Altima schleuderte das Schiffchen mit dem Schussfaden zwischen den Kettfäden hindurch, beugte sich weit nach rechts und fing es auf. Sie zog das an einen großen Kamm erinnernde Weberblatt heran, um die neue Bahn des Fadens eng an die bereits gewebten zu drücken. Dann trat sie wieder das schräge Brett, und erneut tauschten die Schäfte knallend ihre Position.

Bronak beobachtete die junge Frau, während er das Tor hinter sich zuzog. Gegen Abend war es doch noch ein schöner Tag geworden, durch Öffnungen nahe dem Dach fiel Licht in die Scheune. Zusätzlich stand eine Laterne auf einem Schemel neben dem Webstuhl. Sie war aufwendig gearbeitet, mit einer fliegenden Gans aus Blech als Aufsatz. Wenn man die Lampe am Bügel hielt, würde die aufsteigende Hitze nicht die Finger verbrennen, sondern aus dem vorgestreckten Hals entweichen.

Die Scheune kündete von der Ordnungsliebe ihrer Besitzer. Rechen, Spaten, Hämmer, Hacken und Äxte waren der Größe nach sortiert an der rechten Wand aufgehängt, den Abschluss bildete eine Sense. Die Stiele der Werkzeuge waren exakt senkrecht ausgerichtet. Neben dem Webstuhl stand ein Leiterwagen, dessen Streben wie die Rippen eines Wals aussahen. Der mit unregelmäßigen Steinplatten ausgelegte Boden war gefegt, der Heuboden sorgfältig gefüllt, unter ihm standen Fässer und Säcke aufgereiht.

Altima war nicht hässlich, bemerkte Bronak, während sich die junge Frau abwechselnd zur einen und zur anderen Seite beugte, um das Schiffchen einzufangen. Sie machte nur wenig aus sich. Eine schmucklose Haube hielt das blonde Haar aus dem Gesicht, und das Leinenkleid war so lieblos geschnitten wie ein Beutel, in dem man Fische nach Hause trug.

Als er sich ihr näherte, zuckte sie zusammen und sah von ihrer Arbeit auf.

Bronak legte die Decken über den rechten Oberarm und hob beschwichtigend die Linke. »Deine Mutter hat uns traviagefällige Gastung angeboten. Salarin und ich dürfen heute Nacht in eurem Heu schlafen.«

»Ja. Sie hat es mir erzählt. Ich habe bloß nicht so früh mit Euch gerechnet. Draußen ist es ja noch hell.«

Er zuckte die Achseln. »Ich will nur schon einmal unser Lager herrichten. Außerdem finde ich mich dann später im Dunkeln besser zurecht.«

Sie blickte an ihm vorbei. »Wo ist Euer Elf?«

»Er wandert noch ein bisschen umher. Vielleicht streift er über die Weiden, oder er leistet den Feiernden für den Abschluss des Fests der Freuden Gesellschaft. Möglich, dass er das Nachtlager gar nicht braucht. Elfen müssen nicht jede Nacht schlafen.«

Stolz hob sie das Kinn. »Ich weiß.«

»Dann hast du vorher schon einmal Elfen gesehen?«, fragte Bronak mit leichtem Spott.

»Am Ochsenwasser lebt eine Sippe. Die Himmelsluchse.«

Forschend musterte er ihr Gesicht. Nach einer Aufschneiderin sah sie eigentlich nicht aus, aber die Bauernschläue von Dörflern durfte man nicht unterschätzen. Für Altima musste er ein weit gereister Mann sein, der viel mehr gesehen hatte als sie, die vermutlich nur die benachbarten Ortschaften kannte. Aber der See Ochsenwasser war nahe. Dass sie dort schon gewesen war, hielt Bronak nicht für abwegig.

»Woher habt Ihr Euren Elfen überhaupt?«, fragte sie.

»Aus Taladur.« Bronak grinste. »Er war ganz verloren dort.«

»Taladur …« Die verträumte Art, mit der sie den Silben nachschmeckte, verriet, dass sie diesen Namen mit einer Ferne voller Verheißungen verband.

»Ein Webstuhl in einer Scheune …« In einer halben Umarmung griff er um sie herum nach dem Schiffchen. »Das ist ein ungewöhnlicher Ort dafür.«

Altima wich seiner Berührung nicht aus. »Meine Eltern haben ihn angeschafft, damit ich eine traviagefällige Beschäftigung habe, wenn die Hausarbeit getan ist«, sagte sie säuerlich. »Aber den Lärm wollen sie nicht im Haus haben. Außerdem nähme der Webstuhl dort zu viel Platz weg.«

Bronak legte die Decken auf der Bank neben der jungen Frau ab und beugte sich weiter vor, was die Berührung intensivierte. Leider trug Altima kein Duftwasser, aber ihre Rundungen aus der Nähe zu sehen erregte Bronak trotzdem. Es war lange her, dass er sich eine so junge Frau gegönnt hatte.

Er strich über das auf den Rahmen gespannte Gewebe. »Was machst du da?«

Sie tat, als ob sie seine Nähe nicht bemerkte. Oder lehnte sie sich sogar ein wenig gegen ihn?

»Ein Tischtuch«, antwortete sie. »Das Fischgrätmuster mag man auf dem Markt in Rommilys besonders gern, meint Mutter.«

Gelbe und orangefarbene Balken bildeten einen versetzten Zickzack. Die Stelle, an der Altima gerade webte, wurde allerdings ein durchgängiger roter Streifen.

»Wenn du heute daran arbeitest, feierst du wohl nicht gern?« Bronak sprach jetzt so leise, dass er beinahe flüsterte. Seine Lippen waren nah an ihrem rechten Ohr. »Hast du keine Lust, das Fest der Freuden zu begehen?«

»Meine Eltern halten nichts von Rahjas Verlockungen. Sie wollen meinen Fleiß fördern, der wird mir im Leben mehr Glück bringen, sagen sie.«

»Das klingt, als hätten sie dich damit nicht überzeugt.«

Sie sah zur Seite.

Geistesgegenwärtig zog sich Bronak ein Stück zurück, damit ihre Wange nicht seine Nase berührte.

Altima strich über seine Decken. Sie waren aus vielfach ausgekämmter Wolle gewebt und in einem edlen Blau gefärbt.

»Wo liegt dieses Taladur?«, fragte sie.

»Am Valquir.« Er setzte sich auf ihre andere Seite, mit dem Rücken zum Webstuhl, an den er sich lehnte. So waren sie sich noch immer sehr nah, konnten sich aber ansehen. Sie hatte braune Augen, deren Farbe gut zum satten Blond ihres Haars passte. Wie Haselnüsse und reifes Korn. »Der Valquir ist ein Fluss in Almada«, erklärte er mit einem Raunen, wie Märchenerzähler es gern benutzten. »Im Land des Weins, der nach Sonne und Stolz schmeckt, wo feurige Rösser über die Weiden preschen.«

Die Vorstellung ließ Altima sehnsüchtig lächeln.

»In Taladur gilt die Ehre alles. Die Vornehmen wohnen nicht in Palästen, sondern in Türmen, die sie mitten in der Stadt gebaut haben. Je höher der Turm, desto größer die Ehre der Familia. Und wenn ein Amazetti einer Ernathesa begegnet …« Er schnalzte mit der Zunge. »Die Degen sitzen locker. Wenn man einen roten Fleck auf einer der vielen Treppen dort sieht, kann es ebenso gut Blut wie Wein sein.«

Mit weit geöffneten Augen hing sie an seinen Lippen. »Das klingt nach Abenteuer.«

»O ja«, bekräftigte er. »In Almada verachtet man die Gefahr. Wer feige ist, gilt nichts. Jeder muss seinen Mut beweisen, und den Herrn Boron nennen sie dort dunkler Cumpan. Sie trinken auf ihn, wenn sie ihre Degen schleifen und auch wenn der Totenrabe einen von ihnen über das Nirgendmeer trägt.«

»Sie freuen sich über den Tod?«

Bronak schüttelte den Kopf. »Das trifft es nicht. Sie feiern ein gutes Leben. Eines, das in vollen Zügen genossen wurde, gerade weil niemand weiß, wann es enden muss.« Er griff an ihren Busen und knetete ihn vorsichtig.

Ihre Reaktion überraschte ihn. Die Frauen, die er auf diese Art kennengelernt hatte, wandten sich ihrem Freier entweder zu, erstarrten oder entzogen sich ihm. Altima tat nichts davon. Sie blieb einfach sitzen. »Ich will mehr als das«, sagte sie schlicht.

Er runzelte die Stirn. »Ich mache gern wieder Platz, wenn du zu Travias sittsamen Betätigungen zurückkehren willst.« Die Hand ließ er dennoch auf ihrer Brust.

»Ich bin kein dummes Kind mehr!«, stellte sie klar. »Ich habe es schon einmal getrieben.«

»Oho! Dann bist du dem Fest der Freuden wohl doch nicht gänzlich abgeneigt?«

Trotzig hob sie das Kinn. »Es war am Tag der Heimkehr.«

»An Travias höchstem Feiertag?«, fragte Bronak verblüfft.

»Wir haben meine Großeltern in Dorp besucht. Die haben einen Nachbarsjungen mit strammem Gesäß.«

Bronak lachte anerkennend. »In dir steckt mehr, als der Anschein vermuten lässt.« Er zog die Schleife auf, die ihr Kleid am Kragen zusammenhielt.

»Ich habe es satt, brav zu sein.« Zu seiner Enttäuschung entzog sie sich ihm, indem sie aufstand. »Ich gehe hier weg.« Sie ging zu der Wand, an der das Werkzeug hing, hockte sich hin und griff in einen Spalt zwischen zwei Brettern.

Neugierig erhob sich auch Bronak.

Sie kam mit etwas Funkelndem in der Hand zurück zu ihm. Es war ein Silberring, gefertigt aus drei Drähten, die einander umflochten und eine Perle hielten. Ein solches Schmuckstück hatte er in diesem Dorf wahrlich nicht erwartet!

»Das sieht aus wie …«

»… Elfenwerk«, vervollständigte sie seinen Gedanken. »Ich habe doch gesagt, dass ich schon einmal Elfen begegnet bin.«

Er beherrschte sich, um nicht nach dem Kleinod zu grapschen.

»Die Himmelsluchse haben ihn mir gegeben.« Altima gluckste. »Dafür, dass ich ein paar Gänse freigelassen habe.«

Ungläubig starrte Bronak die Blondine an.

»Meine Eltern haben mich nach Rommilys geschickt. Ich sollte dort Gänse kaufen, die unter der Aufsicht des Hohen Paars gezüchtet wurden. Sie glauben, dass ein besonderer Segen auf diesen Tieren liegt.«

»Du bist ganz allein nach Rommilys gereist?«, versicherte sich Bronak.

»Ich habe mich natürlich anderen Reisenden angeschlossen, ich bin doch nicht dumm!«

»Natürlich nicht.«

»Für den Rückweg habe ich nur eine Gruppe gefunden, die am Ostufer des Ochsenwassers nach Norden reisen wollte. Sie meinten, das wäre schneller. Ich glaube das nicht. Es ist zwar kürzer, aber die Wege sind auch schlechter.«

»Und da hast du die Elfen getroffen, die dir diesen Ring geschenkt haben?«

»Sie haben ihn mir nicht geschenkt. Sie haben die Freiheit meiner Gänse dafür gekauft.«

»Du hast einfach den Käfig geöffnet und die Vögel fliegen lassen, und dafür haben sie dir diesen Ring gegeben?« Bronak konnte es nicht glauben.

»Es hat sie glücklich gemacht, haben sie gesagt.«

»Und was haben die anderen Reisenden dazu gesagt?«

»Sie wussten nichts davon.« Altima lächelte zufrieden. »Es war nachts, sie haben geschlafen. Ich habe den Käfig so hergerichtet, dass es aussah, als hätte sich die Klappe gelöst.«

»Ganz schön durchtrieben.« Je besser Bronak diese Frau kennenlernte, desto attraktiver fand er sie.

»Aber meine Mutter … sie hat mich ihre Enttäuschung spüren lassen, als ich ohne die Gänse nach Hause gekommen bin. Am nächsten Tag konnte ich nicht sitzen.«

»Das waren einträgliche Schläge, wenn du mich fragst.« Seine Finger näherten sich dem Ring.

Schnippisch schloss Altima die Faust darum. »Du musst mich mitnehmen. Dann zeige ich dir, wo du die Himmelsluchse findest.« Verlockend schwenkte sie die Hand. »Wo das hier herkommt, ist noch mehr zu holen.«

»Mir ist, als hätte ich schon einmal von den Schätzen des Ochsenwassers gehört … Ich habe das für Kindergeschichten gehalten.«

»Sie sind wahr«, versprach Altima. »Man kann sie anfassen, und sie verschwinden nicht mit dem Morgenrot.«

Bronaks Gedanken kreisten um den Silberring. Bei dieser Verarbeitung und mit der Perle mochte er ebenso viel wert sein wie sein Wagen mit dem gesamten Inhalt und dem störrischen Maultier. Zwei oder drei davon …

»In Ordnung, ich nehme dich mit. Wenn wir morgen weiterziehen, nehmen Salarin und ich die Straße nach Südosten und warten ein paar Meilen von hier auf dich.«

»Heute Nacht schnüre ich mein Bündel«, kündigte Altima an. »Aber vorher …« Lüstern sah sie ihm in die Augen. Sie steckte den Ring an ihren Finger, bevor sie das Hemd aus seiner Hose zog. »Noch ist Zeit, das Fest der Freuden zu feiern.«

Nahe Dettenhofen,

neunter Tag im Vinmond, vor sechs Jahren

»Da hast du zwei prachtvolle Fische gefangen!« Altima wendete die Forellen auf dem Rost, den sie von zu Hause mitgenommen hatte.

Bronak nickte, steckte das Hemd in seine Hose und setzte sich auf einen Schemel neben der Feuerstelle. Die Flammen brannten gerade nach oben, sie hatten den Wagen so abgestellt, dass er den Wind abhielt. Der Rauch war dicht, weil das Holz in den Regenfällen der vergangenen Tage Nässe gezogen hatte. Aber das musste nicht schlecht sein. Altimas Vater meinte, dass Fisch beim Braten Rauch ziehen sollte, dann wurde er würziger.

Altima lächelte zufrieden. Es war gut möglich, dass sie ihre Eltern nie wiedersähe. Sie waren jetzt schon den dritten Tag unterwegs. Mit jeder Stunde und jeder Meile wurde es unwahrscheinlicher, dass man sie erwischte und zurückholte. Wobei eigentlich ohnehin niemand das Recht hatte, sie gegen ihren Willen wieder zum elterlichen Hof zu schleppen. Sie war zweiundzwanzig, viele andere Frauen in ihrem Alter hatten bereits Kinder.

Während sie eine Gabel durch die knackende Schuppenhaut eines der beiden Fische stach, musterte sie Bronak mit einem verstohlenen Blick. Sechsmal hatten sie es jetzt schon getan. Ob er der Vater ihrer Kinder sein würde?

Er war ein starker Mann. Unabhängig, ließ sich von niemandem reinreden, wie er leben sollte. Sicher, er war ein bisschen alt. Aber besser ein alter Freigeist als ein junger Bursche, dessen Vorstellungskraft ebenso eingezäunt war wie die Gänse, denen man die Schwungfedern ausgerissen hatte. Altima wollte nie wieder etwas Orangefarbenes tragen. Mit Travia war sie fertig, die hatte schon genug von ihrem Leben bekommen! Aves der Wanderer und Rahja die Schöne … das waren die Gottheiten, denen sie sich nun zuwenden würde.

»Bist du sicher, dass du nichts von den Fischen willst, Salarin?«, rief sie.

»Ich habe schon mit Morgel gegessen«, wehrte er ab.

»Es ist mir ein Rätsel, wie man freiwillig so viele Rüben verdrücken kann«, meinte Bronak.

Salarin Trauerweide war ein Sonderling, aber das war Altima recht. Nicht nur, weil ihr dadurch mehr vom Fisch blieb, sondern auch, weil er ihr und Bronak nachts den Wagen überließ. Ob er wirklich keinen Schlaf brauchte und stundenlang im Sternenlicht umherwanderte oder sich irgendwo unter einem Busch zur Ruhe legte, wusste Altima nicht. Es war ihr auch gleichgültig; Bronak zeigte ihr im Wagen genug Dinge, über die sie nachdenken konnte.

Sie merkte, wie sie errötete. Wenn ihre Eltern wüssten, auf welche Weise er sich ihrer ach so artigen Tochter widmete, würden ihnen die Sinne schwinden. Altima kicherte.

Obwohl er sich gerade erst gesetzt hatte, stand Bronak wieder auf, legte die Hände auf dem Rücken übereinander und ging auf und ab, wobei er den Wald beobachtete. Auf den Hügeln im Osten standen die Birken nicht besonders dicht, aber es gab viel Buschwerk. Jeder Windstoß ließ die Blätter rauschen. Am Horizont erhob sich das Gebirge, die Trollzacken. Altima fragte sich, ob dort wohl wirklich Trolle lebten, doppelt so groß wie ein Mensch, mit Bärten, die bis zum Boden reichten.

Auf der anderen Seite, jenseits der Straße, erstreckte sich das Ochsenwasser. Der See war so groß, dass man trotz des klaren Tags das gegenüberliegende Ufer nicht sehen konnte. Der Wind spielte mit den Wellen. Manchmal zauberte er ihnen einen weißen Kamm oder ließ sie klatschend auf den Uferkies treffen. Man konnte sich vorstellen, dass Luftgeister über dem See tanzten und neckisch die Wasseroberfläche berührten.

»Warum spielst du nicht auf deiner Flöte, Salarin?«, fragte Bronak. »Vielleicht lockt sie das an.«

Der Elf tat ihm den Gefallen. Die Melodie seines Lieds erinnerte an einen Schwarm Spatzen, die in einer Baumkrone spielten.

Altima benutzte die Gabel und einen Holzlöffel, um die Forellen auf die Zinnteller zu legen. Die warmen Beeren hatte sie bereits angerichtet. Sie wickelte ein Tuch um den Henkel der Blechtasse, die sie am Rand des Feuers abgestellt hatte, um darin ein Stück Butter zu schmelzen, und goss den Inhalt über die Fische. Den Abschluss bildete jeweils eine Prise Küchenkräuter aus ihrem weißen Beutel, dann reichte sie Bronak den Teller mit der größeren Forelle. Sie wollte, dass er heute Nacht bei Kräften war. »Das Essen ist fertig!«

Er nahm Teller und Besteck und setzte sich wieder.

Sie gab ihm auch einen eingeschnittenen, grüngelben Perainapfel. »Du musst den Saft über dem Fisch auspressen. Aber nimm nicht zu viel davon, er ist sehr sauer.«

Brummend folgte er ihrer Anweisung. Ihr gefiel, dass er sich den ersten Bissen in den Mund steckte, ohne zuvor ein Tischgebet zu sprechen. Aber er wirkte missmutig.

»Was hast du denn?«, fragte sie.

»Wir warten schon den ganzen Tag.« Er zog sich eine Gräte aus dem Mund und warf sie ins Feuer. »Bist du sicher, dass du die Elfen hier getroffen hast?«

»Ganz bestimmt.« Sie zeigte auf einen Felsen am Ufer. Er sah aus wie eine Säule aus Wachs, etwas oberhalb der Mitte knickte er leicht schräg ab. »Das ist der Jüngling. Er hat so sehr über den Verlust seiner Liebsten geweint, dass sein Körper über die Tränen die ganze Flüssigkeit verloren hat, sagen die guten Leute von Dettenhofen.« Diese Redensart, die guten Leute, hatte sie von Bronak übernommen. Er benutzte sie ständig. »Innerhalb eines Tages ist er vertrocknet und wurde zu einem Stein.«

»Eine alberne Geschichte«, urteilte Bronak.

»Jedenfalls erinnere ich mich, dass wir die Himmelsluchse bei unserer Rast am Jüngling getroffen haben«, murmelte Altima.

Sie verzichtete darauf, ihm zu erzählen, dass manche auch glaubten, dass aus den Tränen des Jünglings das Ochsenwasser entstanden sei. Das fand sie selbst unglaubwürdig, obwohl es eine romantische Vorstellung war. Ein See, weiter als das Auge reichte, aus Tränen, die ein junger Mann im Liebeskummer vergossen hatte … Sie unterdrückte ein Seufzen.

Altima fand, dass ihr der Fisch gut gelungen war. »Die Wangen sind am leckersten.«

Statt ihrem Rat zu folgen, schob Bronak das Essen mit der Gabel auf dem Teller hin und her. Er schien ihre Begeisterung nicht zu teilen. War er andere Gewürze gewohnt?

Auch im Wagen war er heute Morgen nicht mehr so leidenschaftlich bei der Sache gewesen wie zuvor. Ob Altima ihm zu langweilig wurde?

Sie sah auf den See hinaus, damit er ihre besorgte Miene nicht bemerkte. Sicher kannte er ganz andere Frauen als sie. Ja, da war diese Geschichte mit dem Nachbarsjungen ihrer Großeltern gewesen, aber ansonsten hatte Altima keine Erfahrung mit Männern. Und dieser Bursche … es war wohl auch sein erstes Mal gewesen.

Sie wurde wütend auf ihre Eltern. Altima war zweiundzwanzig, und ihr war so viel entgangen! Andere Mädchen tobten sich an jedem Fest der Freuden aus, und auch sonst ging es in den meisten Häusern weniger streng zu.

Aber sie würde alles nachholen!

Sie lauschte Salarins Flötenspiel und stellte sich vor, dass sie jetzt frei wie ein Vogel war. Wenn Bronak sie nicht mehr wollte, würde sie eben nach Rommilys gehen. Dort gab es viele gut aussehende Männer.

Oder noch besser: Sie würde sich aufmachen nach Taladur! Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmte, was Bronak darüber erzählte, war das ein Ort ganz nach ihrem Geschmack. Edle Rösser, stolze Männer …

Entschlossen rammte sie die Gabel in den Fisch und steckte sich ein so großes Stück in den Mund, dass etwas davon zurück auf den Teller fiel, als sie zu kauen begann. Dafür hätte sie sich am elterlichen Tisch eine Ohrfeige eingehandelt, aber hier tat sie, was sie wollte. Und in Taladur würde sie sich einen blitzenden Degen besorgen und lernen, damit zu fechten! Eine Menge Leute würden noch über Altima staunen. Sie würde sich auch so einen Hut mit einer bauschigen Feder kaufen, die so lang war wie ihr Arm, auch wenn sie sich noch nicht recht vorstellen konnte, wie so eine Kopfbedeckung aussah. Altima würde eine Menge Dinge tun, die sie sich jetzt noch nicht vorstellen konnte! Sie war endlich frei.

Salarins Flötenspiel endete. Es setzte auch nach mehreren Atemzügen nicht wieder ein.

Altima wandte sich im Sitzen um.

Vor Salarin stand ein anderer Elf zwischen den Büschen. Der Wind bewegte die hüftlangen Strähnen seines schwarzen Haars. Sein auffälligstes Kleidungsstück war eine Weste aus hellem Fell, das dunkle Tupfen musterten. Ein kleiner Lederbeutel mit Fransen daran hing an einem Gurt, der quer über seine Brust lief. Am Gürtel trug er ein langes, bösartig gebogenes Messer, die Scheide reichte beinahe bis zu seinem Knie hinab. In einem Futteral am rechten Wildlederstiefel steckte eine Flöte.

Plötzlich sprang Bronak auf. »Wie lange ist der schon hier?«

»Er beobachtet uns seit einer Stunde«, antwortete Salarin.

»Wieso hast du nichts davon gesagt?«

»Du hast mich nicht gefragt«, stellte Salarin fest. »Und dann hast du gesagt, dass ich auf meiner Flöte spielen sollte.«

Bronak lachte auf. Er machte zwei Schritte auf den fremden Elfen zu, traute sich aber wohl nicht näher heran. Stattdessen hielt er ihm den Teller mit der kaum angerührten Mahlzeit hin. »Mögt Ihr Fisch, Herr Elf? Er ist köstlich!«

Der Schwarzhaarige sah Salarin an. Er sprach mit zwei Stimmen. Altima verstand nicht, was er sagte, obwohl die Silben in klarer Schönheit an ihre Ohren drangen.

Sie stellte ihren Teller ab, stand auf und strich ihr Kleid glatt.

Salarin antwortete in der Elfensprache.

Bronak sah vom einen zum anderen.

Der Fremde war etwas kleiner als Salarin, und sein Gesicht war härter geschnitten. Wie bei allen Elfen, die Altima bisher gesehen hatte, war es vollkommen symmetrisch, und natürlich hatte er große Augen und spitze Ohren. Sie hütete sich, das Alter zu schätzen, weil sie wusste, dass Elfen immer jung blieben.

Nach einer Weile fragte sich Altima, ob die beiden noch miteinander sprachen oder ob sie gemeinsam sangen. Vielleicht war das bei Elfen mehr oder minder dasselbe.

Bronak stellte sich neben sie. »Ist das derjenige, von dem du den Ring hast?«, wollte er wissen.

»Nein. Der hatte blaue Augen.« Die Iriden von Salarins Gesprächspartner hatten die Farbe von dunklem Bernstein.

Der melodische Austausch der beiden kam zu einem Ende. Der Fremde sah die Menschen an.

»Das hier sind Bronak, ein Wanderhändler, und Altima, die so laut stöhnt.«

Altima spürte die Hitze in ihr Gesicht schießen und war froh, dass sich Salarin nicht weiter mit ihr aufhielt, sondern auf das Maultier zeigte, das neben dem Wagen graste.

»Und das ist Morgel.«

Wie auch bei Salarin fanden die beiden Stimmen des Schwarzhaarigen einander umspielende Melodien, auch wenn er jetzt Garethi sprach. »Ihr gebt euren gefangenen Tieren Namen?«

Eine nachdenkliche Falte erschien auf Salarins Stirn. Er zögerte einen Moment, bevor er den anderen Elfen vorstellte. »Das hier ist Valayar Himmelsluchs.«

»Wusste ich es doch!«, entfuhr es Altima.

Fragend sah Bronak sie an.

»Ich habe doch gesagt, dass hier die Sippe der Himmelsluchse lebt«, erklärte sie.

Bronak winkelte den linken Arm ab.

Altima schlang den ihren darum. Sie hatte davon gehört, dass vornehme Herren auf diese Weise mit ihren Damen spazieren gingen.

Bronak führte sie am Lagerfeuer vorbei zu Valayar. »Ich freue mich außerordentlich, Eure Bekanntschaft zu machen. In der Tat haben wir unser Lager nur deswegen hier aufgeschlagen, weil wir hofften, Euch zu treffen.«

»Weshalb sehnt sich dein Herz nach mir?«

Bronak lachte verlegen.

Das war Altimas Gelegenheit, zu zeigen, dass sie nicht nur ein dummes Mädchen war, sondern die Dinge in die Hand nehmen konnte! Sie streckte die Linke vor und spreizte die Finger, sodass der Silberring in der Sonne glänzte. »Das haben mir die Himmelsluchse geschenkt. Es gefällt mir sehr.«

»Schön, dass es dir Freude macht«, befand Valayar.

Bronak wollte sich die Führung des Gesprächs wohl nicht einfach so abnehmen lassen. »Stimmt es, dass im Ochsenwasser noch weitere solche Schätze liegen?«, fragte er schnell, beinahe hastig.

»Dieser See kennt die Lieder vieler Zeiten«, meinte Valayar. »Wer lange genug seinen Wellen lauscht, hört, dass er sie noch immer singt.«

Sie folgten seinem Blick und sahen auf die Wasserfläche hinaus. Sie erschien unermesslich.

»Ja, schön …«, sagte Bronak. »Aber was ist mit Silber? Oder gar Gold?«

»Auch solcherlei hat der Lonurdin gesehen. Und manches davon hat er behalten. Manchmal schenkt er den Nixen davon, und sie schenken es an uns weiter, wenn ihnen danach ist.«

Erschrocken schrie Altima auf.

»Was hast du?«, fragte Salarin.

»Nixen! Sie tun freundlich und unschuldig, aber sie trinken Menschenblut.«

»Wer sagt denn so etwas?« Bronak lachte spöttisch. »Derselbe, der dir erzählt hat, Jünglinge würden zu Stein, wenn sie ihren Liebsten nachtrauern?«

»Manchmal werden sie das«, sagte Valayar ernst.

Verdutzt sah Bronak ihn an.

Altima versuchte, an der Miene abzulesen, ob der Elf scherzte, aber seine Züge waren zu fremd.

»Wenn ihr wollt, seid ihr willkommen, in unserem Dorf mit uns zu singen«, lud Valayar sie ein. »Doch bedenkt, ob das wirklich euer Wunsch ist.« Sein Blick richtete sich auf Altimas Augen. »Der Weg, den einer von euch gehen will, mag für den anderen der falsche sein. Viele Melodien harmonieren nicht miteinander. Willst du nicht lieber dein eigenes Lied singen?«

Altima fühlte ihr Herz pochen. Sie dachte daran, was ihr blühte, wenn sie nach Hause käme. Vielleicht hatten ihre Eltern gar nicht nach ihr gesucht, sondern glaubten, dass die Ausreißerin schon von allein umkehrte, um ihren Platz am Webstuhl reumütig wieder einzunehmen.

Diese Genugtuung gönnte sie ihnen nicht. Zumal zu befürchten stand, dass ihre Mutter den Teppichklopfer an Altimas Hintern zum Einsatz brächte. Ihr Vater dagegen würde ihr mondelang mit spitzen Bemerkungen zusetzen. Das wäre noch schlimmer.

Sie schluckte, um ihren Hals freizubekommen. »Nein, ich komme mit euch.«

Biamandra,

zehnter Tag im Vinmond, vor sechs Jahren

Ohne Hast wanderte Valayar Himmelsluchs mit Salarin Trauerweide durch Biamandra. Das Dorf der Elfensippe hatte wenig mit den Siedlungen der Menschen gemein. Die Häuser suchten die Harmonie mit ihrer Umgebung, Drinnen und Draußen waren nicht klar unterschieden. Ein Birkenhain verdichtete sich, irgendwann bildeten seine Kronen ein regendichtes Dach. Darunter wuchsen Blumen, die den Halbschatten liebten, immer höher und enger beieinander, ließen aber Pfade frei und schufen auch Platz für runde Bereiche, in denen nur weiches Moos wuchs. Diese Lichtungen innerhalb des Blumendickichts konnte man mit Zimmern vergleichen, wobei Salarin den Eindruck gewann, dass es keine fest zugewiesenen Räume gab. Er selbst und seine menschlichen Begleiter, von denen er nicht wusste, wo sie sich in diesem Moment befanden, hatten sich nach Belieben einen Ruheplatz wählen dürfen, und so hielten es die Angehörigen der Sippe wohl auch.

Valayar ging voran in einen weiteren Wohnhain. »Hier blüht wundervoll duftender Lavendel«, kündigte er an. »Du wirst sehen: Er hat beinahe die Farbe deiner Augen, nur ein bisschen dunkler.«

Salarin folgte ihm zwischen die weißen Stämme. »Wie viele solcher Behausungen gibt es in Biamandra?«

»Fünf größere«, antwortete Valayar. »Ein paar Dutzend kleinere. Manche sind sechs Meilen entfernt.«

»So weit?«, staunte Salarin.

»An sonnigen Tagen sind die Hügel sehr schön«, erklärte Valayar. »Und ein Jäger, der lange allein in der Wildnis war, schätzt oft eine entlegene Unterkunft, wo er sich langsam wieder an die Gemeinschaft gewöhnen kann. Es ist sanfter, wenn man das eigene Lied mit Geduld wieder in den Gesang der Gemeinschaft einbringt, statt alle plötzlich mit den neuen Eindrücken zu bestürmen, die man gewonnen hat.«

»Meine neuen Gedanken kamen nicht plötzlich«, erinnerte sich Salarin. »Dennoch musste ich ihretwegen die Goldregenglanzsippe verlassen. Im Salasandra schufen sie zu viel Disharmonie.«

Valayar beugte sich hinab zu einem Lavendelstrauch und zog eine Blüte zu seiner Nase. Lächelnd atmete er ein.

Salarin tat es ihm nach. Der süße Duft erfüllte seine Brust mit Leichtigkeit. Diese Blumen schienen ihm sagen zu wollen, dass jeder Augenblick entscheidend war, denn das Leben bestand aus nichts anderem als aus Augenblicken.

Auch einige Bienen genossen die Süße der violetten Blüten. Hier, am Rand des Hains, summten nur eine Handvoll von ihnen, aber weiter im Innern, wo die Sträucher dichter standen, tanzten Hunderte in den honigfarbenen Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach fielen.

»Stechen sie, wenn wir näher kommen?«, fragte Salarin.

»Nicht, wenn du deinen Degen in der Scheide lässt«, erwiderte Valayar. »Wir stechen sie nicht – sie stechen uns nicht. Das ist unsere Abmachung.«

Salarin lachte.

Sie schritten tiefer in den Hain. Bald erreichten die Lavendelsträucher eine Höhe von zwei Schritt und bildeten so etwas wie Wände zwischen den Birkenstämmen.

»Die Menschen in Almada lieben Labyrinthe«, erzählte Salarin. »Sie spielen dort gern Verstecken.«

»Was verstecken sie?«, fragte Valayar.

»Sich selbst.«

»Haben sie Angst vor den anderen Menschen, oder suchen sie die Einsamkeit?«

»Nein, sie wollen gefunden werden. Besonders gern lassen sie sich von jemandem suchen, in den sie verliebt sind.«

»Die Rosenohren sind seltsam.« Valayar schüttelte den Kopf.

»Da hast du recht.« Vorsichtig hob Salarin die Hand in eine Wolke tanzender Bienen. Die gelb-schwarzen Insekten summten um seine gespreizten Finger.

Valayar musterte ihn mit seinen bernsteinfarbenen Augen. »Du erscheinst mir nicht wie jemand, der Disharmonie bringt.«

Freudlos zuckte Salarin mit den Achseln und ließ die Hand sinken. »Ich habe Fragen, die meine Sippe störten.«

»Weil niemand die Antworten wusste?«

»Weil sie die Suche nach den Antworten nicht in ihrem Leben haben wollen. Ich habe eine alte Statue entdeckt, zum Teil von Moos bewachsen. Ein leicht bekleideter Mann, der die Arme zur Seite streckt.« Salarin vollzog die Geste nach. »Spatzen landen darauf, und er blickt gen Himmel. Seine Miene ist sehr feierlich.«

»Und er ist ein Elf?«

»Er sieht aus wie ein Elf, aber er ist ein Gott.«

Valayar blieb nicht stehen, er ging weiterhin mit ruhigen Schritten durch den Wohnhain, doch er nickte bedächtig.

Salarin zeigte in einen der moosbewachsenen Bereiche. »Hat die jemand vergessen?« Einsam lag eine ordentlich gefaltete Tunika in der Mitte der Fläche. Auf hellbraunes Wildleder war mit blauem Faden ein Sternenmuster gestickt. Auch als er sie aufnahm und auffaltete, fand Salarin keinen Mangel daran.

»Derjenige, der sie vorher getragen hat, wird sie nicht mehr wollen«, vermutete Valayar.

»Lasst ihr alle Dinge, die ihr nicht mehr wollt, einfach liegen?«

»Wenn wir glauben, dass sie jemand anderem gefallen könnten, tun wir das. Möchtest du sie haben?«

Salarin hielt die Tunika gegen seine Schultern. »Sie ist mir zu klein.«

»Dann wartet sie wohl auf jemand anderen.«

»Bronak würde sie mitnehmen und irgendwem verkaufen.«

»Ja, die Rosenohren sind seltsam. Es ist doch viel schöner, ein Geschenk von einem Unbekannten zu finden. Oder zu wissen, dass man Freude in das Lied der Welt haucht, ohne sich mit dem Wunsch nach einer Gegenleistung zu belasten.«

Salarin nickte, faltete die Tunika wieder zusammen und legte sie zurück. Sie sah aus, als ob sie selten getragen worden wäre. Vielleicht sogar noch nie. Der Elf, der sie genäht hatte, mochte sie mit der Absicht gefertigt haben, sie zu verschenken.

Sie gingen weiter. In einem der Freiräume des Hains sangen drei Kinder gemeinsam, in einem anderen flocht eine Elfe das Haar eines Manns, der währenddessen ein helles Tuch bestickte.

»Glaubst du, es ist weise, nach Göttern zu suchen?«, fragte Valayar. »Ariacron sagt, dass ihre Verehrung zu nichts Gutem führt, und er ist ein weiser Anführer.«

»Kann man verehren wollen, was man nicht kennt?«, überlegte Salarin. »Von Simia weiß ich nur den Namen und dass man diese Statue von ihm geschaffen hat. Von den anderen Göttern weiß ich noch weniger.«

»Wir haben zwei Götterstatuen in Biamandra.«

»Wirklich?« Überrascht sah Salarin seinen Führer an, der aber auch jetzt seinen gleichmäßigen Schritt beibehielt. »Ich höre deinen Stimmen an, dass du mir das ungern sagst.«

»Ich vernehme das Lied eines Suchers in dir«, sagte Valayar. »Solange es so laut klingt, wirst du keine Harmonie finden, Bruder. Du musst suchen, eorla. Es ist deine Bestimmung, diese Dinge aufzuspüren, wie ein Kundschafter nicht ruht, bis er einen Sprung Rehe oder eine reine Quelle für die Sippe auf der Wanderschaft gefunden hat. Aber ob deine Suche dich zu Freude oder Leid führen wird, vermag ich nicht zu sagen.«

Salarin versuchte, seine wirbelnden Gedanken zu ordnen. »Wenn diese Statuen Leid bringen würden – wieso habt ihr sie gemeißelt?«

»Das haben wir nicht. Sie stehen schon länger, als ich lebe. Im Salasandra singen wir davon, dass sie aus dem Wasser stammen. Es könnte sein, dass sie älter sind als die Himmelsluchse.«

»So wie die Schätze, die die Nixen bringen?«

»Das wäre möglich.«

Salarins Herz pochte so heftig, dass er Schwierigkeiten hatte, ruhig zu sprechen. »Ich würde diese Bildnisse sehr gern sehen.«