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Kampf um Freiheit und Liebe in Irland London 1587. Die Trickbetrügerin und Taschendiebin Barbary bekommt es mit der allerhöchsten Obrigkeit zu tun: Königin Elizabeth I. Deren Spione haben der Majestät ein brisantes Gerücht zugetragen, und so schickt sie Barbary ins widerspenstige Irland. Dort soll sich die junge Frau als Enkelin der Piratenkönigin Grace O'Malley ausgeben und den sagenhaften Erbschatz des Clans nach England holen. Barbary allerdings fühlt sich nur sich selbst verpflichtet. Doch dann wird sie in die aufflammende Rebellion unter Hugh O'Neill hineingezogen ‒ und begegnet inmitten politischer Intrigen und Kriegsdramatik der großen Liebe.
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Seitenzahl: 1304
Diana Norman
Die Piratenkönigin
Roman
Deutsch von Hanna Neves
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
In der letzten Stunde vor ihrem Tod tat Maire ni Domnall, was sie konnte, um die Zukunft des einzigen Kindes, das ihr geblieben war, zu sichern.
Mit gewohnter Autorität befahl sie ihre ohnehin schon frierenden Mitgefangenen aus ihren Hemden und Umschlagtüchern, ließ alles zusammenbinden und ein Seil daraus knüpfen. Während die anderen damit beschäftigt waren, zog sie das Kind in eine Ecke.
»Sag mir, wer du bist.«
Das Herunterleiern des Stammbaums dauerte ein paar Minuten.
Maire nickte: »Merk’s dir. Sag mir, wo der Schatz ist. Leise.«
Flüsternd nannte das Kind einen Ort und seine Kreuzpeilung.
Maire nickte. »Merk’s dir.«
»Aber ich will lieber hierbleiben und mit dir sterben, Mutter. Bitte.«
Maire schlug auf die kleinen Hände, die sich ihr entgegenstreckten. »Selbstsucht, Selbstsucht. Nun – durch Munster zurückgehen ist unmöglich.« Das Kind hatte ohnehin nur eine winzige Hoffnung, durchzukommen, aber in der Ödnis, die die Engländer aus Munster gemacht hatten, hätte es gar keine. »Geh in Richtung Hafen und such dir ein Schiff, am besten eines, das nach Westen segelt, aber vielleicht hast du keine Wahl. Für deine Überfahrt bezahl hiermit.« Es war ihr gelungen, ihren königlichen Gold-Torques vor den Häschern zu verbergen. Sie hätte sie damit bestochen, um ihr Leben zu retten, hatte aber mitangesehen, wie ein anderer Gefangener sein Leben mit einer Silberdose erkaufen wollte, worauf die Engländer behaupteten, sie sei gestohlen, ihm die Dose wegnahmen und ihn dann trotzdem hängten. Sie steckte den goldenen Halsreifen dem Kind unter das Wams und knöpfte es sorgfältig zu.
»Nun denn. Bevor wir dich durchschieben, werde ich zu schreien beginnen. Das ist nur, um die Wachen abzulenken; du musst nicht glauben, dass ich Angst habe.«
Zum ersten Mal log Maire, und das Kind wusste es; der letzte Faden ihres gemeinsamen Lebens dröselte sich auf und überantwortete es ganz dem Irrsinn, der sie umgab. Das kleine Gesicht, bisher starr vor Schrecken und Mut, wurde weich. Maire sah es und verlor beinah selbst die Fassung. Sie überlegte, ob es vielleicht für sie beide besser wäre, zusammen zu sterben, anstatt das Kind allein Gott weiß welchem Schicksal auszusetzen. Nein, das war es nicht. Sie wollte ihm gern einen letzten frommen Spruch mitgeben, als Versicherung, dass Gott zuletzt doch gütig war und die Heilige Jungfrau sie alle ganz gewiss beschützte – aber wozu das Kind noch einmal belügen. »Überlebe«, war alles, was sie sagte.
Der Wachturm war kein Gefängnis. Man hatte die Leute hier nur deshalb untergebracht, damit die englischen Soldaten, erschöpft vom Hängen so vieler Männer, Frauen und Kinder am Tag zuvor, sich eine Nacht lang erholen konnten, bevor sie den Rest aufknüpften. Doch gab es in allen drei Stockwerken nur Schießscharten anstatt der Fenster, und selbst diese hatten in der Nische davor eine neu eingelassene Eisenstange. Mit dem Dolch aus ihrem Stiefel hatte Maire in dem älteren Mörtel der Schießscharte zwei Steine gelockert und dankte ihrem Gott, dass ihr Kind den schmalen Schädel und die zierlichen Schultern ihres Clans besaß.
Sie legte dem Kind das Seil in die Hände und schob ihm den Rest zwischen die Beine. »Als ob du dich vom Rahnock runterlässt«, erklärte sie. »Halt dich ganz fest.« Sie zog sich an der Eisenstange hoch und sah hinaus. Sechzig Fuß unter ihr schritt ein gewissenhafter Posten seine Patrouille auf dieser Seite des Turms ab, hin und wieder schaute er herauf. Sie fing an zu schreien. Das war leicht; aufzuhören würde schwer werden.
Sie sah, wie der Posten den Kopf zu ihr nach oben wandte. Vielleicht würde er sich gar nicht rühren; er hatte schon zu viele schreiende Frauen gehört. Aber der Schrei aus ihrem Mund erlöste die anderen Gefangenen von ihrer Hoffnungslosigkeit in den Luxus der Panik. Mit einem Schlag vibrierte der Turm von ihrem Entsetzen, als wären seine Stockwerke übereinandergestapelte Töpfe voller Bohnen, die pfeifend überkochten.
Der Posten lief jetzt zu den Eingangsstufen in den Turm. Sie durfte keine Zeit verlieren. Maire hob das Kind empor, zwängte seinen Schädel zwischen Wand und Eisenstange, drehte den siebenjährigen Körper so, dass die Schultern seitlich vor dem Schlitz waren. Es war mühselig, das Seil um das Kind herum nach draußen zu schieben, aber es gelang ihr rechtzeitig. Sie sah das Gesicht im Mondlicht, aus der kleinen Nase lief ihm Blut in den Mund. »Halt ganz fest, mein Schatz.« Das zärtliche Wort war beinah ihr Verderben; das Kind klammerte sich an sie, konnte sie nicht verlassen. Maire zischte: »Überlebe, hab’ ich dir’s nicht gesagt?« Das Seil schwang hin und her, als das Kind in die Tiefe glitt, wo Maire es nicht mehr sehen konnte. Türen schlugen in den unteren Geschossen, Männer überbrüllten das Geschrei, in das Heulen der Hysterie mischten sich Schmerzensschreie.
Eine Frau krallte sich in Maires Arm. »Mein Sohn auch.«
Maire blickte hinab auf den Jungen, den man ihr entgegenstreckte. Ein typischer Munster-Bauer mit großem Schädel. Sie würden ihn nicht rechtzeitig durchzwängen können, bevor die Soldaten hier waren, die auf diese Weise erfahren würden, wie ihr eigenes Kind geflohen war, sodass sie es zu früh verfolgten. Sie nickte. »Gleich.«
Von der Treppe kamen Fußtritte. Maire spürte das Seil erschlaffen, sah eine winzige Gestalt quer über den Hof in den Schatten einer Lafette tauchen, innehalten, über die Hügelkuppe gleiten. Sie holte ihr Messer heraus und durchschnitt den Knoten, sodass das Seil hinunterglitt und ungesehen am Fuß des Turms zu liegen kam. Dann hob sie das Messer, für den Fall, dass die Mutter aus Munster sie vielleicht angriff, aber die Frau hatte keinen Kampfgeist mehr. Schluchzend fiel sie in sich zusammen.
Die Tür ging auf, Soldaten stürzten in den Raum und prügelten und knüppelten alles nieder. »Soll ich mir jetzt die Kehle durchschneiden«, fragte sich Maire, »und mir die Demütigung ersparen?« Aber Gott, falls es einen Gott gab, hatte etwas gegen Selbstmord, und die Ewigkeit unter den Menschen aus der Unterschicht zu verbringen, die die Hölle bevölkerten, war sicher die größere Demütigung.
Die Engländer begannen noch in derselben Nacht, die Gefangenen zu hängen, aus Furcht, dass die Hysterie in einen Ausbruchsversuch münden könne. Während sie in der Schlange auf den Galgen wartete, befreit von der Bürde ihres Kindes, hatte Maire Zeit, zornig zu werden, und fragte den Mann vor ihr, der Englisch konnte, ob er wüsste, warum sie gehängt würde.
»Wegen Hexerei, hieß es vor Gericht«, antwortete der Mann abwesend.
»Was heißt das?«, fragte Maire, die den Ausdruck nicht kannte.
Der Englischsprechende erklärte, es bedeute, jemand habe sie als gefährliches Weib denunziert, um sich selbst vor dem Galgen zu retten. »Aber ich kenne doch niemanden in dieser Gegend«, beteuerte Maire, wie schon in ihren unübersetzten Rufen während des Massenprozesses.
Der Englischsprechende zuckte die Schultern, während er die Stufen hinaufschritt. »Dass wir Iren sind, genügt, um uns alle zu hängen«, sagte er.
So kam Maire an den Galgen für ein Verbrechen, an dem sie nicht nur schuldlos, sondern über das sie auch ahnungslos war. Sie starb rasend vor Zorn, aber anonym. Die Engländer hatten schon Probleme damit, ihre Opfer zu zählen, von den Namen konnte keine Rede sein.
Dennoch erfuhr Elizabeth I., Königin von England, etwa sechs Jahre später von Maire ni Domnalls Tod.
Ein alter Mann, unscheinbar bis auf die Amtskette um seinen Hals, schlurfte durch die Bittsteller in der Galerie, die ihn anplapperten, es aber doch nicht wagten, ihn am Ärmel zu zupfen. »Mylord, würdet Ihr sie erinnern …?« – »Mylord, ich warte schon seit …«
Er hätte taub sein können. Übrigens war sein Gehör wirklich nicht mehr das beste, sein Augenlicht auch nicht. Erst knapp vor der Tür zum Gemach der Königin bemerkte er, dass sich ihm ein Hindernis in den Weg stellte in der Gestalt des Captain of the Guard, sechs Fuß hoch, in eleganter stählerner Rüstung.
»Wer naht sich dem Anblick Ihrer Majestät?« Vom Zeremoniell her war dieser Anruf korrekt, doch der Captain kannte den alten Mann natürlich. Walter Raleigh liebte gefährliche Spiele. Damit hatte er auch das Auge der Königin auf sich gezogen.
In der plötzlichen Stille sahen die Bittsteller den alten Mann innehalten, als hätte ihn die Frage verwirrt. In Wirklichkeit fühlte er mit ihm, diesem jungen Aufschneider und allen diesen jungen Aufschneidern, die er über die Jahre hatte kommen und gehen sehen. Verwegenheit war’s, was ihnen die Gunst der Königin eintrug, aber ebendiese Verwegenheit wurde ihnen unweigerlich zum Verhängnis. Nie wussten sie, wann sie aufhören sollten. Wenn er die Energie dazu aufbrächte, würde er es diesem hier klarmachen. »Nehmt Euch in Acht«, würde er ihm sagen, »die grauen Männer sind es, die an diesem Hofe überleben, die vorsichtigen, die verlässlichen, die, die sie zu Tode schindet, was aber besser ist als der Tod auf dem Block.« Aber es war ihm der Mühe nicht wert.
Was er in mildem Ton sagte, war: »Der Lord Schatzkanzler, gerufen von Ihrer Majestät.«
»Passiert, Lord Schatzkanzler.«
Durch die Türen, durch die Kammer, die die Galerie vom Heiligtum trennte und in welcher Höflinge, die nicht Dienst hatten, sich aufhielten, durch die inneren Türen, und in den Geruch, der heutzutage jeden Raum, wo sie war, durchtränkte: ein arabisches Gebräu, ihr von Hatton dargebracht mit den Worten, dies sei dasselbe Parfüm wie jenes der Königin von Saba, als sie Salomon besuchte, oder irgend so ein Unsinn.
Während er sich verneigte – vom Niederknien war er seiner Arthritis wegen entschuldigt –, kniff er die Augen zusammen, um zu sehen, wer bei ihr war. Black Tom. Ach du liebes bisschen, das hieß Irland. Heute Morgen fühlte er sich Irland gar nicht gewachsen. Er verneigte sich noch einmal: »Mylord Graf von Ormond.«
»Mylord Schatzkanzler.«
Ihre Stimme fegte die Höflichkeiten beiseite. »Der Mohr, Burghley.«
Ihre langen Finger, weiß und spitz wie Spargel, gehörten dem Pflanzenreiche an. Sie waren ganz ruhig, wie ihre Augen. Bei einer so lebhaften Person war das beunruhigend, planvoll, aber Burghley kannte jeden Trick in ihrem Arsenal. Irgendwo in seinem eigenen Körper, so gebeugt in Nacken und Schultern, als zöge die Kette dort ihn mit dem ganzen Gewicht seines Amtes nieder, war Liebe für sie, hätte die Königin nicht seine Sehnsucht, sie zu finden, längst erschöpft. Aber wenn sie »Burghley« sagte, war es ernst. An guten Tagen war er ihr Kobold. Mohr?
»Master Raleighs Mohr. Vor sechs Jahren. Ihr ließet ihn hängen.«
Er erinnerte sich. »Ich ließ ihn nicht hängen, Phönix.« (Phönix war zurzeit die bevorzugte Anrede.) »Aber ich weiß, dass der Arme bei einer der übereifrigen Exekutionen in den irischen Desmond-Kriegen umkam.«
»So. Zur gleichen Zeit, da man so eifrig anderer Leute Mohren aufknüpfte, scheint man auch ein Subjekt gehängt zu haben, das Uns von Nutzen hätte sein können.« Sie neigte ihren Kopf unter der Perücke dem Grafen von Ormond zu. »Da nun auch der Lord Schatzkanzler bei Uns ist, könnt Ihr die Details berichten.«
Sie bestand, wie üblich, aus scharf gezeichneten Umrissen: harter Schmuck, steife Halskrause, spitzes Mieder, eckige Krinoline, die heute einen Rock in Zitronengelb und Grün trug, ein giftiger Schock vor der verhaltenen Pracht des Gobelins im Hintergrund. Je älter sie wurde, je unlösbarer ihre Probleme, umso mehr beruhigte ihre Erscheinung das Volk durch Entschiedenheit. Damit tarnte sich eine Persönlichkeit, die über wichtigen Entscheidungen brütete wie eine Schildkröte vor zu vielen Salatblättern.
Der Mann, der jetzt vortrat, Thomas Butler, Zehnter Graf von Ormond, war ein Relief in weichem schwarzem Samt, im Kontrast zu der hellen Haut, die durch die Schwärze von Haar und Bart schimmerte. Dennoch gab es eine Ähnlichkeit zwischen ihm und der Königin: die gleichen hellblauen, vorstehenden Augen, der gleiche Gesichtsschnitt, ähnliche Sommersprossen. Vor drei Generationen hatte eine Boleyn einen Butler geehelicht und damit den beiden einen gemeinsamen Vorfahren beschert. Sie freuten sich beide an ihrer Vetternschaft, Elizabeth ebenso wie Black Tom. Öffentlich hielt sie sich viel darauf zugute, dass sie ihres Vaters Tochter war, aber privat bevorzugte sie die Familie von Anne Boleyn. »Mein schwarzer Gemahl«, nannte sie Ormond; einer ihrer Kosenamen, die jenen Klatsch hervorriefen, den sie so liebte. Nichts genoss sie so sehr wie Spekulationen über ihre Sexualität. Insgeheim dachte Burghley, wenn er überhaupt daran dachte, dass sie doch immer nur mit allen spielte. Ihr Hymen war wahrscheinlich so intakt wie eh und je, wenn auch schon etwas welk.
Die Natur der Beziehung zwischen beiden war ihm gleich, solange sie sie nur glücklich machte; die Ormonds waren Protestanten und als einzige Grafen Irlands der englischen Krone immer loyal ergeben.
»Wir haben hier eine ganz spezielle Sache, Mylord«, sagte der Graf, »eine Connaught-Sippe betreffend, die O’Flahertys. Ihr habt vielleicht von ihnen gehört?« Trotz seiner perfekten englischen Aussprache hatte er den Tonfall eines Iren.
»Ist es ihr Name über den Toren von Galway?«, fragte Burghley. »›Vor dem Zorn der O’Flahertys möge der Herr uns bewahren‹?«
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Elizabeths wimpernloser Blick gefror. Die Kenntnisse ihres Schatzkanzlers in irischer Genealogie waren ihr ein Dorn im Auge, denn die ihren waren äußerst dürftig; Irland als Gesprächsgegenstand war ihr zuwider. Sie schützte Langeweile vor.
Sie schritt von ihnen fort und blickte aus dem großen Fenster, durch das die Morgensonne Rauten auf den Boden malte.
»Ja, ebendiese. Doch Gott hat Galway nicht immer vor ihnen bewahrt. Eine barbarische Sippschaft. Nun gut. Vor etwa sechs Jahren verlor der Tanaist der O’Flahertys seine Frau.«
»Nicht dass sie starb, Burghley«, rief Elizabeth vom Fenster her. »Er verlor sie. Wie schlampig.«
»Sie stritten«, fuhr Black Tom nickend fort, »und die Lady verließ ihn und nahm ihre zwei Söhne und eine Tochter mit. Der O’Flaherty nahm an, sie sei zu ihrem Clan zurückgekehrt.«
»Welchem?«
»Den O’Connors.«
Burghley fuhr sich mit den Fingern durch den Bart. Die O’Connors waren, früher einmal jedenfalls, der königliche Clan von Connaught, in vergangenen Zeiten nannten sie sich Könige von Irland.
»Der O’Flaherty hatte vor, sie zurückzuholen, sobald sich’s ergab, sobald er nämlich das nächste Mal die O’Connors überfiel.«
Der lange Fuß der gegenwärtigen Königin von Irland war zu hören, wie er, gereizt über die Anarchie ihrer westlichsten Untertanen, auf den Fußboden klopfte.
»Doch als es so weit war«, fuhr Black Tom fort, »stellte sich heraus, dass sie gar nicht dort war, sondern zu Schiff nach Spanien.«
Mit der Erwähnung ihres gewaltigen Feindes kam ein Element hinzu, das durch seine Massigkeit für den Augenblick die Perspektive dieses Raums veränderte, es erhob sich über den Anwesenden in einer Weise, dass sie leicht und schwerelos erschienen, wie kleine Zweige, die der Sturm verweht. Selbst der Ausspruch »Verrat!« von der Frau am Fenster war nur wie das Quieken einer Fledermaus.
»Verrat in unserem Sinne, Madam«, erwiderte der Graf von Ormond höflich, »nicht in ihrem. Diese Menschen scheren sich nicht um unseren Zwist; sie treiben Handel mit Spanien, sie würden mit dem Teufel selbst um Schwefel handeln. Nach einer Weile entschloss sich der O’Flaherty zu einer Suche, weniger nach seiner Frau als nach den Kindern. Alle Schiffe, die von seinem Land nach Spanien gingen, mussten Erkundigungen einziehen, er fuhr sogar selbst, doch fand er keine Spur. Ein Jahr verbrachte er im Zorn und dachte, das Weib hätte sich irgendwo mit einem Liebhaber vergraben, obwohl er sich inzwischen selbst ein anderes Weib genommen hatte.«
Vom Fenster her erklang ein Schnauben. »Barbaren.«
»Dann fiel ihm ein, er sollte vielleicht seinen Stolz vergessen – es könnte ja ihr und den Kleinen etwas zugestoßen sein. An diesem Punkt kam er zu mir.« Die Augen des Grafen flackerten zur Cousine, während er zu Burghley murmelte: »Wir sind entfernt miteinander verwandt.«
Burghley nickte. Durch den seiner Meinung nach verderblichen irischen Brauch der Versippung und Verschwägerung war in Irland eigentlich jeder mit jedem irgendwie verwandt. Wieder einmal kam ihm zu Bewusstsein, obwohl er es nicht laut aussprach, dass durch ihre Mutter die Königin von England das gleiche Blut in den Adern hatte wie jene Clans, die sie verachtete. Auch Black Tom sprach es nicht laut aus.
Die Nachwirkungen der Desmond-Kriege boten für jemand, der Vermisste suchte, keinen günstigen Rahmen. Halb Munster war vermisst. Ganze Familien waren vor dem Krieg zwischen den englischen Machthabern und den aufständischen irischen Lords unter Führung des Grafen von Desmond geflüchtet. Ihr Land war verwüstet; Tausende waren verhungert; weitere Tausende getötet, manche von anderen Iren, die meisten von den Engländern, die auf die Idee gekommen waren, Munster sei am besten zu unterwerfen, indem man es gänzlich entvölkerte.
Die Geschichte von Black Toms Suche nach dem entlaufenen O’Flaherty-Weib würde sich offenbar länger hinziehen, daher bat Burghley Elizabeth um die Erlaubnis, sich währenddessen setzen zu dürfen. Manchmal war sie ihm gegenüber recht fürsorglich, heute aber nicht. Doch er nahm ihren Seufzer als Zustimmung und holte sich einen Stuhl. Seine Gicht setzte ihm sehr zu.
Ormond hatte seine Agenten auf dem Kontinent und in Irland auf die Suche geschickt, »da ich selbst wenig Zeit hatte«, aber Burghley fand es merkwürdig, dass eine so hochstehende Persönlichkeit sich überhaupt diese Mühe machte. Wohl doch eher zum Nutzen der Ormonds als der O’Flahertys, das war klar. Der Schatzkanzler begann in jener geistigen Kartei zu blättern, die seine Informationen über den Westen Irlands und über seine Clans enthielt.
»… und dann stellte sich heraus«, hörte er Ormond sagen, »dass eine Kogge, wie sie die Clans des Westens manchmal benutzen, vor mehreren Jahren an einem abgelegenen Teil der Halbinsel Dingle gestrandet war, und eine Dame, ein Kind und ein Matrose die einzigen Überlebenden waren.«
An diesem Punkt, sagte Ormond, hätte er den Mut verloren. Die Bewohner von Dingle folgten, wie die meisten Bewohner der Westküste, dem altehrwürdigen Brauch, Schiffbrüchige, die an Land kamen, abzuschlachten, um das Wrack für sich selbst behalten zu können.
»Aber einer meiner Agenten, der zufällig in Cork war, stieß auf einen englischen Siedler aus der Stadt, der eine Geschichte aus dieser Zeit zu erzählen hatte. Ich ließ ihn zu mir bringen.«
Was der Siedler aus Cork Ormond erzählte, war Folgendes: Sechs Jahre zuvor war er einmal aus der Stadt hinausgegangen, um sich bei einem Wachturm an der Küste ein Massenhängen von eingefangenen Iren anzusehen. Er sah die Rebellen gerne sterben, erklärte er Ormond, deshalb blieb er dort, obwohl es sich bis in die Nacht hinzog, verzehrte den Proviant, den seine Frau ihm eingepackt hatte, und genoss das Schauspiel im Schein der Fackeln.
Dass er sich an diese Hängung besser als an viele andere erinnerte, die er später sah, lag daran, dass sich unter den Gefangenen ein Mohr befunden hatte und auch eine rothaarige Frau.
»O’Flahertys Frau war rothaarig«, sagte Ormond.
»Rothaarige gibt’s viele«, warf Burghley ein.
»Dem Bericht zufolge«, sagte Ormond, »war das ein besonderes Rot, wie eine Fackel, ein Aufleuchten –«
Die Königin mit der roten Perücke schnappte vom Fenster her: »Sollen wir uns den ganzen Tag über rothaarige Schlampen unterhalten?«
»Jedenfalls«, beeilte sich Ormond, »fiel meinem Siedler auf, wie diese Frau starb; nicht weinend und betend wie die anderen, sondern fluchend und spuckend. Sie hatte ihn, nachdem er sie sterben sah, so neugierig gemacht, dass er zu der Schlange derer ging, die warteten, bis sie an die Reihe kamen, und sie nach ihr ausfragte. Er war schon lange genug im Lande, um etwas von der irischen Sprache zu verstehen.«
Wenn man bedachte, dass die Menschen in der Warteschlange vermutlich andere Dinge im Kopf hatten, hatte der Siedler recht viel erfahren: nämlich dass die Rotschopfige beharrlich beteuert habe, sie wisse nicht, wessen man sie beschuldige, sie sei unschuldig, von edler Abkunft, eine irische Fürstin, eine Freundin Englands.
Die Gestalt am Fenster verließ dieses, trat zu den Männern und pflanzte sich vor Burghley auf. »Lassen Unsere Abgesandten in Irland es derart an Achtung vor Unserer Person fehlen, dass sie unschuldige Frauen hängen?« Es gehörte zu ihren größten Ängsten, dass sie die Kontrolle über ihre eigenen Behörden verlieren könnte. »Warum haben sie ihr beim Prozess nicht zugehört?«
»Sie konnte kein Englisch«, sagte Ormond leise. »Niemand verstand, was sie sagte.«
Elizabeths Augen füllten sich mit Tränen. In einem ihrer unvorhersehbaren Anfälle von Mitgefühl war aus der verräterischen Schlampe eine unter furchtbaren Umständen gefangene Geschlechtsgenossin geworden. »Gott sei ihrer Seele gnädig«, sagte sie. »Der Richter, der sie verurteilte, wird abberufen und muss mir Rede und Antwort stehen. Was geschah mit dem Kind?«
»Sie sorgte dafür, dass es entkam. Einige ihrer Mitgefangenen sahen, wie sie ihm einen Torques gab –«
»Einen Tort?«
»Torques. Ein irischer Halsreif, Majestät. Aus Gold. Dann ließ sie das Kind an einem Seil durchs Fenster hinab. Mein Siedler war so interessiert, dass er der Sache weiter nachging und entdeckte, dass viel später ein kleiner Junge, auf den die Beschreibung aus dem Wachturm passte – rothaarig war er wie seine Mutter –, an Bord eines Schiffs nach London ging, aber da das Schiff schon abgesegelt war, konnte er nichts weiter in Erfahrung bringen.«
»Er hätte die Sache melden sollen.«
Ormond ließ unerwähnt, dass sich zu jener Zeit die Hungersnot sogar in den der Krone treu ergebenen Gebieten verbreitet hatte und der Siedler aus Cork alle Hände voll damit zu tun hatte, sich in einer Stadt, in der täglich fünfzig Menschen vor Hunger starben, überhaupt am Leben zu halten. Aber er hielt den Mund; Elizabeth wollte nicht an die Desmond-Kriege erinnert werden, die sie Geld und Menschen gekostet und ihr Demütigung eingetragen hatten, noch wollte er derjenige sein, der sie daran erinnerte. In dieser chaotischen Zeit wäre es zwischen ihnen fast zum Bruch gekommen; sie hatte Beamte und Generäle gesandt, die von der Lage in Irland keine Ahnung hatten und die völlig falsche Auffassung vertraten, die vielen altenglischen Lords, deren Familien seit der Zeit Heinrichs II. in Irland lebten und während der Reformation nicht die Religion gewechselt hatten, seien Feinde, weil Katholiken, und Katholiken, weil Feinde. Das hatte ein bislang unbekanntes und sehr gefährliches Element von Religionskrieg in das Land gebracht. Es hatte ansonsten treu ergebene Männer zur Rebellion gegen die Krone getrieben. Beim Versuch einer Vermittlung zwischen beiden Seiten war er, Ormond, obwohl selbst Protestant und unnachsichtig im Kampf gegen die Rebellion, der Kollaboration mit dem Feind beschuldigt worden.
So bösartig hatten einige von Elizabeths Beamten gegen ihn intrigiert, dass sie ihn seines Amtes als General in Munster enthob, ihn aber doch wenigstens nicht vor Gericht stellen ließ. Sie standen jetzt wieder auf freundschaftlichem Fuße zueinander, aber mit Elizabeth konnte man nie vorsichtig genug sein.
»Schön, schön«, sagte sie jetzt und schlug ihn mit dem Fächer leicht auf den Arm, »wir sind der Sache also auf den Grund gegangen und werden dafür sorgen, dass jene, die für die Hinrichtung der armen Lady verantwortlich sind, bestraft werden. Weiß dieser O’Flaherty, dass sie gehängt wurde?«
»Nein, Majestät. Ich hielt es für klüger, nur vom Schiffbruch zu berichten und ihn annehmen zu lassen, sie sei ertrunken.«
»Viel besser, viel besser«, sagte die Königin. »Wir wollen ihm ein Zeichen Unseres Mitgefühls und Unserer Gunst zukommen lassen. Was sagt Ihr, Burghley?«
Der Schatzkanzler beobachtete den Grafen von Ormond. »Ich vermute, die Sache ist noch nicht ganz zu Ende, Phönix«, erwiderte er. »Ich nehme an, der Graf macht sich Gedanken um das Kind.«
»Das Kind? Das Kind? Aber da wir sechs Jahre lang nichts von ihm gehört haben, müssen wir wohl annehmen, es ist tot. Angenommen, es ist gut in London angekommen, könnte denn ein freundloser kleiner Junge, ein einfacher Ire, in der Stadt überleben?« Elizabeth liebte ihre Londoner (das beruhte auf Gegenseitigkeit), aber sie machte sich keine Illusionen über ihre Lebensbedingungen.
»Doch wenn er’s tat, Majestät …«, entgegnete Ormond.
»Wenn, wenn«, rief die Königin ungeduldig. »Wenn Wünsche Pferde wären, würden Bettler reiten. Und wenn schon!«
»Dann wäre er für uns von beträchtlichem Nutzen«, sagte Burghley. Er richtete sich auf. Er wusste jetzt, worauf Black Tom hinauswollte, und war ihm auch schon einen Schritt voraus. »Sollte er noch am Leben sein, dann ist er ein Anwärter auf die Führung der O’Flahertys. Mehr noch, er ist verwandt mit allen großen Clans des Westens, den O’Donnells, den O’Burkes, den O’Connors und anderen Clans, die im Norden und Westen ein Bollwerk für uns bilden könnten.« Er wandte sich an Ormond. »Oder missdeute ich die Lage?«
»Nein, Mylord, das tut Ihr nicht.« Der Graf betrachtete den Alten voll Respekt. Hier war einer der wenigen Höflinge Elizabeths, der etwas von der irischen Komplexität begriff. Ein Jammer, dass er dafür nicht zuständig war. »Dann ist da noch die Großmutter.«
»Ah«, sagte Burghley und fuhr sich wieder durch den Bart. »Die Großmutter.«
Elizabeth brachte dieser Austausch zwischen den beiden Männern in Rage. »Großmuttert mir keine Großmütter vor! Wollt Ihr mir weismachen, Ihr möchtet diesen Gassenjungen finden und aufziehen, weil er eine Großmutter hat?«
»Keine gewöhnliche Großmutter, Phönix. Diese ist die Anführerin eines Volkes großer Seefahrer, oder man könnte auch sagen – eine Piratin.«
»Eine Piratin?«
»Und zwar eine tüchtige, Majestät, die niemand anderem dient als sich selbst. Bei uns ist sie bekannt als Grace O’Malley. Wenn man sie gewinnen könnte …«
Elizabeth fluchte beim Tod Gottes. »Lasst es auf sich beruhen, Burghley. Eure Spione haben Besseres zu tun als nach einer Piratenbrut zu fahnden, die man besser Gottes Obhut empfiehlt, wenn sie nicht ohnehin schon dort ist. Es gibt in unserer Flotte schon genug Piraten, ohne ihrer Zahl noch widernatürliche Irenweiber hinzuzufügen.«
»Dennoch hätte ich sie lieber auf unserer Seite, Phönix, als auf der von Spanien.«
Wieder brachte das Wort Riesenmaße in den Raum, sodass es schien, als verlöre er unter diesem Gewicht seine Balance.
Die Königin stellte sich mit beiden Beinen fest auf den Boden. Sie stellte sich immer ihren Feinden. »Reichlich spät, kleiner Mann. Wir haben offenbar ihre Tochter gehängt.«
»Schwiegertochter, Phönix. Ein verzeihlicher Irrtum, noch dazu einer, von dem sie nichts weiß und der uns auch noch nützen kann, wenn wir das Kind auf unsere Seite ziehen.«
Das war die neueste Politik im Umgang mit den Iren, nämlich der Versuch, hochgeborene kleine Iren an Kindes statt anzunehmen und sie als Engländer aufzuziehen, sodass sie, sobald sie ihr irisches Erbe antraten, dies im Wohlwollen gegenüber England taten. So weit die Theorie. Der Einzige, bei dem das bisher zu klappen schien, war der junge verwaiste Hugh O’Neill, den Sir Henry Sidney unter seine Fittiche genommen hatte.
Aber London nach einem Kind durchkämmen, das würde Ausgaben für bezahlte Spione bedeuten, und wenn es etwas gab, was die Königin von England weniger leiden konnte als alles andere, so war es Geldausgeben. Ihr Schatzkanzler erkannte, dass sie, wie üblich, die Entscheidung auf die lange Bank schieben wollte. Ihr Rheumatismus plagte sie. Sie schritt zurück zum Fenster. Jeden Moment konnte sie sie beide jetzt entlassen.
Er sagte: »Das Kind ist Erbe eines Schatzes, Majestät.«
Aus dem Augenwinkel sah er Ormonds Kopf hochfahren. Ach du liebes bisschen, glaubte Black Tom, er wüsste das nicht? Das war’s doch, worum es dem Mann gegangen war, Schatz und Einfluss. Deshalb hatte er die Suche nach dem Jungen überhaupt aufgenommen, deshalb war er jetzt damit zur Königin gekommen, seit er wusste, dass das Kind sich in einer Stadt aufhielt, wo er, Black Tom, es unmöglich ohne Hilfe finden konnte. Der Graf von Ormond wollte dieses Kind. Burghley sollte es für ihn finden, damit er es adoptieren konnte. Ach nein, ach nein, du liebes bisschen.
Die langen Schuhe hielten inne in den Sonnenrauten, die durch das große Fenster auf die Fliesen fielen. Sie legte den Kopf auf die Seite. Im Geiste tastete sie über Schlösser, riss sie Truhendeckel auf. Ihre Finger zuckten im Griff nach Kelchen, Monstranzen, wühlten in strahlenden Karbunkeln, mondbleichen Perlen, zahlten ihre Schulden und ihre Truppen, durchschnitten mit Gold die Nachschublinien ihrer Feinde.
»Eines Schatzes?«, fragte eine plötzlich honigsüße Stimme.
»Madam, es ist eine Besonderheit des großmütterlichen Clans, dass ihr Oberhaupt einen großen Schatz erbt. Dieses Kind könnte der Erbe sein.«
»Lord Schatzkanzler«, sagte die Königin, »findet dieses Kind. Der arme Knabe hat genug gelitten. Er braucht Unseren Schutz. Findet ihn. Schnell.«
»Ja, Phönix.« Er verbeugte sich voll Genugtuung vor dem Grafen von Ormond, der den Mund öffnete und wieder schloss. Er verneigte sich vor dem königlichen Rücken und begab sich langsam rücklings bis zur Tür. Es war schließlich doch kein so ermüdender Vormittag gewesen.
Er näherte sich gerade der Tür, die sich für ihn öffnete – der Captain of the Guard hatte wie üblich von der anderen Seite mitgehört –, als die Frau am Fenster seinen Namen rief.
»Ja, Majestät?«
»Was unternahmt Ihr bezüglich Master Walters Mohr?«
Sie vergaß niemals etwas. Unwillig fiel sein Blick auf den grinsenden Captain. Der schwarze Spitzbart und Schnurrbart, die sich um seinen Mund kräuselten, vermittelten immer den Eindruck, als ob Walter Raleigh lächelte, auch wenn dem nicht so war. Im Geiste sah Burghley dieses krause Gesichtshaar um sein breites Grinsen, während Raleigh beim größten Massaker mitmischte, das Engländer je an unbewaffneten Menschen vollbracht hatten. Schwerter waren in Hals und Bauch jedes Mitglieds der Garnison von Smerwick in Irland gestoßen worden, die sich alle schon ergeben hatten, alle um ihr Leben flehten. Zugegeben, die meisten waren spanische Invasoren, dennoch war das keine Episode, die Englands Namen mit Ruhm bedeckte.
Der Lord Schatzkanzler starrte ins Gesicht des Captain of the Guard und stellte sich vor, wie es schwitzte vor Anstrengung, eine so große Zahl an Menschen zu töten.
»Der Mohr, Burghley«, kam die Stimme aus dem Privatkabinett.
Der Lord Schatzkanzler verneigte sich in ihre Richtung und nickte Raleigh zu. »Ich fand einen anderen für ihn«, sagte er.
Burghley schlurfte durch die lange Galerie zurück, wo die Bittsteller und Höflinge warteten und murmelten und einige von ihnen gegen eben jenen Mann, der jetzt an ihnen vorbeiging, intrigierten. Aber er war ihnen allen überlegen: Raleigh, Ormond, Leicester, selbst Walsingham. Er hielt zu viele Fäden in der Hand, wusste von zu vielen Leichen, wo sie begraben waren …
Zurück in seinem Amt, fand er den Tisch überhäuft mit Briefen, Befehlen, Beschwerden, Bitten um Beförderung, Anweisungen seiner Schwester hinsichtlich ihres Begräbnisses – wahrscheinlich würde sie sie alle überleben –, Berichte seiner Spione, Dispute mit dem Kommissariat.
Er rief einen seiner Schreiber zu sich und schickte ihn auf die Suche unter den irischen Staatsakten. »Sieh in der Korrespondenz zwischen Sir William Drury und mir selbst nach. Vor sechs Jahren.«
Der Königin Befehl, den Richter, der O’Flahertys Frau gehängt hatte, zurückzurufen, würde wohl durchkreuzt. Sir William Drury war dafür verantwortlich gewesen, und Sir William Drury war tot. Seine Amtszeit in Irland hatte ihn umgebracht. Irland richtete sie früher oder später alle zugrunde.
Als die Papiere kamen, breitete der alte Mann sie auf dem Tisch aus, nahm sie eines nach dem anderen hoch und hielt sie dicht vor die Augen. Endlich fand er die Stelle, die sich auf den Massenprozess bei Cork bezog.
»Dreihundertundsechs Personen wurden bei diesen Sitzungen hingerichtet«, hatte Sir William geschrieben, »darunter ein paar gute; zwei für Hochverrat, ein Mohr, und zwei Hexen nach dem Naturgesetz, weil wir sie nach sonst keinem Gesetz dieses Königreiches richten konnten.« Darauf folgte der übliche Kommentar zu den Iren, die Hunde waren, »und schlimmer als Hunde, denn Hunde verhalten sich nach ihrer Art, aber diese sind von aller Menschlichkeit entartet …«
Lord Burghley hörte zu lesen auf. Sein Überdruss an allem, was mit Irland zu tun hatte, rührte nicht nur von der dringlichen und komplexen Natur der Probleme dort, den ungeheuren Kosten für den Schatzkanzler, nicht einmal von der unbezweifelbaren Barbarei seiner Menschen, sondern von der Verrohung, die dieses Land in jedem Engländer bewirkte, der dorthin gesandt wurde.
Vernünftige, angesehene Männer standen hier in seinem Amt in London und hörten seinen Rat, wie dieses Land mit fester, weiser Hand zu regieren war, segelten ab mit festen, weisen Absichten und schrieben dann Briefe nach Hause, in denen sie sich vor Hass auf seine Menschen nicht mehr beherrschen konnten.
Er verurteilte diese Männer nicht. Sie waren nicht mit genügend Geld ausgestattet, um Irland entweder durch Freundlichkeit zu befrieden oder aber im Anschluss an einen sauberen Völkermord die tote Bevölkerung gänzlich durch englische Siedler zu ersetzen. Der ewige Kompromiss zwischen diesen beiden Alternativen zermürbte die Männer und zwang sie zu einer Grausamkeit, die Lord Burghley gern als etwas dem englischen Charakter Fremdes angesehen hätte.
Erst neulich hatte er zur Königin bemerkt, seiner Meinung nach litten die Iren unter der englischen Herrschaft nicht weniger als die Menschen in den Niederlanden unter den Spaniern. Er hatte das als eine Ansicht vorgebracht, als Grundlage für eine Diskussion. Aber die Königin hatte sich über die Maßen darüber aufgeregt und ihm eine Parfümkugel an den Kopf geworfen. Sie konnte ihn mit ihrer Fähigkeit zu Schuldgefühl immer noch verblüffen. Derartiges hatte er lange hinter sich. Die Menschen trugen an dem, was sie anrichteten, keine Schuld – schuld war nur die Erbsünde und das Mahlen des Rades der Geschichte, von dem die Menschen immer nur einen Abschnitt sahen.
Das Gehirn des Schatzkanzlers hätte sich eigentlich gern der philosophischen Frage gewidmet, ob ein Land, das kein Gesetz gegen Hexen kannte, zu rückständig war, um sie als Übel zu erkennen, oder zu fortgeschritten, um ihre Verbrennung zu wollen. Aber wie gewöhnlich war dafür zu viel zu tun.
Dennoch ging er nicht sofort an die Arbeit, sondern zog sich zum Fenstersitz empor und betrachtete die Welt außerhalb des königlichen Hofes.
Von hier aus konnte er über die Gärten von Somerset House sehen, über das reizende Flusstor hinweg zum Fluss selber, wo die Kohlenkähne bis nach Whitehall hinauf ruderten und die Fährmänner unaufhörlich zum Südufer und wieder zurück fuhren.
Einer plötzlichen Regung folgend, schob er den Riegel hinunter und öffnete den Fensterflügel, obwohl sein Arzt ihn vor feuchter Luft gewarnt hatte. Sofort stürzten sich frische und üble Gerüche auf seine Nase, und seine Ohren dröhnten von Lärm: Vogelstimmen, Rufe aus den Ruderbooten, Kirchenglocken, die zu Taufen und zu Begräbnissen läuteten, Rufe der Straßenverkäufer, der Klang einer Stadt, die ihre Grenzen gesprengt hatte.
Er beugte sich vor, um hinter den Bäumen zu seiner Linken die Biegung zu sehen, wo die Strand Lane Menschen, Abfälle und Abwässer zum Fluss hinunterspie. Die Aristokratie beschwerte sich ständig über die Strand Lane, den einzigen Zugang zur Themse für das gemeine Volk zwischen den sieben Palästen, die hier das Flussufer einnahmen. Strand Lane war so … gewöhnlich. Der Graf von Arundel, Besitzer des Palastes nebenan, bedrängte die Königin jedes Jahr von Neuem, sie möge die Gasse doch sperren lassen, beschwerte sich über den Aufmarsch der Dirnen und darüber, dass kleine Jungen die überhängenden Äste seiner Kastanien um ihre Früchte erleichterten. Zu Besuch weilende Botschafter, die im Park von Somerset House lustwandelten, bemerkten pikiert, dass es hier stank und dass unziemliche Gestalten die Mauern erkletterten und sie verhöhnten. Aber Elizabeth nahm wie immer ihr Volk in Schutz, genoss im Geheimen die Verärgerung der Botschafter und dachte nicht daran, die Gasse sperren zu lassen.
Der Bengel dort an der Uferböschung, der graue Kuchen aus dem Flussschlamm formte – war er der kleine verschwundene Ire? Wie alt würde der Knabe jetzt sein? Vierzehn? Fünfzehn? Oder war es vielleicht der etwas ältere Junge ganz vorn auf der Landzunge, der seine Wunden vorzeigte und vorbeifahrende Schiffe anbettelte? In den Plänen des Schatzkanzlers hatte diese Frage nicht mehr Gewicht als tausend andere, die Neuorganisation des Hoflieferantentums zum Beispiel. Aber auch nicht weniger.
Es war nicht Optimismus, was Burghley darauf beharren ließ, Irland dadurch Frieden zu bringen, dass man seine Menschen zivilisierte. Es war Verzweiflung. Irland war gefährlich, ein Vakuum, das Spanien mit seiner ebenfalls katholischen Religion leicht füllen konnte.
Nicht zum ersten Mal wünschte Burghley, er könnte die vergangenen vier Jahrhunderte neu aufrollen und alle Fehler vermeiden, mit denen seine Vorgänger die Iren zu einem verhärteten, widerborstigen Volk gemacht hatten. Er wünschte, er könne seine Königin von ihrem negativen Kolonialismus abbringen, der vor allem auf Spaniens Schaden abzielte, nicht aber auf den Nutzen der Iren. Aber das würde Geld kosten, und sie knauserte wie immer. Sparsamkeit am falschen Ort, dachte der Schatzkanzler. Schon kämpfte man in den Niederlanden gegen Spanien. Bald musste man sich vielleicht in England selbst gegen eine spanische Invasion wehren. Wenn dann Irland zur gleichen Zeit rebellierte …
»Fehlt Euch etwas, Mylord?«
Er blickte sich um und sah, wie die Schreiber alle zu ihm hersahen. Offenbar hatte er laut gestöhnt. Er schüttelte, an seinen ersten Sekretär gewandt, den Kopf. »Armageddon, Percy.«
Percy trat interessiert zu ihm ans Fenster. »Wo, Mylord?«
Burghley schickte den Mann zu seinem Schreibpult zurück und widmete sich wieder der Aussicht. »Bin ich denn der Einzige, der das sehen kann?«, fragte er sich. Nun, er konnte nichts anderes tun, als solche Ziegel, wie Elizabeth sie ihm überließ, zu Englands Schutzmauer aufzubauen. Einer davon war der junge O’Neill. Seine Erziehung bei den Sidneys, dieser englischsten aller Familien, in Penshurst, diesem englischsten aller Herrenhäuser, hatte dem Jungen offenbar die richtigen Werte vermittelt. Damit wäre Ulster gesichert. Wenn er nun das Gleiche im Westen erreichen könnte … Connaught war der größte Unsicherheitsfaktor in dem Durcheinander namens Irland.
Er machte sich nicht allzu viele Hoffnungen auf den Schatz, der die Aufmerksamkeit der Königin gefangen genommen hatte, aber wenn dieser kleine O’Flaherty überhaupt zu finden war, dann musste er gefunden werden.
Aber in London! Einhunderttausend Menschen wimmelten in seinen Mauern, und davor tummelten sich noch mehr. Die Waisenhäuser der Klöster, die das Kind vielleicht aufgenommen hätten, waren mit der Reformation verschwunden, hatten ein Vakuum hinterlassen, das elternlose Kinder in die kriminellen Kanäle saugte, die die Stadt unterminierten und vergifteten und zu denen auch seine schäbigsten Agenten kaum Zutritt fanden. Nichtsdestoweniger musste dieses irische Unterpfand gefunden werden.
Aber was wusste er schon von diesem Kind, außer dass es rothaarig war und zu irgendeiner Zeit einen irischen Torques aus Gold besessen hatte? Nun, man musste es eben versuchen. Er würde die Suche noch heute in Angriff nehmen.
Ein Pfeifen in seiner Brust erinnerte ihn an den Rat seines Arztes. Er schloss das Fenster, schloss die Gerüche und Geräusche aus und kletterte hinunter in die federdurchkratzte Stille seines Amts.
Es war eine wunderbare Stadt; zu diesem Zeitpunkt die wunderbarste auf der Welt, nicht wegen ihrer Sauberkeit, nicht wegen ihrer Architektur, sicher nicht wegen ihrer Geistigkeit, sondern wegen ihrer Freiheit. Der großen Kunst stand es frei, im Ameisenhaufen von London zu blühen, und den Puritanern stand es frei, zu versuchen, sie daran zu hindern. Ein Mann durfte katholisch sein, solange er kein Papist war, aber im Großen und Ganzen hatten die Engländer im Protestantismus eine Religion gefunden, die zu ihnen passte, und in Elizabeth eine Königin, die sie verstanden.
Trotz der Furcht, die sie hervorrief, kam die Drohung einer spanischen Invasion den Engländern auf merkwürdige Weise gelegen, vermittelte ihnen das Gefühl, eine Nation zu sein, und bescherte ihnen einen fix und fertigen Nationalcharakter. Kess waren sie in ihren eigenen Augen, draufgängerisch, voller Ideen, kämpferisch auch mit dem Rücken zur Wand: wir zusammen gegen eine feindliche, aber nicht ebenbürtige Welt.
Ausländische Botschafter, die die englische Hauptstadt besuchten, waren sprachlos angesichts der Vitalität der überfüllten, unhygienischen Straßen, des vergnügt brodelnden Lebens der Slums, wo schon ein Schluck Wasser das Todesurteil bedeuten konnte. Sie entsetzten sich über die Menschenmenge, die Elizabeth auf ihren Umzügen auf vulgärste Weise zujubelte oder sie manchmal beschimpfte – und ihre nicht weniger vulgären Antworten; es war Frechheit, es war Majestätsbeleidigung, es war der Geist von etwas Neuem, der da aus der englischen Flasche stieg, den man nie wieder in die Flasche hineinbekommen würde, und, so man ihm nicht Einhalt gebot, eine Ansteckungsgefahr für den Rest der Welt.
Die Londoner waren Akrobaten ohne Sicherheitsnetz. Wenn es Arbeit gab, arbeiteten sie. Wenn nicht, hungerten sie eben. Verfolgt von nicht weniger unternehmungslustigen Krankheiten, konnten sie mit der entsprechenden Portion Schlauheit und Ellbogentechnik die Strickleiter packen, die über ihren Köpfen schwebte, und bis hinauf zur Spitze klettern.
Vermittels einer anderen Art von Schlauheit und Ellbogentechnik lebten jene, die auf diese Dinge weniger Wert legten, davon, die anderen zu bestehlen, zu betrügen und hereinzulegen.
Und wenn es je eine Gans gab, die sich zum Rupfen anbot, dann der Junge mit den großen grünen Augen und der ländlichen Kleidung, der eines schönen Sonntagmorgens auf dem Weg daherkam, welcher die drei Felder, die zu Lincoln’s Inn gehörten, diagonal kreuzte.
Offenen Mundes betrachtete er die anderen Passanten und die Spektakel rund um ihn, die Puppenspiele, die Süßigkeitenverkäufer, die Feuerfresser. Er glotzte auf eine Gruppe junger Jurastudenten, deren Seelen eben erst in einem vorgeschriebenen zweistündigen Gottesdienst in der runden Tempelkirche erbaut und jetzt beim Würfelspiel mit einem Bettler eifrig wieder verdorben wurden. Der Hausierer verlor; nach einem Blick hinauf zu dem glotzenden Jungen flüsterte er seinen Mitspielern erleichtert zu: »Hier gibt’s eine andere Gans für Euch zum Ausnehmen, meine Herren, statt meiner.«
Wölfisch grinsend musterten die Studenten diesen neuen Fang. »Spielst du mit?«, fragten sie.
Ängstlich, aber fasziniert fragte der Junge zögernd: »Und was ist das denn für ein Spiel?«
Die Studenten unterdrückten ihre Freude. »Wie heißt du?«
»Barbary, Sirs.« Er strahlte entzückt über ihr Interesse. »Bin von Norwich herunter mit Gänsen, und hab’ sie am Hühnermarkt verkauft, und jetzt würd’ ich gern mein Glück in der Stadt probieren.« Er sprach im Tonfall von East Anglia, der jeden Satz in eine Frage verwandelt.
»Wie viel hast du für deine Gänse bekommen, Barbary aus Norwich?«
Stolz entfaltete der Junge ein Tuch und zeigte ihnen die drei Nobeln, die in dieser schmierigen Behausung nisteten. Die Studenten kamen zwar aus guten Familien, wurden aber von ihren Vätern keineswegs so verwöhnt, dass sie bei der netten Summe von drei Nobeln nicht hätten zugreifen wollen.
Barbary wurde eingeladen, hockte sich zu ihnen, tat dankend einen tüchtigen Zug Ale und ließ sich die Regeln erklären. Aus der Nähe sah er noch kleiner und jünger aus als zuvor, vielleicht noch nicht einmal in der Pubertät; aus seinem Jäckchen, das ihm viel zu klein war, ragten die Handgelenke hervor wie Hühnerbeine.
Der Hausierer seufzte und stand auf. »Die Einsätze sind zu hoch für einen armen arbeitenden Menschen«, sagte er. »Viel Glück, Bursche.« Er warf dem Neuen seine Würfel in die Hand. »Nimm du sie, denn mir haben sie keins gebracht.« Damit hob er seinen Sack auf den Rücken und ging seiner Wege.
Leichte Sommerwolken zogen über ihren gebeugten Köpfen dahin, die Würfel blinzelten mit ihren Augen auf dem Brett, und die Nobeln gingen, wie sich’s gehört für Nobeln, in die Hände der Noblen über. »Du hast verloren, Barbary.«
Aber jetzt hatte der Junge Blut geleckt. Er schniefte und bettelte. Er wollte sein Jäckchen, seine Kappe einsetzen, alles, was er hatte, für einen einzigen letzten Wurf.
Der Weichherzigste der Studenten wollte nichts davon hören: »Nimm den Gänsepfad heim, Barbary, wie es passt für eine Gans. London ist nichts für dich.«
Aber Barbary jammerte weiter und zog schließlich von seinem nicht allzu sauberen Hals einen fleckigen Metallring, der in Spiralen endete. »Ich setze das hier, eine Dame hat mir’s geschenkt.«
Das Ding wurde herumgereicht. »Das ist so wenig edel wie er selbst.« Aber der Sohn des Königlichen Eichamtvorstehers kratzte mit dem Daumennagel daran, biss hinein, riss die Augen auf und erklärte, er würde mit allem, was er hatte, dagegensetzen. Der Weichherzige wollte nicht mitmachen und wurde deshalb verspottet. »Du bist ein Weib, Philip.«
Auf das Brett kamen die Münzen, die sie mitgebracht hatten, der Gewinn vom Hausierer, die drei Nobeln und Barbarys schmierige Halskette. »Wer zuerst zwei Dreier wirft, gewinnt.«
Die Würfel fielen in beliebigen Variationen. Dann rollten Barbarys Würfel aus seiner Hand, klapperten, schwankten, fügten sich zu einem Paar, einem sauberen Paar, jeweils drei Augen.
Der Sohn des Königlichen Eichamtvorstehers fauchte: »Zeig mir einmal deine Würfel.«
Aber da keuchte eine Gestalt heran und schrie ihnen im Vorbeirennen etwas zu. Es war der Hausierer, und er rief: »Verzeiht, meine Herren, aber die Bulldoggen sind los.«
Die Bulldoggen von Lincoln’s Inn gingen auf zwei Beinen und waren keineswegs weniger gefährlich als die Hunde des Proktors, die die Studenten von der Universität her kannten; und weder jene noch diese Hunde hielten viel von Studenten, die sich ohne Erlaubnis Ausgang nahmen und dann auch noch dem Spiel ergaben. Eine Sekunde später wälzten sich vier wohlgeborene Hinterteile über die hintere Mauer ihres Inn; Barbary dagegen rannte mit Spielgewinn, Würfeln und Halsring hinter dem Hausierer her, einem Mann, der offenbar wusste, wohin er rannte, nach seinen geschmeidigen Wendungen durch Hintergassen und Durchgänge zu urteilen, so schmal, dass nur Dünne Einlass fanden. Barbary war dünn; er hielt Schritt.
Hintereinander rannten sie am Ship Inn vorbei, mit seinem Publikum von eleganten Trinkern, die sich hier drängten, seit die Königin es dem tanzenden Sir Christopher Hatton übereignet hatte, aber am Ende von Ship Lane war auch die feine Welt zu Ende. Die Musik der Spielleute auf der Galerie des Ship verlor sich und wich einer Stille, in die der Hausierer drei Töne pfiff.
Hier, wo die oberen Stockwerke der Häuser die Gasse überwölbten und in einen Tunnel verwandelten, standen sie vor einem Portal, das vielleicht weniger erlaucht war als jenes des Temple Bar einige hundert Yards südlich, aber viel wählerischer, wen es einließ. Es war ein Grenzposten, der einen Pass verlangte. Mit seinem Pfiff hatte ihn der Hausierer eben vorgewiesen. Wer diese Passnoten pfiff, fand Einlass in eine geheime Stadt, die den Passanten des Temple Bar verborgen blieb. Für Eingeweihte waren das die »Bermudas«, ein Ort, wo das Gesetz des Magistrats nicht galt, wo ein System von Straßen, Unterschlupfen, Abkürzungen denen, die sie nutzten, zu ähnlichem Zwecke dienten wie einst die römischen Katakomben den frühen Christen, die sich dort ihren oberirdischen Verfolgern entzogen.
Man konnte durchaus auch ohne den Erkennungspfiff in dieses Labyrinth Einlass finden, aber es war zweifelhaft, ob man dann je wieder herauskam.
Der Hausierer hörte Barbarys Schritte hinter sich, drehte sich um, packte ihn am Wams und zog ihn in einen Hauseingang.
»Her damit.« Die Würfel, Spezialanfertigung eines gewissen Herrn namens Bird in Holborn, wurden ausgehändigt. Außerdem die drei Nobeln und Barbarys Gewinn. Der Halsring war schon wieder an Ort und Stelle, unterm Kragen verborgen. »Ist das alles? Ich hätte sie auf über vier Pfund geschätzt.«
Die Studenten hatten fast fünf Pfund ergeben, aber das erwähnte Barbary nicht. Der Hausierer hatte seine Einlage zurückbekommen und hundert Prozent Gewinn dazu. Vierzig Prozent davon musste er dem Chef des Ordens abliefern, der Rest würde aller Wahrscheinlichkeit nach von ihm versoffen werden. Barbary, der Trunksucht missbilligte, rettete ihn also vor einem Alkoholexzess. Auch das hielt er nicht für erwähnenswert.
»Was hast du ihnen geklaut? Und streit’s nicht ab, du kleiner Langfinger.«
Unterschiedliche Gegenstände aus dem Besitz der vier Studenten kamen aus unerwarteten Teilen von Barbarys Kleidung ans Licht: ein Taschentuch, zwei Federkiele, und zwei Eicheln.
»Eicheln?« Der Hausierer zog ihn am Ohr.
»O ja«, sagte Barbary, und seine indignierte Ironie äußerte sich jetzt im Londoner Dialekt, »ich hätte sie wohl erst herausfischen sollen und nachsehen, was es war, nicht? Das hätte ihnen sicher gefallen. Ich hielt sie für Knöpfe.«
Über ihren Köpfen ging ein Fensterladen auf. »Bist du das, Wilkin?«, rief eine weibliche Stimme. »Botschaft vom Mann für Barbary. Er ist am Karren und braucht einen Kalfakter.«
»Mädchen oder Junge?«, fragte Wilkin.
»Mädchen.« Einige Kleidungsstücke wurden von der Besitzerin der Stimme heruntergeworfen und landeten auf ihren Schultern.
»Pferdemist«, fluchte Barbary. »Mädchen sein ist blöd.« Aber eine Vorladung des Aufrechten Mannes war königlicher Befehl. »Und dreh dich gefälligst um. Bin ich nicht schon genug gedemütigt?«
Während er sich die Mütze vom Kopf riss und eine blonde Perücke aufsetzte, die Hosen mit einem Reifrock verdeckte und das Wams durch ein blaues Mieder ersetzte, beschäftigte Barbary jedoch weniger seine Demütigung als der unauffällige Transfer einer hübschen kleinen Zunderbüchse, die noch vor wenigen Minuten dem habgierigen Sohn eines Königlichen Eichamtvorstehers gehört hatte, aus der männlichen in eine weibliche Gewandtasche.
Der Hausierer wandte sich wieder um und sah vor sich ein Mädchen, das statt in Holzschuhen jetzt barfuß ging und daher kleiner als der Junge vorhin war. Meergrüne Augen blickten unter blonden Löckchen hervor, wie es unschuldiger kein Mädchen je gekonnt hätte. »Gib uns einen Kuss«, sagte er.
Aus Barbarys Rosenmund drangen unweibliche Ausdrücke. »Wo ist der Aufrechte?«, rief er hinauf.
»Schon unten bei der Fleet Bridge. Schnell, lässt er dir ausrichten.«
Wilkin der Hausierer blickte Barbary nach, wie dieser durch die Grange Alley in jenem Netzwerk verschwand, das ihn beim Fleet-Graben herausbringen würde. Er rannte mit der Schnelligkeit eines Jungen, aber typisch weiblichen Hüftschwüngen.
»So ein Glück, dass er bei uns gelandet ist«, sagte Wilkin halblaut. »Sonst wäre er womöglich noch Schauspieler geworden.«
Unter den Spektakeln, die die Straßen Londons unausgesetzt boten, stand das Auspeitschen von Bettlern hoch im Kurs, denn es verband das Zufügen von Schmerzen mit der erhebenden Gewissheit für die Würdigen, dass man den Unwürdigen nichts durchgehen ließ. Der Bettler, der hinter dem Karren herstolperte, an den man ihn gebunden hatte, und dabei von zwei Konstabeln ausgepeitscht wurde, war ganz eindeutig einer der Unwürdigsten: ein kräftiger Mann in den besten Jahren, von dessen Rücken jetzt zwar mit jedem Peitschenhieb sein eigenes Blut fließen mochte, dessen grindverkrustetes Gesicht aber sicherlich mit Blut vom Schwein oder Schaf verziert war. Kenner von Bettlertricks erklärten den weniger gut Informierten, dass die ekelerregenden Schwellungen auf Nacken und Armen des Bettlers aus Lehm waren und bereits abbröckelten, ebenso seine verschiedenen Bandagen. Und auch seinen Lungen fehlte nichts; sein Brüllen übertönte das Rattern der Wagen auf dem Pflaster von Ludgate Hill, das Gelächter der Menge, an der er vorüberzog, und den Spott der kleinen Straßenjungen, die neben ihm herrannten. Die Konstabeln waren ebenso energiegeladen wie der Bettler und hieben auf ihn ein mit dem Schwung von Männern, die in der Börse des Bettlers mehr Geld gefunden hatten, als sie selbst in einem Monat verdienten.
Doch jetzt kam zwischen den Beinen der Zuschauer ein kleines Mädchen herausgeschossen, das mit seiner hellen Sopranstimme selbst das Brüllen des Bettlers übertönte. Schluchzend warf es sich auf ihn: »Vater, o Vater.« Einer der beiden Konstabeln schleuderte es zur Seite, sodass es auf die Straße stürzte, aber es stand sofort wieder auf und rannte neben ihnen her, die kleinen Hände gefaltet, während es die Konstabeln anflehte, den Mann, den es Vater nannte, zu schonen. »Oh, ich weiß, er hat Unrecht getan, aber einst war er ein guter Mann.« Oben am Kamm von Ludgate Hill gab es wie immer einen Verkehrsstau, und das Kind nützte die Pause und wandte sich bittend an die Konstabeln und die Menge gleichermaßen: »Er wurde in den Niederlanden im Kampf für unsere Königin verwundet und fand seither keine Arbeit mehr, oh, erbarmt euch seiner, ihr guten Leute.«
Tränen strömten ihr über die Wangen, und die Londoner, die ebenso schnell sentimental wie zornig werden konnten, riefen den Konstabeln zu, sie möchten den Bettler doch sanfter schlagen.
»Er wusste nicht mehr ein noch aus«, rief das kleine Mädchen, umschlang den Bettler mit beiden Armen und stürzte wieder hin, als die Konstabeln es, diesmal weniger grob, fortschoben, »denn meine Mutter ist tot, und so muss er allein für meinen kleinen verkrüppelten Bruder und für mich sorgen.« Der kleine verkrüppelte Bruder war ein Klassiker. Der jüngere Konstabel hielt im Schlagen inne. »Ich wusste nicht, dass er einen verkrüppelten Kleinen hat.«
»Den haben sie alle«, erwiderte der ältere Konstabel. »Los, mach weiter.« Aber auch bei ihm tat, wenn nicht das Geflenn der Kleinen, so doch der Stimmungsumschwung in der Menge seine Wirkung, und er handhabte seine Peitsche jetzt mit weniger Nachdruck.
Der Bettler und Barbary schätzten mit der Erfahrung von Experten ab, wie viel sein Rücken noch aushalten konnte und an welchem Punkt der Reise quer durch London die Hiebe ihn tatsächlich zum Krüppel schlagen würden. Bis Cheapside ging es nur um schneidenden Schmerz, aber bei Poultry, wo sie von Enten- und Gänseherden aufgehalten würden, schnitten die Lederpeitschen schon in den Muskel. Bis sie ihr Ziel erreichten, den Tower, waren die Verletzungen nicht mehr gutzumachen. Andererseits ermüdeten auch die Arme der Konstabeln, sie waren dann dankbar für jede Ausrede, nachlassen zu dürfen.
Auf dem Weg um den Friedhof von St. Paul’s herum zum Paternoster Close hielt Barbary, während er weiterhin gekonnt wehklagte, nach einem Rühr-Gehilfen Ausschau. Einen Geistlichen brauchten sie, aber keinen hiesigen Prälaten oder Kanonikus – die waren gegen die allgemeine Londoner Schlechtigkeit schon zu abgehärtet, um mit den Übeltätern noch Mitleid zu empfinden. Ein freundlicher, unbedarfter Reverend vom Land war’s, den man jetzt brauchte.
Als sie am Nordtor der Kathedrale vorbeikamen, ging der Lärm der Stadt in vokalen Weihrauchschwaden unter, heilig, herrlich: das mächtige Spem in alium, das der vierzigstimmige Chor von St. Paul’s für den Geburtstagsgottesdienst der Königin probte. Einen Augenblick lang entfaltete sich vor dem Universum, in dem Barbary lebte, ein anderes, das er nicht verstand. Die seltsamen Worte, die in solchen Momenten immer in ihm aufstiegen, dröhnten ihm in den Ohren: »Halt Adam, Eva scheu.« Zum hundertsten Mal zerbrach er sich den Kopf über ihre Bedeutung, und dabei versiegten seine Tränen: wirklich weinen, das war eins der wenigen Dinge, die Barbary nicht konnte.
Eine ruckartige Kopfbewegung des Bettlers brachte ihn in die Gegenwart zurück, eine zweite lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen Geistlichen, dessen rotwangiges, verwundertes Gesicht und derbes Schuhzeug ihn als Provinzler auswiesen. Barbary rannte zu ihm hin und zog ihn am Ärmel: »Die Güte, die ich auf Eurer Stirne lese, sagt mir, dass Gott Eure Gebete für meines Vaters Seele erhören wird, wenngleich er gesündigt hat wegen seines schweren Schicksals. Sir, ich bitt’ Euch, erbarmt Euch seiner Bußfertigkeit.« In Barbarys Ausdrucksweise und Akzent musste er ein Mädchen erkennen, das für ein besseres Los geboren war.
Der Geistliche war ein guter Gehilfe. Der Appell an seine und Gottes höhere Autorität versicherte ihn wieder seines eigenen Wertes in einer Stadt, die ihn teils abgestoßen, teils fasziniert, aber jedenfalls vollkommen verwirrt hatte. Er ging neben dem Bettler her. »Beklagenswerter Mann, bist du bußfertig?«
Der Bettler schwor es eilends, sodass der Geistliche seinerseits die Konstabeln beschwor, nicht durch zu heftige Schläge den Mann von seiner Reue abzulenken. Von da an konnte Barbary sich ausruhen, abgesehen von gelegentlichem Händeringen oder einem gut platzierten Gewimmer. Die Konstabeln erklärten knurrend, sie gehorchten doch nur dem Befehl des Friedensrichters, der Geistliche aber konterte, er gehorche dem Befehl Gottes, und so endete die Reise zum Tower unter dem Geleier der Stimme des Gehilfen und mit weniger als einem Peitschenhieb auf hundert Yards.
Am Tower Hill wurde der Bettler bis zum Einbruch der Dunkelheit an den Pranger gepflockt. Eine Hängung und Vierteilung am Tag zuvor ließ einen einfachen Bettler am Pranger als kleinen Fisch erscheinen, und abgesehen von einem beiläufigen Krautkopf und vier verfaulten Eiern, die aber fast alle die rührend tapfere Tochter auffing, wurde der Bettler kaum beworfen. Die größte Gefahr bestand darin, dass ihn das Predigen des Geistlichen zu Tode langweilte, denn dieser ließ den ganzen Nachmittag nicht locker. Aber schließlich ermüdete er doch und ging fort, um die Stadt zu besichtigen. Unten am Fluss, wo die Masten so eng beieinanderstanden wie Schilf, sangen die großen Schiffe ihren Sirenengesang in Barbarys Ohren. »Halt Adam, Eva scheu«, sangen sie, und er wanderte wie im Traum auf sie zu, bis ein scharfes »Verlass mich nicht, Tochter« ihn zurück zu seiner Pflicht rief.
In theatralischer Pose warf er sich vor dem Pranger nieder und zählte im Geiste den Gewinn des Tages. Außer der Zunderbüchse und seinem eigenen Gewinn aus dem Würfelspiel hatte er auch noch dem jüngeren Konstabel eine Medaille, einem Händler in Cheapside einen Apfel und dem Geistlichen Sixpence geklaut. »Gute Arbeit, Barbary.«
Gegen Einbruch der Dämmerung leerten sich die Straßen, und sie blieben allein. »Du hast dir verdammt lang Zeit gelassen«, sagte der Bettler. Mit dem herausglotzenden Kopf und den Händen, die durch die Löcher im Brett des Prangers wedelten, sah er aus wie ein Hund. Genau das war er auch nach Barbarys Meinung.
»Hab’ aber deinen verdammten Rücken gerettet, oder vielleicht nicht? Ich musste Wilkin am Lincoln’s Inn Fisch zutreiben.«
»Wie viel?«
»Zwei Pfund und Sixpence.«
Der Aufrechte Mann trug seine vierzig Prozent in sein geräumiges geistiges Kassabuch ein. »Nicht schlecht«, sagte er. »Und du machst dich gut als Puppe.« Er fuhr sich mit seiner fetten Zunge über die Lippen. »Schade, dass du keine bist.«
»Dafür würd’ ich mich schön bedanken.« Alle Mädchen des Ordens wurden, sobald sie alt genug waren, dem Aufrechten Mann für ihr erstes Sexualerlebnis übergeben, ein Vorgang, den man »Zureiten« nannte; dann waren sie reif dafür, als Huren dem Aufrechten Mann neunzig Prozent ihres Verdienstes abzuliefern. Nein, im Frausein lag nicht viel Gewinn, fand Barbary. Höchstens die Pocken.
Eben wurde der Tower hinter ihnen für die Nacht geschlossen, schwere Tore fielen dröhnend zu, Schlüssel rasselten. Gebrüllte Kommandorufe deuteten die Ablösung der Wachen an, ein paar Männer, die heute Nacht frei hatten, schlenderten durch das Pförtchen hinaus und scherten sich um den Bettler am Pranger ebenso wenig wie um die geteerten Schädel, die hoch oben auf Stangen zur Schau gestellt waren.
Barbary mampfte seinen Apfel und betrachtete die Schädel, die dort oben steckten, solange er sich erinnern konnte, und sich jetzt vor dem schwindenden Licht des Augustabends abhoben wie faulende Mohnkapseln. Die Schleiereule, die oben im White Tower nistete, flog mit schwerfälligem Flügelschlag über die Mauer und setzte sich auf einen davon, um ihre nächtlichen Manöver zu planen, wodurch der Schädel wie mit einem grotesken Helm verziert wurde.
»Was haben die da oben denn getan, hm, Abraham? Dass man sie derart aufgespießt hat?«
»Hochverrat gegen Ihre Majestät«, grunzte der Aufrechte. »Graf Desmond und seine Kerle. Irische Rebellen. Braten in der Hölle, alle miteinander.«
»Scheiß auf sie.« Von den zwölftausend Wörtern, um die die Renaissance die englische Sprache bereichert hatte, benutzte Barbary beklagenswert wenige. Er bewunderte die Königin, die einmal beinah selbst geköpft worden wäre, sich aber geschickt aus der Schlinge gezogen hatte; und jeder, der es auf sie abgesehen hatte, würde es mit Barbary zu tun bekommen. Barbarys Meinung nach hatte Elizabeths Thronbesteigung den Orden um ein höchst begabtes potenzielles Mitglied gebracht. Erst letzte Woche hatte er in einer Bude billige Gipsabgüsse des königlichen Profils gesehen, hergestellt aus Anlass des bevorstehenden königlichen Geburtstags, und sich bei diesem Anblick derart von Patriotismus überwältigt gefühlt, dass er einen stahl.
Eine Achtung gebietende Gestalt keuchte den Hügel herauf, und der Aufrechte hob mühsam, aber hoffnungsvoll den Kopf; es war Zeit, dass die Konstabeln kamen und ihn freiließen. Aber es war nur der Gehörnte Dick, sich einen Bauch haltend, der nicht unbedingt fürs Rennen geschaffen schien. »Foll hat einen Gimpel, Abraham«, stieß er hervor. »In einer Stunde legen wir los, aber der Frankist ist ein harter Brocken, wir brauchen vielleicht einen Drücker. Foll sagt, sie braucht Barbary.«
»Mist«, knurrte Barbary. »Muss ich denn alles in dieser Stadt erledigen?«
»Barb, du bist der Beste«, erklärte der Gehörnte Dick. »Können wir ihn haben, Abraham?«
Der Mann ließ sich des Längeren aus über treulose Gefolgsleute, über die Möglichkeit, die ganze Nacht der Willkür irgendwelcher vorbeikommender Extremisten ausgeliefert zu sein, und über den moralischen Verfall pflichtvergessener Konstabeln.
Dick fiel ihm ins Wort: »Der Frankist hat Geld wie Heu, Abraham. Goldene Schnallen auf seinen Tretern.«
In der Seele des Aufrechten Mannes kämpfte aufrechte Gesinnung gegen Selbstsucht – und gewann. »Nimm ihn mit.«
»Bin ich Bub oder Mädchen?«, fragte Barbary und hüpfte neben dem Gehörnten Dick her.
»Bub, sagt Foll«, erklärte Dick. »Am liebsten Chorknabe. Hast du die Fetzen für einen Pfaffenmogler?«
Barbary ging im Geist seine über die ganze Stadt verstreute Garderobe durch. »Ich hab’ alles«, sagte er.
Der »Pudding-in-the-Cloth« in den verwinkelten Gassen der Bermudas war in der Sprache des Ordens eine »fahrende« Schenke, nicht wegen seiner Beweglichkeit, sondern weil es immer wieder ratsam schien, vorübergehend zu schließen und Namen und Pächter zu wechseln. Aber ganz gleich, welcher Name gerade auf dem Schild stand, die Stammgäste kannten das Etablissement als den Pudding, und sie wussten auch, dass, unabhängig davon, wer gerade als offizieller Inhaber auftrat, die wahre Wirtin die Galoppierende Betty war, dieser Furcht einflößende Fleischberg, der von einem geschnitzten Stuhl mit den Ausmaßen eines Thrones auf einem Podest am Ende des Saales aus alles, was sich hier abspielte, genau im Auge behielt.
Die Schenke war alt, aber geräumig – der Galoppierenden Betty zufolge die ehemalige Stadtresidenz von Henry Percy, Vierter Graf von Northumberland. Von einer Galerie im Obergeschoss gelangte man in viele Einzelzimmer, die Küche lieferte einfache, aber gute Speisen, der Keller war bestens bestückt, das Ale stark. Weniger augenfällig waren zwei Schränke mit doppelten Rückwänden auf ein Gewirr von geheimen Stiegen hinaus, das mehr Ausgänge und Eingänge als ein löchriger Käse hatte und mindestens einen unterirdischen Korridor, der in einem gänzlich anderen Haus wieder das Tageslicht erblickte.
Der Pudding, schwer zu finden für die, die ihn nicht kannten, war von Wachtposten bewacht, die einen Schnüffler des Magistrats vierzig Schritte gegen den Wind erkennen und ablenken konnten wie eine Insel aus Magneteisen die Kompassnadel. Am meisten geschätzt waren jene Kunden, die nur einmal kamen und auf verschlungenen Pfaden, die sie später nicht mehr nachvollziehen konnten, hierhergeführt wurden, auf dass man sie rupfte, ausnahm, schröpfte und jedenfalls auf jede erdenkliche Weise von ihrem Gelde trennte.