Die Politisierung des Bürgers, 2.Teil: Mehrwert und Moral - Franz Witsch - E-Book

Die Politisierung des Bürgers, 2.Teil: Mehrwert und Moral E-Book

Franz Witsch

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Beschreibung

Der zweite Teil führt den ersten weiter im Bemühen, das Verhältnis von Moral und Ökonomie zu entziffern - zumal im Kontext einer Theorie der Gefühle, ist jenes Verhältnis doch hochgradig emotional besetzt. Indes liegt es im Kapitalismus im Mehrwertzwang verborgen; dieser treibt das Subjekt in die Atomisierung, der es mit Gefühlen auf Gegenstände der Verheißung zu entrinnen sucht. Dieser einer Analyse zugängliche Sachverhalt findet in der veröffentlichten Meinung wie in der Sozialtheorie keine zureichende Würdigung. Sie wäre aber die wesentliche Voraussetzung einer wirksamen antikapitalistischen Politik, die auf die Abschaffung des Kapitalismus zielen muss und nicht, wie von Keynesianern und der PDL betrieben, auf seine Fortführung im veränderten Gewand; was die Zerstörung überlebenswichtiger sozialer wie ökonomischer Strukturen zusätzlich beschleunigt.

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Der zweite Teil führt den ersten weiter im Bemühen, das Verhältnis von Moral und Ökonomie zu entziffern – zumal im Kontext einer Theorie der Gefühle, ist jenes Verhältnis doch hochgradig emotional besetzt. Indes liegt es im Kapitalismus im Mehrwertzwang verborgen; dieser treibt das Subjekt in die Atomisierung, der es mit Gefühlen auf Gegenstände der Verheißung zu entrinnen sucht. Dieser einer Analyse zugängliche Sachverhalt findet in der veröffentlichten Meinung wie in der Sozialtheorie keine zureichende Würdigung. Sie wäre aber die wesentliche Voraussetzung einer wirksamen antikapitalistischen Politik, die auf die Abschaffung des Kapitalismus zielen muss und nicht, wie von Keynesianern und der PDL betrieben, auf seine Fortführung im veränderten Gewand; was die Zerstörung überlebenswichtiger sozialer wie ökonomischer Strukturen zusätzlich beschleunigt.

Der Autor, geb. 1952, lebt in Hamburg und ist Lehrer für Politik, Geografie und Philosophie. Zwischen 1984 bis 2003 arbeitete er in allen Bereichen der freien Wirtschaft als Informatiker und Unternehmensberater. Heute schreibt er sozialphilosophische Texte und Bücher.

Werner Hajek, geb. 1950, lebt als freier Journalist in Heide.

Inhalt

Ein Vorwort von Werner Hajek

Einleitung

: eine Entwicklung hin zum Kommunismus ist möglich

E1. Ausgangspunkt: die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise

E2. Sozialpsychologische Implikationen der Wirtschaftskrise

E2.1 Absurdes Theater: über den Film

Cosmopolis

E3. Ansätze zur Krisenbewältigung

1. Grundlegendes über Wert und Mehrwert

1.1 Die drei Komponenten der Produktion

1.2 Faktizität und Konstrukt (Geltung)

1.3 Mehrwert: ein logisches Konstrukt

1.4 Bedeutungsphilosophische Implikationen

1.4.1 Die Sprache klebt am Gegenstand

1.5 Auswege aus der Krise durch wachsende Ausbeutung

1.6 Mehrwert und Ausbeutung

2. Moralische Implikationen

2.1 Definitiver Gesellschaftsbegriff (Ethik und Moral)

2.2 Infiniter Regress und Begründung sozialer Strukturen

2.3 Unmoralische soziale und ökonomische Strukturen

2.4 Mehrwert, ein reduktionistisches Konstrukt

2.5 Zur Überwindung des Kapitalismus’

3. Annäherung an eine Theorie der Gefühle

3.1 Schein und Sein oder steht das Zeichen für einen Gegenstand?

3.2 Maß und zu Messendes zugleich? – Verschiebung der Gefühle

3.2.1 Das Gefühl weiß nichts von einem Begriff

3.3 Verobjektivierung des Gefühls in der Verschiebung

3.3.1 Das Missverständnis als Makel oder der Regelverstoß ist primär

3.3.2 Verinnerlichung des Objektiven (Norbert Elias)

3.3.2.1 Etikette als Substrat der Vernunft

3.3.2.2 Geheime Ziele der Vernunft (Theodizee)

3.4 Von der Unordentlichkeit der Gefühle

3.4.1 Thilo Sarrazin (Aufbegehren: Deutschland schafft sich ab)

3.4.2 Andrea Nahles (Verdrängung)

4. Ausblick

Anhang

Abkürzungen (inkl. Zitiermethoden)

Quellen

Filme, die besprochen oder erwähnt werden

Vorwort: Auf der Suche nach dem verlorenen Wir

Befindet sich unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem im freien Fall? Gerade jetzt, im Verlauf des Jahres 2012, scheint der Erdboden auf uns zuzurasen. Doch wer kann schon in die Zukunft sehen? Bisher ist es gut gegangen. Bloß nicht für alle und bloß nicht überall in der Einen Welt. Und die Unwetter rücken näher, haben schon die Küsten Europas erreicht und weite Gebiete der bundesdeutschen Gesellschaft.

Die Verantwortlichen reagieren mit Ratlosigkeit und Hektik, die Opfer mit Ratlosigkeit oder Zorn. Nichts gilt mehr, nichts geht mehr. Keynes samt Schuldenblase oder Kaputtsparen samt Schuldenblase? So oder so, wir sehen gerade das Platzen der Blase, während der Knall noch auf sich warten lässt. Lichtwellen sind eben schneller als Schallwellen.

Wie konnten wir nur in so einen Schlamassel geraten? Alles Nieten die da oben? Alle kriminell und korrupt? Alle vielleicht Teil einer großen Verschwörung?

Nein, sagt Franz Witsch, es sind nicht die Menschen da oben: Unser ökonomisches System hat eine Geburtskrankheit, die lange vertuscht werden konnte. Der Gen-Defekt unseres Wirtschaftens ist die Ausrichtung auf den Mehrwert, auf die Ausbeutung der Arbeitskraft im Marxschen Sinne. Mit Rückblick auf den Realsozialismus fügt Witsch aber gleich hinzu: Nein, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel löst das Problem nicht. Witsch setzt an der Funktion des Geldes und des Finanzsektors an, um den ewigen Zwang zu Mehrwertproduktion und Wachstum zu unterbinden. Der Autor variiert die Theorie von Marx und schreibt sie fort, Stichwort Mehrwert und schuldenfinanziertes Wachstum. Der gedankliche Nachvollzug des Kapitels kostet allerdings einem ökonomischen Laien wie mich etwas Mühe. Vor allem entdecke ich offene Fragen, auf die das vorliegende Buch die Antwort schuldig bleibt, bleiben muss und – bleiben will. Warum das? Dazu später.

Ohne Geld ist alles nichts, aber Geld ist nicht alles. Verengen wir also nicht den Blick auf den Kreis- und Heißlauf der Wirtschaft! It’s the economy, stupid? Für Wahlkämpfe mag diese Schlichtformel reichen, für die Analyse der Gesellschaft nicht. Folgerichtig wagt Witsch im vorliegenden 2.Teil der Politisierung des Bürgers (DP2) eine Zusammenschau von Wirtschaft, Moral und Gefühl. Das Private ist politisch, hieß es bei den 68-ern. Witsch untersucht den Zusammenhang neu und auf eigene Weise. Schon in Teil 1, Kapitel 6.4, gibt er die Richtung seiner Untersuchung an: “Was die politische Theorie betrifft, so sind wir der Meinung, sie von ganz unten neu entwickeln zu müssen. Ganz unten heißt auch: radikal aus intimer (Selbst-)Beobachtung heraus Analyse zu betreiben, um das Große und Ganze mit dem Mikroskopischen zu konfrontieren.” (Zitat gekürzt, Hervorhebungen FW).

Das große Ganze und das Mikroskopische, die Gesellschaft und ihre Individuen, die Gesellschaft und wir, das Innere und das Äußere. Witsch konstatiert, dass die Menschen es bislang nicht gelernt haben, sich selbst, ihr Inneres, in die Analyse der äußeren sozialen Strukturen zureichend einzubeziehen. Ihr Bestandsinteresse steht dem laut Witsch entgegen, zumal es von inneren Bestandsregungen gefüttert und zementiert wird. Ich übersetze das für mich so: Wir neigen stark dazu, unser jeweiliges vordergründiges Eigeninteresse schnell als unantastbar zu heiligen. Das verweist auf das Bestandsinteresse. Und das eigene Muster des Fühlens, Denkens und Handelns wird als das einzig Wahre und Richtige verallgemeinert. Das verweist auf die Bestandsregungen. Selbst die Angehörigen von prügelnden Alkoholikern fühlen sich im vertrauten Elend wohler als auf der riskanten Überfahrt zu besseren Ufern.

Der Komplex aus Bestandsregung und Bestandsinteresse ist nie deckungsgleich mit dem Großen und Ganzen. Gleichwohl, darauf weist Witsch hin, fordert der Einzelne stets und ständig, seinen Interessen und seiner Lebensweise allgemeinverbindlichen Rang zu geben. Witsch setzt gegen diesen egozentrischen Begriff von Gesellschaft seinen definitiven Gesellschaftsbegriff, dessen Ausgangspunkt unverwirkbare und einklagbare Grundrechte für alle bilden, darunter das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die Freiheit von Arbeitszwang. Über diese Idee von Gesellschaft habe ich mit dem Autor oft und kontrovers diskutiert. Doch möchte ich hier einen anderen Gedankengang verfolgen. Wie politisiert sich ein Bürger, der sich in den Strudeln der Desinformation und den Wüsten defekter Sozialstrukturen angstvoll und latent aggressiv an Bestehendem klammert? Solange er klammert, spricht alles gegen die Erwartung, dass sich irgendwo irgendeine Gruppierung oder Strömung von hinreichender Durchschlagskraft entwickelt. Im obigen Zitat aus (DPB-6.4) sagt Witsch sinngemäß, das jede Politisierung in die Irre läuft, in der wir Bürger uns nicht als Teil des Problems erkennen und ändern.

Ein beliebter, von Witsch gründlich beleuchteter Irrweg ist die Projektion aller Schwierigkeiten auf einen Fremden, einen Sündenbock: Man fantasiert sich den faulen Griechen, den gebärfreudigen Türken und den faulen UND gebärfreudigen Hartz-Vierer. Um den Wahrheitsgehalt solcher Zerrbilder geht es nicht. Mit der Entdeckung von Sündenböcken wird vielmehr eine einfache Erklärung für komplexe Zusammenhänge geschaffen.

Auf dem anderen Ende der sozialen Leiter gilt der Börsenzocker nicht als Symptom, sondern als Verursacher wirtschaftlichen Übels. In gut eingefahrener Spur eilt der Spießer im Bürger zu antisemitischen Verschwörungstheorien weiter. Im Internet munkelt es schon allenthalben: Der Jude Rothschild ist der Strippenzieher hinter der Krise. Er beherrscht die Welt, zusammen mit den Illuminati und dem Papst. Mein Tipp: Thomas Gottschalk und Hansi Hinterseer stecken mit unter der Decke. Die tun nur so lieb! Umberto Eco hat diesem gefährlichen Schwachsinn in seinem aktuellen Roman Friedhof von Prag ein kritisches Denkmal gesetzt. Plausibilität spielt im Verschwörungswahn keine Rolle. Wichtig bleibt nur und immer der Wunsch: Gib mir Orientierung, gib mir einfache Erklärungen für chaotische, bedrohliche Zustände! Viele Verschwörungstheorien leben und sterben mit dem vermuteten Wirken einer zentral steuernden Macht, die sich verborgen hält. Die gibt es offensichtlich nicht, da ist der Denkfehler. In der globalisierten Welt ist die Macht in konkurrierende Zentren zersplittert, auf staatlicher wie auf wirtschaftlicher Ebene. Aber die Idee eines allmächtigen Strippenziehers gibt ein praktisches und handliches Weltbild.

Ach ja, der Allmächtige Strippenzieher! Wenn wir gedanklich einen bösen und einen guten Strippenzieher ins gleiche Universum sperren, haben wir Gott und den Satan und damit das Inventar für den religiösen Fundamentalismus sämtlicher Handelsmarken und Geschmacksrichtungen. Fundamentalismus bringt Millionen von Menschen in Bewegung, aber bestimmt nicht zur Emanzipation. Denn gerade Fanatiker fühlen sich immer auf der richtigen Seite und projizieren von sich weg.

Viele wirklich empathische und kritische Menschen dagegen verlieren sich in esoterischen Allmachts-Fantasien. Sie hoffen, allein mit ihrer positiven Energie und mit der Kraft ihres guten Willens die Welt zu verändern, spätestens mit einer ordentlichen Portion Meditierens für den Frieden. Ich halte das für eine Regression in die magische Phase der kindlichen Entwicklung. Fünf- und Sechsjährige meinen, dass Wünsche in Erfüllung gehen, wenn man nur fest daran glaubt. Traurige Ironie: Der Rückzug von Erwachsenen in kindliche Träumerei nennt sich auch noch Awakening, also Erwachen.

Können wir hoffen, dass wenigstens das Internet die Welt revolutioniert, ein neues Zeitalter der demokratischen Kommunikation einleitet? Jeder hat Zugang zu allen Infos, kann selbst alle informieren. Eine schöne Illusion! Das mit der Revolution stimmt, das mit der Demokratie nicht. Das Internet wälzt die Welt um, macht sie aber nicht freier. Denn wie in bisher jeder Revolution folgt im Internet auf eine Phase der Anarchie die Etablierung neuer Herrschaft. Auf der technisch-ökonomischen Seite arbeitet man längst an automatischen Zensurmethoden und ungleichen Beförderungsgeschwindigkeiten. Ob und wie schnell meine Datenpakete in Zukunft die Empfänger erreichen, wird von Dringlichkeit, Zulässigkeit und Zahlungskraft abhängen.

Zurück zum veränderungsscheuen Individuum: Ihm ist das Internet vorrangig eine große Spielwiese und Sucht-Maschine, noch heftiger als das Fernsehen. Man kämpft und rammelt in virtuellen Welten und flieht vor der Welt jenseits der heruntergelassenen Jalousien. Das Buch Wir amüsieren uns zu Tode über die Verblödung und Infantilisierung durch die elektronischen Medien ist eine olle Kamelle von 1985, aber brandaktuell.

Nicht zuletzt beginnen Propaganda, PR, Lobbyarbeit und Werbung die entscheidenden Diskurse auch im Internet an sich zu reißen. So wird selbst das urdemokratische Wikipedia von Werbestrategen unterlaufen. Die bezahlten Trommler für ökonomische und politische Auftraggeber sind eine Weltmacht, die in der Tendenz das bestehende System zementiert. Hier ist tatsächlich eine Größe, die aus dem Untergrund heraus die Menschheit beherrscht. Das Wort Publik Relations sagt klar, worum es geht: Beziehungen zur Öffentlichkeit gestalten und darüber hinaus die öffentlichen Beziehungen. In Stoßrichtung auf uns Normalbürger, auf unser Denken und Fühlen sind PR und Werbung eine riesige Verwirrungsindustrie. Zum Glück wird auch die PR nicht zentral gesteuert, sondern verfolgt ein Chaos widerstrebender Ziele. Aber in der Summe macht sie dumm und konsumgeil.

Das alles sieht gar nicht gut aus. Kann man als Ersatz für die Politisierung des Bürgers auf Einsicht bei den Mächtigen hoffen? In seinem satirischen Erfolgsroman Stark von 1989 erzählt Ben Elton, wie die mächtigsten Wirtschaftsbosse lieber ihre Auswanderung zum Mond organisieren als auf der Erde die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zu stoppen. Soweit wird in der Realität niemand gehen, und natürlich ist es auch das Interesse der Reichen und Superreichen, in einer intakten Gesellschaft und einer geschonten Umwelt zu leben. Doch dem stehen nicht nur die Strukturen entgegen, sondern wiederum das, was Witsch als Bestandsinteresse und Bestandsregungen identifiziert. Zur Not tut es statt der Flucht zum Mond auch ein schwer bewachtes Reichen-Ghetto, aus dem heraus man sich nur in Hubschraubern und Panzerlimousinen bewegt.

Nun gut, Schluss mit dem Klagelied, die restlichen Strophen lasse ich unter den Tisch fallen. Bisher hat die Menschheit noch alles überstanden, sogar sich selbst. Das gibt mir Hoffnung. Überall auf der Welt entstehen soziale Bewegungen. Teils entwickeln sie sich gegen die Macht der neuen Medien, teils mit deren Hilfe. Attac, Landarbeiterbewegungen, Hungerrevolten, Montagsdemonstrationen, arabischer Frühling, Occupy. Wir sehen zwar, dass die Anläufe regelmäßig versanden oder unterwandert und eingefangen werden durch eine geübte Befriedungsmaschinerie. Doch ist das zwangsläufig? Bloß weil es bisher so war?

Die wichtigste und wertvollste Botschaft von Witsch steht schon in Die Politisierung des Bürgers (DPB), und ich kann sie nicht deutlich genug hervorheben: Die Märkte sowie unsere komplette Wirtschafts- und Lebensweise samt ihrer ungeheuren Zerstörungskraft sind keine Naturkräfte. Sie sind menschengemacht und können von Menschen verändert werden. Versuchen wir es, trotz alledem!

Das vorliegende Buch liefert einen positiven Beitrag. Originell in der Methodik und streitbar im Inhalt lässt es viel Raum für Gegenrede. Die ist sogar erwünscht, wie es der Autor gleich in Kapitel 1.1 demonstriert. Witsch will nichts Abgeschlossenes anbieten, sondern über seine Internet-Seite und seine dort herangewachsenen Bücher eine Plattform für kollektives Nachforschen schaffen. Aus dieser gemeinsamen Arbeit an den grundlegenden Themen unserer Zeit erhofft er sich Antworten, die er alleine nicht bieten kann und will. Der Leser ist zum Mitmachen, zum Bestreiten und Mitstreiten ausdrücklich aufgefordert.

Heide, Oktober 2012Werner Hajek

Einleitung: eine Entwicklung hin zum Kommunismus ist möglich

E1. Ausgangspunkt: die aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise

In einer Zeit massiver wie globaler Zuspitzung der Wirtschafts- und Finanzkrise ist Die Politisierung des Bürgers (DPB) ein wünschenswerter sozialer Prozess, dem freilich immer wieder soziale Kräfte der Entpolitisierung zu schaffen machen. Was sind das nur für asoziale Kräfte, die sich im Sozius breit machen, noch dazu in einer Zeit zunehmender sozialer Kälte und Ausgrenzung? Je schlechter es dem Bürger geht, so könnte man meinen, desto mehr dünnen seine sozialintegrativen Fähigkeiten aus, die vor allem darin bestehen sollten, das Fremde (anderer Menschen) dem eigenen Leben zu assimilieren; sei es, dass man Kriminellen, beispielsweise einem Kindesentführer, unmittelbar einklagbare Grundrechte zugesteht. Oh nein, Grundrechte dürfen nur die in Anspruch nehmen, die es verdienen. Arbeitslose Hartz-IV-Empfänger sind kaum besser dran. Grundrechte verdienen sie nur, wenn sie jede zumutbare Arbeit annehmen, die man ihnen hinwirft. Als würden sie, wenn sie Arbeit verweigern, das Leben sogenannter Leistungsträger in Gefahr bringen. Dabei sind immer mehr Menschen mit oder ohne arbeitsscheue Hartz-IV-Empfänger, mit oder ohne Grundrechte für Kriminelle hochgradig gefährdet – wirtschaftlich, aber auch psychisch. Der Gefühlshaushalt des Bürgers sieht sich nicht zuletzt in einer Zeit wachsender Verelendung immer stärker in Anspruch genommen, mittlerweile so sehr, dass Sündenbockerklärungen sich immer massiver, vor allem nachhaltiger im Gemüt des Bürgers festsetzen: Ausgegrenzte, insbesondere die, die nicht arbeiten wollen, müssen einmal mehr für alle möglichen sozialen und wirtschaftlichen Probleme herhalten. Alles Quatsch. Die Wahrheit ist, der Bürger neigt dazu, seine Bestandsregungen: sein mit Gefühlen kontaminiertes Bestandsinteresse, mit dem Allgemeininteresse kurz zu schließen, so als könne ein singuläres Bestandsinteresse stellvertretend für das Bestandsinteresse des Strukturganzen: die Summe aller möglichen Interessen, stehen.(DPB,22) Am Ende sieht sich der gesellschaftliche Kontext vollständig privatisiert: auf Gefühle reduziert.(DP3-2.4)

Mit anderen Worten: der Bürger ist nicht bereit oder nicht in der Lage, Gefühle selbstkritisch zu reflektieren, bzw. als verhandelbare Ressourcen zu begreifen.(DP4-1.3) Wäre er in der Lage und auch bereit dazu, dann würde er allgemeine technisch-ökonomische Probleme nicht so verhandeln, als seien sie mit einem richtigen Gefühl oder einer richtigen moralischen Einstellung zu lösen. Demgegenüber bin ich (in DPB,86-128) zu dem Ergebnis gekommen, dass es im Kapitalismus, resp. unter der Bedingung, dass die Regeln der Kapitalverwertung gelten, für immer mehr Menschen nur noch bergab gehen kann und zwar mit oder ohne Wirtschaftswachstum, mit oder ohne die richtige moralische Einstellung. Auch mit einer guten moralischen Einstellung aller Bürger werden wir es allein dadurch, dass wir im Kapitalismus leben, immer unleugbarer mit Prozessen absoluter ökonomischer und psychischer Verelendung zu tun bekommen, wobei die psychische Verelendung zunehmen muss, wenn die materielle Not der Menschen zunimmt. Und zwar deshalb, weil psychische Probleme, resp. Gefühle mit zunehmender Verelendung immer weniger verhandelbar sind (DP4-1.3), und nicht weil es ohne Verelendung keine psychischen Defizite mehr gäbe. Damit bleibt das Ökonomische primär in dem Sinne, dass es unter der Bedingung, dass die Regeln der Kapitalverwertung gelten, die menschliche Entwicklung immer massiver begrenzt und eben keinesfalls positiv entfaltet.

Die wesentlichen Ursachen für ökonomische Verwerfungen sieht die veröffentlichte Meinung indes nicht in der Kapitalverwertung, sondern viel lieber beispielsweise in demografischen Problemen oder, wenn die nicht so recht überzeugen, in mangelnder Leistungsbereitschaft von zu vielen Bürgern – in ihrer Faulheit. Derart werden technisch-ökonomische Kategorien vermoralisiert – mithilfe von Tatsachen, die für sich selbst sprechen: da tut einer nichts, also ist er faul und muss bestraft werden. Wie jetzt die Griechen durch massive Sparprogramme, weil sie seit jeher und ganz massiv über ihre Verhältnisse gelebt haben. Dabei sind für sich sprechende Tatsachen schon auf den ersten Blick zu einfach. Selbst wenn man sie ernst nehmen wollte, müsste sich die weitergehende Frage aufdrängen, warum Menschen heute weniger leistungsbereit sein sollten als früher? Liegt der Grund allein im Bürger, seiner Erziehung, seinen veränderten Genen, etc.? Mitnichten, die Wahrheit liegt nicht in der Tatsache allein; sie ist Ausgangspunkt der Analyse, mehr nicht. Schon in (DPB,86-128) war ich bemüht zu zeigen, dass und warum es die bislang geltenden kapitalistischen Strukturbedingungen sind, die dem Bürger immer weniger Raum geben, sich wirtschaftlich und seelisch einzubringen, und zwar völlig unabhängig davon, welche Parteien die Regierung stellen und für die sozial-ökonomische Entwicklung verantwortlich zeichnen. Nicht die Politik, sondern die Regeln der Kapitalverwertung diktieren die Entwicklung; die Politik sorgt nur dafür, dass Vorgänge der Verelendung nicht chaotisch, sondern – mithilfe der Hartz-IV-Gesetze, ESM und Fiskalpakt – ordnungsgemäß ablaufen, nicht zuletzt um eine gewisse Legitimität im Interesse der Herrschenden vorzuspiegeln. Die Menschen sollen mit guten Gründen im Müll landen, um das Gewissen der Besitzenden zu beruhigen. In dieser Hinsicht gibt es in der Tat Wettbewerb unter den Parteien: wer beruhigt das Gewissen am effektivsten.

Vergeblich. Es drohen Chaos und Gewalt. Die im Bundestag vertretenen Parteien bemühen sich nach Kräften, den Euro gegen die Wand zu fahren und sehr wahrscheinlich die EU gleich mit. Es herrscht umfassende Orientierungslosigkeit, schichtübergreifend, auch und gerade unter Experten. Keiner weiß, was morgen kommt; nur dass die Zukunft das Schlimmste befürchten lässt, ein Gefühl, das mittlerweile weit verbreitet ist. Wie auch nicht? Ständig werden Katastrophenwarnungen abgesondert. Den Sündenbock für die Misere hat man schon parat; er muss – wie es sich gehört – bestraft werden; kein Problem: der Austritt Griechenlands aus dem Euro hat für FDP-Chef Rösler seinen Schrecken verloren.(FTD-001) Darauf reagierte der griechische Finanzminister Evangelos Venizelos ziemlich verärgert: ein Austritt Griechenlands laufe auf einen Selbstmord der Eurozone hinaus.(FAZ-001) Richtig, sagt EZB-Chef Draghi. Er werde alles tun, um den Euro zu erhalten.(FAZ-002) Die EZB sucht ganz offensichtlich “einen Weg, das Verbot der direkten Staatsfinanzierung zu umgehen.”(FTD-002) Das wiederum geht einer wachsenden Zahl von Wirtschaftsexperten zu weit. Am 06.07.12 wandten sich 172 Professoren in einem Brandbrief (FAZ-003), darunter ifo-Chef Sinn und Wirtschaftsprofessor Krämer, vehement gegen jede Vergemeinschaftung von Schulden einzelner Länder, insonderheit dagegen, die spanischen Banken aus den Mitteln des ESM zu retten; das laufe auf eine Vergemeinschaftung des Haftungsrisikos hinaus, das ausschließlich die Gläubiger und nicht die Steuerzahler tragen sollten. Das findet auch PDL-Mitglied Wagenknecht: die Sozialisierung der Schulden löse nicht dauerhaft die aktuellen Probleme.(WAS-UEF) Im Gegenteil, damit würden, so nun wieder Sinn, falsche Anreize geschaffen, bzw. Investitionsentscheidungen fehlgeleitet. Das werde nur vermieden, wenn man Banken mit ihren fehlgeleiteten Investitionen in die Insolvenz schicke.(FAZ-003) Damit nicht genug bestreiten Merkel und Schäuble wider besseres Wissen, dass es für die Steuerzahler ein Haftungsrisiko für die 100 Milliarden € zur Rettung spanischer Banken gebe. Der spanische Staat haftet aber in jedem Fall (WOL-061); dies angesichts der Tatsache, dass die Spanien-Krise immer bedrohlichere Ausmaße annimmt. Im Falle einer Zahlungsunfähigkeit wird Spanien aber nicht haften können; so einfach ist das, Frau Merkel.

Es ist ganz schön frech, was Politik und Öffentlichkeit dem Bürger zumuten. Das ganze Gerede läuft, kurz gesagt, auf die übliche Marktgläubigkeit hinaus, derzufolge der Markt alles regeln müsse, damit falsche Investitionen bestraft werden können. Nur dass dieses Geschwätz den Zusammenbruch von Euro und EU billigend in Kauf nimmt. Überdies wären Hunderte von Millionen Menschen betroffen, wenn es tatsächlich zu einer Weltwährungskrise mit unabsehbaren Folgen für die Realwirtschaft käme.

Damit sei nicht gesagt, dass die Gegner einer Vergemeinschaftung der Schulden, die sich in einem ziemlich hysterischen Brandbrief an die Öffentlichkeit wandten, die besseren Argumente hätten.(SDE-003) Ich würde eher sagen, dass Argumente keine Rolle spielen; zur Zeit herrscht Krieg. Der Wirtschaftsweise Bofinger ist für den Initiator des Brandbriefes, Professor Krämer, schlicht eine akademische Nullnummer.(MAJ-AKN) Und der sonst so seriöse 23-köpfige EZB-Rat spricht gegen alle Gepflogenheiten längst nicht mehr mit einer Stimme.(SPO-007,WOL-063) Die Debatte insgesamt ist eine Nullnummer. Die Gegner des Brandbriefes argumentieren auch nur recht vage mit den üblichen moralisch motivierten Durchhalteparolen.(WOL-059) Diese gründen in der Hoffnung, dass massive Sparanstrengungen, ernsthaft auf den Weg gebracht, das Haftungsrisiko entscheidend minimierten, so dass eine Vergemeinschaftung des Risikos nicht zu befürchten sei. Hilfen müssen im Vorfeld aber fließen, so Bofinger; sonst steuere Europa auf eine Katastrophe zu.(WOL-058) Die Sache hat allerdings einen Haken: die Prämisse zur Vermeidung einer Katastrophe: erfolgreiches Sparen, ist unrealistisch; und ohne stichhaltige Prämissen sind Argumente belanglos.

Eine mögliche Katastrophe wird indes nicht dadurch verhindert, dass man Griechenland fallen lässt. Seit der Pleite von Lehman Brothers im September 2008 weiß man, dass Insolvenzen großer Banken den Zusammenbruch des Weltwährungssystems zur Folge haben können; das gilt mehr noch für ganze Staaten – mit unabsehbaren Folgen für die Realwirtschaft. Wir wissen ferner und anders als Sahra Wagenknecht wahrhaben möchte, dass Staats- und Bankenpleite eng verbunden sind: eine Staatspleite bringt den Finanzsektor in Schieflage, während diese wiederum die Staatsschulden in die Höhe treibt. Zu sagen, man könne Bankschulden sauber von Staatsschulden trennen und Bankinsolvenzen den Banken in Rechnung stellen, ist falsch.(WAS-UEF) Im Kapitalismus zahlt in jedem Fall der Bürger, Frau Wagenknecht. Finanzminister Schäuble denkt auch, das eine: überschuldete Banken, vom anderen: überschuldete Staaten, trennen zu können; demgegenüber habe ich in (DPB, 109f) dargelegt, dass eine solche Trennung unrealistisch ist. Schäuble meint indes in Ergänzung zu Bofinger, dass es im Kern nicht darum gehe, die Haftung für Schulden zu vergemeinschaften, sondern darum, eine gemeinsame Banken-Aufsicht in Europa zu schaffen, so dass aus dem Rettungsschirm für Staaten mit Sicherheit kein Rettungsschirm für Banken werde.(WOL-059) Als wäre noch irgendetwas sicher. Bislang jedenfalls lagen Politiker und Experten mit ihren Aussagen regelmäßig falsch; wie auch nicht? Anstatt Analyse herrscht die Devise: Augen zu und durch. Oder was soll man davon halten, wenn Bofinger sagt, das BVG möge zügig entscheiden, ob ESM und Fiskalpakt mit der Verfassung vereinbar seien? Andernfalls könne man für nichts mehr garantieren.

In der Tat hilfloses Geschwätz! Eigentlich müssten alle Experten endlich in Erwägung ziehen, dass wir nicht im richtigen Wirtschaftssystem leben; so weit wagt sich keiner aus der Deckung. Es darf nicht an unserem Wirtschaftssystem, dem Kapitalismus liegen, dass wir vor dem Abgrund stehen und mit oder ohne ESM, mit oder ohne Fiskalpakt, mit oder ohne schnelle BVG-Entscheidung hart aufschlagen werden. Man hätte schon im Herbst 2008 vermuten können, dass es so kommt.(DPB,28) Nicht so die Experten. Der einfache Bürger ist weiter; er spürt, dass Experten und Parteien vollkommen überfordert sind; indes begnügt er sich damit, Erwartungen an Politiker und damit ans herrschende Wirtschaftssystem zu stellen, die nicht erfüllbar sind. Viele hoffen nunmehr auf SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück, und das trotz seiner in Euro ausdrückbaren Nähe zur Finanzindustrie, ja vielleicht gerade wegen seiner Nähe; vielleicht um sie zum Wohle aller zu beeinflussen? Viele sind so naiv. In Wirklichkeit ergeht er sich lediglich in verbalradikaler und blumiger Dampfplauderei.(MP2:F09) Er ist weit davon entfernt, unser Wirtschaftssystem im Kern infrage zu stellen (2.4); um es im Interesse einer sozialverträglichen Entwicklung für alle umzugestalten. Davon will auch der Bürger nichts wissen; wie sollte er, wenn er Experten und sämtliche Parteien als überfordert erlebt? Der Bürger spürt aber zumindest, dass nichts mehr stimmt, wenn er sieht, dass selbst Experten sich wie die Kesselflicker streiten. (MAJ-AKN) Darauf reagiert er mit Angst, weitgehender Privatisierung (seiner Gefühle). Hinzu kommen Aggressionen, die er mit Sündenbockphilosophien innerlich vorbereitet. Noch zieht er sich in sein Schneckenhaus zurück, in dem Maße, wie seine Angst wächst und er Aggressionen noch nicht auszuleben wagt. Dabei schart er sich um vermeintlich starke Politiker wie Merkel und Steinbrück und entpolitisiert. Am Ende lösen sich seine sozialen und mentalen Strukturen vollends auf, sein Schneckenhaus nicht ausgenommen; dies umso mehr, je mehr die Verelendung zunimmt. Bis es dann irgendwann fürchterlich knallt. Zunächst vereinzelt, in Arbeitsämtern, und schließlich auf der Straße. Dann Gnade uns Gott.

Die schichtübergreifende mentale Überforderung, eine Systemkritik zu betreiben, die ihren Namen verdient, kann mittlerweile dem systemkonformen Blätterwald entnommen werden. In einem Artikel der FTD ist von EU-Abgeordneten die Rede, die sich der Macht der Bankenlobby nur noch ausgeliefert fühlen. Sie sei inzwischen so groß, dass die Volksherrschaft in Gefahr gerate: Für “die Finanzmärkte habe bisher keine Gewerkschaft oder Denkfabrik eine Expertise entwickelt, die derjenigen der Geldbranche standhalte” (HOR-DOF), sagen Burkhard Balz (CDU) und Udo Bullmann (SPD). Es ist unglaublich, aber Parlamentarier fühlen sich weder verantwortlich noch geistig in der Lage, selbstständig zu denken. Sie müssen alles vorgekaut bekommen. Schon gar nicht wollen sie selbstverantwortlich aktiv werden, um für Gegendruck zu sorgen. Zu riskant; könnte der Karriere schaden; natürlich, Gegendruck gibt es in der Gesellschaft bislang nicht; wenn doch, gar massiv wie in Griechenland oder Spanien, bewegt sich der Protest lediglich in der Logik herrschender Kapitalverwertung, ohne in System-Alternativen denkende Substanz. Das trifft ganz massiv auf die Wirtschafts- und Finanzwissenschaften zu. Dort herrscht Absolutismus in der Art: die Wahrheit bin ich. Professor Sinn vom ifo-Institut fühlt sich als Wissenschaftler, der exakte, um nicht zu sagen universell gültige Wahrheiten absondert, so auf Phönix im Dialog mit Michael Krons.(SIH-MKD) Sinn denkt, das System aus Schuldenmachen und Schuldentilgen sei alternativlos, sozusagen gottgegeben. Richtig ist indes nur, dass der Kredit die Verwendung des Geldes an die Kapitalverwertung, mithin die Mehrwertproduktion bindet.(DPB,28) Er ist systemrelevant; ohne Kredit kein Kapitalismus; was nicht bedeutet, dass es in einem alternativen Wirtschaftssystem keinen Kredit geben dürfe; dort spielte er nur keine tragende Rolle mehr im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des Systems. Auch würde es eine Lizenz zum Gelddrucken für private Bereicherungsinteressen nicht mehr geben; das wird weder von Sinn noch von seinem an Keynes orientierten Gegenspieler Bofinger, aber auch nicht von den Repräsentanten oder dem Parteiprogramm der PDL infrage gestellt; auch die PDL möchte die Verwendung des Geldes nicht konsequent an menschliche Bedürfnisse nach Arbeit und Konsum binden.(DPB,88,112f,117) Dafür fühlen sich ihre Repräsentanten im Kapitalismus zu wohl. Auch sie wollen in erster Linie an die Futtertröge der Macht, sich privat bereichern, bevor sie daran denken, für andere Politik zu machen.

Nicht parteigebundene Sozialwissenschaftler – Politologen, Soziologen, Philosophen, Psychologen, Historiker etc. – sind nicht weniger überfordert, zumal wenn sie von Ökonomie keine Ahnung haben und deshalb nur das nachplappern können, was Keynesianer (mehr Schulden, höhere Steuern) oder Neoliberale (mehr sparen) fordern. Damit sind auch sie kaum in der Lage, eine Analyse gegen den Kern unseres Wirtschaftssystems: den Kapitalismus, zu entwickeln. Wie auch? Das erforderte, um in die Theorieproduktion einzusteigen, erst einmal eine realistische Bestandsaufnahme: Man nimmt nicht zur Kenntnis, dass sich der Neoliberalismus vollständig durchgesetzt hat, überdies im Gewand des Keynesianismus, der systemimmanent in den Kategorien des Neoliberalismus tickt, und dass es deshalb zu einer Debatte von Substanz nicht kommen kann.(DPB,98)

Das keynesianische Konzept des deficit spending wurde schon früh als Mythos entlarvt, als man noch mit Keynes von einem zivilisierbaren Kapitalismus träumte, so Paul Mattick; bei ihm hätte man schon 1969 nachlesen können, “daß die keynesianische Lösung der die kapitalistische Welt bedrängenden wirtschaftlichen Probleme nur von zeitweiliger Gültigkeit sein kann, und daß sich die Bedingungen, unter denen sie wirksam war, aufzulösen beginnen.” (MAP-MUK) Sein Sohn Paul Mattick jun. kommt zum gleichen Ergebnis. In einem Interview vom 16.01.12 sagte er zum Thema Marx und Keynes u.a.:

“Wenn Marx Recht hat, muss Keynes falsch liegen (...) Aber das war etwas, was niemand akzeptieren wollte (...) Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist das ein interessantes Phänomen – dass jemand fähig war, in den Sozialwissenschaften eine Voraussage zu machen, die sich auch noch als richtig herausstellte. Die Tatsache, dass sie unbeachtet geblieben ist, zeigt, (...) dass die Sozialwissenschaften halt vor allem sozial und weniger eine Wissenschaft sind.”(MAP-DWK)

Richtig, zwischen Keynesianismus und Neoliberalismus gibt es keinen wesentlichen Unterschied. Beide liegen, wie unsere Streithähne Bofinger und Krämer (MAJ-AKN), in ihren Analysen falsch. Diese entpuppen sich schon dem Augenschein nach als pure Vorstellung. Das allein wäre normal; wie sollten wir ohne Vorstellungen über etwas in der Welt eben genau diese Welt bewältigen? So frage ich zu Beginn in der Einleitung von (DPB,20). Alles wäre in Ordnung, wenn sich Vorstellungen über etwas, was in der Welt der Fall ist, nicht für schlechthin real hielten. Was indes unsere Ökonomen betrifft, so drängen ihre Vorstellungen nicht zur sozial-ökonomischen Realität, um sich dieser auszusetzen, an ihr messen oder überprüfen zu lassen; damit würden sie eine allzu spannungsgeladene Differenz von Vorstellung und Wirklichkeit, bzw. negative Gefühle heraufbeschwören, die dann zu verhandeln wären.(DP4-1.3) Wozu, wenn’s ewig gültige, universelle ökonomische Wahrheiten gibt, auf die sich die Realität hinzubewegen habe, denen die Politik gehorchen müsse, wenn sie richtig sein will. So muss man Sinn verstehen. Das ist der Grund, warum es sich unerträglich anhört, wenn er sich zu Finanz- und Wirtschaftsfragen äußert.(SIH-MKD) Mit keiner Silbe zieht er in Erwägung, dass der Kapitalismus weder natur- noch gottgewollt, aber ein Kulturprodukt ist, von Menschen im Laufe einer langen Geschichte, über viele Generationen hinweg, gemacht, also weiß Gott nicht das Ende der Geschichte darstellen muss. Das denken wir, weil wir im Kapitalismus aufgewachsen sind und nichts anderes kennen; wiewohl man mit Marx sagen kann, dass die Kapitalverwertung aus sich heraus notwendig – also völlig moralfrei, aber die moralischen Fähigkeiten begrenzend – wachsende Armut und, wie Mattick jun. hinzufügt, unsägliche Katastrophen erzeugt.(MAP-DWK) Vor allem weil man seit Jahrzehnten vergeblich versucht, mit wachsenden Schulden die Verelendung einzudämmen.

Die bisherigen Äußerungen deuten erst an, dass zwischen Mehrwert und Moral ein Zusammenhang besteht. Mehr noch, ich möchte das Gefühl einbeziehen und einen emotional-moralischen Aspekt hinzufügen, nämlich dass die Verelendung nicht deshalb wächst, weil der Mensch unmoralisch: zu gierig oder zu wenig leistungsbereit ist, sondern sie wird zum einen primär technischökonomisch hervorgerufen, wiewohl zum anderen auch nicht unterschlagen werden darf, dass der Vorgang der Verelendung emotional-moralisch befestigt wird in dem Maße, wie man den technisch-ökonomischen Hintergrund der Verelendung nicht durchschaut, v.a. weil man sie immer noch mit Keynes für auflösbar hält, und deshalb geneigt ist, technisch-ökonomische Kategorien im Gut-Böse-Schema gefühlsbeladen zu vermoralisieren.(DP3-1.5; WIM-DOS,62f) Hier sieht sich die Analyse auf Gefühlsdispositionen reduziert, mithin darauf, auf den besseren Menschen im Politiker zu hoffen.(DP3-2.4;DPB,150-154) Das Nachsehen haben die, die der Verelendung am meisten ausgesetzt sind, am wenigsten Einfluss haben und für die Krise am wenigsten verantwortlich sind; sie können sich am wenigsten wehren, eben weil sie nicht zuletzt Opfer einer Vermoralisierung technisch-ökonomischer Kategorien sind; etwa wenn die Rede davon ist, dass es keine Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung, ja keine Finanz- und Wirtschaftskrise gäbe, wenn die Menschen nicht dazu neigten, auf Kosten anderer zu leben, der arbeitsscheue Hartz-IV-Bezieher sich endlich mal bewegen oder der Grieche endlich nicht mehr über seine Verhältnisse leben würde – auf Kosten des deutschen Steuerzahlers, versteht sich. Dieser dürfe, so Sinn, nicht für Schulden zahlen, die andere: Griechen, Spanier etc. gemacht haben, um über ihre Verhältnisse zu leben.(SIH-MKD) Dem müsse man, so Finanzminister Schäuble, mit mehr Europa, vor allem dem Fiskalpakt, begegnen: einer Abtretung nationaler Souveränitätsrechte v.a. in Bezug auf Haushaltsfragen an Brüssel. Das ist weniger harmlos, als es sich anhört, wenn man bedenkt, dass Aussagen wie auf Kosten anderer Menschen leben mit aggressiven Gefühlen aufgeladen sind und Menschen aufeinander hetzen; diejenigen, die aufeinander hetzen, missbrauchen die Fähigkeit, Gefühle (für etwas) auszubilden, und tun dabei so, als könnten sie kein Wässerchen trüben: der Fiskalpakt soll für Gerechtigkeit sorgen, also nur verhindern, dass Länder über ihre Verhältnisse auf Kosten anderer Länder leben. Mit diesem Satz wird indes eine zentrale analytische Vorentscheidung getroffen, die dahin geht, dass wir ein Schuldenproblem haben; ich denke, wir haben keins, zumal nicht eines, das sich durch Sparen beheben ließe, um die Krise aufzulösen. Das ist schon dem Augenschein nach falsch; das Schuldenproblem, ob durch private Immobilienkredite oder die öffentliche Hand hervorgerufen, gibt es zusammen mit der Finanzkrise nur im Rahmen des geltenden kapitalistischen Wirtschaftssystems, zumal in Verbindung damit, dass der Kredit systemrelevant für den Kapitalismus ist. Man verdrängt, dass Schulden- und Finanzkrise sich notwendig aus der Kapitalverwertung speist und diese wiederum auf der Grundlage der Mehrwertproduktion existiert. Wenn wir über Schulden reden, müssen wir also über den Mehrwert reden.(1;2) Mit diesem steht und fällt der Kapitalismus; ohne Mehrwert verliert der Kredit seinen Sinn; das ahnte schon Marx, als er im Kapital sagte:

“Sobald die Produktionsmittel aufgehört haben, sich in Kapital zu verwandeln (...), hat der Kredit als solcher keinen Sinn mehr.”(MAK-W25,621)

Das alles, insonderheit die Beziehung von Mehrwert und Kredit und diese Beziehung wiederum in Verbindung zur Moral, ist in DPB zu kurz gekommen, auch wenn dort schon dargelegt ist, dass sich die Kapitalverwertung zusammen mit dem Sozialstaat nur mit wachsenden Schulden hält und man Staaten und Bürger daher nicht, noch dazu moralinsauer anlasten dürfe, dass sie sich verschulden; das müssen sie, um den Sozialstaat zu retten. In diesem Sinne brauche die Kapitalverwertung nicht nur den Schuldner, sondern überdies einen solchen, der sich zunehmend verschulde und sei es, dass er Schulden macht ohne die Möglichkeit, sie jemals zurückzahlen zu können. Ja, ohne wachsende Schulden gäbe es den Sozialstaat nicht mehr. Der tiefere Grund ist die Systemrelevanz des Kredits; das heißt, unser Geld wird auf der Basis von Schulden gedruckt, um die Verwendung des Geldes an den Mehrwert zu binden.(DPB,28) Auf Dauer ist das mit dem Sozialstaat unvereinbar. Anders herum könnte das Geld ohne Kreditgeldschöpfung, wie von Deutschmann in (DEC-EWK,5f; DEC-GRF) gefordert, ein öffentliches Gut sein. Bislang ist es privat. Dennoch ist das Geld, das wir in unserer Tasche haben, nicht unser Geld. Es gehört dem Kapital; genauer: dem Kapitalverwertungszwang; ja, es gehört nicht einmal dem einzelnen Kapitalisten. Der muss am Ende zusehen, wo er bleibt, wenn er ohne Mehrwert dasteht, so dass wachsende Schulden der öffentlichen Hand oder der Privatbürger den Mehrwert (für ihn) simulieren müssen.(1.3) Nicht einfach zu begreifen; zumal es, technisch-ökonomisch gesehen, einen personalisierbaren Schuldigen für die Schuldenmisere nicht gibt; und so weiß selbst die herrschende (politische und ökonomische) Elite nicht, in welchem Wirtschaftssystem sie lebt und Politik macht. Es gibt Politik nicht für Menschen, sondern für ein Abstraktum, das Kapital, das weder quantifizierbar noch anderswie konkretisierbar ist.(1.3)

Politiker sind leider weit davon entfernt, den Zusammenhang von wachsenden Schulden einerseits und Kapitalverwertung auf der Basis von Mehrwertproduktion andererseits zu begreifen. Lieber zeigt man mit dem Finger moralinsauer, noch dazu mit wachsenden Aggressionen auf den Schuldner; er soll sich moralisch korrekt verhalten; nicht auf Kosten anderer leben; auf gut deutsch: sich am Riemen reißen; man sieht die Lösung technisch-ökonomischer Probleme im Innenleben des Subjekts angesiedelt: in der Beförderung des Guten (Leistungsbereitschaft) wie in der Abwehr des Bösen (den Arsch nicht hochkriegen); wir sollen auf den moralisch integren Griechen hoffen, der auf die Hälfte seiner Rente verzichtet im Interesse eines Abstraktums, anstatt die Probleme in den außersubjektiven ökonomischen Strukturbedingungen, der Kapitalverwertung, zu verorten. In diesem Sinne sind wir heute noch Kantianer (DP3-1.0,-1.1,-2.6.3), verkennend, dass sich die ökonomischen Strukturbedingungen, weit weg von der sozialen Realität, lange verselbständigt haben und mittlerweile zusammen mit der sozialen Realität in Auflösung begriffen sind. Der Zerfall des Euro und der EU ist dafür symptomatisch. Die Südeuropäer können machen, was sie wollen; sie werden ökonomisch zerlegt im Zusammenhang mit der Euro-Krise, mit oder ohne Euro. Dennoch sollen sie dem Spardiktat gehorchen, verkennend, dass Deutschland, der selbsternannte Musterknabe, nicht weniger gefährdet ist – wenn auch akut erst nach den Griechen, so dass diese auf wohlfeile Weise und emotional aufgeladen als Schuldige ausgemacht werden können – mehr oder weniger höflich; ja, FDP-Außenminister Westerwelle besteht auf einer Sprache, die Menschen respektiert; er möchte nicht wie die CSU ein Exempel statuieren (WOL-064), aber die Griechen dennoch aus dem Euro rauswerfen; weil auch die FDP strikt gegen eine Schuldenunion ist. Ganz schön scheinheilig; man gibt vor, als würde die kategorische Forderung von FDP-Fraktionschef Brüderle, derzufolge die Kernzeitachse, die das Reformprogramm festlege, nicht verschoben werden dürfe (RED-004), einen Rauswurf nicht zwingend zur Folge haben, bzw. als würde der Verbleib der Griechen im Euro eine Vergemeinschaftung der Schulden nicht voraussetzen; diese wird von Keynesianern wie Bofinger, SPD und Grünen vorgeschlagen (SZE-003), wiewohl sie auf Dauer im Rahmen der Kapitalverwertung natürlich keine Lösung ist. Wie auch? Die Überschuldung ist nur Symptom der Krise; sie ergibt sich aus der Systemrelevanz des Kredits in Verbindung damit, dass man dem Mehrwert zum Trotz den Sozialstaat retten will. Wachsende Schulden über jedes kontrollierbare Maß hinaus zeigen lediglich eine Verschärfung der Krise an, ohne ihre letztendliche Ursache zu sein. Also würde eine Vergemeinschaftung nichts besser machen. Wäre dem so, wäre nicht einzusehen, warum die Krise durch einen Abbau der Schulden sich nicht eindämmen lassen sollte. Dass das funktioniert, davon sind Keynesianer wie Neoliberale überzeugt; es würde funktionieren, wenn wir den Sozialstaat zerschlagen und Ausgegrenzte umstandslos auf den Müll werfen würden. Offen will dafür niemand verantwortlich sein. Eine solche asoziale Arbeit überlässt man uneingestanden der anschwellenden Katastrophe, die mit der Vergemeinschaftung der Schulden möglichst gleichmäßig, über alle Länder zugleich, heranwachsen soll. Langsam aber sicher. Menschen sollen sich an den Niedergang gewöhnen, das Grass nicht wachsen sehen, damit sie mit ihrer Entsorgung einverstanden sind. Dabei ist ohnehin klar: wir sind so ziemlich am Ende der Fahnenstange angelangt. Keiner weiß oder will wissen, wie’s weitergehen soll. Vor allem weiß keiner, wie Menschen aufeinander reagieren oder miteinander umgehen werden, nachdem sich die Krise am Ende doch unerträglich zugespitzt hat; vermutlich gar nicht so anders wie zur Zeit die Menschen in Syrien.

E2. Sozialpsychologische Implikationen der Wirtschaftskrise

Wenn die letzten Jahre seit der Pleite von Lehman Brothers im September 2008 eines gezeigt haben, dann dies: wir haben keine Krisen oder Probleme im Wirtschaftssystem, sondern das System selbst ist die Krise oder das Problem. Es ist nicht domestizierbar oder sozialverträglich gestaltbar. Die Krisen werden sich verschärfen, solange unser Wirtschaftssystem, der Kapitalismus, lebt. Davon ist die Rede in (DPB, 86-128), einem Exkurs zur Geldtheorie, und es wird weiterhin die Rede davon sein; diesmal in Verbindung mit einer etwas umfassenderen Marx-Interpretation.(1;2) Dort bemühe ich mich, den Kern der Krise freizulegen. Sie besitzt ihre zentrale und zugleich weltumfassende Ursache in der Mehrwertproduktion.(2.4) Den Mehrwert möchte ich diesmal – anders als in DPB – unter besonderer Berücksichtigung moralischer wie sprachphilosophischer Aspekte betrachten, die ihrerseits nicht unabhängig existieren von der Welt der Gefühle.(2;3) Die Kapitalverwertung auf der Basis von Mehrwertproduktion erzeugt zum einen soziale Strukturen wachsender Verelendung – materiell wie psychisch –, die zum anderen mit und durch unsere Gefühle (Bestandsregungen) hindurch stabilisiert werden, und zwar durch die Kraft der Projektion (DP3-1.6.3) – mit krankhaften und krankmachenden Auswirkungen (DP3-1.2) in dem Maße, wie wir nicht in der Lage sind, mit unseren Gefühlen sozialverträglich und strukturbildend umzugehen.(DP3 -1.6.2) Ich denke, vor dem Hintergrund der Ausbildung sozialverträglicher Strukturen ist es sinnvoll, das Krankhafte und Krankmachende als Vorgang des Innenlebens freizulegen und diese Freilegung zugleich als Fähigkeit des Innenlebens zu implementieren – im Sinne eines gewichtigen Teils der Erziehung. Damit das gelingt, muss der Bürger wissen, was es für die Ausbildung sozialer Strukturen bedeutet zu projizieren; beispielsweise dass Sprache und Sprechen eine Bedeutung bekommen im intersubjektiven Kontext: wenn sie die Entwicklung sozialer Strukturen komplementär begleiten. Dabei muss man wissen, dass wir nicht einfach nur projizieren, das heißt, einen Gegenstand mit Gefühlen, genauer: mit von Gefühlen kontaminierten Zeichen (Zeichenketten) besetzen, sondern dass bei diesem Vorgang der (besetzte) Gegenstand der (Begierde) sich selbst nicht gleich bleibt, mehr noch: um – wenn es sich anbietet und gesellschaftlich nicht geächtet ist – einem anderen Gegenstand Platz zu machen; etwa wenn wir den Lebenspartner sexuell betrügen. Dabei findet eine Verschiebung des Gefühls im Objektbezug statt, wobei das von Gefühlen kontaminierte Zeichen, das auf einen (äußeren) Gegenstand verweist, selbst zum Gegenstand der Besetzung wird im Sinne der Herausbildung einer Innen-Außen-Beziehung, resp. des Innenlebens, das die Grenze zu einem Außen zu markieren vermag.

Vorgänge der Verschiebung zur Ausbildung des Innen-Außen-Mechanismus beginnen gleich nach der Geburt, etwa wenn der Säugling sich von der Mutterbrust löst und sich stattdessen mit einem Schnuller oder Plüschtier zufrieden gibt. Auch gehen Gefühlsverschiebungen mit Bedeutungsverschiebungen einher, so wenn die Beziehung zur Mutter sich ändert; gewöhnlich machen sie zu schaffen; sie sind grenzwertig. Das Subjekt wird ständig und ganz generell mit Grenzsituationen konfrontiert, die es mithilfe einer möglichst intakten sozialen Umgebung bis ins hohe Alter zu bewältigen gilt. Indes steht die soziale Umgebung bei der Bewältigung von inneren Spannungszuständen in dem Maße immer weniger zur Verfügung, wie sich die Schlinge ökonomischer Not zunehmend um den Hals von immer mehr Menschen zieht und auch Menschen mit hohen Einkommen und Vermögen, wenn auch nicht in gleicher Weise, in Mitleidenschaft zieht, wenn sie sich von wachsender Verelendung bedroht fühlen. Diese ist mittlerweile auch in Deutschland so weit fortgeschritten, dass sich die Welt nicht nur ökonomisch auflöst, sondern dass in dem Maße, wie wir uns durch ökonomische Auflösungsvorgänge ganz generell bedroht fühlen, sich emotional-moralische Strukturen auflösen in dem Sinne, dass es dem Bürger immer schwerer fällt, Spannungen aufgrund von Gefühlsverschiebungen so zu verarbeiten, dass soziale Strukturen neu belebt oder aufgebaut werden können – mit verheerenden Folgen: der Bürger vereinzelt; schon im Vorfeld ökonomischer Katastrophen fällt es ihm immer schwerer, eine Bedeutung zu sehen in dem, was er jeden Tag macht, wenn er mit anderen kommuniziert: grenzwertig und strukturbildend zu agieren, gelingt immer weniger. Das geschieht im Projektionsmodus: wenn Gefühle sich auf einen Gegenstand der Bedeutung auftragen, genauer: wenn das von einem Gefühl kontaminierte Zeichen seinen Weg findet zu seinem Gegenstand und dem Zeichen auf diese Weise eine Bedeutung zukommt. Das passiert gewöhnlich auf unscheinbare Weise, ohne dass wir darüber nachdenken; für viele Menschen ist es nicht der Rede wert, dass einem Satz oder einer Verlautbarung, die wir verstehen, Bedeutung zukommt. Wie auch sollte man einen Satz verstehen, wenn ihm keine Bedeutung zukäme? Dabei ist es belanglos, ob wir etwas verstehen, solange dieser Vorgang nicht zur grenzwertigen, spannungsgeladenen sozialen Praxis drängt, die Bedeutung des Zeichens also dem Innenleben nicht entrinnt, bzw. das Zeichen von der sozialer Praxis unberührt bleibt, etwa die ökonomischen Konstrukte – nichts als Phantasien – von Sinn.(SIH-MKD) Spricht er über Ökonomie, sondert er Bedeutungslosigkeiten ab, ohne es zu ahnen.

Wir werden jeden Tag von der Politik mit Sätzen oder Verlautbarungen berieselt, denen nicht die geringste Bedeutung zukommt, es sei denn, den Bürger zu verarschen; zum Beispiel reden Politiker seit Jahren von einem Fachkräftemangel, obwohl es diesen de facto nicht oder nur in der Phantasie von Ökonomen und Politikern gibt. Weil die veröffentlichte Meinung aber seit Jahren darüber redet, glauben wir daran, einfach weil wir uns nicht gerne vorstellen, dass wir tagtäglich, in einer Art Gehirnwäsche, mit unsinnigen Zeichen, die wir zu lieben gelernt haben, gefüttert werden; sie müssen etwas bedeuten, da sie, wie gesagt, zum Innenleben gehören, unsere Identität bestimmen. Deshalb ist es nicht leicht, die Zeichen, die wir tagtäglich verinnerlichen und natürlich verstehen, unentwegt auf ihren Wahrheits- oder Bedeutungsgehalt zu befragen; das erschiene vielleicht auch lächerlich; v.a. gefährdet es unsere Identität; eben weil das, was wir in der Lage sind zu verstehen, über Verinnerlichungsvorgänge mit unserem Gefühlshaushalt verdrahtet ist – identitätsstiftend. Diesen Vorgang bezeichnet man als Projektion; wir denken und handeln im Projektionsmodus. Krankhaft und krankmachend wird es, wenn Vorstellungen, bzw. Zeichenketten, die unser Vorstellungsvermögen absondert, nicht mehr – weil identitätsgefährdend, grenzwertig oder spannungsgeladen – an der Realität überprüft werden; wozu? Alle Welt, zumindest alle Politiker und Unternehmensverbände sprechen zum Beispiel seit Ewigkeiten von einem Fachkräftemangel, also gibt es ihn; davon ist Bildungsministerin Schavan überzeugt. Seit Jahren fühlt sie sich verantwortlich, den Fachkräftemangel zu beheben. Diesmal möchte sie auf

“einer deutsch-spanischen Ausbildungskonferenz in Stuttgart mit ihrem Amtskollegen José Ignacio Wert Ortega eine entsprechende Zusammenarbeit” vereinbaren: spanische Jugendliche sollen als Auszubildende angeworben werden “und so gleichzeitig etwas gegen den hiesigen Fachkräftemangel und die Massen-Jugendarbeitslosigkeit in Spanien tun.”(EIW-AUS)

Die Wahrheit ist, dass es keinen Fachkräftemangel gibt; und wenn, dann will die deutsche Wirtschaft keine deutschen Fachkräfte; sie sind ihnen zu teuer. Also nehmen sie immer wieder Entlassungen vor, um dann händeringend nach neuen Arbeitskräften zu suchen, zu wesentlich geringeren Löhnen und zeitlich befristet, versteht sich. Derweil darf Schavan von sich behaupten, dass sie mit ihren Initiativen ihr hohes Gehalt zurecht beziehe. Tatsächlich sondert sie seit Jahren Kakophonie ab. Das gleiche macht Familienministerin Schröder mit ihrem Vorhaben, jugendliches Komasaufen mit einem Gesetz bekämpfen zu wollen, dem zufolge Teenager unter sechszehn Jahren nach 20 Uhr öffentliche Feste oder Konzerte verlassen müssen, wenn dort Alkohol ausgeschenkt wird.(SPO-002) Der Bürger reibt sich die Augen im Bemühen, in seiner Vorstellung mit diesem Satz etwas Sinnvolles zu verbinden, desgleichen mit der völlig sinnlosen Diskussion zum Problem Altersarmut und nicht zuletzt etwas zu verbinden mit der Dampfplauderei von SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück zur Finanzkrise. Der ganze Kram, er mag noch so unappetitlich sein, muss für den Bürger einen Sinn haben, weil er etwas versteht. Auf den Gedanken, dass der Satz von Frau Schröder nur deshalb existiert, weil sie als Ministerin auch mal etwas – egal was – tun muss, und sei es nur Unsinn, kommt der Bürger nicht. Ihre Sätze zum Komasuff sind ebenso wie die von Steinbrück zur Finanzkrise noch nicht einmal an der sozialen Realität überprüfbar, eben weil sie weder wahr noch falsch, sondern einfach nur unsinnig sind. Für den Bürger bedeuten die Sätze schon etwas, weil er sie – der deutschen Sprache mächtig – versteht und mit diesem Verstehen etwas verbindet, was in der sozialen und ökonomischen Realität angeblich der Fall ist. Bisweilen beschleicht ihn vages Unbehagen, wenn er Politiker in Diskussionen erlebt. Immer mehr Bürger hören gar nicht mehr zu; sie sind genervt. Dennoch möchten sie lieber nicht glauben, dass Politiker und Ökonomen ständig Unsinn absondern. Das würde sie auf Dauer ganz krank machen. Ich glaube allerdings, dass etwas ganz anderes krank ist oder krank macht, nämlich dem eigenen Spürsinn nicht über den Weg zu trauen, der uns sagt, dass Politiker krank machen.

Es ist krank und macht allerdings krank, wenn im Projektionsmodus, die Basis sprachgestützter Kommunikation, Bedeutungen nicht mehr generiert werden, so dass sich in unserem Kopf eine vollständig unsinnige Welt ausbildet, ohne Verbindung zur realen Welt, so dass wir uns dort den Schädel einschlagen. So weit sind die meisten Menschen freilich noch nicht. Es gibt private Nischen, Sportvereine beispielsweise, in denen Verständigung friedlich stattfindet, in denen Bürger sich aufgehoben fühlen, während sie sich von Politikern und dem Allgemeininteresse, das keiner mehr kennt, angewidert abwenden. Politiker existieren nur noch in der Phantasie des Bürgers, als widernatürliche und unwirkliche Wesen, freilich ohne dass er gewahrt, dass sie ständig Unsinn absondern, zumal ohne dass Gefühle im Spiel sind, die gelesen werden könnten: der Bürger fühlt sich mit noch so viel Mühe nicht angesprochen; dennoch sorgen private Nischen in strikter Abgrenzung zu Politik und Staat dafür (DP4-4.5), dass das mit Gefühlen kontaminierte Zeichen – sprich: die Vorstellung von einem Gegenstand – für gewöhnlich seinen Gegenstand zu finden und zu besetzen vermag, und zwar nicht auf beliebige, sondern auf nachvollziehbar-begründete Weise; während das politische Interesse sich auf Phantasien oder Ziele der Verheißung reduziert sieht. (DPB,147-153) So ist beispielsweise nachvollziehbar analysier- und verstehbar, dass sich der Säugling mit dem Schnuller zufrieden gibt. Die Verstehbarkeit von Verschiebungen in der Welt des Säuglings übertragen wir noch problemlos auf die Politik. Etwas in der Welt des Politikers im Projektionsmodus verstehen zu wollen vollzieht sich indes auf kranke und krankmachende Weise, wenn der Bürger in seiner privaten Nische verharrt, um dort von einer besseren Politik immer nur zu träumen, wenn also der Weg des Gefühls in der Vorstellung, also im Inneren, beginnt, was normal ist (alles beginnt mit einem Gefühlsimpuls), um dann aber krankmachend in der Vorstellung, also gleichfalls im Inneren, zu enden (DP3-1.1), so dass das Gefühl oder die vom Gefühl besetzte Vorstellung nicht in Verlegenheit kommt, sich an einem realen politischen Außen: der sozialökonomischen Realität, zu bemessen oder überprüfen zu lassen. Hinzu kommt, nur in einem Kontext immerzu wiederkehrender Überprüfungen können heute soziale Strukturen noch neu gebildet oder wiederbelebt werden. Der Grund ist einfach: die sozialen Strukturen sind uns auf quasi-natürliche Weise, also universell, nicht mehr gegeben; früher waren sie auf quasi-natürliche Weise einer Überprüfung nicht zugänglich; die Menschen sahen sich viel nachvollziehbarer, quasi zurecht, verführt, ihre Vorstellungen in eins zu setzen mit ihren universalen Strukturen, in dem Maße wie Universalien als schlechthin real, bzw. als absolut wahr mit der sozialen Praxis koinzidierten, im Sinne eines universalen Kurzschlusses, der heute nicht mehr umstandslos plausibel darstellbar ist. Wir wissen: nichts bleibt wie es ist. Und wir glauben nicht mehr an sogenannte Urbilder, ihren Gegenständen inhärent, um ihnen eine Form zu geben, auf die sie sich notwendig hinentwickeln. Deshalb wird man die Vorstellung von einer sozialen Struktur immer auf Substanz überprüfen müssen, indem man die Vorstellung der sozialen Realität aussetzt, anstatt darauf zu beharren, dass sich die soziale Realität auf die Vorstellung von derselben zu bewegt. Dünnen Überprüfungen aber aus, weil wir – wider besseren Wissens – unsere Vorstellungen für schlechthin real halten, so dass wir denken, sie würden einer Überprüfung nicht bedürfen, dünnen zunächst die realen außersubjektiven sozialen Strukturen aus, gefolgt von einem schließlich sauber ausgeschabten Innenleben, aus dem heraus ein Interesse, das auf etwas anderes als auf das Innenleben zielt, nicht generiert wird.(DP3-2.6)

Heute dünnen Strukturen in der Tat aus bis hin zur vollständigen Atomisierung. Es könnte schlimmer kommen: zunächst wenn das Gefühl seinen Gegenstand im privaten wie gesellschaftlichen Kontext nicht mehr zu finden vermag, auf den es sich auftragen könnte. Der Projektionsvorgang wäre gestört. Findet sodann auf einer höheren Krankheitsstufe das Gefühl seinen Gegenstand nicht mehr nachvollziehbar für andere, weder einen der (inneren) Vorstellung noch der (äußeren) Realität, also nicht einmal auf krankhafte Weise: durch kranke und krankmachende Projektionen hindurch, die im Innen beginnen und enden (DP3-1.1), dann steht zu befürchten, dass der Projektionsvorgang im Leeren kreiste, verstehbar nur für den, der projiziert; eine Katastrophe: die (inneren) sozialen Kräfte würden so weit ausdünnen, dass sie nicht einmal mehr die (äußeren) sozialen Strukturen wachsender Verelendung zu stabilisieren vermögen. Dann herrschte allseitige Orientierungslosigkeit. Dann fände Verelendung nicht mehr ordnungsgemäß oder nachvollziehbar statt in dem Sinne, dass sie von einem äußeren Gesetz, das mit dem inneren Gesetz koinzidierte, vorgeschrieben würde. Dann wäre der Weg vom Gefühl zur (inneren) Moral gestört.(DP3) Chaos bräche aus; pure Gewalt drohte; womöglich bis hin zu brutalsten Einsätzen der Bundeswehr im Inneren. Diese möchte Finanzminister Schäuble schon seit Jahren im Grundgesetz verankert sehen. Weiß er denn gar nicht, dass wir in einer Zeit leben, in der Menschen zu tickenden Zeitbomben mutieren? Politiker, Polizisten, Militärs, aber auch einfache Bürger? Schreibtischtäter, die Gesetze machen und solche, die den Abzug drücken, weil das Gesetz es erlaubt. Das kann mit wachsender Wahrscheinlichkeit in einer Welt passieren, in der, weniger dramatisch formuliert, der Einzelne die Welt und sich selbst nicht mehr versteht noch dort, wo er unentwegt Zeichen absondert, als würde er tatsächlich mit sich selbst reden, wenn er mit anderen redet. In (DP3-2.6) werden wir analog zum Begriff der strukturellen Gewalt von einem um sich greifenden strukturellen Desinteresse sprechen, welches sich selbst kaum kennt, geschweige denn, das Fremde dem eigenen Selbst zu assimilieren vermag.

E2.1 Absurdes Theater: über den Film Cosmopolis

Was kann das für ein Interesse sein, das sich selbst nicht kennt? Cosmopolis von David Cronenberg versucht, ein solches Desinteresse anschaulich zu machen: Finanzspekulant Eric Parker (Robert Pattinson) sieht sich von der Welt, aber auch von sich selbst, seinen Gefühlen, vollständig isoliert; sein Leben quält sich vor sich hin, so zäh wie belanglos; wie seine überlange Luxus-Limousine; sie quält sich durch die 47.Straße von New York zu Parkers Frisör; sie ist eine Welt für sich, sauber um ihn herum gebaut, Parkers zweite Haut; sie soll ihn vor der äußeren Welt beschützen; von ihr bekommt er kaum etwas mit; der kleine Innenraum nimmt neue – sozusagen ihr fremde – Informationen nicht auf, um sie sinnvoll und strukturbildend zu assimilieren. Auf vergleichbare Weise weigert sich der Film, Bedeutungen durch Bilder und Zeichen auf eine Weise zu transportieren, die es gestatten würde, dass der Kinobesucher – in seiner Sucht zu verstehen – sich die Zeichen einverleibt und bewegt fühlt, dadurch, dass er Zeichen und Bilder mit zusätzlichen Bedeutungen überschreibt. In dieser Hinsicht macht der Film es dem Zuschauer nicht leicht; man ist versucht zu sagen: Bedeutungen lösen sich auf in dem, worauf sie verweisen, in dem, was der Film erzählt und wie er erzählt, eine Identität heraufbeschwörend zwischen einem Zeichen und dem, was es bezeichnet: seinem Gegenstand. Am Ende sieht sich das Wie vollständig im Was aufgelöst, ohne einen in DP3 näher beschriebenen nachvollziehbaren Weg vom Gefühl zum Gegenstand, als würde dem Gegenstand sein Gebrauch: Bedeutungsgehalt, unmittelbar ins Gesicht geschrieben.

So etwas im Kino zu erleben versetzt, gelinde gesagt, in Erstaunen: das, was es (zu sehen und zu hören) gibt, ist einfach nur da. In der Tat, im Leben von Parker herrscht pure Kakophonie; er wirkt wie ein Fremdkörper in die Welt hinein, die ihm ihrerseits nichts zu sagen hat; vielleicht nur nicht weiß, wie sie an ihn rankommen soll; so dass nicht auszumachen ist, was in ihm vorgeht, wer oder was ihn bewegt, dass ihn überhaupt etwas bewegt, wenn er spricht. Muss ja, sonst würde er nicht sprechen. Es stellt sich in der Tat heraus, dass er die Welt nicht erreicht; sie bleibt ihm fremd; er bewegt sich in ihr wie der berühmte Elefant im Porzellanladen. Man kann auch sagen, Parker