Materialien zur Politisierung des Bürgers, Band 2: Kommunikation unter Verdacht - Franz Witsch - E-Book

Materialien zur Politisierung des Bürgers, Band 2: Kommunikation unter Verdacht E-Book

Franz Witsch

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Beschreibung

Heute legt sich kulturelle – durch Kunst (und Gefühl) in die Gesellschaft hineingetragene – Verblödung wie Mehltau über stets gefühlssüchtigere Menschen, zumal wenn sie ihre gefühlsfundierten (besonderen) Interessen für verallgemeinerungsfähig halten und es verstehen, jene Interessen in ein paar schöne Sprachfiguren zu kleiden. Die Regel ist zunehmend die: wenn Kunst über soziale Realität redet, redet sie über subjektive Befindlichkeiten (aus Band 2, S. 23).

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Heute legt sich kulturelle – durch Kunst (und Gefühl) in die Gesellschaft hineingetragene – Verblödung wie Mehltau über stets gefühlssüchtigere Menschen, zumal wenn sie ihre gefühlsfundierten (besonderen) Interessen für verallgemeinerungsfähig halten und es verstehen, jene Interessen in ein paar schöne Sprachfiguren zu kleiden. Die Regel ist zunehmend die: wenn Kunst über soziale Realität redet, redet sie über subjektive Befindlichkeiten (aus Band 2, S. 23).

Franz Witsch, geb. 1952, lebt in Hamburg und ist Lehrer für Politik, Geografie und Philosophie. Zwischen 1984 bis 2003 arbeitete er in allen Bereichen der freien Wirtschaft als Informatiker und Unternehmensberater. Heute schreibt er sozialphilosophische Texte und Bücher.

Inhalt

7. Kommunikation unter Verdacht (2004/2005)

7.1 (D01) Versuch einer Annäherung an Jürgen Habermas

7.2 (D02) Zeichen, Sprache, Moral

7.3 (D03) Sind Gefühle dumm

7.3.1 Subjekt-Objekt-Dualismus

7.3.2 Kierkegaard versus Heidegger

7.3.3 Die Kantsche Vernunftkritik und

Der Untergang

mit Bruno Ganz

7.3.4 Joachim Fest und

Der Untergang

7.3.5 Brot und Spiele

7.3.6 Ich fühle, also bin ich

7.4 (D04) Über den Gefühlsfetisch

7.5 (D05) Ich glaube, also bin ich (Kierkegaard)

7.6 (D07) Zur Moralphilosophie von Habermas und Theunissen

7.6.1 Glaube und Wissen

7.6.2 Habermas 1: Trennung von Moral und Ethik

7.6.3 Moral und Gesellschaft

7.6.4 Theunissen 1: Selbstsein in Weltlosigkeit durch Liebe

7.6.5 Theunissen 2: Zeit als Realitätsprinzip

7.6.6 Der Philosoph Heidegger

7.6.7 Habermas 2: Verständigung als Realitätsprinzip

7.6.8 Heideggers

Sein und Zeit

7.6.9 Der Jude der Moderne

7.7 (D08) Edgar Reitz: Heimat-Mythos

7.8 (D06) Vom Primat der Charakterlosigkeit

7.9 (D09) Kritik der instrumentellen Vernunft

8. Filmbesprechungen und eine Romanbesprechung (2006/2007)

8.1 (F01; E1) Mr. Brooks. Der Mörder in dir

8.2 (F02; E2) Ein fliehendes Pferd

8.3 (F04; E4) Geheime Staatsaffären

8.4 (F05; E5) Gabrielle

8.5 (F06; E6) Lemming

8.6 (F07; E7) Ein Lied für Argyris

8.7 (F08; E8) Hostel 2

8.8 (F09; E9) Thomas Harlan – Wandersplitter

8.9 (F03; E3) Tag der Jagd, Romanbesprechung

9. Vorträge (2013/2015)

9.1 Sozialintegration und Lernen

9.2 Mentale Voraussetzungen einer Militarisierung sozialökonomischer Strukturen

Anhang

Namensregister

Abkürzungen, siehe Band 1 (MP1)

7. Kommunikation unter Verdacht

7.1 (D01) Versuch einer Annäherung an Jürgen Habermas (08/2004)

Was? Da beschäftigt sich schon wieder einer mit Kommunikation, einem Thema, das schon tausend mal hin und hergedreht wurde, im Grunde seit es reflektierende Menschen gibt, und nun soll das ein weiteres mal aufgewärmt werden? Ist da nicht schon alles gesagt? Philosophen von Welt wie Habermas haben ein Leben lang über Kommunikation nachgedacht und zusammen mit denen, die sich mit ihm als Autor beschäftigen, ganze Bücherwände beschmiert. Nun, was soll mich das bekümmern? Für mich ist allein das subjektive Gefühl relevant, dass etwas fehlt, noch nicht alles gesagt, und wenn doch, dann weiß ich nichts davon. Ich beschäftige mich mit Habermas aus der Perspektive profaner Wirklichkeit, am universitären Diskurs vorbei; ich nehme mir ein Recht auf Profanität heraus, lasse indes das Eingebundensein in profane Wirklichkeit einfließen in wissenschaftliche Diskurse, scheue auch den umgekehrten Weg nicht: Wissenschaft zu profanisieren, an normale Wirklichkeit heranzuführen.

Habermas selbst scheut nicht davor zurück, seine Theorie in einem lebensweltlichen Kontext zu sehen – bei allem Unverständnis, das seiner Theorie entgegenschlägt. Doch die Einbindung wissenschaftlicher Theorie in lebensweltliche Interessen hört sich bei ihm wie ein Lippenbekenntnis an; man kann das nur schwer aus seiner Art Theorie zu entwickeln herauslesen. Das hat nicht nur damit zu tun, dass er sehr schwer verständlich, also nicht einfach schreibt; eher damit, dass seine Art zu thematisieren und sich auszudrücken ganz und gar nicht einfachen Lebenswirklichkeiten nachempfunden ist. Da gibt es zwei zentrale Begriffe: Systemwelt und Lebenswelt, die einander in dialektischer Verstrickung gegenüber stehen. Sie sind ganz sinnig an die marx’sche Denkfigur angelehnt, in der sich Kapital und Arbeit unversöhnlich gegenüberstehen, schwierig, ihnen Leben einzuhauchen in der Diktion eines wissenschaftlichen Diskurses, der sich, hier ganz und gar nicht an Marx angelehnt, noch nie gern aus dem Fenster hing und wenn, dann nur mit weitgespannten Sicherheitsnetzen und doppeltem Boden. Hinzu kommt: seine Formulierungen sind oft unsinnig kompliziert, gefallen sich in Wiederholungen in unwesentlichen sprachlichen Variationen und setzen gleichwohl viel voraus, als gebe es beim Schreiben nur wenig Platz und keine Zeit. So etwas zu lesen, ist über weite Strecken nur anstrengend.

Nehmen wir den sprachanalytischen, bzw. den formalsemantischen Zugang zur Philosophie, der in Habermas’ TKH eine große Rolle spielt. Wer hat schon von Haus aus einen Zugang zu Tugendhats sprachphilosophischen Überlegungen, die zum Teil unverständlich und verwirrend dargestellt sind. An einer Stelle seines eigenen Werkes fragt Habermas selbst, wohin das alles führen soll und gibt er der analytischen Theorie dann doch einen nicht nachvollziehbar großen Raum, nicht nachvollziehbar deshalb, weil sie trotz des großen Raumes nicht verständlich, v.a. unnötig kompliziert eingebunden ist in den Kontext performativer Praxis kommunikativen Handelns. Vielleicht sind es ja die sprachanalytischen Rezeptionsbemühungen, die Habermas’ theoretische Bemühungen nicht nachvollziehbar überfrachten. Damit sei nicht gesagt, dass Sprachanalyse ohne kommunikationstheoretischen Stellenwert ist. Nur muss nachvollziehbar sein, worin dieser besteht. Ich glaube, dass deshalb die wenigsten einen hinreichenden Zugang zu Habermas finden oder mit ihm nachhaltig etwas anfangen können oder wollen. Viele sind mit Kritik zu schnell bei der Hand. Ich möchte, bei aller Kritik, seine Verdienste nicht in Frage stellen, zumal Begreifen eine relative Angelegenheit ist und viel mit Glauben und Einbildung zu tun hat, mit Annäherung an und kennen lernen wollen von Personen.

Profanität und Einfachheit werden in ihrer Komplexität und Relevanz unterschätzt. Man sagt: der einfache Bürger versteht nicht, habe keine Kenntnis. Es gebe ein Vermittlungs-, ein Informationsproblem, z.B. bei der Einführung der Hartz-Gesetze, die nachhaltig, trotz Nachbesserung, vom einfachen Bürger nicht angenommen werden. Nun, man setzt eine Rationalität voraus, wie sie aus der Perspektive von abhängigen Menschen gerade nicht rational ist und unterschlägt profanes Instinktverhalten, das auf die Wahrung der eigenen Würde zielt. Sie besteht in der Realisierung eines eigenverantwortlichen Zugriffs auf Lebensgestaltung. Da besitzt selbst das alte Mütterchen mit kleiner Rente einen gesunden Instinkt, wenn es sich schämt, beim Sozialamt betteln zu müssen, um dort von irgendeinem Amtmann auf soziale Bedürftigkeit hin seziert zu werden. Jüngere Menschen werden wütend, wenn ihre intimen Verhältnisse von Sozialdetektiven ausgespäht werden, wenn z.B. Verdacht auf (eheähnliche) Lebensgemeinschaft besteht; die in einem gemeinsamen Bett, Konto, etc. zum Ausdruck kommen soll, woran der Staat den Grad von Bedürftigkeit bemisst. Damit sind Verletzlichkeit der Wohnung und Würde im Namen des Eigentums zu etwas geworden, das per Gesetz angetastet wird. Solche Gesetze sind zusammen mit ihren Durchführungsbestimmungen unverschämt. Instinkte lehnen es ab, auf das Kleingedruckte zu schielen und verweigern sich, um letzte Reste von Ich-Wahrnehmung zu bewahren. Das greise Mütterchen weiß genau, was das ist. Es schämt sich und hat Recht. Das wird bösartig verkannt von Menschen der politischen Elite und der veröffentlichten Meinung. Und der wissenschaftliche Diskurs tut ein Übriges, indem er diese Ignoranz mit viel Pose wissenschaftlich absichert, dabei unentwegt auf Kleingedrucktes verweist, darüber das Naheliegende, das Profane, das einfache Bedürfnis unterschlägt und überhaupt sich nicht wenig einbildet auf einen differenzierten Zugang zur angeblich, ach so komplexen sozialen und ökonomischen Wirklichkeit. Ja, der Bürger versteht nicht. Es steht zu befürchten, dass wir ihn Volk noch ganz anders werden kennen lernen.

Bisweilen verstehen sich Theoretiker selbst kaum, verlieren selbst den Überblick, wie z.B. Tugendhat und sein sprachanalytischer Zugang zur Philosophie zeigen. Dazu lasse man sich einige Formulierungen von ihm auf der Zunge zergehen. Das folgende Beispiel soll nichts beweisen, nur einen ersten Eindruck vermitteln, wobei ich dem Leser des folgenden Zitats nahe lege, keinen Versuch zu machen, etwas verstehen zu wollen. Es gibt nichts zu verstehen. Man raune, einem Medizinmann gleich, die folgenden Zeichenfolgen einfach nur vor sich hin und staune:

“Wenn ich im Wahrnehmungsbereich von jemandem einen assertorischen Satz p verwende, dessen Regeln er kennt, weiß er, dass ich behaupte, dass p. Wenn ich jedoch Anlass habe zu beabsichtigen, dass der andere weiß, dass ich behaupte, dass p, habe ich immer auch Anlass zu beabsichtigen, dass er meint, dass ich ernsthaft behaupte, dass p, und das heißt, dass ich meine, dass p. Ich kann freilich nicht erreichen, dass er weiß, dass ich meine, dass p; da jedoch meistens jemand, der behauptet, dass p, auch meint, dass p, hat mein Partner, wenn er weiß, dass ich behaupte, dass p, auch einen Grund zu meinen (wenn auch keinen ausreichenden Grund zu wissen), dass ich meine, dass p.”(TUE-VSP,277)

Tugendhat will uns doch nicht etwa sagen, dass etwas zu meinen nicht das gleiche ist wie etwas zu wissen? Mein Gott, da ist einer ganz weit weg. Vielleicht gar nicht mehr in normale Wirklichkeit zurückholbar. Ich möchte das nicht weiter kommentieren. Nur eins: Habermas wird wissen, warum er diesem Wirrkopf so viel Raum in seinem Hauptwerk TKH eingeräumt hat. Es gibt sie halt wie auch vieles andere, und das scheint Grund genug, dass man darüber ausgiebig palavert. Vielleicht will Habermas auch nur alle einbeziehen in seine Konsens-Soße. Alle sollen sie helfen: Max Weber, Wiener und Frankfurter Schule, Durkheim, Mead, Parsons, Luhmann, Lukacs, Hegel, Heidegger, Marx, aber auch die Frauenbewegung, Anti-AKW-Bewegung. Wir sind doch alle irgendwie Menschen, irgendwie wertvoll, mit einem angestammten Recht, dass man sich um uns bekümmert. Und Habermas ist kommunikativ überall aktiv, in China, den USA sowieso, aber auch bei den Ayatollahs im Iran. Schließlich muss es zu jeder Theorie auch eine entsprechende Praxis geben.

Trotzdem, es ist kein Beinbruch, wenn man nicht alles versteht, wenn Menschen alles unnötig verkomplizieren, sich missverständlich ausdrücken oder benehmen. Wer alles versteht und immer nachvollziehbar handelt, hat auch keine Fragen mehr. Menschen werden oft erst sympathisch, wenn man sie scheitern sieht. Ich erlebe Habermas wie ein lebendes Fossil, einen Vertreter aus fernen Zeiten, der sich immer noch merkwürdig einmischt und mitreden will, wo und mit wem auch immer. Er ist z.B. bei den Ayatollahs im Iran zu finden, um mit ihnen über Menschenrechte zu diskutieren, natürlich völlig vergeblich. Will er damit etwas beweisen? Doch nicht etwa seine Theorie? Ich fürchte, genau so ist er gestrickt. Oftmals wird zwanghaft verkannt, dass Theorie selbst immer auch wesentlich eine Sache von Praxis ist und zwar unmittelbar. Abgesehen davon ist soziale Praxis im Umkreis mächtiger Staatsmänner oder -frauen sehr einseitig ausgebildet, gibt es nichts, was im Nachhinein hergestellt, bezüglich gemacht oder praktisch gelebt werden müsste (ein Zeichen hinter dem Zeichen). Der frühe Marx deutet das an, wenn er sich bei mächtigen Menschen dafür, dass er denkt, nicht entschuldigt und sagt: Die Theorie werde zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreife. Und die sollte man nicht mit obrigkeitsstaatlicher Macht verwechseln oder darauf reduzieren. Warum auch soll Praxis besorgt machen, z.B. wenn ein paar geistliche Fundis nicht hören wollen? Merkwürdig, dass Habermas von Menschen etwas erwartet, die Öffentlichkeit dazu missbrauchen, ihre Macht, oder was sie dafür halten, zu stärken und dabei vor nichts zurückschrecken. Auch Menschen der veröffentlichten Meinung unseres Kulturkreises verdienen ihren Lebensunterhalt mit Öffentlichkeit und haben deshalb etwas zu verlieren. Und denken und verhalten sich entsprechend – ähnlich den Menschen, die Arbeit verlieren können und deshalb schleimscheißen. Das ist normal. Merkwürdig ist, dass so etwas Naheliegendes nicht Gegenstand von sozialer und ökonomischer Theorie. Viele ahnen leider nur, dass da etwas nicht stimmt; auch Habermas; auch er arbeitet mit unerhörten Instinkten; und reagiert zuweilen verbittert und frustriert. Das passiert, wenn man nicht gewahrt, dass Verbitterung einhergeht mit der Fähigkeit, naheliegende Erwartungsdispositionen hinter Abstraktionen zu verstecken, weil sie einfach nichts zu suchen haben in einem sterilen wissenschaftlichen Diskurs. Da tun sich wie bei unserem greisen Mütterchen Schamgrenzen auf. Und überhaupt: zurechenbare Erwartungshaltungen sind in unserer optimismusgesteuerten Welt nicht gut gelitten. Genauso wenig wie Karlheinz Filipps Buch Misericordia Bohemiae.(FIK-MBO) Dort setzt er sich mit dem Leid von Vertriebenen auseinander, als einer, der Vertreibung am eigenen Leib erfahren musste. Überhaupt wenn Menschen Moral und Bedürftigkeit zurechenbar formulieren, reagieren angesprochene Menschen merkwürdig schmallippig. Betretenes Schweigen. Sie sind es nicht gewohnt, dass Erwartungshaltungen: Bedürftigkeit und Moral, zurechenbar formuliert werden.

Nehmen wir ein Beispiel aus der politischen Praxis: Oskar Lafontaines hektische Flucht aus der offiziellen Politik, seinen Rücktritt von allen Ämtern, weil er die Regierungspolitik nicht mehr mitvertreten wollte. Da nimmt sich jemand das Recht heraus, Moral zurechenbar zu formulieren. Eine Ungeheuerlichkeit. Die erste geistlose Bemerkung dazu ließ nicht lange auf sich warten. Sie stammte ausgerechnet von Günter Grass, unserem frischgebackenen Nobelpreisträger. Als wolle er sich als Teilnehmer für eine der vielen nachmittäglichen Psychotalkshows empfehlen, pöbelte er drauflos: Lafontaine solle die Schnauze halten und Rotwein in der Toskana trinken. Rotwein und Nobelpreis schienen Grass zu Kopf gestiegen zu sein. Er besaß kein Gespür dafür, dass es geschmacklos ist, jemanden zu treten, der sich gerade selbst in den Dreck gestoßen hat, weil er sich als ein Gescheiterter an der politischen Realität empfand. Was ist daran so schlimm, wenn man daraus die Konsequenzen zieht? Ist Oskar dafür zuständig, Grass politisch glücklich zu machen, damit er in Ruhe schreiben kann? Unbegreiflich, wie er, ein profilierter Denker, sich so besinnungslos gehen lässt und dabei jedes mitmenschliche Empfinden vermissen lässt. Erschreckend, dass man sich vor Menschen wie Grass in acht nehmen muss.

Habermas zeigt in seiner Theorie kaum zurechenbar moralisches Engagement, und wenn, nur sehr indirekt. Nicht Personen agieren konfliktträchtig und moralisch fragwürdig, sondern Begriffe und Abstraktionen wie System- und Lebenswelt führen einen anonymen Kampf gegeneinander und miteinander. Dann ist jeder oder alles gemeint, also niemand; alles entschuldigt, wenn man alles versteht. Das hat was mit einem Bedürfnis nach geistiger Kontrolle persönlichen Lebens zu tun, wie wir das schon bei unserem greisen Mütterchen erwähnten. Zurechenbarkeit stört und passt deswegen in keine Theorie. Verbitterung und Frustration riechen danach, dass da einer an Wirklichkeit scheitert, und das rechnet man dann nicht nur der Person zu, sondern auch dem, was die Person in seinem Werk absondert: seiner Theorie und nicht selten auch seinem geistigen Zustand. Personale Praxis und Theorie sind dann in einem gescheitert. Also ist man vorsichtig und verhalten, was aber letztlich darauf hinausläuft, Theorie gegenüber Kritik zu immunisieren.

Es gibt einen Text von Habermas, in dem Verbitterung offen zutage tritt. Es war gar eine öffentliche Rede, eine Laudatio auf Alexander Kluge anlässlich der Verleihung des Lessingpreises unter der Überschrift: Nützlicher Maulwurf, der den schönen Rasen zerstört. Da schreibt Habermas in einer Art und Weise, die ihn menschlich erscheinen lässt – wie ein Gescheiterter. Und dann hebt er Menschliches durch seine Art, Realität zu kontrollieren, wieder auf. Doch hören wir ihn zunächst im Original:

“Es gibt gute Gründe, einen solchen Intellektuellen auszuzeichnen, erst recht zu einem Zeitpunkt, wo Intellektuelle Intellektuellen zum Vorwurf machen, dass sie sich mit dem Zustand der Welt, schön wie er ist, immer noch nicht abfinden wollen. Biermann und Sarah Kirsch haben natürlich ein gutes Recht, die zur Rede zu stellen, mit denen sie eine gemeinsame Geschichte geteilt haben. Aber in dem Eifer, mit dem die Hiesigen den Intellektuellen in der DDR die Rechnung aufmachen, steckt ja nicht nur, jedenfalls nicht in jedem Falle, die moralische Empfindlichkeit gegenüber einem Stillhalten, das von Komplizenschaft in der Tat kaum zu unterscheiden ist. In diesem Eifer (...) verrät sich auch noch etwas von der guten alten deutschen Ranküne gegen den transzendierenden Gedanken, der an der Realität gescheitert ist. Nicht nur ihr Stillhalten wird den Intellektuellen dort angekreidet. Den Intellektuellen hier dienen sie auch als Reizattrappen – als Stellvertreter für alle, die sich je für etwas engagiert haben, das übers juste milieu hinausging und eine Wendung zum Besseren versprach. Der Stalinismus soll nun auf seine wahren Wurzeln zurückgeführt werden: auf die utopische Regung, die das Einverständnis behindert. Endlich soll Schluss sein mit den Projektemachern und Besserwissern. Die Traumtänzer werden ins Private zurückgepfiffen. Die Dichter sollen wieder dichten, die Denker denken, die Forscher forschen, die Staatsmänner Staat machen – am besten mit Kirchengeläut. Niemand soll niemandem hineinreden dürfen. Kein Dafür- oder Dagegensein: der Code selbst soll aus dem Verkehr gezogen werden.” Kluge pflege, so Habermas weiter, einen Code, der , und das zeichne ihn aus, eben nicht so leicht zu knacken sei, weil er nicht ins Schema passe.(HAJ-NMR,138f).

Beim Lesen legen sich Verdachtsmomente wie Mehltau über mein Gemüt: Es ist doch nicht schon ein Wert an sich, gar ein Zeichen von kritischem Potential, nicht ins Schema zu passen, wenn man ein paar Merkwürdigkeiten nach außen kehrt, ein wenig verrückt ist? Sozusagen Krankheit als Ziel und als das wahrhaft Gesunde zu sehen, weil so authentisch, wie das in den 70er Jahren Mode wurde und bald darauf zum Getue gerann? So etwas gedeiht abseits von sozialen Konflikten in kommunikativen Räumen, die unter Arten- und Naturschutz stehen.

Der sprachliche Kniff, der Menschliches zurücknimmt und Kontrolle herstellt, liegt im schwammigen und vieldeutigen Begriff Code verborgen: was soll bei Kluge verschlüsselt sein? Doch nicht etwa Gesellschaftskritik? Er ist ein lieber Märchenonkel, der in vielen Interviews schöne Geschichten erzählt und Menschen in Interviews animiert, sie zu erzählen. Mitnichten sind hier wirkliche und schon gar nicht böse Kritiker am Werk, noch viel weniger scharfsinnige Analytiker fragwürdiger gesellschaftlicher Verhältnisse. Oder wie soll man es einordnen, wenn Oskar Negt eine Stunde über Hegel und Heidegger redet? Als unbequem und kritisch? Als interessant, mehr nicht, aber das muss nicht wenig sein. Nur mit Kritik an der Gesellschaft, d.h. mit einer konfliktträchtigen, weil personal zurechenbaren Moral hat es nichts zu tun; zumal wenn da zwei Menschen reden, die sich die ganze Zeit bauchpinseln. Ein grandioses Missverständnis. Es ist nicht schlimm, wenn sich Menschen wohl fühlen oder es sich schön machen. Oder ist Kritik vielleicht besonders radikal, wenn man sie codiert, so dass es keiner merkt, wenn sie in der Gesellschaft ganz im Geheimen am Werke ist, quasi in der Gesellschaft als Geist hinterhältig ihr Unwesen treibt, bis wir eines Tages die ideale Gesellschaft als Weihnachtsgeschenk auf dem Geschenkteller haben? Und keiner hat so recht was gemerkt? Klar, jeder zu laute Ton, jede zu ungebärdig formulierte Bedürftigkeit könnten den guten Geist wie ein scheues Reh vertreiben, und dann haben wir den Salat. Alles verdorben, alles bleibt wie es ist. Dumm gelaufen. Keiner lernt dazu.

Was mich am Textausschnitt besonders frappiert, ist die Verbitterung, die hier zum Ausbruch kommt, fast wie man das von enttäuschten Liebhabern kennt, die es nicht verwinden, dass ihre Liebe nicht so funktioniert wie sie sich das vorstellen oder immer gewünscht haben. Habermas wundert sich, dass Menschen so sind wie sie sind und nicht auf ihn hören wollen, v.a. die Intellektuellen seinem Hauptwerk TKH nicht die Bedeutung beimessen, die es verdient. Der eine ignoriert es, der andere liest es gar nicht erst oder nicht verständig. Oder man gefällt sich in einer melancholisch-depressiven “Philosophie des ohne mich”, wie sich Habermas in einem Spiegel-Interview über einen Kollegen ausließ. Dabei spricht er hier selbst depressiv; wobei die Tendenz einer Erwartungshaltung, die nebulös im Unbestimmten verweilt, unzufrieden stimmt: Ross und Reiter werden nicht benannt. So kennen wir das aus einer der letzten Ansprachen von Ex-Bundespräsident Rau, in der er den Menschen, v.a. der Politik, die Leviten las. Dabei müssten die solchen Reden andächtig lauschenden Politiker, insbesondere die der ersten Sitzreihe, sich zurechenbar angesprochen fühlen. Sie tun es aber nicht. Ja, sie geben ihrem Präsidenten sogar Recht, aber nur wie man einem Priester Recht gibt, der einem in der Beichte die Absolution erteilt. Einmal muss alles gesagt werden. Und dann ist es für eine Zeitlang wieder gut. Aber gesagt werden sollte es schon mal an heiliger Stätte, einem kommunikativen Raum abseits profan-politischer Praxis. Ja, Religion und regelmäßig beichten gehen ist auch Menschen der ersten Reihe ein Herzensanliegen.

Nun, die Vermutung oder die These, dass hier ein profilierter Vertreter eines weltweit wissenschaftlichen Diskurses verbittert ist, ist durchaus plausibel in einer Welt, die verzweifelt und todkrank danieder liegt, um ihr Überleben ringt und diesem Kampf aller Wahrscheinlichkeit nach bald nicht mehr in ausreichendem Maße gewachsen sein wird. Da kann ein Mensch, der diese Welt als Wissenschaftler ein Stück mit repräsentiert, sich selbst nur als gescheitert empfinden, wenn auch nur aus uneingestandener Verzweiflung heraus.

7.2 (D02) Zeichen, Sprache, Moral (08/2004)

Was das Verhältnis von menschlicher Praxis und Theorie betrifft, so stehen sich da nicht zwei Dinge gegenüber, die man säuberlich voneinander trennen könnte. Denken ist immer auch praktisch und scheitert oft genug, wenn man Naheliegendes zwangsneurotisch übersieht, geschweige denn formuliert, z.B. Erwartungshaltungen, die Denken und Theorie mental einfärben. Habermas scheint in seinem Werk arg damit beschäftigt, den sprachanalytischen Zugang zur Philosophie geistig zu kontrollieren (Theorie), um Sprachphilosophen zu beeindrucken (Praxis). Jemanden loben, um ihn an sich zu ziehen. So haben es schon die alten Römer in ihren öffentlichen Reden versucht. Dabei gelingt es ihm ganz offensichtlich, der Sprachanalyse ein bestimmtes Maß an Plausibilität zuzugestehen, vielleicht ja um deren Vertreter einzubinden in sein umfangreiches Konzept von Lebensweltrationalisierung, für eine geistige Realität gemeinsamer Geltungsansprüche mit möglichst vielen Philosophen. Eine solche Perspektive ist legitim und menschlich. Und natürlich darf man Sprachanalytiker Tugendhat einen Zugang zu gemeinsamen Interessen nicht von vornherein absprechen oder ihm diesen verweigern. Interessen formuliert er nachvollziehbar mit Hilfe der Geschichte. Ahnen zu befragen hat etwas Unwiderstehliches an sich. Irgendwann verwandeln sie sich in Götter, mutmaßte Nietzsche. Tugendhat bezieht sich auf eine lange philosophische Tradition, die zurückblickt bis in die aristotelische Philosophie, sogar weiter bis hin zur parmenidischen Philosophie, von der Heidegger angetan war, weil in ihr eine Seinsontologie sichtbar werde, die das Sein zum alles ausfüllenden Prinzip stilisiert: Etwas, das nicht ist, sei schlechthin nicht vorstellbar. Auch der Mensch sei unfähig, sich als nicht existent zu begreifen. Hinter dem Sein als Seiendes gibt es das eigentliche, alles umfassende Sein, das alles ausfüllt. So was begreife der heutige, vom wirklichen Sein entwurzelte Mensch nicht mehr. Die alten Griechen dagegen waren noch ganz nah am Sein. Heute kann man das nur noch ahnend erfühlen, dass etwas aus der Vergangenheit zu uns spricht, so wie nur die empfindlichsten Messgeräte so etwas wie ein Echo des Urknalls zu vernehmen in der Lage sind. Heidegger ist hier ein ausgewiesener Spezialist. Doch hören wir dazu ein paar Worte von Parmenides aus seiner Lehre vom Sein:

“Nötig ist zu sagen, dass nur das Seiende ist (...) Denn es ist unmöglich, dass dies zwingend erwiesen wird: es sei Nichtseiendes (...) Aber nur noch eine Weg-Kunde bleibt dann, dass IST ist (...) weil ungeboren, ist es auch unvergänglich, denn es ist ganz in seinem Bau und unerschütterlich sowie ohne Ziel (...) Denn was für einen Ursprung willst du für dieses ausfindig machen? Wie woher sein Heranwachsen? Auch nicht sein Heranwachsen aus dem Nichtseienden werde ich dir gestatten auszusprechen und zu denken. Denn unaussprechbar und undenkbar ist, dass Nicht-IST ist. Welche Verpflichtung hätte es denn auch antreiben sollen, später oder früher mit dem Nichts beginnend zu entstehen? So muss es also ganz und gar sein oder überhaupt nicht.”(VOK-GP1,201f).

Wie dem auch sei. Wenn es keine naheliegenden Gemeinsamkeiten gibt, murmele man einfach ontologisierend vor sich hin: es gehe ihm, so Tugendhat, um nichts weniger als um die Erneuerung der Seins-Ontologie. Diese hält er nur auf rein formalsemantischem Weg für erneuerbar. Mit dem zeichentheoretischen Ansatz seien alle vor ihm nicht richtig zurechtgekommen. Heideggers Seinslehre, der Tugendhat sein Werk gewidmet hat, ziele wenigstens auf wegweisende Fragen. Es ist nur immer die eine gleiche Frage, die weniger raunend, vielmehr ganz konkret wissen will: was ist der Gegenstand allen Seins? Wobei, und diese Eingrenzung kann man als weiteren, konkretisierenden Fortschritt sehen, das menschliche und nicht irgendein Sein im Vordergrund steht.

Also: wo fängt der Mensch an? Dort, wo er Ich sagt? Nur Ich zu sagen, ergibt keinen Sinn. Dann schon eher Ich bin. Was bedeutet es, in der Lage zu sein, Ich bin zu sagen? Wieso ergibt der Satz Ich bin einen Sinn ohne jede weitere prädikative Ergänzung. Wie kann oder muss man das verstehen? Was bedeutet es, Existenz als solche zu formulieren ohne prädikative Ergänzung – für Aristoteles nur eingeschränkt plausibel: “Seiendes ist alles und jedes, weil es von jedem sinnvoll ist zu sagen: es ist.”

Aristoteles konnte nicht verständlich machen, so Tugendhat, wodurch sich die formalen Begriffe von den gegenstandsbezogenen Begriffen unterscheiden würden. Er versteht das Wort ist als Ist eines Seienden im Sinne einer Nominalisierung der prädikativen Bestimmung. Das bedeute, so Tugendhat weiter, in einem harmlosen Satz wie Der Himmel ist blau würde das Prädikat (ist) blau selbst für einen Gegenstand stehen, in des Himmels Bläue verwandelt und damit als dinghaft Seiendes angesprochen werden können. Seiend sind für Aristoteles nicht nur einzelne Gegenstände im Sinne ihrer abstrakten, nicht attributiven Existenz, sondern die “konkreten Gegenstände zusammen mit ihren prädikativen Bestimmungen.”(TUEVSP,43ff)

Doch was folgt daraus? Menschwerdung als Entnominalisierung prädikativer Bestimmungen im modernen Denken, seine zunehmende Entgegenständlichung, bzw. Formalisierung schlägt sich in Sprache nieder, bzw. wird aus der Art zu sprechen erkennbar. Tugendhat ist auf der Suche nach der einen Wahrheit, einer Kraft, die treibt, die sich hinter dem menschlichem Tun in der Welt verbirgt. Diese soll sich in der Struktur des menschlichen Sprechens verbergen? Vielleicht gar einen Trieb anzeigen? Zumindest materialisiere sich im Sprechen ein Stück menschliche Wirklichkeit – eine Tendenz zu immer mehr menschlichem (Selbst-)Bewusstsein im Sinne zunehmender Fähigkeit zur Formalisierung. Gewiss etwas Wertvolles, worüber sich Menschen Gewissheit verschaffen sollten. Wenn sie die Wahrheit kennen, vielleicht wird dann ja endlich alles besser? Schon Kant war überzeugt, der Mensch müsse die Wahrheit menschlicher Existenz als eine solche der Moral erkennen. Menschliches gründe in Moral und diese a priori als (praktische) Vernunft im Menschen. Das würde dann der Ausgangspunkt für eine bessere Welt. Irgendwas muss da schief gelaufen oder noch nicht gut genug erkannt worden sein; denn siehe da: die Welt ist immer noch schlecht.

Durchaus nachvollziehbar auch die folgende Hypothese: eine bestimmte Phase von Menschwerdung sei markiert im Übergang von der signalgesteuerten Sprache zu einer solchen, die sich in ganzen Sätzen zu artikulieren vermag (Das Rathaus ist rot.). Erstere ist ein Sprechen in sogenannten Quasiprädikaten, die, weil nominalisierend verwendet, einer Ergänzung durch singuläre Termini nicht bedürfen, weil ganz und gar situationsabhängig und daher nicht wahrheitsfunktional. Die Situation selbst steht für einen singulären Terminus, also einen einzelnen Gegenstand, z.B. Rathaus. Tugendhat sagt, das sei nicht möglich. Und um das plausibel zu machen, sondert er Hunderte von Seiten ab. Eine wichtige Kernaussage lautet:

Im Gegensatz zum signalgesteuerten Sprechen hebe sich das Sprechen in prädikativen Sätzen, zeitbezüglich auf immer mehr Erinnerung setzend, aus konkreten Wahrnehmungs- und Erlebnissituationen heraus, werde von diesen immer mehr bis ganz und gar unabhängig. Das kommt z.B. zum Ausdruck, wenn der Mensch anfängt, Bilder auf Höhlenwände zu malen (Bilder und Bildzeichen), d.h. eine Vorstellung von dem hat, was er getan, gesehen oder tun will und darüber reden kann. Ein solches Reden mache den das Prädikat ergänzenden singulären Terminus notwendig. Also: das Bild (Gegenstand, Zeichen) an der Wand als Markierung für einen Übergang: hin zum Reden in ganzen Sätzen, herausgehoben aus einer konkretgegenwärtigen Situation: situationsunabhängig. Reden werde abstrakt und demonstrativ. Das Denken werde ein solches in raumzeitlichen Bezügen und Lokalisierungen, ohne dass diese gegenwärtig sein müssen. Signalgesteuertes Sprechen brauche die konkrete Situation; dagegen nicht das Sprechen in ganzen Sätzen, in denen Teile bezüglich gemacht werden und aufeinander verweisen. Ohne diese Abhängigkeiten in der Verwendung hin auf ein Ganzes seien Sätze sinnvoll nicht verwendbar.

Beispiel: Ein Menschenaffe gibt einen bestimmten phonetischen Laut von sich (Quasiprädikat: Gefahr). Der nächste reagiert; er muss die Gefahr gar nicht wahrgenommen haben; er bezieht Stellung, allein indem er den Laut versteht, verstärkt und reagiert (sich in Sicherheit bringt). Bis die ganze Bande in heller Aufregung kreischend das Weite sucht. Das phonetische Zeichen ist hier quasiprädikativ in dem Sinne verwendet, dass es nicht ergänzungsbedürftig durch einen singulären Terminus ist. In einer nicht signalgesteuerten Kommunikation mit ganzen Sätzen liegt der Akzent auf dem einzelnen Menschen und seiner Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, losgelöst von zufällig-gegenwärtigen, raumzeitlichen Bezügen, d.h.allein in der Vorstellung Dinge raumzeitlich bezüglich zu machen, aus einer in der Vorstellung präsenten Systems raumzeitlicher Relationen heraus, was im Gebrauch von Demonstrativpronomen – wie das, dies, hier, dort, hinter, jetzt, später, gleich, gestern etc. – zum Ausdruck kommt. Gewiss ein interessanter Aspekt der Menschwerdung. Doch bleibt Tugendhat merkwürdig dem Definitorischen verhaftet (übrigens auch Habermas in seinen sprachanalytischen Rezeptionsbemühungen). Schon Hegel hämmerte seinen Zuhörern ein, dass Abstraktionen als solche wertlos sind, wenn sie nicht Fragen zur Folge haben, die konkret auf Lebensweltliches verweisen – z.B. die Frage, was formalisierende Fähigkeiten außerdem für menschliches Leben bedeuten? Es mag sinnvoll sein, zu analytischen Zwecken, Formales vom Gegenständlichen zu trennen; doch heißt das, das es die Trennung de facto gibt, als etwas, das wirkt und (historisch) treibt? Natürlich, immerzu steht die Frage im Hintergrund, in welcher Weise formalisierende Fähigkeiten menschliches Leben verändern. Sie gehen schwanger möglicherweise mit einen Wandel in den menschlichen Beziehungen. Solche Fähigkeiten könnten bedeuten: die Stellung des Einzelnen in der Gruppe wird gestärkt in dem Sinne, dass Respekt und Prestige sich nicht mehr nur ableiten von unmittelbarer Präsenz physischer Stärke aus gegenwartsbezogenen Situationen heraus, auf die Menschen unmittelbar, naturwüchsig und vor allem instinktmäßig reagieren.

Das Sprechen in prädikativen Sätzen setzt Fähigkeiten der Sozialintegration voraus, zumindest werden diese immer wichtiger. Denn da ist ein Sprecher, der eine Vorstellung situationsunabhängig, etwa aus der Fähigkeit ein Bildzeichen zu gebrauchen, artikuliert (das da an der Wand ist eine Hirschkuh) und darauf angewiesen ist, dass ein Hörer ihm Aufmerksamkeit schenkt, ein nachdenklicher Hörer, der innehält und anschließend ein Urteil fällt, indem er sagt: das ist wahr oder das ist falsch. Es bilden sich Beziehungen im Sinne von Abhängigkeiten, die situationsbezügliche Instinktrealitäten nicht verdrängen, die aber für das Leben in großen Gruppen im wichtiger werden. Dass Teile eines Satzes im Hinblick auf ein Satzganzes bezüglich gemacht werden können, ist interessant im Hinblick auf gemeinsame Interessen im menschlichen Zusammenwirken.

Lebensvorgänge mögen sich in Satzkonstruktionen materialisieren; es mag interessant sein, darüber nachzudenken. Wesentlicher ist aber darüber hinaus, dass der Mensch seine Sinne für die Metaebene des Verstehens und der Verständigung schärft, so dass er mit Erwartungshaltungen (zwischen Sprecher und Hörer) umgehen kann. Dadurch werden Beziehungen der Bearbeitung zugänglich; sie geraten als solche zum Gegenstand des Interesses, losgelöst von vormals rein situations- und gegenwartsrelevanten Bezügen, wo es auf Unmittelbarkeit und Instinktreaktionen im Sinne des behavioristischen Reiz-Reaktions-Modells ankommt. Es werden Erwartungsdispositionen im Sinne eines auf Gleichberechtigung gepolten Verhältnisses zwischen den Menschen formulierbar, die zweifellos mit dem Gebrauch von Sprache und Sprechen einhergehen. Dadurch werden menschliche Beziehungen wahrheitsfähig und wesentlich zu einer Sache zurechenbarer Bedürftigkeit und Moral.

Statt nun den Akzent auf gelebte Abhängigkeiten, auf austauschbare soziale Rollen im kommunikativ-sozialen Kontext zu legen, gefällt sich Tugendhats Ansatz in wildgewordener Polemik gegen die gegenstandsfundierte Zeichentheorie, d.h. gegen die Auffassung, das Zeichen oder der singuläre Terminus stehe für ein Gegenstand, was auf eine unsinnige Verdopplung von Realität hinauslaufe. Philosophie als Seinskunde könne man nur noch ernsthaft betreiben ohne jede Vergegenständlichung: über einen rein formalsemantischen Ansatz. Der singuläre Terminus sei keine Instanz der Vermittlung, die zwischen Gegenstand und Bewusstsein trete oder angesiedelt sei, seine nicht-prädikative Verwendung deshalb nicht möglich. Das zu glauben, zeuge von entfremdeter Wahrnehmung von Realität. Der singuläre Terminus stehe für eine Funktion: einen Gebrauch in einem bestimmten Verwendungszusammenhang. Für sich allein existiere er nicht.

Das hört sich alles schwer nach Hegel an, wenn auch in einem Jargon, der das Plagiat verschleiert. Doch hätte Hegel immer auch gefragt, was aus der Abstraktion folgt. Sie stünde für Prozesse des Denkens, für Bewegung. Abstraktionen bringen Menschen, ja ganze Nationen und Völker in Bewegung. Für sich selbst genommen aber seien sie leer. Stünden, wenn man so will, nicht für einen Gegenstand. Auf die Frage eines begeisterten Studenten, was denn nun eigentlich das Sein sei, sagte Hegel ein wenig gelangweilt: das Sein ist das Sein. Und fuhr wie gehabt in der Vorlesung fort.

7.3 (D03) Sind Gefühle dumm? (09/2004)

Man könnte vermuten, dass der menschliche Kopf eigentlich eine Trommel sei, die nur darum klingt, weil sie leer ist. (Immanuel Kant, 1724-1804)

Die erfahrungsunabhängigen reinen Verstandesbegriffe, die sogenannten Kategorien, nach Kant der formalen Logik entlehnt, verdanken ihre Existenz der Wahrheitsfähigkeit menschlicher Beziehungen (was sich in Sprache und Sprechen niederschlagen mag), d.h. der Entwicklung zurechnungsfähiger Erwartungsdispositionen, die ein Sprecher an einen Hörer richtet und umgekehrt, die ein Hörer an einen Sprecher richtet. Der Philosophie von Habermas entsprechend gehen die Kategorien, notwendige Denkfiguren, aus schwierigen interaktiven Prozessen hervor. Sie existieren nicht an und für sich – als apriorisches Substrat subjektiver Fähigkeiten der Vereinheitlichung sinnlicher, empirischer Wahrnehmung. Kategorien können natürlich als von aller Erfahrung unabhängig definiert werden, um auf dieser Basis Notwendigkeit vom Zufall zu scheiden. So wie man menschliche Existenz auch notwendig mit Moral verknüpfen und diese als notwendige Eigenschaft menschlicher Existenz im Subjekt apriorisch verankert definieren kann. Indes fällt Moral nicht vom Himmel: Erwartungshaltungen im sozialen Kontext gerecht zu werden und zu erzeugen, müssen Menschen immer wieder mühsam verinnerlichen, im Zuge von Lernprozessen tagtäglich neu beleben; damit sie präsent bleiben.

Das Verdienst von Habermas besteht darin, darauf den Akzent zu legen: Moral ist nicht auf natürliche Weise im Inneren des Subjekts verankert, sondern eine Sache von Erziehung und Verinnerlichung, von Interaktion, eine Fähigkeit, die erworben werden muss; ich würde hinzufügen: tagtäglich, damit deutlich wird, dass man jene Fähigkeiten, wo sie entwickelt worden sind, auch austreiben oder verunmöglichen kann, v.a. indem man den sozial-ökonomischen Kontext als primäre Ursache von Moral der kritischen Analyse entzieht. Dafür sorgt der Kulturschaffende und sein Ekel vor klaren politischen Stellungnahmen oder einer sich interaktiv bildenden Moral; ohne sozial-ökonomische Kritik bleibt ihm nur, die Moral frei nach Kant als natürliche Eigenschaft, also apriorisch im Subjekt anzusiedeln. Überdies betont er die Fähigkeit, Befindlichkeiten zum Ausdruck zu bringen und stilisiert sie zur Voraussetzung und Bedingung objektiven Erkennens, v.a. aber von Moral. Noch da, wo frei nach Nietzsche jede Moral denunziert wird, geschieht dies moralisierend apodiktisch. Objektiv und moralisch wertvoll ist das, was – zunächst im Subjekt als Vermögen verborgen – dieses schließlich, um Realität zu erzeugen, aus sich heraus gebiert, und nicht das, was mindestens zwei Menschen unter sich ausmachen, nicht das darauf zielende Verfahren sozialer Interaktion, das in Erziehungsprozessen immer wieder mühsam erworben werden muss, freilich in einem sozial-ökonomischen Kontext, der, solange er sich nicht grundlegend ändert, die Ausbildung zureichender moralischer Fähigkeiten unerträglich begrenzt.

Oftmals dünkt der Kulturschaffende sich in guter Gesellschaft mit der Philosophie Kants, obwohl der sich Zeit seines Lebens herzlich wenig für Kunst und Dichtung interessierte, nicht einmal für Dichter, die seine Nähe suchten. So empfand das Goethe, ein ausgewiesener Kantliebhaber, wie er seinem getreuen Eckermann anvertraute: “Kant hat nie Notiz von mir genommen”.

7.3.1 Subjekt-Objekt-Dualismus

Sogar Habermas’ Theorie möchte, einem Kunstprodukt nicht unähnlich, v.a. eine solche des Gefühls, der Wärme, von (Mit-)Menschlichkeit sein. Das muss nicht schlecht sein. Der Wissenschaftler sei, sagt er, in seiner Theorieproduktion performativ und seelisch involviert durch lebensweltliche Praxis. Theorie besitze daher so etwas wie subjektive Färbung und sei nicht zu trennen vom Wahrheitsbegriff subjektivistischer Authentizität oder Wahrhaftigkeit, sagen wir ruhig: von gefühlsmäßigen Befindlichkeiten. Im modernen Denken gebe es zwar eine Ausdifferenzierung in drei Wahrheitsbegriffe (propositional, moralisch, subjektivistisch); das heiße aber nicht, dass diese unabhängig voneinander existierten. Die analytische Ausdifferenzierung ist aber Bedingung dafür zu erkennen (das wird bei Habermas nicht zureichend deutlich), dass es eine Moral als solche, ein Interesse als solches, kurz: Objektivität ohne Subjekt, das diese für sich und damit für andere setzt, das heißt aushandelt mit offenem Ausgang, nicht gibt. Andernfalls geriete das Intersubjektive, bzw. das mit ihm verknüpfte außersubjektive Objekt (inter-)subjektiver Begierden zu etwas, was unproblematisch. Die ans Objekt geknüpfte Interaktion als solche geriete aus dem Blick und löste sich auf als etwas, das der Bearbeitung zugänglich. Das Intersubjektive geriete in die Falle des Subjekt-Objekt-Dualismus: das Subjekt degeneriert zu einem einsamen Subjekt, an dem, sofern es interaktiv agiert, Schuld klebt, aus der es kein Entrinnen gibt, die es deshalb weiterzugeben gilt, bzw. von der es sich fraglos zu entlasten gilt auf Kosten außersubjektiver Interaktionsteilnehmer. So lassen sich interaktive Systeme denken, in denen schuldige Subjekte agieren ohne die Möglichkeit moralischer Zurechnungsfähigkeiten, so dass der Akzent auf der Beziehung selbst, also auf Gefühlen, zu liegen kommt und nicht auf dem Gegenstand der Beziehung (des Gefühls), wo – unzulässig – beide Perspektiven, die formal-gefühlsmäßige wie gegenständliche, strikt voneinander getrennt sind. In solchen fraglosen Systemen (ohne realen Gegenstand), in denen Gefühle und nicht Gegenstände, auf die sie verweisen, verhandelt werden, wird schon mal jeder und alles irre.

7.3.2 Kierkegaard versus Heidegger

Diese (Subjekt-Objekt-)Problematik tritt analog bei Kierkegaard auf; bei ihm ist das Interaktive in die Beziehung des Subjekts zu Gott projiziert; das einsame Subjekt ohne weltlichen Gegenstand (Begehrlichkeiten) vorausgesetzt und damit Schuld (sündige Begierden, gegenständliche Begehrlichkeiten) als Kontinuum, wenn auch allein als eine solche vor Gott: Nicht die einzelne, interaktiv induzierte Sünde interessiert, sondern der Sozius in seiner prinzipiellen Sündhaftigkeit, die nur eine vor und in der Beziehung zu Gott sei, weil unentwegt verführt, seine Beziehung zu Gott irdisch-gegenständlich zu verunreinigen. Prinzipielle Sündhaftigkeit dürfe denn auch nicht aufgefasst werden als eine solche nach menschlichem Maß: der Einzelne ist als Sünder vor Gott nicht hintergehbar, wie es, Kierkegaard zufolge, die (hegelsche) Spekulation suggeriert.(KIS-KZT,136ff)

In Umkehrung zu Kierkegaard suggeriert der Seinsbegriff Heideggers als Seinkönnen der menschlichen Existenz (Dasein) prinzipielle Schuld des einsamen Subjekts nicht gegenüber Gott, vielmehr prinzipielle Schuld in seiner Entschlossenheit (zum Handeln auf Leben und Tod) gegenüber dem Nächsten. Die Entschlossenheit “holt das Dasein auf sein eigenes Selbstseinkönnen zurück” im inneren Ruf des Gewissens. Unnachsichtig vereinzele der Ruf des Gewissens “das Dasein auf sein Schuldigseinkönnen, das eigentlich zu sein er ihm zumutet (...) Wenn die Entschlossenheit vorlaufend die Möglichkeit des Todes in ihr Seinkönnen eingeholt hat, kann die eigentliche Existenz des Daseins durch nichts mehr überholt werden.”(HEM-SUZ,307).

Was bei Kierkegaard die Krankheit zum Tode, Tod gemeint als Metapher, gerät bei Heidegger zum Sein zu einem wirklichen Tode als einer uneinholbaren Begrenzung (Befristung): Moment zeitlicher Begrenzung, was den inneren Ruf (Gewissen) an das Dasein, entschlossen zu wählen aus einer Vielzahl von Handlungsoptionen, dringlich macht, das Subjekt diesen Ruf natürlich wahrnehmen können muss, eine Fähigkeit, die nicht jedem gegeben ist; das Subjekt wird schuldig, weil es andre Subjekte in ihren Möglichkeiten diskriminiert und damit zur Uneigentlichkeit verdammt. Eigentlich ist (existiert) man nie mit, sondern immer nur gegen andere, eine Last, die nicht jeder zu tragen vermag. Einfacher ist es, einer Seinsweise der Uneigentlichkeit: dem anonymen Man zu verfallen, an einem Bestehenden zu kleben, das einem zur Eigentlichkeit Befähigten nur Material im Hinblick auf seine Fähigkeit ist, entschlossen seine Handlungsoptionen wahrzunehmen. Kurz: auf diese Weise ist der Mensch, sich selbst wählend in Permanenz, nur er selbst auf Kosten einer amorphen Masse und kommt derart nicht umhin, Schuld auf sich zu laden. In einer solchen Philosophie der radikalen Befindlichkeit und Gefühligkeiten gibt es keinen Raum für Fragen nach der Beziehung als solche. Beziehungen bleiben unproblematisch; sie existieren absolut oder gar nicht, also im Zweifel nicht. Und was die Moral betrifft, so kann man sich allenfalls, wenn überhaupt, versündigen, wenn man Auserwählte in ihrem Seinkönnen behindert, und dadurch – dem Mittelmaß frönend – der Uneigentlichkeit eines Bestehenden, eines nur Vorhandenen, zum Sieg verhilft. Davon abgesehen existiert Gewissen als moralische Kategorie nur als Seinsweise von Uneigentlichkeiten, als vulgäre Gewissensauslegung. Diese hat in Opposition zur “Interpretation des Gewissens als Anruf der Sorge zum Schuldigsein” das folgende einzuwenden (HEM-SUZ,290):

1. Das Gewissen hat wesentlich kritische Funktion.

2. Das Gewissen spricht je relativ auf eine bestimmte vollzogene oder gewollte Tat.

3. Die Stimme ist erfahrungsgemäß nie so wurzelhaft auf das Sein des Daseins bezogen.

4. Die Interpretation trägt den Grundformen des Phänomens, dem bösen und guten, dem rügenden und warnenden Gewissen keine Rechnung.

Dass Heideggers Philosophie zynisch und zutiefst amoralisch ist, ist für Peter Bürger nicht ohne weiteres eine ausgemachte Sache. In seiner Kritik der Postmodernen hat er die Moral nicht unmittelbar im Auge. Ihm geht es in Anlehnung an Derrida, Foucault und anderen, von Nietzsche allesamt um den Verstand gebracht, um den ideologischen Gehalt, die Diskriminierung des Ursprungsdenkens, das er als ein Problem der Moderne: eines aus den Fugen geratenen Subjekts, diagnostiziert, dessen Denken, wie ich hinzufügen möchte, von allen guten Geistern verlassen ist, weil es, nach letzten Gewissheiten lechzend, in den gesellschaftlichen Strukturen Halt nicht zu finden vermag und deshalb uneingestanden (klaustro-) phobische Berührungsängste ihnen wie allem Strukturellen gegenüber entwickelt, um sie unantastbar zu machen (Macht des Faktischen).

Was Heideggers Philosophie betrifft, so finde ich diese wie Peter Bürger “aporetisch, weil aus der radikalen Vereinzelung des eigentlichen Daseins der Weg zu einem Handeln innerhalb der Gemeinschaft nicht plausibel zu machen war.”(BUP-UPM,173) Es sei denn, man gesteht dem Tod eine sozial gestaltende Funktion zu: “Die ‘Unbezüglichkeit des Todes’ ist es, auf die sich die Eigentlichkeit der Erfahrung bezieht. Diese wird aber letztlich nicht um ihrer selbst willen erstrebt, sondern weil sie zu einer Selbstgewissheit führt, die dem einzelnen erlauben soll, ohne Rücksicht auf das in der Alltäglichkeit Geltende gestaltend in die Wirklichkeit einzugreifen. Das Heraustreten aus allen Vermittlungen soll gerade die Möglichkeit zu geschichtlichem Handeln eröffnen.”(aaO,175) Kurz: Moral ist für Heidegger nicht problematisch, geschweige denn sozial konstitutiv, weil es sie für ihn nicht geben darf im Interesse kulturellen Fortschritts. Sie ist ihm im Sinne Nietzsches gleichbedeutend mit Verfall.

7.3.3 Die Kantsche Vernunftkritik und Der Untergang mit Bruno Ganz

Was die Philosophie von Kant betrifft, so ist für sie Moral zwar problematisch, aber eben nur eine als transzendentale Entität und keineswegs daran geknüpfte interaktive Vorgänge. Die kantische Vernunftkritik kann ganz analog wie in Habermas’ TKH in die drei Wirklichkeitsbereiche Wissen (Verstand), Moral (Vernunft) und Urteil (Subjekt) ausdifferenziert werden, wobei das Urteilsvermögen im Subjekt die vereinheitlichende Verbindung zwischen Verstand und (praktischer) Vernunft herstellt; im Sinne eines Als-ob wird das Allgemeine (apriorischer Verstandesbegriffe) im Augenblick einer Gefühlswahrnehmung als (Lebens-)Zweck mit dem Besonderen, dem Bereich möglicher Erfahrung, notwendig verbunden. Damit sagt Kant als Kritiker einer von Herder vorgedachten Romantik hellsichtig: Gefühle sind dumm im folgenden Sinn: sie spiegeln Vereinheitlichung und Wahrheit vor: eine Objektivität im Sinne eines Als-ob, die indes Gefahr läuft, den Bereich möglicher Erfahrung zu transzendieren.

Vernunft neigt damit auch zur Unvernunft, ist ständig verführt, den Bereich möglicher Erfahrung zu überschreiten und muss sich deshalb immer wieder selbst kritisieren. In Kants Kritik der Vernunft ist Vernunft Subjekt und Objekt zugleich: sich selbst kritisierender Begriff. Man kann Kant vielleicht wie folgt lesen:

Obwohl Teil des Erkenntnisvermögens, bringen Gefühle noch keinen Erkenntnisgewinn, auch wenn sie diesen voraussetzen: Als Treibsatz der Urteilskraft besitzen sie regulative Funktion. Kritisch verwendet können sie den Bereich möglicher Erfahrung erweitern, ohne quasi zu wissen, was sie tun. Sie sind dämlich wie nur was. Sie bilden im Sinne Hegelscher Spekulation aber die Vorstufe hin zum wirklichen Erkennen, bei Hegel des Absoluten, das sich im Weltgeist manifestiert, wobei bei Kant der (Gefühls-)Impuls: das Vor-Urteil, der Wahrheitsfindung untergeordnet ist, dem man allzu bereitwillig folgt; schichtübergreifend. So ist das. Menschen sind immer auch dumm; zu schlau dürfen sie nicht sein, wenn sie weiterkommen wollen. Ohne Vorurteile ist das nicht möglich.

Heute legt sich kulturelle – durch Kunst (und Gefühl) in die Gesellschaft hineingetragene – Verblödung, zuweilen wissenschaftlich abgesichert, wie Mehltau über stets gefühlssüchtigere Menschen, die für sich ein subjektfundiertes – von Gefühlen geleitetes – Verhältnis zu sozialer Realität in Anspruch nehmen, uneingestanden, zumal wenn sie ihre gefühlsfundierten (besonderen) Interessen für verallgemeinerungsfähig halten, sich dabei überaus intelligent dünken, wenn sie es verstehen, jene Interessen in ein paar schöne Sprachfiguren zu kleiden. Die Regel ist zunehmend die: wenn Kunst über soziale Realität redet, redet sie v.a. über subjektive Befindlichkeiten, über Lust-Unlust-Informationen – wie sollte es auch anders sein – digital (regulativ) angetrieben.

Um nicht zu sagen: Künstler reden gern über sich selbst, ohne ein verallgemeinerungsfähiges Interesse zu transportieren. Das wird sichtbar, wenn sie über eigene Kunstprodukte schwadronieren, z.B. Bruno Ganz über den Film Der Untergang und seine Darstellung der Figur Hitler. Er sagt über seine nicht mal schlechte schauspielerische Leistung, es komme ihm drauf an zu zeigen, wie Hitler wirklich war: ein Mensch, den er nur spielen könne, wenn er ihn nicht nur hassen würde. Merkwürdig: wie ist es möglich, ein Verhältnis zu finden zu dieser monströsen Horrorfigur? Eine Gefühlsdisposition des Nicht-Gefühls und völligen Nichtverstehens scheint Ganz nicht zu kennen. Dialektisch nicht unbeleckt, wagt er sich weiter vor, indem er, von der eigenen Person diesmal absehend, verallgemeinert: Ein Mensch, den man nur hasse, könne unmöglich ein derart großes Verführungspotential besitzen, dass ihn ein ganzes Volk anhimmle. Es ginge aber darum, begreiflich zu machen, warum damals so viele Menschen sich verführen ließen, so dass sie blind wurden für monströse Unmenschlichkeiten.

Im Umkehrschluss könnte man meinen: wäre Hitler kein Mensch, z.B. ein Teufel oder nur eine lächerliche Figur, hätte es keine Verführung geben können, und ohne diese keinen Nationalsozialismus, keine Unmenschlichkeit. Also müsse man ihn auch ein wenig mögen. Was für eine frohe Botschaft. Das sind Verobjektivierungen und was für welche. Zeigen sie nicht, wie es damals wirklich war? Dass man sich vor bösen Menschen in acht nehmen muss? Auch und gerade, wenn sie mit Süßigkeiten locken? Weil sie, ehe man sich versieht, in einem das Böse befördern? Sogar bei ganz patenten Menschen, etwa bei Hitlers Sekretärin, von der man es ohne weiteres nicht erwartet hätte? Sie himmelte Hitler an. Aber der gute Charakter war ihr jederzeit anzumerken. Eine patente, alerte Frau, die einmal nach dem Zweiten Weltkrieg der neuen BRD den Stempel ihres wunderbaren Charakters aufdrücken sollte.

7.3.4 Joachim Fest und Der Untergang

Aussagenlogisch lässt sich die Untergangs-Deutung auf den Satz Ohne Hitler keinen Nationalsozialismus und ohne Nationalsozialismus keinen Hitler reduzieren. Und das könne man nur erkennen, wenn man zeige, dass er Mensch gewesen sei. Auf so einem Niveau läuft der Diskurs unserer Elite über soziale Realität. Auch Joachim Fest müht sich redlich mit ab in dieser untersten Schublade. Tiefer geht’s nicht. Tatsachenfetischisiert lege man den Akzent auf das, was ist; auf die soziale, in Gefühligkeit zu bannende Tatsache, z.B. ein Lächeln Hitlers beim Probediktat, einen querliegender Furz, der herausgedrückt gehört, um ihn zu beschnüffeln: Oh, ein Mensch! Wer hätte das gedacht.

Wesentlich ist, dass das Faktum durch die Unergründlichkeit des Subjekts hindurch muss, was ihm eine Aura von Unbegreiflichkeit verleiht, ohne den Vorteil, objektiv zu sein, einzubüßen. Schließlich ist er ja da, der Furz, mit viel Mühe ins Freie gelangt, um zu einer Tatsache zu werden, deren Existenz dann mit guten Gründen nicht mehr in Zweifel gezogen werden kann. Endlich wissen wir, wie du riechst, wer du bist, dass du schuldig bist. Geahnt haben wir das schon immer. Das bedeutet wiederum: den Subjekt-Objekt-Dualismus der profanen Wahrnehmung injizieren, gesamtgesellschaftlich zu verallgemeinern, wissenschaftlich abgesichert. Dabei hat Kant für sich in Anspruch genommen, genau diesen Konflikt, der das ganze Mittelalter hindurch tobte, als Erkenntnisproblem überwunden zu haben. Er hat sich getäuscht, weil dieser Konflikt vielleicht alles ist, nur eben, und hier muss man Kant nicht mehr folgen, kein Erkenntnisproblem, vielmehr soziale Probleme anzeigt: Klassenkämpfe, wie Marx sagen würde.

7.3.5 Brot und Spiele

Aber hat Joachim Fest sich nicht ein Leben lang abgequält mit Quellenstudium, Sichtung und Zusammentragung historischer Fakten aus der NS-Zeit, v.a. zu Hitler? Er hat einen Turmbau zu Babel an Wissen zusammengetragen, um der Figur Hitlers Herr zu werden, um nachwachsenden Generationen das NS-Regime in seiner ganzen Monstrosität des Grauens und Paranoia näher zu bringen; in der Absicht, Menschen, die die NS-Zeit aus eigener Anschauung nicht mehr kennen können, gegen das Böse zu immunisieren, das immer und überall, zumindest in Spurenelementen in jedem angelegt; auf dass jeder in der Manier eines IM wachsam sei gegen alles, was nach Verführung durch das Böse riecht. Natürlich hat Joachim Fest verantwortungsbewusst alles im Sinn, nur eben kein analytischen Verstand. Seine Arbeit ist, wie der Film Der Untergang, ohne wirklichen Erkenntnisgewinn. Er weiß gar nicht, was das ist, wie Kant, ein Riese im Denken, ihm heute wahrscheinlich ins Stammbuch schreiben würde.

Dass der Film Der Untergang