Die Politisierung des Bürgers, 4.Teil: Theorie der Gefühle - Franz Witsch - E-Book

Die Politisierung des Bürgers, 4.Teil: Theorie der Gefühle E-Book

Franz Witsch

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Beschreibung

Nachdem es im dritten Teil um die emotional-moralischen Modalitäten der Zerstörung sozialer Strukturen sowie um die psychosozialen Bedingungen einer Rekonstruktion der moralischen Verantwortung des Subjekts ging, ist der vierte Teil bemüht zu zeigen, dass und auf welche Weise Gefühle eine tragende Rolle im Hinblick auf eine sozialverträgliche Ausbildung sozialer wie ökonomischer Strukturen spielen; sie spielen genau dann eine tragende Rolle, wenn es dem Subjekt (1.) gelingt, Gefühle als Ressourcen der Verständigung zu begreifen, wenn (2.) die Externalisierung des Gefühls nicht nachhaltig scheitert: der externe Objektbezug des Gefühls gewahrt bleibt, wenn (3.) negative Gefühle nicht ausgegrenzt werden aus Verständigungsbemühungen, und wenn (4.) - bezugnehmend auf den zweiten Teil - die Mehrwertfähigkeit des Subjekts nicht mehr als das entscheidende Kriterium seiner sozialen Existenz gilt.

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Nachdem es im dritten Teil um die emotional-moralischen Modalitäten der Zerstörung sozialer Strukturen sowie um die psychosozialen Bedingungen einer Rekonstruktion der moralischen Verantwortung des Subjekts ging, ist der vierte Teil bemüht zu zeigen, dass und auf welche Weise Gefühle eine tragende Rolle im Hinblick auf eine sozialverträgliche Ausbildung sozialer wie ökonomischer Strukturen spielen und zwar genau dann, wenn

es dem Subjekt gelingt, Gefühle als Ressourcen der Verständigung zu begreifen,

die Externalisierung des Gefühls nicht nachhaltig scheitert: der externe Objektbezug des Gefühls gewahrt bleibt,

negative Gefühle nicht ausgegrenzt werden aus Verständigungsbemühungen und

bezugnehmend auf den zweiten Teil: die Mehrwertfähigkeit des Subjekts nicht mehr als das entscheidende Kriterium seiner sozialen Existenz gilt.

Franz Witsch, geb. 1952, lebt in Hamburg und ist Lehrer für Politik, Geografie und Philosophie. Zwischen 1984 bis 2003 arbeitete er in allen Bereichen der freien Wirtschaft als Informatiker und Unternehmensberater. Heute schreibt er sozialphilosophische Texte und Bücher.

Klaus-Jürgen Bruder, Prof. Dr. phil. habil., ist Psychoanalytiker, Professor für Psychologie an der Feien Universität Berlin und erster Vorsitzender der Neuen Gesellschaft für Psychologie. Die wichtigsten Veröffentlichungen: Subjektivität und Postmoderne. Der Diskurs der Psychologie. Frankfurt (Suhrkamp) 1993; Jugend. Psychologie einer Kultur (mit Almuth Bruder-Bezzel). München (Urban & Schwarzenberg) 1984; Psychologie ohne Bewußtsein. Die Geburt der behavioristischen Sozialtechnologie. Frankfurt (Suhrkamp) 1982; Lüge und Selbsttäuschung (mit Friedrich Voßkühler). Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2009.

Inhalt

Ein Vorwort von Klaus-Jürgen Bruder

Einleitung

: Bemerkungen zum Strukturbegriff

Die Gestaltungskraft der Gefühle

1.1 Der Gefühlsjunkie oder von der

Reinheit der Gefühle

1.2 Über den Film

Naokos Lächeln

(Norwegian Wood)

1.3 Gefühle als verhandelbare Ressource

1.4 Negative Gefühle verarbeiten, nicht ausgrenzen

1.4.1 Massenmörder Breivik

1.4.2 Über den Film

Der Albaner

1.5 Verbindung von Gefühl und Moral (Gesellschaft)

1.6 Von der Autonomie der Gefühle oder

was ist Freiheit?

Regelwidrigkeiten

2.1 Tarnung der Gefühle und Gesetzesmythos

2.2 Prozesshaftes vs. affirmatives Verstehen

2.3 Feeling und Emotion (Philosophie der Gefühle)

2.3.1 Über den Film

Melancholia

2.4 Verstehen und Verständigung als soziale Praxis

2.5 Kritik an Heideggers Sein und Zeit

Philosophie des (Augen-)Scheins

3.0 Vorrede: im Anfang war die Norm

3.1 Ursprungsfetisch und

Praktik

-Begriff

3.2

Praktik

und Behavioralismus oder Ordnung ist das ganze Leben

....

3.3 Generik und Projektionsmodus

3.4 Definieren bis zum Abwinken

3.5 Terminologische Puzzlespiele

Analyse und psychosoziale Störungen

4.1 Projektion und Individuierung

4.2 Psyche und strukturelle Gewalt

4.3 Innen und Außen bei Habermas

Exkurs:

Notre Nazi

– das Ganze ist das Unwahre (Adorno)

4.4 Kapital und Psyche

4.5 Über den Film

Barbara

: Begehren ohne Gier

Anhang

Quellen

Filme, die besprochen oder erwähnt werden

Namensregister

Sachregister

Abkürzungen: siehe

Die Politisierung des Bürgers, Teil 2

Vorwort: Ein überaus ambitionierter Versuch

Die Politisierung des Bürgers (DPB) ist die gründliche Dokumentation der Zerstörung der Bedingungen der Politisierung und der Notwendigkeit ihrer Wiedergewinnung, die die Marxsche Theorie an ihre Grenzen und zugleich weiterführt. Sie geht davon aus, dass der von Marx herausgearbeitete Zwang zur Mehrwertproduktion die Gesellschaft nach wie vor nicht nur beherrscht, sondern mittlerweile ihre Strukturen schon dem Augenschein nach zerstört; so dass mit ihm alle Versuche, den Kapitalismus menschlicher zu machen, als Investition in ihr Scheitern eingeordnet werden können. Gleichzeitig sind damit aber noch nicht jene menschlichen Verhältnisse wie von selbst erreicht, die bei Marx die bewusste und entschiedene Abschaffung der Mehrwertproduktion durch die Menschen selbst zur Voraussetzung haben. Diese steht immer noch aus.

Das Dilemma besteht darin, dass die Versuche, den Kapitalismus, also den Zwang zur Mehrwertproduktion zu erhalten, zugleich jene – subjektiv-moralischen – Voraussetzungen seiner Überwindung zerstören. So gesehen stellt sich die Frage, wie die Mehrwertproduktion an ihr Ende kommen kann: aus ihrer eigenen Logik heraus ohne revolutionäre Nachhilfe? Für Witsch ist offensichtlich, dass alle Versuche, den Kapitalismus zu retten, in den Worten von Habermas: zu zivilisieren (S.217f), sinnlos sind, ja nur noch zerstörerische Auswirkungen haben. Hinzu kommt, dass die überwiegende Mehrheit der Bürger dem Abbau des Sozialstaats tatenlos zusieht; zu befürchten ist, dass sie bis hin zu seiner vollständigen Vernichtung zusehen – heute auf europäischer Ebene.

Die These vom Ende des Zwangs zur Mehrwertproduktion aus der Logik der Entwicklung der Mehrwertproduktion selbst zu beurteilen, liegt allerdings außerhalb des Feldes der Psychologie und der dort gegebenen Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung. Der Psychologe kann nur Vermutungen über die Wirkung dieser These anstellen: sie könnte eher dazu führen, dass man die Skrupellosigkeit der Mächtigen und Herrschenden aus den Augen verliert und damit die Notwendigkeit des Kampfes gegen diese, als dass sich die Unmöglichkeit der Rettungsversuche erweist. Um das zu vermeiden, plädiert Witsch für eine Trennung von Ökonomie und Moral (WIF-SUL): die Moral u.a. mit den Methoden der Psychoanalyse und Psychologie unabhängig von technisch-ökonomischen Imperativen zu analysieren.

In diesem Zusammenhang erscheint mir eine Unterscheidung, die Franz Witsch macht, durchaus auch als eine für die Psychologie und damit für eine durch die Kritik der Psychologie fundierte Gesellschaftsanalyse wichtige hervorzuheben: die zwischen “Subjekt”, “Gesellschaft” und “sozialer Struktur”. Ich halte diese Unterscheidung für die Entscheidende in der Analyse der Vermittlung zwischen Macht und den der Macht Unterworfenen. Auf der Nichtbeachtung dieser Unterscheidung beruhen die – psychologischen – Wirkungen der Macht wie der Verdeckung dieser Macht. Wie ist das zu verstehen?

Zunächst können wir davon ausgehen, dass gesellschaftliche Macht, die Macht der Mächtigen, der Herrschenden letztlich auf ihren Möglichkeiten beruht, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der weniger Mächtigen so zu gestalten, dass diese tun, was jene wollen. Die Mittel, die sie dabei benützen, sind vielfältig. Immer aber müssen sie, wie Foucault festgestellt hatte, diese anderen als Subjekt respektieren. Witsch sieht ein wesentliches, ganz generelles Mittel darin, dass Mächtige das, was sie wollen, in Leerbegriffen, wie er sagt (DP3-2.5.2), – ich würde von Allgemeinbegriffen sprechen – beschreiben, so dass sie nicht sagen müssen, was sie für jedes beliebige Subjekt wollen (DP2-3.3.2.2). Damit behaupten sie, wir seien nicht der Macht Unterworfene, sondern selbstbestimmte Subjekte, wir führten unseren eigenen Willen aus und nicht den der Herrschenden. Darin besteht der harte Kern der Ideologie des selbstbestimmten Subjekts, ob des Neoliberalismus oder des alten Liberalismus, spielt dabei keine Rolle. Es ist überdies ein behauptetes Respektieren, das in allererster Linie dargestellt wird und zwar in den dafür eingerichteten Medien, die sich auch so nennen. Sie sind tatsächlich das Medium, das die Macht als Verbindung zu den ihr Unterworfenen einrichtet.

Die Aufgabe, Funktion der Medien ist es, etwas zu behaupten, darzustellen, – und damit Wirklichkeit werden zu lassen, indem es wirklich erscheint, behauptet wird. Diese Wirklichkeit, die die Medien schaffen, ist nicht die Wirklichkeit, wie sie ist, sondern, wie sie uns gezeigt wird, wie wir sie wahrnehmen sollen, für Wahr nehmen: die Figur des Simulacrums (Baudrillard) bzw. der performativen Rede, der Performanz durch Behaupten, es sei so, wie behauptet, indem es behauptet wird (Austin, Searle).

Es gibt aber die andere Wirklichkeit noch: wir spüren ihre Konsequenzen, die Wirkungen ihrer Macht, sie wird uns durch die Darstellung der Medien nur versteckt. Bourdieu hat deshalb für die Arbeit der Medien die Formel Verstecken durch Zeigen geprägt.

Wir aber reagieren auf das, was man uns zeigt, machen uns unsere Gedanken – wenn wir sie nicht direkt den Behauptungen der Medien entnehmen. Auch wenn wir davon ausgehen, dass man uns nicht alles zeigt, bzw. gar das Entscheidende vorenthält, wir haben nichts anderes als das, was man uns bietet, an dem wir uns orientieren, worauf wir reagieren können.

Wenn die Macht die Subjekte als Subjekte ansprechen muss, dann können wir im Sprechen auch das entscheidende Medium der Psychoanalyse erkennen: deren zentrale Stellung ist in diesem Sprechen begründet: Freud hatte bereits Psychoanalyse dadurch definiert, dass zwei miteinander reden. In diesem Reden zwischen Zweien haben wir die Grundstruktur der Beziehung zwischen (zwei) Subjekten. Sie ist durch das Sprechen vermittelt. Eine Beziehung zwischen Zweien könnte auch durch etwas anderes vermittelt sein, durch eine gemeinsame oder arbeitsteilig organisierte Tätigkeit, durch Spiel, Zärtlichkeit, Sexualität. Immer aber ist das Reden, das Sprechen die privilegierte, weil alle anderen Formen sozusagen deutende Vermittlung.

Diese Grundstruktur ist das, was Witsch soziale Struktur nennt und zwar in Abgrenzung zum Begriff der Gesellschaft, die für ihn primär ein Allgemeininteresse in Gestalt von Grundrechten repräsentiert: das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit begründet, das das Recht auf keine Armut und keinen Arbeitszwang einschließt, die jedes beliebige Subjekt unmittelbar einklagbar in Anspruch nehmen können muss, wenn man es denn als gesellschaftliches Wesen begreifen will, und wenn dem Begriff Gesellschaft überhaupt eine Bedeutung in Abgrenzung zum Begriff soziale Struktur zukommen soll.(WIF-SUL)

Die begriffliche Nicht-Unterscheidung zwischen sozialer Struktur, in der Subjekte unmittelbar miteinander verkehren, und Gesellschaft ist das Mittel der Medien, der Herrschaftsvermittlung. Wir sehen diese Nicht-Unterscheidung tagtäglich in gefühlsgeladenen Inszenierungen, in den Medien, wenn politische Entscheidungen, politische Strategien erklärt und zurückgeführt werden auf Beziehungen zwischen Politikern, Personen, auf ihre Fähigkeiten, Stärken und Schwächen, um diese mit den Gefühlen: Hoffnungen und Ängsten der Unterworfenen zu verbinden. Das gelingt, weil das Subjekt den gesellschaftlichen Kontext primär nicht über Grundrechte (die allen Menschen zukommen, und zwar unabhängig wie und was wir ihnen gegenüber fühlen), sondern im fürsorglichen und integren Politiker (Staat) repräsentiert sieht – ein fatales Fühlen, das in den gesellschaftlichen Kontext hineinprojiziert wird, so dass sich dieser auf Gefühle reduziert, bzw. sich im Gefühl aufgelöst sieht. (DP3,138-146,165f) An dieser Stelle zeigt sich die Illusion von einem selbstbestimmten Leben. Die dem zugrundeliegenden Erklärungen verdecken die tatsächlichen Bedingungen und Gründe der Entscheidungen und Prozesse, die Gesetze der Macht und des Marktes, des Kapitalismus, der Mehrwertproduktion, bzw. des Zwanges zu dieser.

Die Charaktere der handelnden Personen sind eher Ausdruck der und Antwort auf die Erfordernisse, innerhalb der kapitalistischen Produktion und Verfasstheit der Lebenszusammenhänge zu handeln, so wie, mit Marx gesprochen, “die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten.”(Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 100).

Die psychologischen Erklärungen dagegen erfüllen allerdings ihren ganz anderen Zweck: sie stellen die als Charaktermasken fungierenden Personen, Politiker, Unternehmer usw. auf unsere Stufe der Erfahrung: der Vergleich der Kanzlerin mit der Mutti oder mit einem strengen oder schwachen, verständnisvollen oder begriffsstutzigen Vater, oder anderen Verwandten ist sprichwörtlich. Wir können (und sollen) darin die Sorgen und Nöte der Familienmitglieder verstehen und damit auch die Härten, die uns treffen, erdulden. Unser Fühlen in die Figuren projizieren, die den gesellschaftlichen Kontext repräsentieren; das schließt die begriffliche Identität von sozialer Struktur und Gesellschaft ein, so dass wir das, was von Oben kommt, hinnehmen, u.a. Folter an einem Kindesentführer oder Terroristen – eben ganz besondere Härten aufgrund ganz besonders böser Taten.

Auf dieser Ebene heißt etwas verstehen tatsächlich es hinnehmen (wenn auch nicht akzeptieren), nichts dagegen unternehmen – und sei es, weil man nichts dagegen unternehmen kann – ohne einen Preis dafür zu zahlen, den man nicht zahlen will. Darin gründet die Psychologisierung der Herrschaftsverhältnisse als entscheidendes Mittel, mit dem die Loyalität der Beherrschten hergestellt wird – weit über die ökonomische Zufriedenstellung der Bevölkerung hinaus, so weit, dass sie ihre Unterdrückung selber wollen. Um es mit Anti-Ödipus zu sagen: sie gehen dafür auf die Straße. Darin liegt zugleich die Bedeutung, die dieser Psychologisierung zugrunde liegende Verleugnung der Differenz zwischen sozialen Strukturen und gesellschaftlichen Verhältnissen heraus gearbeitet zu haben. Diese Differenz bedarf umgekehrt einer Berücksichtigung gesellschaftlicher Verhältnisse in der Psychologie (und Psychotherapie).

Die Diskussion darüber begleitet die Geschichte der Psychoanalyse. Die überwiegende Mehrzahl der Psychoanalytiker sperrt sich dagegen, die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Psychoanalyse zur Kenntnis zu nehmen, überhaupt zu sagen, was man für alle Menschen einer Gesellschaft, auch für Straftäter, will: einklagbare Grundrechte, um überhaupt erst ein Verhältnis des Subjekts zur gesellschaftlichen Realität zu ermöglichen. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse werden als äußere Realität von der inneren als dem eigentlichen Gegenstand der Psychoanalyse abgetrennt.

Wenn aber Psychoanalyse das Sprechen zwischen Zweien ist, dessen Ziel es ist, das Unbewusste ins Sprechen zu bringen (das “volle” Sprechen: Lacan), so kann dieses nur dadurch erreicht werden, indem das (“leere”) Sprechen von allen Fesseln der – gesellschaftlichen – Rücksichtnahmen befreit wird: d.i.: das Unbewusste aus den Fesseln des Diskurses der Macht zu befreien.

Vor fast 40 Jahren hatte Paul Parin diese Forderung wieder erhoben, die gesellschaftliche Realität nicht aus der Psychoanalyse auszuschließen, sondern sie explizit in die psychoanalytische Therapie einzubeziehen, indem Ergebnisse der Gesellschaftstheorie und Kritik in die Deutungsarbeit eingebracht werden: “Gesellschaftskritik im Deutungsprozeß” (Parin 1975). Der Analysand sollte dadurch in die Lage versetzt werden, seine Problematik nicht nur als Resultat seiner individuellen und insofern zufälligen Biographie zu deuten, sondern sie zugleich als Ergebnis einer von bestimmten Machtstrukturen gekennzeichneten Gesellschaft zu verstehen. Dadurch würde sich die Analyse selbst vertiefen.

Inzwischen – Parins Vorschläge sind ohne Nachfolge geblieben – haben wir ein neues Stadium erreicht: nun kommt diese äußere Realität, vor der die Psychoanalyse so gerne ihren Blick abwendet, über sie und entzieht ihr auch noch die bisherigen Bedingungen ihrer Arbeit. Nun geht es nicht mehr – wie noch bei Parin – um die Vollständigkeit bzw. Unvollständigkeit der Analyse, sondern um ihre Arbeitsbedingungen selbst. Es geht nicht mehr nur darum, die gesellschaftliche Realität in der psychotherapeutischen Praxis (im Deutungsprozess) sichtbar werden zu lassen, sondern inzwischen müsste der Analytiker die Bedingungen und Voraussetzungen dieser Praxis selbst verteidigen, also: aus den Grenzen (sic!) seines Settings heraustreten, in die Öffentlichkeit, vor deren grellem Licht ihn bisher die Abstinenz vermeintlich geschützt hatte.

In einem viel beachteten Beitrag “Verstehen nach Schemata und Vorgaben? Die ethischen Grenzen einer Industrialisierung der Psychotherapie” (Psychotherapeutenjournal 2/2011,132-138) stellte Giovanni Maio fest: die gegenwärtige Psychotherapie sei wie viele andere Bereiche unserer Gesellschaft auch dem Diktat der Ökonomie so weit unterworfen, dass darunter ihre ureigene Identität verloren zu gehen droht, nämlich ihre Identität als verstehende Sorge um einen leidenden Menschen. Unter dem Druck der Ökonomisierung gehe der Begegnungscharakter der Psychotherapie verloren, das Singuläre und Unverwechselbare der Begegnung werde ausgeblendet. An die Stelle der Vertrauensbeziehung trete eine Vertragsbeziehung, eine sachliche statt einer persönlichen Beziehung. Der Patient [iS eines Not leidenden Hilfesuchenden] ist stattdessen Konsument geworden, ein anspruchsvoller Verbraucher von Gesundheitsleistungen, ein Kunde. Mit der Ökonomie komme durch die Hintertür die Vorstellung der wissenschaftlichen Machbarkeit hinein, die in den Kategorien der Naturwissenschaft den Menschen als Maschine sehe. Hier spreche man von evidenzbasierter Wissenschaft, von verobjektivierbarer Wirksamkeit, mit der jede Krankheit und Krise steuerbar, planbar, behebbar ist, wenn man das richtige Mittel anwendet (S.135). Daher werde nach einem Schema gesucht, nach einem standardisierten Verfahren, weil sich innerhalb vorgegebener Schemata besser abrechnen lässt, aber nicht nur deshalb, sondern weil die Schemata versprechen, dass man Psychotherapie auch effizienter, schneller, ergiebiger machen kann. Das aber gehe an dem Kern der Psychotherapie vorbei, und dieser Kern sei ja die Beziehung, die Zuwendung, das authentische Verstehen: darin liege das Heilsame der Psychotherapie, und dies könne nicht reduziert werden auf evidenzbasierte Verfahren, auf messbare Parameter (S.136). Die Auswirkungen der Ökonomisierung seien deswegen besonders prekär, weil sie nicht nur den äußeren Rahmen psychotherapeutischer Arbeit diktieren, sondern weil sie zu einem allmählichen inneren Bewusstseinswandel führen, der sich schleichend und kaum merklich vollzieht.

Nun rächt es sich, dass die Psychoanalyse die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zur Kenntnis genommen hat, dass sie die sozialen Probleme nicht in den Blick genommen hat. Eigentlich ist es doch so: die Psychoanalyse hat über Generationen hinweg die Realität vernachlässigt, als äußere Realität aus ihrem Horizont ausgeschlossen. Und jetzt überfällt diese sie hinterrücks. Darauf ist die Psychoanalyse nicht vorbereitet.

Geht es also darum, die Gesellschaftstheorie in die Psychoanalyse hineinzutragen? Machen die Psychoanalytiker das nicht immer schon? Oder geht es nicht vielmehr darum, sich das bewusst zu machen und in die Analyse einzubringen.

Gesellschaftstheorie trägt der Tatsache Rechnung, dass wir gesellschaftliche Wesen sind. Gesellschaftstheorie ist also notwendiger Teil der Selbstreflexion, Selbstvergewisserung, Selbstbestimmung. Sie aus der Psychoanalyse auszuschließen widerspricht dem Anspruch der Psychoanalyse nach Selbstreflexion als Bewusstmachung.

Nicht jede Gesellschaftstheorie fördert die Aufgabe, die Freud dem aufklärerischen Projekt der Psychoanalyse gestellt hat: Zu diesem Punkt gibt es eine klare Aussage von Freud: “Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine Kultur, welche […] es nicht darüber hinaus gebracht hat, daß die Befriedigung einer Anzahl von Teilnehmern die Unterdrückung einer anderen, vielleicht der Mehrzahl, zur Voraussetzung hat, und dies ist bei allen gegenwärtigen Kulturen der Fall”, “weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient.”(Freud 1927: “Die Zukunft einer Illusion”, S. 333).

Eine Gesellschaftstheorie, die diesen Zustand beschönigt, verteidigt oder verleugnet, kann nicht im Sinne des Erfinders der – mit aufklärerischem Auftrag in die Welt geschickten – Psychoanalyse gewesen sein. Freud nennt sie eine Illusion, und formuliert damit die Aufgabe der Psychoanalyse als die Befreiung von dieser Illusion: “Das Ende der Illusion”. Das Ende dieser Illusion wäre erreicht, wenn die Analyse an ihr Ende gekommen ist. Freud hat das Sprechen des Subjekts in der Analyse als den Weg zu diesem Ende gesehen. Der Analytiker: der Begleiter auf diesem Weg, seine Deutung: der Kommentar des Sprechens des Analysanden, wie Bedingung, Förderung, Erleichterung seiner Befreiung, Lockerung der Zwänge der Affirmation, Resignation, der Illusion. Echo der Deutung, die der Analysand seinem Sprechen selbst gegeben hat.

Der Analysand deutet immer und vor jeder Deutung des Analytikers (Laplanche). Seine Deutung begleitet, kommentiert sein Sprechen (und Handeln) bereits selbst. Für gewöhnlich ist diese Deutung des Analysanden in der Illusion befangen. Die Deutung des Analytikers kann eine andere sein, allein indem sie der Illusion den Spiegel vorhält, stärkt sie die Lockerung der Fessel der Illusion.

Was Freud Illusion nannte, hatte Marx der Ideologie zugerechnet. Damit war er einen (oder viele) Schritt(e) über Freud hinaus gegangen: Illusion ist Privatsache, eine persönliche Verrücktheit, wenn vielleicht auch vieler; Ideologie oder der Ideenhimmel, wie Marx auch sagte, ist das, was sich über dem Boden, dem Alltag einer Gesellschaft hält, ihr Spiegel, in dem sie sich sieht, sehen möchte, bzw. in dem die Mitglieder derjenigen Klasse, die über diese Gesellschaft herrschen, möchten, dass die übrigen Mitglieder der Gesellschaft die Gesellschaft sehen.

Diesen Schritt über Freud hinaus ist es, den Parin zu gehen vorschlägt, und der gleichzeitig die Schwierigkeit der Aufklärung und Selbstfreisetzung benennt: der Illusion den Spiegel vorhalten vermag nur, wer sich seiner Gesellschaftstheorie bewusst geworden ist und des Wissens, dass Selbstreflexion und Selbstfreisetzung ohne bewusste gemachte Gesellschaftstheorie nicht möglich ist: Theorie der gesellschaftlichen Emanzipation.

Es ist der Diskurs der Macht, der die Illusion ständig reproduziert; das Denken in seinen Fesseln hält. Die Deutung vermag die Befreiung des Denkens aus den Klauen des Diskurses der Macht zu erleichtern, indem sie als Echo des Sprechens des Analysanden zu dessen Selbstfreisetzung beiträgt, wenn sie aus einer Gesellschaftstheorie heraus formuliert wird, die die gesellschaftlichen Zwänge und Illusionen als solche und als zu überwindende benennt.

Ich habe viel davon bei Franz Witsch in anderer Sprache wieder gefunden. Ich habe seine Schriften gelesen – nicht nur: ich habe mit ihm einen Gedankenaustausch angefangen. Er kann Wertvolles und Wichtiges zu dieser Diskussion beitragen, – wenn ihn denn die Analytiker zur Kenntnis nehmen wollten.

Berlin, Juni 2013

Klaus-Jürgen Bruder

Einleitung: Bemerkungen zum Strukturbegriff

Nach sechs Jahren Arbeit am Projekt Die Politisierung des Bürgers wird vielleicht deutlicher, was es heißt, den Begriff Struktur in einem sozial-ökonomischen Kontext zu verwenden. Einfach ist das nicht. Ein Begriff verwenden und verstehen sind zweierlei (DP2-E2.1), zumal wenn er wie der Strukturbegriff so ungemein vielschichtig verwendbar ist: in unserer derzeitigen Gesellschaftsformation führt er ganz generell die Begriffe Gesellschaft, soziale Struktur und Subjekt unter der begrifflichen Hoheit eines die Kapitalverwertung regulierenden politischen Systems zusammen. Seine Repräsentanten fühlen sich den Regeln der Kapitalverwertung auf der Basis des Mehrwerts verpflichtet, noch ohne dass sie den Begriff der Kapitalverwertung zureichend begreifen.(DP2-1) Für sie ist Kapitalverwertung nur Geldvermehrung, ohne sich differenzierter um das zu bekümmern, was zuvor dafür in der Produktion passiert mit welchen Auswirkungen auf soziale Strukturen. Um so hartnäckiger können sie sich jenen Regeln der Kapitalverwertung verpflichtet fühlen, koste es, was es wolle: bis wieder einmal, wie im ersten und zweiten Weltkrieg idealtypisch exekutiert, gewaltsame Lösungen zu befürchten sind – moralisch begründet: gegen den Terrorismus, versteht sich, bevor sich die sozialen und politischen Konflikte ausschließlich als durch den Mehrwertzwang, mithin ökonomisch verursacht zu erkennen geben können. Die meisten Bürger glauben – rechtspopulistisch orientiert – die heutige Wirtschafts- und Finanzkrise in der Tat moralisch verursacht, sei es durch faule Griechen, weil sie auf Kosten fleißiger Deutscher über ihre Verhältnisse leben wollen.(DP2,11f) Jedenfalls verdichten sich die Zeichen, dass jene Repräsentanten des politischen und ökonomischen Systems es einmal mehr bewusst darauf ankommen lassen, dass die ökonomisch verursachten sozialen Konflikte am Ende in pure Gewalt münden – wie schon einmal vor dem zweiten Weltkrieg.(JEK-TLI;GEU-EZB)

Aber auch unter der moralisch motivierten Definitionshoheit eines möglichen nachkapitalistischen Wirtschaftssystems (DP2-E3) sind die Begriffe Gesellschaft, soziale Struktur und Subjekt sinnvoll nur gemeinsam verwendbar. So kann von den Gefühlen des Subjekts, seinem Innenleben, sinnvoll nur im Kontext sozialer Strukturen gesprochen werden (WIF-SUL), in die das Subjekt emotional involviert ist: es ist denk- und analysierbar im Kontext jener Strukturen, in die es seine Gefühle projiziert; durch seine Fähigkeit zu lieben; das geht zuweilen schief (DP3,9f): Gefühle – v.a. negative – zu verhandeln bedeutet, das zu verhandeln, worauf sie extern verweisen: soziale Strukturen; nur in diesem Sinne kommt Gefühlen strukturbildende Gestaltungskraft zu.(1) Wie gesagt, sofern die Teilnehmer in der Lage sind, negative Gefühle zu verhandeln. Soziale Strukturen sind allerdings gehalten, sich in Abhängigkeit zu einem übergeordneten, resp. überfamiliären sozialen Kontext zu entwickeln; dieser ist in Gestalt eines Allgemeininteresses in jene sozialen Strukturen mit ihren je besonderen Interessen als etwas, das ihnen fremd, eingelassen.(DP2,11,21-33) Gefühle sind auf diese Weise strukturell, mithin systematisch defizitär (DP3-1.7.2), in den sozialen Kontext eingelassen. Für sich allein genommen, ohne Gefühlsschwankungen, die sprachgestützt in zu verhandelnde Gegenstände projiziert werden können, sind Gefühle und mit ihnen, das Subjekt, nicht existent.(DPB,KT)

Etwas anders formuliert (DPB,20) ist der Subjektbegriff sinnvoll nur als Abstraktion verwendbar. Das Subjekt eine Abstraktion? In der Tat: in jedem Augenblick seiner Existenz schleppt es im Schweiße seines Angesichts, wie das AT so schön sagt, den gesellschaftlichen Kontext in sich und mit sich herum. (4.1) Das, was für Kant die Stimme der inneren Vernunft (KI) war, ist heute der gesellschaftliche Kontext im Sinne einer das Subjekt sozialisierenden Entität. Diese darf nicht nur als Konkretikon: wie eine soziale oder familiäre Struktur, beschrieben werden, so als sei die Gesamtheit aller sozialen Strukturen, die Gesellschaft, eine große Familie.(WIF-SUL) So sieht es die soziale Theorie – uneingestanden: ihre Repräsentanten glauben durchaus nicht, dass die Gesellschaft eine große Familie sei, freilich ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, dass ein sozialverträglicher gesellschaftliche Kontext heute ein Allgemeininteresse repräsentieren muss, das seine Teilnehmer in erster Linie nicht über körperlich beschreibbare Eigenschaften, sondern definitiv – rein gedanklich – verbindet, wiewohl die soziale Theorie immer wieder – dem Rechtspopulismus in die Hände spielend – versucht ist, Verbindungen über körperlich beschreibbare Eigenschaften wie Volk, Rasse, Kultur, etc. zu begründen. Das wird sozialverträglich nicht möglich sein, zumal ein ganz anderes, nämlich ökonomisch motiviertes Allgemeininteresse sein Unwesen in den sozialen Strukturen treibt (4.2), diese in ihre Einzelteile zerlegt, das Subjekt atomisierend, so dass ein moralisch motiviertes Allgemeininteresse ohnehin keine Chance hat, sich auf Dauer durchzusetzen. Die wenigsten sehen, dass in letzter Instanz sich soziale Strukturen mit ihren je besonderen Interessen definitiv – rein gedanklich – bemessen lassen müssen an einem Allgemeininteresse, das, moralisch motiviert, jenen moralisch motivierten besonderen Interessen übergeordnet ist; Strukturrepräsentanten lassen sich gewöhnlich dazu hinreißen, ihr jeweils singuläres Interesse, etwa das einer politischen Partei, in eins zu setzen mit dem Allgemeininteresse – zum Leidwesen des Bürgers, der auf diese Weise ausgegrenzt wird, ohne zu begreifen, aufgrund welcher tieferen Ursachen; er begreift nicht, dass ein Allgemeininteresse nicht mehr ethisch, z.B. christlich oder muslimisch, motiviert sein kann; auch kann es nicht mehr überzeugend aus einem historisch oder biologisch begreifbaren Ursprung heraus begründet werden, so in der Art: im Anfang war die Norm.(3.0;3.1) Oder etwas einfacher gestrickt: wir alle sind humanistisch geprägt und sitzen alle in einem Boot. Von wegen! Deshalb müssen wir wollen, dass es ein alle Subjekte verbindendes Allgemeininteresse in Gestalt von Grundrechten gibt, die auch für den Straftäter einklagbar gelten müssen.(DPB,22f,33-38;WIF-SUL) Nur so ist gewährleistet, dass das Allgemeininteresse, wiewohl abstrakt das Ganze repräsentierend, zugleich auf einen Gegenstand zeigt, der unabhängig von jeglicher ethischen oder religiösen Zugehörigkeit, sozusagen vollkommen areligiös, für ein beliebiges Subjekt von konkret-praktischer Bedeutung ist; dafür muss das Allgemeininteresse einklagbar sein; andernfalls existierte es nur in der Vorstellung; bzw. es zeigte für das Subjekt nur deshalb auf einen Gegenstand, weil es, der deutschen Sprache mächtig, das Wort Allgemeininteresse versteht.(DP2-2.1) Das Wort existierte zwar in der Vorstellung, ohne dass diese sich allerdings motiviert fühlte, sich an etwas bemessen zu lassen, das außerhalb der Vorstellung angesiedelt ist – wie gesagt: in letzter Instanz in Gestalt unmittelbar einklagbarer Grundrechte. Gelten sie nicht absolut, können sie nicht als Maß für alle soziale Strukturen: jedes beliebige Subjekt, gelten; absolut bedeutet, sie sind nur tautologisch begründbar: sie gelten, weil (wir wollen, dass) sie gelten.(DP3,132) Wiewohl die Notwendigkeit ihrer Existenz begründbar ist. Man kann sagen, sie existieren definitiv, rein gedanklich, logisch, leerbegrifflich, wiewohl sie – weil einklagbar – dennoch auf einen Gegenstand zeigen, eingelassen sind in soziale Strukturen mit ihren je besonderen Interessen, damit diese sich an etwas bemessen, das, weil absolut gültig, sich nicht ändert, wenn die sozialen Strukturen, in die es eingelassen ist, sich ändern, so dass es sich auf natürliche Weise aus dem Körper jener sozialen Strukturen heraus nicht versteht, mithin ihnen fremd bleibt, bzw. sich auf natürliche Weise in ihnen nicht zu halten vermag.(DP3,166) Deshalb muss es den sozialen Strukturen immer wieder – als ewige (Erziehungs-)Aufgabe – auferlegt werden, strukturbildend (DP3-1.7.3), nicht zuletzt, um zu verhindern, dass soziale Strukturen hinter dem Rücken der Teilnehmer einer Gesellschaft ihr singuläres Interesse kurzschlüssig in eins setzen mit dem Allgemeininteresse, das jene Gesellschaft repräsentieren soll. Wäre das Allgemeininteresse mit dem singulären Interesse einer beliebigen sozialen Struktur identisch, kann von einem Allgemeininteresse nicht mehr ernsthaft die Rede sein, unbenommen davon, dass wir es als Wort beständig benutzen und meinen, es zu verstehen, es also in unserem Geist herumspukt, allerdings ohne praktische Bedeutung. Wir benutzen das Wort, ohne den Gegenstand, auf den das Wort zeigt, zu begreifen, weil wir glauben, diesem Wort komme auf natürliche Weise und nicht, weil wir es definitiv (gedanklich) wollen, ein Gegenstand zu.(3.3) Deshalb leben wir, streng genommen, ohne gesellschaftlichen Kontext, oder doch nur mit einem solchen, auf den ein beliebiges Subjekt sich praktisch nicht beziehen kann. Es existiert als atomisiertes Wesen ohne Bezug zu etwas, das alle Welt Gesellschaft nennt, ohne zu wissen, was das ist: eine Gesellschaft.

Existiert nun jenes Allgemeininteresse, das die Gesellschaft als solche definiert, nicht zureichend oder, ohne praktische Bedeutung für ein beliebiges Subjekt, nur kurzschlüssig als singuläres Interesse einer sozialen Struktur, fällt der gesellschaftliche Kontext früher oder später auseinander – zunehmend und immer wieder gewalttätig bis hin zu militärischen In- und Auslandseinsätzen. Im Vorfeld zu einem Krieg, wie er jetzt gerade in Syrien tobt, gibt es Polizeieinsätze, zur Zeit äußerst brutal in der Türkei gegen Bürger, weil sie mit dem autoritären Regime von Ministerpräsident Tayyip Erdogan nicht einverstanden sind. Aber auch in Deutschland gibt es brutale Polizeieinsätze, etwa gegen S21 oder in Frankfurt, als Blockupy gegen die Finanz-und Wirtschaftskrise protestierte.(GEU-EZB;OSK-BPY) In Deutschland mögen noch keine Todesopfer zu beklagen sein; doch wer will wissen, wie unsere politische Elite reagiert, wenn sich auch bei uns die sozialen Konflikte zuspitzen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Politik immer weniger geneigt ist, die anschwellenden sozial-ökonomischen Probleme mit Bürgern zu verhandeln, um sie stattdessen gegen sie mit Polizeieinsätzen zu lösen.(JEK-TLI)

Sozialverträgliche Lösungen setzen ganz generell voraus, dass die Menschen einer Gesellschaft wissen, dass das eigene Interesse mit dem Allgemeininteresse der Gesellschaft grundsätzlich nicht zusammenfällt, aber dieses Allgemeininteresse – keine Folter für Kindesentführer – dennoch als absolut verbindlich anerkennen. Damit ist die überwiegende Mehrheit der Bürger, ich würde sagen: viel zu viele Bürger, überfordert, ich fürchte einschließlich der Bürger, die für eine friedliche Lösung der Probleme plädieren. Einfach nur plädieren, wie es führende Repräsentanten aller im Bundestag vertretenden Parteien, einschließlich der PDL, machen, reicht nicht aus. Es müssen deutliche Worte fallen, etwa gegen Obamas Todeslisten. Mit ihnen werden Menschen systematisch gejagt, mit unbemannten Drohnen ermordet, weil sie nach CIA-Kriterien als Terroristen gelten.(JEK-TLI) Diese Kriterien müssen aus Sicherheitsgründen geheim bleiben. Das ist Lynch-Justiz. Dazu hört man von unseren Politikern nicht ein Wort. Damit machen sie sich mitschuldig: Politiker wie Merkel, Steinbrück, Westerwelle, Claudia Roth. Von der PDL hört man auch nicht viel; die haben alle Angst, ihre Regierungsfähigkeit einzubüßen.

Mittlerweile wirkt die Öffentlichkeit wie paralysiert; es gibt nicht einen Kulturschaffenden, der ein deutlicheres Wort wagte, so dass das, was sie sonst noch zu sagen haben, immer weniger interessiert, z.B. die Plauderei in Talkshows wie 3nach9 oder die Tränen von SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück, die er aus Verzweiflung vergießt, weil er sonst nichts zu sagen hat, was beim Wähler ankommt. So seht doch, ich bin einer mit wunderbaren Gefühlen wie ihr, ein guter Mensch, den man ruhigen Gewissens wählen kann. Das wirkt auf die Gemüter, wenn auch begrenzt, immer noch wie schon die Blumen, die Hitler sich von jungen Mädchen reichen ließ. Um sich greifende Rührseligkeiten (DPB-6.1) – Obama weinte auch schon mal vor Anhängern – sind vermutlich ein Zeichen dafür, dass wir mittendrin sind in einer Gesellschaft, wie es sie zuvor – dem Augenschein nach – nicht gegeben hat, – wohlgemerkt dem Augenschein nach, denn Gewalt hat es immer gegeben, auch dem Augenschein nach etwa in Ländern wie China, weiten Teilen Afrikas, Russland etc.; Brasilianer gehen allerdings gerade sehr beindruckend zu Hunderttausenden gegen ihre eigene Fußballweltmeisterschaft auf die Straße, weil sie diese – ohne ihren Augenschein gar zu sehr bemühen zu müssen – als Teil einer gegen sie gerichteten strukturellen Gewalt empfinden. Diese klopft immer vernehmlicher auch an die Tür eines leider immer noch allzu schlafmützigen deutschen Bürgers, so dass es ihm immer schwerer fällt zu verdrängen, dass wir es generell, über Ländergrenzen hinweg, mit Strukturen der Gewalt zu tun haben.

Allerdings verdrängt der Deutsche zuweilen, so scheint es, umso hartnäckiger – krankhaft, krankmachend, ja gemeingefährlich –, je mehr sich der Augenschein aufdrängt, gerade auch Menschen, die es besser wissen müssten, verdrängen unter der Definitionshoheit der Tatsache. Als Uli Gellermann sich in einem Aufsatz über die brutalen Polizei-Einsätze in Frankfurt gegen demonstrierende Bürger der Blockupy-Bewegung aufregte und sie in einem Atemzug mit den brutalen Polizei-Einsätzen in der Türkei interpretierte (GEU-EZB), regte sich feinsinniger Widerspruch. Ein Leser reagierte wie folgt:

“Der Artikel ist polemisch und unnötig und verstellt völlig den Blick dafür, dass die türkische Polizei tatsächlich wesentlich brutaler vorgeht, als die deutsche. Ich war gerade dort, habe es selbst gesehen. Leute werden halbtot geschlagen, mit Stiefeltritten ins Gesicht, wahllose Schläge mit Stöcken in die Weichteile und Tränengasbeschuss aus kürzester Distanz. Dem Wasser in den Wasserwerfern wird Tränengas beigemischt. Die Notaufnahmen der Krankenhäuser sind überfüllt mit Leuten, die von der Polizei aufs Übelste zugerichtet wurden. Die Zustände Deutschland/Türkei sind tatsächlich nicht zu vergleichen. Und der oder die Autorin des Beitrages hat offensichtlich in keiner Weise irgendetwas recherchiert.”

Die Reaktion ist vornehmlich an Tatsachen orientiert – ohne analytische Substanz. Der Weltverlust, wie Hannah Arendt vielleicht sagen würde, ist erschreckend.(DP3,7-10) Die Antwort erweckt den Eindruck, als hätten wir hier in Deutschland mit der Gewalt in anderen Ländern nichts zu tun, als wären Gewalteinsätze anders motiviert als in anderen Ländern, als würden sie sich hier nicht so zuspitzen können wie in der Türkei oder in Syrien. Auch beruhigt es keineswegs, dass es bei uns noch keine Toten gibt.(HIT-TUE)

Die Reaktion sieht den Gesamtzusammenhang nicht, weil sie sich an der Tatsache, am Tatsächlichen, an dem orientiert, was ist. Sie gefällt sich in einer Analyse ohne zureichenden Strukturbegriff. Ohne den können wir z.B. nicht zureichend ermessen, auf welche Weise wir die sozial-ökonomischen Probleme beständig in andere Länder exportieren, um sie hierzulande besser zu verdrängen.(DP2-E1,-E3) Wir verdrängen, dass es strukturelle Gewalt gegen Menschen gibt, d.h. eine Gewalt, die in der bösen Tat nicht aufgeht, bzw. sich dem Augenschein nicht ohne weiteres aufdrängt und deshalb einer Analyse von Substanz, orientiert an Strukturen, bedarf.

Die böse Tat als solche sagt uns nichts über eine Gewalt, die wir, wie die obige Reaktion, durch unsere Lebens-, Denk-, Schreib- und Sprechweise gegen andere, aber auch uns selbst richten, etwa indem wir, wie weiter oben ausgeführt, soziale Strukturen, in die wir involviert sind, verhandeln, ohne sie und unsere Verhandlungsbemühungen in letzter Instanz an einem Allgemeininteresse zu bemessen, das nur dann zureichend genannt werden darf, wenn es auf ein Soll verweist, auf etwas, das nicht ist und daher mit den tatsächlichen singulären Interessen einer sozialen Struktur nicht zusammenfällt, um sich ggf. zu ändern, wenn sich das singuläre Interessen zusammen mit der sozialen Struktur ändert. Dann würde das Allgemeininteresse nicht mehr absolut gelten; einen festen Orientierungspunkt, an dem sich singuläre Interessen bemessen könnten, nicht zuletzt im Hinblick darauf, was sein soll, könnte es dann nicht geben.

Auf den Punkt formuliert zeugen diese Ausführungen von einer Strukturabhängigkeit sprachgestützter Bemühungen, soziale Strukturen zu verhandeln, wenn auch in einem sehr abstrakten Sinne; sie bedeuten, dass wir uns Gedanken machen müssen über die Voraussetzungen, soziale Strukturen sozialverträglich zu verhandeln, was nicht heißt, dass wir es dann schon können. Aber ohne jene Voraussetzungen zu benennen und zu realisieren, wird es uns niemals zureichend gelingen.

Gelingende Verhandlungsbemühungen setzen voraus, dass uns die einzelne böse Tat als solche nur als Ausgangspunkt kühler Analyse interessiert; diese muss aufklären, auf welche Weise wir selbst in böse Taten involviert sind, obwohl wir sie ablehnen, ja sogar auf der Straße gegen sie protestieren. Analysieren wir Strukturen, die böse Taten erst hervorbringen, können wir, die wir Teil jener Strukturen sind, nicht mehr so tun, als wären wir nicht involviert in jene bösen Taten. Darauf, vollkommen unschuldig zu sein, legt die obige Reaktion allerdings den Akzent, vornehmlich indem sie die Tatsache verheiligt und damit die eigene Existenz beschönigt – vergleichbar in der Art wie die Bürger der NS-Zeit den Antisemitismus im Vorfeld der Judenvernichtung beschönigt haben: irgendetwas würde schon dran sein, dass man Juden seit Jahrtausenden schlecht behandelt, gar totschlägt. Die überwiegende Mehrheit derjenigen, die es gut meinen, denkt heute, methodisch (nicht von den Tatsachen her) gesehen, nicht anders. Sie meinen es nur gut; auch die obige Reaktion; ihr Autor ist für Argumente von analytischer Substanz nicht erreichbar; wenn’s hoch kommt, erst, nachdem das Kind im Brunnen ist – Menschen tatsächlich totgeschlagen werden.

Um auf die eingangs formulierte Strukturproblematik zurückzukommen – der Autor der Reaktion hat Probleme, die begrifflichen Elemente des Strukturbegriffs als da sind:

die einzelne Tat(sache),

das Subjekt: das Innenleben (Gefühl der Tat gegenüber),

die soziale Struktur: den intersubjektiven Objektbezug des Gefühls,

das Allgemeininteresse und wie es sich abstrakt und konkret, von praktischer Bedeutung fürs Subjekt, konstituiert,

je für sich zu betrachten, um dann jene Elemente zum Begriff der Struktur zusammen zu führen, sie beständig mitzudenken, für sich genommen im Auge zu behalten, wenn der Strukturbegriff ins Spiel kommt. Diese Unfähigkeit kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, wie Menschen Gefühle, bzw. das, worauf sie im alltäglichen Nahbereich verweisen, verhandeln. Sie sind kaum, v.a. nicht nachhaltig, in der Lage, negative Gefühle als Ressourcen der Verständigung zu begreifen.(1) Diese Unfähigkeit möchte ich in Texten von Detel, insbesondere seinem Lebenswerk Geist und Verstehen (2;3), und im Anschluss daran bei Habermas freilegen (4.3;4.4) – dies im Kontext auf eine zu hinterfragende Lesart des Strukturbegriffs, man kann auch sagen: der Innen-Außen-Beziehung, die das Gefühl einbezieht. Wenn wir hier, in DP4, von Gefühlen in einer Weise sprechen, hypostasierend, als würden sie etwas tun, dann meinen wir, wie in DP3 im Detail behandelt, den Weg, den das Gefühl zu seinem Gegenstand zurücklegt im Kontext eines inneren Vorgangs und damit einer spezifizierbaren sozialen oder a-so-zialen Aktivität des Subjekts; so unsere Lesart des Strukturbegriffs.

Wir denken nicht, dass es bei einer natürlichen, sozusagen vorsprachlichen Lesart bleiben sollte. Eine solche ist allerdings in der Sozialtheorie weit verbreitet, so als müssten wir, wenn wir den Begriff Struktur verwenden, diesen gar nicht hinterfragen, als würde seine Bedeutung klar auf der Hand liegen, so dass er sich, mit Habermas gesagt, hinter dem Rücken teilnehmender Subjekte als unproblematisches Hintergrundwissen in ihre sprachgestützten interaktiven Verständigungsbemühungen eingelassen sieht.(DP2,165) Obwohl sie in einem sozialen Kontext stattfinden, der zusammen mit dem Innenleben der Interaktions-Teilnehmer in Bewegung geraten ist.(DP3-1.7.3) Insofern kommt der Strukturbegriff nicht umhin, sich den Subjekten als problematisch und fragwürdig zu zeigen, mit ihm die Bedeutungsgehalte der Worte, die wir bei unseren Verständigungsbemühungen verwenden. Worte existieren keineswegs unproblematisch in ihrer Bedeutung, wenn wir nicht wollen, dass das Subjekt sein Leben aushaucht (DP3-2.6.1), als würde das Subjekt für die Bedeutung der Worte – als ihr Anhängsel – existieren, anstatt dass die Worte für das Subjekt als Werkzeug existierten, um ihnen wie dem durch sie belebten sozialen Kontext wirkliche und nicht nur eingebildete Bedeutung zu verleihen, eingebildet dann, wenn dem Sprechen, mithin dem sprachgestützten sozialen Kontext eine unumstößliche festgefügte Bedeutung zugeschrieben würde.(DP3,118ff) Eben weil soziale Strukturen immer mehr in Bewegung geraten und daher durch das, was in ihnen an Bedeutungen generiert wird, immer wieder strukturbildend wie strukturstabilisierend neu belebt oder generiert werden muss, wie gesagt, weil es Bedeutungen auf natürliche Weise – hinter dem Rücken der Bürger – nur sehr eingeschränkt gibt, sie sich mit ihren Strukturen entweder einem sozialverträglichen Wandel öffnen oder aber immer wieder gewalttätigen Zerstörungen anheimfallen.

Es wird natürlich immer ein Wissen geben, das als Hintergrundwissen hinter dem Rücken der Menschen in ihre Verständigungsbemühungen einfließt, das wir nicht in jeder Sekunde unserer Verständigungsbemühungen immerzu mitreflektieren können; das würde unsere Verständigung zeitraubend aufblähen, geradezu verunmöglichen; jenes mehr oder weniger bewusste Wissen muss freilich der Analyse jederzeit zugänglich gemacht werden können. Genau damit kommen Strukturrepräsentanten nicht zurecht, etwa wenn sie sich in ihren Gefühlen, ihrer Ehre, verletzt fühlen, wenn Bedeutungen und damit sie selbst – sprich: ihre Legitimitätsbasis, Strukturen uneingeschränkt zu repräsentieren – ins Wanken geraten, weil plötzlich ein Wissen über sie selbst ins Spiel kommt, von dem sie zuvor nicht einmal geträumt oder vielleicht immer nur geträumt haben; für dieses ungebetene, ihre Gefühle oder Ehre verletzendes Wissen machen sie Bürger verantwortlich, die für ihre Rechte auf die Straße gehen. Sie sind unfähig, mit Menschen, die sie für Bedeutungsverluste, den Verlust ihrer Ehre, die Verletzung ihrer Gefühle, verantwortlich machen, auf Augenhöhe sich auseinander zu setzen.(1.4.2) So wie es der junge Albaner nicht vermag und sich deshalb in kriminelle Aktivitäten verstricken lässt.(S.51) Eine Kommunikation findet nicht mehr statt, wie gerade jetzt in der Türkei, wo Bürger gegen das autoritäre Regime des türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan protestieren. Dieser fühlt sich in seiner Ehre verletzt und glaubt, wie der junge Albaner, sie mit Gewalt verteidigen zu müssen, und das nur, weil Bürger mit ihm kommunizieren, ernst genommen werden wollen, ein Ansinnen, für das Erdogan glaubt, sie bestrafen zu müssen. Er denkt wohl, dass es unter seiner Würde sei zu argumentieren, sich auseinander zu setzen. Er müsste etwas von sich preisgeben; sich öffnen, einen Zugang freilegen zum Verständnis seiner Person, zu seinem Innenleben. Dann würde sich herausstellen, dass und auf welche Weise das gesellschaftliche Allgemeininteresse sich auf (seine) Gefühle reduziert sehe.(DP3-2.4) Also verweigert er die Kommunikation und reagiert stattdessen mit nackter Gewalt gegen Bürger, die zu seinem Innenleben einen sprachgestützten Zugang suchen.

Dasselbe gilt für US-Präsident Obama, wenn er sich, anstatt zu kommunizieren, als Weltpolizist aufspielt, schlimmer: Todeslisten aufstellt für alles und jeden, den der US-Geheimdienst als Terrorist einstuft, dies nach Kriterien, die im Interesse öffentlicher Sicherheit nicht offengelegt werden dürfen.(JEK-TLI) Wir müssen uns entscheiden: wollen wir Todeslisten oder Kommunikation. Wollen wir keine Todeslisten, keine Polizeigewalt auf der Straße, keine militärischen Einsätze im Inneren, keine Kriege gegen andere Länder, müssen wir allerdings in der Lage sein, mit Verletzungen, resp. negativen Gefühlen umzugehen; wir müssen sie kommunizieren, sprich: ihren Objektbezug verhandeln: das, worauf sie verweisen, nicht zuletzt um die politische Elite massiv unter Druck zu setzen mit ihrer gemeingefährlichen kommunikativen Verweigerungshaltung.

Kommunikative Fähigkeiten dünnen allerdings immer mehr aus in einer Zeit, in der ökonomische Spielräume für immer mehr Menschen immer enger werden aufgrund mangelnder Mehrwertproduktion, bzw. einer wachsenden Unfähigkeit der Bürger, Mehrwert zu erzeugen.(DP2-E3,-4) Nun sind ausgerechnet unsere Eliten in Wirtschaft, Politik und Kultur immer weniger in der Lage, negative Gefühle oder Verletzungen zu verhandeln, so wie das kürzlich in vergleichbarer Weise Peter Sloterdijk in einem 3Sat-Kulturzeit-Interview der Gefühls-Diva Henryk Broder ins Stammbuch schrieb. Insbesondere Politiker fühlen sich, gleichwohl sie miteinander nicht gerade zimperlich umgehen, schnell verletzt, wenn Bürger gegen sie demonstrieren; sie erwarten ganz offensichtlich, dass wir – gewöhnliche Menschen – sie unentwegt behuldigen; wenn nicht, reagieren sie mit Polizeieinsätzen und Krieg.

Es gibt aber auch das Bedürfnis normaler Bürger, Menschen auf einen Sockel zu heben, um sie, z.B. Sahra Wagenknecht, zu behuldigen. Viele Menschen, die es gut meinen, verehren sie und reagieren – ohne zu argumentieren – aggressiv, wenn man sie kritisiert, etwa ihr gutes, mithin rechtspopulistisch gefärbtes Verhältnis zum Ordoliberalismus in ihrem Buch Freiheit statt Kapitalismus. Es ist aber auch blanker Unsinn, wenn sie in einem Interview sagt, “eine Entflechtung der Konzerne, wie sie auch die alten Ordoliberalen immer gefordert haben, und mehr Belegschaftseigentum würde vieles an Erpressung aus dem System rausnehmen. Dann könnte auch Demokratie wieder leben.”(CMO-SWA) Mein Gott, mehr Unternehmensanteile in den Händen der Belegschaften führen gerade nicht zu mehr Demokratie, versöhnen Arbeitnehmer aber auf perfide Weise mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem.(DP2,74;DPB,112-118)

Kann man Menschen mit Argumenten nicht erreichen, weil sie, wie z.B. Wagenknecht, mitregieren wollen und deshalb die Systemfrage ignorieren oder ihre Anhänger einfach nur aggressiv reagieren, wenn man auf analytische Defizite aufmerksam macht, ist es allerdings um die Gestaltungskraft der Gefühle im Hinblick auf soziale Strukturen geschehen (1), zumal wenn negative Gefühle nicht verhandelt werden; dies in einer Zeit, in der soziale Strukturen auf fraglose Weise, sozusagen wie von selbst, etwa über den Glauben an Gott oder, im Westentaschenformat, an Frau Wagenknecht, nicht mehr erzeugt werden können.

Die Unfähigkeit, negative Gefühle zu verhandeln, verweist indes auf innere Defizite, die, wie zur Zeit in der Türkei, tödliche Folgen haben können. Man kann sie in kleinerer Münze aus wissenschaftlichen Texten oder, viel offensichtlicher, aus politischen Diskussionssendungen, Zeitungsartikeln, Filmen, Romanen, etc. herauslesen. All diese Kulturprodukte erzählen uns etwas über das Innenleben ihrer Autoren, von Diskussionsteilnehmern, einzelnen Film- und Romanfiguren, kurz, über ein Innenleben, das zusammen mit dem, was von ihm mehr oder weniger sozialverträglich – heute immer asozialer – abgesondert wird, analysiert werden kann, um den Anteil des Einzelnen an der Gewalt im Kontext sozial-ökonomischer Strukturen zu ermessen. Dabei dürfen wir nicht unterschlagen, dass es die außersubjektiven Strukturen sind, primär die ökonomischen Imperative der Kapitalverwertung auf der Grundlage von Mehrwertproduktion, welche die Entwicklung des Innenlebens immer massiver begrenzen – bis wieder einmal alles in Schutt und Asche fällt, ein brutaler Akt, der, um stattfinden zu können, dennoch unter tatkräftiger Beihilfe jedes Einzelnen exekutiert werden muss. Diesen von unverhandelbaren Gefühlen kontaminierten Exekutionsvorgang gilt es im Inneren freizulegen: auf dem Weg des Gefühls zu seinem (moralisch motivierten) Gegenstand: Menschen neigen dazu, wenn negative Gefühle sich aufdrängen, anstatt diese, mithin den Gegenstand, auf den sie verweisen, zu verhandeln, sich an Brutalitäten zu beteiligen, und sei es nur, indem sie dem Brutalen (passiv) zustimmen, sei es – absurd aber wahr –, weil sie sich gutmeinend in den gesellschaftlichen Kontext einbringen, mithin nicht tatenlos zusehen wollen, wie ohne ihre (passive) Zustimmung alles in Schutt und Asche fällt oder gemordet wird. Die Menschen halten sich im Nachhinein gar – wie Massenmörder Eichmann – für unschuldig am Grauen (DP3,9), das uns heute irgendwann wieder ereilen könnte; sie merken nicht, auf welche destruktive Weise sie beteiligt sind im Sinne einer notwendigen Voraussetzung für das Grauen, damit die politische und ökonomische Elite im öffentlichen Raum ihr grausames Spiel treiben kann.

Hier schließt sich der Kreis: den Strukturbegriff verstehen wir in seiner ganzen Tragweite erst, wenn alles auf den Tisch kommt, wenn wir das Innenleben: die Gefühle der Bürger und wie sie mit ihnen umgehen, einbeziehen, mithin das Defizitäre (DP3-1.7.2) im einzelnen Subjekt mit dem gesellschaftlich Defizitären verbinden können.(4.5) Wobei das Defizitäre in unserer Gesellschaft immer asozialere Ausmaße annimmt. Asozial sind Menschen, die öffentliche Macht ausüben: der Politiker, der Wissenschaftler oder Kulturschaffende, schon wenn sie, Die Linke eingeschlossen, keine deutlichen Worte finden gerade jetzt gegen Obamas Todeslisten. Das nennen nicht wenige Beihilfe zum Mord. Es betrübt doch sehr, dass man aus dem Munde von Habermas gegen die US-Todeslisten, die es schon jahrelang gibt, bislang keine deutlichen Worte vernimmt. Das überlässt er parasitär anderen mit weit weniger öffentlichem Einfluss.(JEK-TLI) Dann kann er umso ungestörter über die Notwendigkeit der europäische Einheit philosophieren (DP3, 147f,171f), über eine Freiheit, die im Rahmen der EU immer unumkehrbarer ausdünnt, für die Menschen ohne jede öffentliche Macht, vor allem in ärmeren Ländern unter Einsatz ihres Lebens, demonstrieren – damit unsere Feuilletonisten hier etwas zum dampfplaudern haben.

Hamburg, Juni 2013

Franz Witsch

1. Die Gestaltungskraft der Gefühle

1.1 Der Gefühlsjunkie oder von der Reinheit der Gefühle

Gefühle spielen immer mit, auch bei Kant (DP3,11-22,178-191); wie sollten sie nicht? Sie spielen freilich in Abgrenzung zu Kant nicht nur eine die Erkenntnis und das Wissen begrenzende, also negative Rolle, sondern sie können, so möchte ich behaupten, eine aktive und positive Rolle spielen im Hinblick auf das soziale (Ge-)Wissen: die Moral, resp. die Wahrheitsfähigkeit im intersubjektiven Kontext; man könnte sagen: menschliche Beziehungen sind wahrheitsfähig, wobei das bei der Wahrheitsfindung anfallende soziale Wissen, die Ethik, immer wieder der überprüfenden Erneuerung bedarf. Im Zentrum steht die Frage: lebe ich (noch) richtig, das heißt sozialverträglich mit anderen zusammen? Wer diese Frage nicht stellt, lebt, er mag es wahr haben wollen oder nicht, im Interesse der jeweiligen Macht, zu der er autoritätshörig aufschaut, im Huldigungswahn, der er das Unvermeidliche und Alternativlose von den Lippen abliest, anstatt mit anderen Menschen eigene Strukturen zu generieren oder neu zu beleben.(DP3,87f,98ff,154) Eigene Strukturen zu generieren setzt voraus, dass der Einzelne in der Lage ist zu ermessen, dass er, wenn er einen sozialen oder ökonomischen Sachverhalt diskutiert, die Beziehungsebene zu keinem Zeitpunkt verlässt und erst im Wissen darum in der Lage ist, mit den Teilnehmern einer sozialen Struktur auf Augenhöhe zu kommunizieren, ohne zu hypostasieren oder krankhaft zu projizieren, wie Der Fall Arnulf Baring zu illustrieren vermag.(DP3-2.4)

Weder zu hypostasieren noch krankhaft zu projizieren würde freilich, was den Umgang mit eigenen und fremden Gefühlen betrifft, einiges von den Teilnehmern einer Diskursgemeinschaft abverlangen: die Entwicklung einer bestimmten Geisteshaltung, bzw. mentalen Disposition; man kann es gar nicht oft genug betonen: Lernen (fürs Leben) muss bis ins hohe Alter zuallererst von Innen heraus entwickelt werden können (DPB,26ff), um auf Augenhöhe zu erfolgen, anstatt von Außen appliziert zu werden; anders wäre der Gegenstand des Lernens immer nur gezwungenermaßen einer Überprüfung zugänglich, im Kontext krankhaften Projizierens, mithin autoritätshöriger Strukturen, vielleicht unter unnötig großen Schmerzen, mühselig unter mehr Zeitaufwand als nötig, wie man aus Thomas Kuhns bahnbrechender Abhandlung Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen schon 1962 hätte herauslesen können.(KUT-DSW) Der Wandel vollzieht sich unter großen Schmerzen, die das Auge, mithin die Wahrnehmung trüben. Man liest und begreift nicht. Etwas lesen und etwas begreifen sind zweierlei, auch bei Wissenschaftlern, ja gerade bei denen.(DPB,55-60) Warum musste es z.B. so lange dauern, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, dass die Atomenergie gemeingefährlich ist? Oder wie lange wird es noch dauern müssen, bis sich die Erkenntnis durchsetzt, dass eine sozialverträgliche Ökonomie unter Kapitalverwertungsbedingungen nicht möglich ist?(DP2-1,-2) Vielleicht muss erst wieder alles in Schutt und Asche fallen, damit der Groschen bei Politikern wie Merkel, Steinbrück oder Gysi fällt. Wir haben immer weniger Zeit.

Mittlerweile sind die Unduldsamen im Recht. Wir dürfen nicht mehr so tun, als wären die Begriffe in Granit gemeißelt, sondern müssen sie beweglich halten; damit das gelingt, muss das Innenleben beweglich bleiben, um Begriffe immer wieder neu beleben oder neu erzeugen zu können, zunächst immer aus dem Gefühl heraus (auch wenn Gefühle den Wandel blockieren können): hier stimmt etwas nicht! Es muss etwas geschehen! Doch was? Fragen über Fragen, die vor allem nicht im vorauseilenden Gehorsam abschließend beantwortet werden dürfen, noch bevor man ihre Bedeutung begriffen hat;(DPB,21) bedeutungsphilosophisch formuliert: das Zeichen will nichts mehr bedeuten, was nur heißt: es muss sich seine Bedeutung – seinen Gegenstandsbezug, seine Gestaltungskraft – immer wieder aufs Neue erarbeiten.(DP3-2.1,-2.2) Was früher, zu Kants Zeit, Geltung beanspruchte (Tugend, Sittlichkeit: z.B. Sex nur in der Ehe, insb. für Frauen), gilt heute nicht mehr. Und was heute wahr ist, muss morgen nicht mehr das menschliche Leben: die Form der Sozialintegration, bestimmen.

Wie gesagt, das Gefühl spielt eine zwielichtige Rolle im Hinblick darauf, ob Sozialintegration erfolgreich ist, bzw. das Leben sozialverträglich im Sinne aller, und das heißt wandlungsfähig, gestaltet werden kann. Das Problem besteht ganz allgemein in der Art, wie Menschen projizieren; bedeutungsphilosophisch formuliert: Menschen lieben mit ihren Gefühlen nicht etwas, was mit ihrem Leben zu tun hat, um es beständig zu überprüfen, beispielsweise zu fragen: bedeuten die verwendeten Zeichen noch etwas? – das wäre sozialverträgliche Projektion, sondern Menschen projizieren krankhaft, indem sie sich darauf beschränken, (ihre) Gefühle zu lieben, ohne sich dafür zu interessieren, dass diese auf einen der Analyse zugänglichen Gegenstand zeigen, um diesen einer ggf. schmerzhaften Überprüfung zu öffnen; mit anderen Worten: sie lieben vornehmlich sich selbst, mithin die Intensitäten, die ihren Körper durchströmen, und weniger ihren externen Gegenstandsbezug; sie lernen nicht das Lernen; sie haben keinen Spaß daran; in diesem Kontext wissen sie nicht hinreichend die Intensität des Gefühls von dem zu unterscheiden, was die Intensität hervorruft oder freilegt: ein Zeichen vermag etwas zu bedeuten, weil es nicht ausschließlich als eine Sache des Innenlebens, sondern extern zugänglich und daher als etwas existiert, das analysierbar ist. Erst über diesen externen Zugang schließen wir wiederum auf innere Vorgänge, die zusammen mit den äußeren Vorgängen einem Wandel unterliegen, den wir gewöhnlich verleugnen, weil Wandel mit Angstgefühlen besetzt ist und wird. In diesem Kontext lernen Menschen nicht zwischen Innen und Außen zu differenzieren. Ein solches Differenzierungsvermögen lehnt der Narzissmus in uns ab; es ist ganz generell in unserer Gesellschaft kaum ausgeprägt und wirft ein Licht auf den Begriff des strukturellen Desinteresses.(DP3-2.6) Warum sollten wir uns auch interessieren oder lernen wollen, gar Spaß haben am Lernen? Schließlich leben wir in einer freien und demokratischen Gesellschaft, in der jeder mit seinen Gefühlen so umgehen kann, wie er es für richtig hält und glaubt, wie es ihm gut tut: egoistisch ohne viel Herzensbildung.

Heute sind die Menschen schon so weit, dass sie fühlen wollen, koste es, was es wolle. Der Gefühlsjunkie setzt sich durch, der sich Gefühle beschaffen muss, weil er süchtig ist. Aber schon im Vorfeld, ohne sich gleich als Gefühlsjunkie wahrnehmen zu müssen, neigen Menschen dazu, andere Menschen im Sinne von Missbrauch zu instrumentalisieren, indem sie sich damit begnügen, in Allgemeinplätzen zu denken, um Gefühle wohlfeil freizulegen, um darauf ihr Handeln zu gründen; z.B. indem sie mit den Begriffen Freiheit und Demokratie für einen Krieg (gegen Libyen) argumentieren.(DP3-2.5) Sie neigen dazu, ihre Liebe (zur Menschheit) zu lieben und nicht das, worauf sie zeigt, bzw. was für die Menschen von praktischer Bedeutung wäre. Der Praxisbezug ist anstrengend; er frustriert; zumal er nicht ohne weiteres, bzw. nur mit viel Mühe mit dem eigenen Gefühlsleben synchronisierbar ist. Der Gegenstand der Liebe, ein geliebter Mensch, sollte am besten, um sich Liebe sozusagen zu verdienen, gehorsam sein; er sollte in Bezug auf das, was die Liebe regelgeleitet (ethisch) konstituiert oder zum Ausdruck bringt, eine festgefügt vorhersehbare Lebensweise ermöglichen, während das, was die Liebe zum Ausdruck bringen kann, eine mögliche Lebensweise, nicht interessiert; mit anderen Worten: der reale Mensch: das Unvorhersehbare im Regelverstoß (DP3,173ff), macht Angst, wenn jener Mensch gegen herrschende Regeln rebelliert, um vielleicht, ohne dass der Rebell in ihm es begreift, einen Spurwechsel im Laufrad vermachteter Strukturen vorzubereiten, das untere nach oben kehrend. Kurzum, Menschen lieben nicht den Gegenstand des Gefühls, bzw. nicht seine kontingente Vergegenständlichung – als würde der Gegenstand eines Gefühls das Gefühl entwerten oder seine Reinheit beschmutzen.

Oh je; wenn sich Vergegenständlichung schon nicht vermeiden lässt, resp. Gegenstände zu benennen sind, auf die Gefühle zeigen, bzw. auf die Gefühle sich auftragen, dann sollten es im Sinne der herrschenden Macht möglichst belanglose Objekte der Verheißung jenseits des alltäglichen Nahbereichs sein, Allgemeinplätze, die alles und nichts bedeuten und daher auf nichts zeigen, um die Reinheit der (eigenen) Gefühle zu wahren. Menschen lieben das Glück, die Trauer, die Liebe, mit einem Wort: das Gefühl, und nicht den Gegenstand des Gefühls. Sie wollen das Unmögliche: die Berechenbarkeit des Gegenstandes, sein vorhersehbares Verhalten, seine vollkommene Identifizierbarkeit mit dem sozialen Kontext der Liebe. Sie lieben das vorhersehbare Gefühl, das dieser Gegenstand auslöst, auslösen soll, ohne zu gewahren, dass einem Gegenstand sein Gefühl nicht im Gesicht geschrieben steht, hypostasierend, als fühle der Gegenstand und nicht der Mensch. Vielleicht dass Menschen die Sehnsucht, die Vorfreude, die eine Liebe hervorruft, zu sehr lieben; und wenn der Gegenstand ihrer Sehnsucht eintritt, ist alles nicht mehr wirklich schön, das Gefühl entwertet, wenn auch nicht das, was die Vorfreude im Vorhinein sich ausmalt. Und dann hält der Arsch nicht, was er verspricht; es kommt halt doch immer anders, als man denkt oder wahrhaben will.

Es ist der alltägliche Nahbereich, der das Gefühl bedrängt; dieser hat die Eigenschaft, sich um die Verheißungen des platonischen Ideenhimmels nicht zu bekümmern; er steht in einem Verhältnis der Spannung zur (Idealität der) Verheißung, die im Falle krankhafter Projektionen: einer nur vermeintlichen Identität von Innen und Außen, immer wieder zur Gewalt neigt. In diesem Kontext entwickelt der Gefühlsjunkie eine exzessive Affinität zum platonischen Ideenhimmel von Verheißungen, die auf keinen sinnlich-fassbaren Gegenstand zeigen, der von unmittelbarer praktischer Bedeutung fürs Subjekt wäre und damit Wahrheit(sfähigkeit) im intersubjektiven Kontext anzeigen würde; es sind dies imaginative Objekte aller Art, Phantasmagorien (Völker, hört die Signale...), auf die sich Gefühle auftragen, hoch über den Wolken, den alltäglichen Nahbereich diskriminierend, verdrängend, abspaltend, so dass jene Wolken von den Gegenständen des alltäglichen Nahbereichs nicht angekränkelt, mithin nicht auf Substanz überprüft werden können. Vergeblich. Der alltägliche Nahbereich lässt sich nicht abwimmeln. Nur dass das Gefühl nicht gerade dazu neigt, dies zu akzeptieren, bzw. sich hartnäckig gegen (narzisstische) Kränkungen wehrt, das Kranke normalisierend, zuweilen mit Gewalt, die auch den Gutmenschen heimsucht. Zwischen Gewaltexzessen ist er lieb und nett; dann schwebt sein Gefühl, vielleicht eine erträumte ideale Gesellschaft oder auch nur irgendeine kleine esoterische Schrulle, friedfertig, so scheint es, weder greifbar noch einklagbar hoch oben über den Wolken: “Dort gerinnt das Gefühl ohne praktische Bedeutung für das Subjekt, zum Gegenstand unendlicher Sehnsucht.”(DPB,44)

Natürlich bedrängt der Nahbereich unentwegt, freilich ohne dass eine überprüfende Analyse stattfindet, zumal dann, wenn er vom Gefühlsjunkie in uns buchstäblich nur als nervenaufreibend empfunden wird. Der Säugling schreit, was das Zeug hält; was zu viel ist, ist zu viel; die Besitz- oder Machtansprüche des Säuglings nehmen überhand, wenn man auf das Geschrei immer gleich reagiert; lassen wir ihn also schreien, denken die überforderten Eltern. Dummes Zeug; es ist umgekehrt: es geht um die Besitz- und Machtansprüche von Erwachsenen, die sie in das schreiende Baby hinein projizieren, krankhaft: als wäre der Machtanspruch, der Wille zur Macht, in die Wiege gelegt; nein, er entsteht, wenn Eltern, vom Nahbereich entnervt, überfordert sind, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen und schon den Säugling daher im Zweifel lieber schreien lassen. Sie akzeptieren nicht, dass der Nahbereich (schon des Säuglings) sie unerträglich bedrängt; also muss er gegen den eigenen Nachwuchs verdrängt, bzw. unnachsichtig abgespalten werden, um in der Verschiebung des Gefühls im Objektbezug Platz zu machen für imaginative Verheißungen, in denen das Gefühl ungestört baden, sich erholen kann, wiewohl Verheißungen faktisch vollkommen wertlos sind, aber von Bedrängungen, resp. unangenehmen Gefühlen im alltäglichen Nahbereich ablenken. Hier hat eine Analyse des Nahbereichs keine Chance; und was Verheißungen betrifft, so sind sie einer Analyse nicht zugänglich, wenn sie dem Innenleben nicht entrinnen, bzw. auf keinen Gegenstand zeigen, der im Nahbereich von praktischer Bedeutung wäre. Wir haben nichts gegen Verheißungen, wenn sie in dem gesucht werden, was Menschen jeden Tag machen, wenn sie (sprachlich) miteinander verkehren. Nur sind’s dann keine Verheißungen mehr. Das Kapital ist so eine Verheißung; indes verkleidet als sachliches Verhältnis zur Regulierung ökonomischer Beziehungen: es maßt sich an, universal zu sein; gibt vor, für alle Menschen da zu sein, für alle etwas übrig zu haben – ein leeres Versprechen, eine Hypostase, einer Analyse zugänglich, die anzeigt, dass das Kapital nichts, es sei denn Mangel erzeugt: Menschen ausgrenzt, während diese denken, sie müssten füreinander nichts tun, weil das Kapital dafür sorgt, dass Menschen etwas (füreinander) tun; wenn sie ihren Arsch hoch kriegen, versteht sich. Na, und wenn sie ihn nicht hochkriegen, haben sie selber Schuld, wenn es ihnen schlecht geht. Auch die klassenlose Gesellschaft, von der im Kapital von Marx gar nicht die Rede ist, ist eine Verheißung, eine leere Abstraktion, auch wenn es, keine Frage, legitim ist, sich eine klassenlose Gesellschaft zu wünschen. Wünschen ist menschlich. Marx wünschte sie sich; doch war er zu wenig Gefühlsfetischist, um sie sich einfach nur zu wünschen, ohne analytisch zu bestimmen, was dieser entgegensteht: das Kapitalverhältnis, das Menschen ausgrenzt. Eine solche Analyse gelingt nicht mit leeren Begriffen, auf die sich Gefühle (Wünsche) auftragen, ohne dem Innenleben zu entrinnen, ohne einen (äußeren) Gegenstand zu referenzieren, der erst eine Analyse ermöglicht, die sich auf Menschen nicht nur imaginär, sondern real bezieht. Ohne außersubjektiven Gegenstand bleibt nur Kommunikationsverweigerung, eine an sich selbst exekutierte Vereinzelung, aus gutem Grund, ist das Gefühl doch in den alltäglichen Nahbereich eingelassen: es referenziert, um zu existieren, zwingend einen Gegenstand (DPB,25f), eine imaginäre Verheißung, die allerdings, um intakt zu bleiben, nicht umhin kommt, den alltäglichen Nahbereich zu diskriminieren oder abzuspalten. Ja, selbst die pure Phantasie kommt nicht umhin, von einem wirklichen Gegenstand angekränkelt zu werden, und neigt deshalb zu Verweigerungshaltungen, ggf. zur Gewalt; oder umgekehrt: das Gefühl kommt nicht umhin, die Verheißung, und sei sie noch so hoch über den Wolken angesiedelt, anzukränkeln, dann nämlich, wenn sich das Gefühl mit anderen Gefühlen im (sprachgestützten) intersubjektiven Kontext konfrontiert sieht; sei es, dass das Gefühl konkrete Beziehungen abstrakt referenziert, wenn es sich z.B. genötigt sieht, etwas für wahr zu erachten, das von konkret-praktischer Bedeutung ist: das menschliche Beziehungen für alle definiert: Grundrechte auch und gerade für den Straftäter. Das mag schlechte Gefühle auslösen, die aber Beziehungen erst wahrnehm- und (er-)lebbar machen; ja menschliche Beziehungen, Menschen neben mir, werden wahrnehmbar, wenn sie Gefühle – Erlebnisschichten der Vergangenheit – anrühren, die nicht immer angenehm sind, um etwas im Inneren wahrnehmbar, über Gefühlsdifferenzen, zu markieren, an denen sich Subjekte entwicklungsträchtig abarbeiten können.

Ja, im Konsens sich realisierende schöne Wahrheiten müssen immer wieder aufs Neue (sprachlich) überprüft werden, das Schöne relativierend, auch wenn sie zwischenzeitlich von den Beteiligten wie Tatsachen behandelt werden, gar müssen; denn Tatsachen markieren, wie an anderer Stelle erläutert, Entwicklungen oder Lernfortschritte.(DP2,147,166,169f) Sie werden aber von den Beteiligten gern so behandelt, als wären sie in Stein gemeißelt, letztendlich um sie, nämlich das, was sich schön anfühlt, der Problematisierung zu entziehen, um das schöne Gefühl – absurd aber wahr – unendlich in die Zukunft zu verlängern; etwa indem man ein Gedicht schreibt, das ein schönes Gefühl in einen Satz meißelt; in ein Zeichen kleidet, das uns bedeuten mag, einen Gegenstand eindeutig identifizieren zu können, freilich mit der Folge, das, was Menschen bewegt, unbeweglich zu machen. Poesie stirbt in Schönheit, macht unbeweglich, lässt uns die soziale Realität verfehlen, wenn sie nur im schönen Genuss aufgeht.(DP3-2.4) Schon die Sprache macht unbeweglich; sie macht Beziehungen, die Wahrheitsfindung in ihnen, unbeweglich, Menschen zu Gefühlsjunkies, wenn man an den eindeutig identifizierbaren Gegenstandsbezug eines Zeichens glaubt, wenn man wie Detel glaubt, man könne die Wahrheit(sfähigkeit) sozialer Beziehungen mit einem Vokabular zur Beschreibung physikalischer Sachverhalte auf invariante Weise einfangen.(DP3-2.1,-2.2)

1.2 Über den Film Naokos Lächeln (Norwegian Wood)

Nehmen wir ein Beispiel aus der Welt des Films: In Naokos Lächeln (Regie: Tran Anh Hung) möchte Toru Watanabe (Kenichi Mazuyama), der Held und Ich-Erzähler einer sehr komplexen Liebes-Geschichte, angesiedelt in Tokio Ende der 1960er Jahre, von der sehr lebendigen und kontaktfreudigen Midori (Kiko Mizuhara) wissen, was für sie Liebe ist. Daraufhin sagt sie: Wenn ich dir erzähle, dass ich Erdbeerkuchen essen möchte und du lässt alles stehen und liegen und läufst los, um ihn für mich zu kaufen.

Ein sehr schöner Gegenstandsbezug, in dem etwas mitschwingt, das anzeigt: die Figuren kommen von der Reinheit ihrer Gefühle nicht los; sie bleiben gefangen in reinen Gefühlen, die auf Worte wie Liebe, Glück oder Trauer verweisen, also auf nichts Bestimmtes; es sind Bezüge, die eine näher bestimmbare seelische Disposition nicht anzeigen und dadurch auf Sehnsüchte verweisen, die nie eintreten; sie sind nicht in der Lage, einen Gegenstand zu referenzieren, der von praktischer Bedeutung, resp. verhandelbar wäre im intersubjektiven Kontext; in diesem Kontext gerinnt das Gefühl ausschließlich zu einer Angelegenheit des Inneren: zu einem Gegenstand imaginativer Intersubjektivität; das Gefühl ist einer Externalisierung im Objektbezug