Materialien zur Politisierung des Bürgers, Band 1: Ökonomische und moralische Voraussetzungen einer sozialverträglichen Gesellschaft - Franz Witsch - E-Book

Materialien zur Politisierung des Bürgers, Band 1: Ökonomische und moralische Voraussetzungen einer sozialverträglichen Gesellschaft E-Book

Franz Witsch

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Beschreibung

Zu sagen, dass Merkel, Obama, Putin, aber auch Leute wie Ackermann (Ex-Chef der Deutschen Bank) oder gut bezahlte Öffentlichkeitsarbeiter tagtäglich Verbrechen exekutieren und einfache Bürger Beihilfe leisten, ist allerdings nur ein Anfang, dem eine eingehende Analyse folgen muss, die nicht nur das (Verbrechen exekutierende) Innenleben herrschender Eliten, sondern auch das eigene, des Normalbürgers, einbeziehen muss, schon weil wir ohne Einbeziehung des eigenen Innenlebens zu keinen diskutier- oder belastbaren Aussagen gegen kriminelle Eliten kommen können (aus Band 1, S. 145.)

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Zu sagen, dass Merkel, Obama, Putin, aber auch Leute wie Ackermann (Ex- Chef der Deutschen Bank) oder gut bezahlte Öffentlichkeitsarbeiter tagtäglich Verbrechen exekutieren und einfache Bürger Beihilfe leisten, ist allerdings nur ein Anfang, dem eine eingehende Analyse folgen muss, die nicht nur das (Verbrechen exekutierende) Innenleben herrschender Eliten, sondern auch das eigene, des Normalbürgers, einbeziehen muss, schon weil wir ohne Einbeziehung des eigenen Innenlebens zu keinen diskutier- oder belastbaren Aussagen gegen kriminelle Eliten kommen können (aus Band 1, S. 145).

Franz Witsch, geb. 1952, lebt in Hamburg und ist Lehrer für Politik, Geografie und Philosophie. Zwischen 1984 bis 2003 arbeitete er in allen Bereichen der freien Wirtschaft als Informatiker und Unternehmensberater. Heute schreibt er sozialphilosophische Texte und Bücher.

Inhalt

Vorbemerkung zum definitiven Gesellschaftsbegriff

1. Gesellschaftsanalyse als Ausgangspunkt (A)

PT1 (A1) Die Präambel der Programmatischen Eckpunkte

PT2 (A2) Gesellschaft als Black Box?

2. Beiträge zur Marxrezeption (B)

PT3 (B1) Zum Verhältnis von Produktion und Zirkulation

PT4 (B3) Tausch, Vergesellschaftung, Moral (Marx)

PT5 (B2) Anmerkungen zur Parteibildung

3. Psyche und programmatischer Diskurs (C)

PT6 (C1) Programmatik als mentales Problem

PT7 (C2) Keine Glaubwürdigkeit ohne Transparenz

PX2 (C3) Obersektierer in Nadelstreifen

PT8 (C4) Besitz und Kommunikation

Exkurse

Ex1 (PX1) Zwischentöne zu (A und B)

Ex2 (PX3) Zwischentöne zu (C4)

4. Ein alternatives Gesellschaftskonzept (GKO)

4.1 Die Präambel einer alternativen Partei

4.2 Programmatische Reflexionen

4.3 Zur Begründung eines alternativen Gesellschaftskonzepts

4.3.1 Der Tatsachen- und Entwicklungsfetisch

4.3.2 Gesellschaft als Gemeinschaft (das Ganze und seine Teile)

4.3.3 Gesellschaft als Konstruktion

4.3.4 Aufklärung durch Vernunft? – Das Prinzip

Rationalisierung

4.3.4.1 Leben gestalten durch Sprechen (Sprache als Heimat)

4.3.4.2 Kritik am Ursprungsdenken (Habermas und Derrida)

4.3.5 Sozialintegration im Konflikt

4.3.6 Zur Wahrheit des Subjekts: das fundamentale Bestandsinteresse

5. Behaviorismus und Konditionierung (Klaus-Jürgen Bruder)

5.1 Das Fremde dem eigenen Leben assimilieren

5.1.1 Kierkegaard: “Werde ein Einzelner”

5.1.2 Was geht mich der Fremde an?

5.2 Die Verbindung von Subjekt und Gesellschaft

5.2.1 Zeit, über uns zu reden

5.3 Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie

5.3.1 Verbrecherische Strukturen

5.3.2 Über den Film

Der große Crash – Margin Call

5.4 Behaviorismus und strukturelle Gewalt

5.4.1 Strukturelle Gewalt und Faschismus

Anhang

Abkürzungen (siehe auch

Die Politisierung des Bürgers

, Teil 2)

Quellen

Vorbemerkung zum definitiven Gesellschaftsbegriff

Die zwei Bände Materialien zur Politisierung des Bürgers (MP1,MP2) enthalten Texte, die zwischen 2004 und 2007 entstanden sind.(DPB, 214f) Sie nahmen damals wesentliche Gedanken und Begriffe vorweg, die später, in Die Politisierung des Bürgers (2009-2013), eine wesentliche Rolle spielen sollten. Die Texte bringen zum Ausdruck, dass und auf welche Weise Theorien oder Begriffe aus der politischen Praxis, bzw. sozialen Auseinandersetzungen hervorgehen. Das illustriert bereits der erste Text, der sich mit den Programmatischen Eckpunkten beschäftigt, die seinerzeit, im Jahre 2006, die Fusion zweier Parteien – PDS und WASG – legitimieren sollten. Aus beiden Parteien ging dann die Partei Die Linke (PDL) hervor.

Heute wissen wir, was ich in diesem Text schon damals befürchtete: die PDL ist eine Partei wie jede andere: ohne das geringsten Interesse, die herrschenden gesellschaftlichen Strukturen mit einem alternativen Gesellschaftskonzept (S. 87-127) zu konfrontieren; das zeichnete sich für mich damals ab auf der Grundlage von Überlegungen, die später wesentlich den definitiven Gesellschaftsbegriff in Abgrenzung zu einem strukturalen, körperlich begreifbaren Gesellschaftsbegriff prägten.(DPB,22f, 29-44)

Der körperlich begreifbare Gesellschaftsbegriff entwickelte sich historisch auf der Basis einer wertethisch – z.B. muslimisch, christlich oder jüdisch – fundierten Moral oder Lebensweise, die ihren Mitgliedern ein bestimmtes Denken und Verhalten auferlegt, im Falle einer muslimischen Lebensweise z.B. die Unterordnung der Frau unter dem Mann.

Demgegenüber transportiert der definitive Gesellschaftsbegriff nicht eine bestimmte Lebensweise als vielmehr ein Allgemeininteresse (Grundrechte auch für Straftäter), das, moralisch gesehen, über jeder Lebensweise, bzw. sozialen Struktur stehen sollte, in die ihre Teilnehmer gleichsam körperlich – gegenständlich beschreibbar – mit Leib, Seele und all ihren Gefühlen involviert sind. Gleichwohl müssen sie sich moralisch an jenem Allgemeininteresse messen lassen; vorausgesetzt, es ist im Sinne eines Erziehungsziels (die Würde des Menschen ist unantastbar!) eingelassen in jene wertethisch fundierten Strukturen, wenn auch in Spannung zu ihnen als etwas, das ihnen fremd ist, so dass es ihnen schwer fällt, sich an jenem Allgemeininteresse zu bemessen (DP3,165f), würde das Allgemeininteresse doch einschließen, auch einem Straftäter unmittelbar einklagbare Grundrechte einzuräumen.(DPB,29-44)

Gewöhnlich hat nicht nur der muslimische, vielmehr auch der christliche Standpunkt Schwierigkeiten, Grundrechte dem eigenen Leben zu assimilieren. Der christliche Standpunkt vermag seine Schwierigkeiten nur gut zu verstecken, so wenn er mit Hilfe der Hartz-IV-Gesetze von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen Würde verweigert, als wären sie mit der menschlichen Existenz nicht untrennbar verbunden, als müsse man sie sich erst verdienen (z.B. indem Arbeitslose jede zumutbare Arbeit annehmen), bevor man sie in Anspruch nehmen könne.

Zur Zeit werden den Griechen Grundrechte im Kontext ihrer EU-Zugehörigkeit verweigert. Ganz zu schweigen davon, dass Menschen mit ferngesteuerten Drohnen liquidiert werden – von Obama angeordnet mit der Begründung, man befinde sich im Krieg gegen den Terror.1 Und die Bundesregierung leistet Beihilfe dazu, wie aus einer Drucksache des Bundestages vom 08.09.10 hervorgeht. Dort erklärt der Bundestag die Tötung feindlicher Kämpfer auch außerhalb von Kampfhandlungen ausdrücklich für zulässig.2 Nun, wertethisch fundierte Lebensweisen hatten schon immer ein ziemlich unbefangenes Verhältnis zu Mord und Totschlag.

Die Bände enthalten zusätzlich drei aktuelle Texte (2013-2015), in denen der definitive Gesellschaftsbegriff eine zentrale Rolle spielt. So bemühte ich mich in einem Vortrag auf der diesjährigen Jahrestagung der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) zu zeigen, dass und warum menschliches Denken, Sprechen und Handeln ohne definitiven Gesellschaftsbegriff für wachsende Gewalt in den sozialen (internationalen) Strukturen bürgt.

Hamburg, April 2015

Franz Witsch

1 Jeremy Scahill, Terrorstaat USA – Schmutzige Kriege – Die geheimen Kommandoaktionen der USA, NDR-Dokumentation auf youtube.de vom 28.11.2013

2 Zur Tötung vorgeschlagen. Germain-foreign-policy.de vom 06.01.15; ferner: US-Drohnen töten 1147 Zivilisten bei der Jagd auf 41 Terroristen, DWN vom 27.11.14; ergänzend: Egmont R. Koch, Michael Wech, Lizenz zum Töten. Wie Israel seine Feinde liquidiert, ARD-Reportage auf youtube.de vom 04.04.2013

1. Gesellschaftsanalyse als Ausgangspunkt (A)

PT1 (A1) Die Präambel der Programmatischen Eckpunkte3

Noch nicht so recht wissen, was man will, aber das mit vereinigter Kraft

Schlägt man in einem Fremdwörterbuch unter dem Stichwort Präambel nach, so findet sich dort die folgende Definition: “Vorspruch, feierliche Erklärung als Einleitung, z.B. bei Staatsverträgen, Verfassungsurkunden.” Feierlich wohl deshalb, weil solche Texte soziale und kommunikative Räume handlungsorientierend ausleuchten sollen im Hinblick darauf, wie eine Gruppe von Menschen gegenwärtig und bezogen auf die Zukunft sich selbst politisch verstehen will. Warum ein Parteiprogramm nicht tatsächlich auffassen als eine Art Verfassungstext mit einleitender Erklärung, um Menschen außerhalb der Partei, aber auch innerparteilich im Hinblick auf ganz bestimmte Werte und Prinzipien zu überzeugen und – darauf basierend – zusammen zu halten. So etwas hat in der Tat etwas Feierliches an sich, nicht zuletzt weil die Präambel eine Gruppe einzuschwören hat, handlungsorientierend darauf, was in der politischen Praxis gelten oder auf gar keinen Fall gelten soll. Ja, fast möchte man sagen: eine Präambel ist wie ein Schwur.

Auch unsere Präambel muss zum Ausdruck bringen, aufgrund welcher unverrückbarer Gemeinsamkeiten unsere zukünftige Partei – es sind ja noch zwei Parteien – existieren, bzw. Politik in die Gesellschaft hinein machen will, die ihrerseits auf eine Art Vertrag gründet: dem Grundgesetz. Das alles ist auch deswegen so feierlich, um nicht zu sagen: heilig, weil die Mitglieder unserer zukünftigen Partei ihre Gemeinsamkeiten, einem Eheschwur nicht unähnlich, absolut ernst nehmen wollen. Das ist umso weniger gering zu achten, als wir in einer Spaßgesellschaft leben, in der Menschen sich immer weniger ernst nehmen in Bezug auf das, was sie voneinander wollen und zusammen hält. Es gehört zum guten Ton, alles ins Lächerliche zu ziehen, um dann, wenn es angeblich ums Eingemachte geht, überhaupt keinen selbstironischen Humor mehr zu entwickeln, da, wo es um notwendige Auseinandersetzungen geht, die das existenziell Gemeinsame gar nicht in Frage stellen wollen, ohne gewahr zu werden, dass man aus einem wesentlichen Grund kommuniziert: auch der andere könnte Recht haben, oder ein berechtigtes Anliegen haben. Ich muss ihn ernst nehmen, in der Auseinandersetzung auch ermitteln, was gemeinsame Realität, d.h. nicht fraglich und was (noch) fraglich ist, um Positionierungen dann so zu formulieren, dass sie der Kritik zugänglich bleiben, nicht zuletzt auch im Bewusstsein, dass Fragliches sich an unverrückbaren Gemeinsamkeiten zu bemessen hat; letzteres zielt unmittelbar auf das politische Handeln, das sich an einer gemeinsamen Realität, die wir als nicht verhandelbar verstehen, messen lassen muss, so dass entschieden werden kann: verhalte ich mich in der Politik richtig oder falsch.

Das, was uns in eine neue Partei zusammenführt, muss handlungsorientierend den Praxistest bestehen. Dieser (in den Naturwissenschaften ist es das Experiment) muss zeigen können, was Schwüre wert sind, was Menschen wert sind, die sich zusammengeschlossen haben, um politisch zu handeln. Einfach nur irgendwie das Gute, ein guter Mensch sein wollen, und darüber rhetorisch brillante und das Herz erwärmende Reden halten, wie Gregor Gysi das sicher gut kann, ist zwar schön, reicht aber nicht. Worte sind leider nur geduldig, wie die Papiere, auf die sie zu stehen kommen, auch wenn sie unentbehrlich sind.

Für viele Mitglieder in PDS oder WASG ist der Präambelbegriff kaum mehr als nur ein Wort. Dass man zu den besseren Menschen gehört, gilt als selbstverständlich. Man legt den Akzent zu wenig auf handlungsorientierende Praxis, darauf, was politisch erlaubt ist und was nicht. Wert- und praxisbezogene Handlungsorientierung gehören zusammen und haben etwas Unbedingtes an sich: eine – vor allem im Hinblick auf Regierungsbeteiligung – nicht verhandelbare Moral. Man mag so was als Kirchturmmentalität abtun. Nun denn, dann brauchen wir halt Kirchturmmentalität. Wir kommen nicht drum herum, politisches Handeln an etwas zu messen, so dass klar werden kann: hier handeln wir richtig, dort nicht. Andernfalls wären wir nicht glaubwürdig.

Das mit den gemeinsamen Werten, einer gemeinsamen moralischen Sichtweise, wie wir uns gesellschaftlich verstehen und miteinander umgehen wollen, im Sinne eines positiv formulierten Vorsatzes, deckt die Präambel des Eckpunktepapiers im großen und ganzen ab. Dagegen nicht den unverzichtbaren Aspekt der politischen Handlungsorientierung. Diese muss, will sie den Praxistest bestehen, auf bestehende gesellschaftliche Strukturen zielen, dadurch, dass man sich zunächst verweigert, z.B. sich am Sozialabbau zu beteiligen oder Sozialabbau zu tolerieren. Gesellschaftliche Strukturen bleiben notwendig unberührt, unproblematisch, sakrosankt, wo man wegen klammer Haushalte glaubt, Sozialabbau betreiben zu müssen, um konfliktträchtige Verweigerungshaltungen zu umgehen.

Doch was bedeutet es zu sagen, die bloße Verweigerung, rein formal, weil nur negativ formulierbar, ziele auf gesellschaftliche Strukturen, sei also politisch handlungsorientierend, von konkret praktischer Relevanz; kurz: abstrakt und konkret in einem? Verweigerungshaltungen benennen nur im Negativ ganz generell das, was und wie man nicht sein will, was man auf keinen Fall machen will – das, was man bei Vertretern der anderen Parteien bisher immer zum Leidwesen insbesondere benachteiligter und ausgegrenzter Bevölkerungsteile beobachten kann. Daran will man sich nicht beteiligen. So lehnen wir Gewalt gegen Menschen kategorisch ab, ausnahmslos, sogar gegenüber Kindesentführern, auch wenn viele Folter unter bestimmten Bedingungen für notwendig erachten, wenn es z.B. um die Rettung eines entführten Kindes geht. Gewaltverweigerung rettet natürlich das unschuldig entführte Kind nicht. Und doch, allein eine diesbezügliche Verweigerungshaltung, die auf das unschuldige Kind keine Rücksicht nimmt, zielt auf gesellschaftliche Strukturen, denn sie fordert zu Überlegungen heraus hinsichtlich der Entwicklung einer Gesellschaft, in der zunehmend Stimmen lauter werden, die Gewalt für ein Mittel des mitmenschlichen Umgangs halten. Gegen eine Gesellschaft, die sich so entwickelt, wollen wir Politik machen; d.h. die gesellschaftlichen Strukturen fordern uns heraus, dass wir uns mit ihnen beschäftigen, sie analysieren, um die Notwendigkeit von Veränderungen zu begründen, um sich für sie nachvollziehbar einzusetzen, weil wir eine bestimmte gesellschaftliche Entwicklung nicht wollen, in der Folter und Gewalt zunehmend die Würde des Menschen in Frage stellen. Diese Herausforderung nehmen wir in dem Augenblick an, wo wir uns verweigern.

Verweigerungshaltungen können als unverrückbare Gemeinsamkeiten in der Präambel formuliert werden. Sie ersetzen nicht die sozialökonomische Analyse und das, was aus der Analyse an Möglichkeiten und Notwendigkeiten im Hinblick auf weiterführende Politik folgt, so was womöglich auf eine Änderung gesellschaftlicher Strukturen zielt; dennoch kann – im Vorfeld der Analyse, sozusagen eigensinnig irrational – schon im Rahmen gegebener gesellschaftlicher Strukturen derjenige, der Folter nicht unter allen Umständen ablehnt, nicht zu uns gehören, unter keinen Umständen, denn er tritt für die Würde des Menschen nicht uneingeschränkt ein; uneingeschränkt heißt: auch die Würde eines Verbrechers ist gemeint.

Mit der Weigerung am Sozialabbau mitzuwirken verhält es sich ähnlich. Da, wo Sozialabbau denknotwendig wird, weil klamme Haushalte zu sanieren sind, verlieren die politischen Akteure gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse aus dem Blick, bewegen sie sich unproblematisch im Rahmen derselben, während eine diesbezügliche Verweigerung auf die Problematisierung gesellschaftlicher Strukturen zielt, dazu unmittelbar herausfordert noch im Vorfeld der Analyse, dort Fragwürdiges sich auftut.

Unsere Präambel sagt selbst, dass es noch an einem gemeinsamen Verständnis mangelt, also dort, wo wir schon mitten drin sind, feierlich zu erklären, was uns zusammen führen und zusammen halten soll, was und wie wir auf keinen Fall sein wollen. Dort heißt es nämlich, “die notwendige Debatte um Selbstverständnis” müsse fortgesetzt werden. Wie bitte? Das ist so, als würden während einer Trauung die Brautleute nicht so recht wissen, warum sie vor dem Traualtar stehen. So was dürfte in einer Präambel nicht mehr stehen, schon gar nicht dann, wenn das Aufgebot schon bestellt ist. Tun sich da zwei womöglich fußkranke Parteien zusammen? Die es nicht so schlimm finden, mit Fußpilz herum zu laufen? Bei der L.PDS ist es im Zuge von Parlamentarisierung und Regierungsverantwortung nur etwas offensichtlicher, dass sie fußkrank ist. Aber zusammen tun sollen wir uns möglichst schnell, v.a. wenn es nach dem WASG-Bundesvorstand geht. Der zeitliche Fahrplan soll unwiderruflich festgeschrieben werden. Die Fusion soll laut Intension der bundesweiten Urabstimmung nicht mehr ergebnisoffen sein, mit einer einzigen Frage abgefackelt werden. Obwohl es selbst laut Präambel des Eckpunktepapiers noch Diskussionsbedarf im Hinblick auf ein gemeinsames Selbstverständnis gibt, wie gesagt: “die notwendige Debatte um Selbstverständnis” müsse fortgesetzt werden. So ein Bund läuft Gefahr, im Ansatz zu scheitern: eine Partei zu werden wie jede andere, das Schlimmste, was uns passieren kann. Wer darauf aufmerksam macht und die Urabstimmung deshalb ablehnt, bzw. mit nein beantwortet, ist alles andere als ein Spalter, wie uns das Oskar und Gregor in einem Rundbrief an alle WASG-Mitglieder weismachen wollen. Solche Begriffe (Spalter, Abweichler) liegen in der Tradition des Stalinismus; mit ihnen grenzte man früher unbequeme Parteigenossen aus, um sie ggf. an die Wand zu stellen. Mit der Anwendung solcher Begriffe verstoßen wir gravierend gegen die Geflogenheiten innerparteilicher Demokratie, bzw. demokratischer Meinungsbildung. Sie sind völlig ungeeignet, den innerparteilichen Meinungsbildungsprozess zu fördern. Es steht zu befürchten, dass wir die Kinderkrankheiten der Arbeiterbewegung immer noch nicht auskuriert haben, nicht einmal Parteifreund Oskar. Bei Gregor ist so was ja verständlich. Dem stecken vielleicht noch seine DDR-Erfahrungen in den Knochen.

Natürlich werden in der Präambel Vorstellungen formuliert, auf welcher Grundlage der Zusammenschluss geschehen soll, wiewohl die Art der Diskussion anzeigt, dass diese Vorstellungen recht vage, nichtssagend, praxisfern sind, kurz: nur in unverbindlichen Leerformeln zum Ausdruck kommen: “Frei und selbstbestimmt vereinigen sich in dieser Partei Personen und politische Strömungen...”, wenn auch mit “unterschiedlicher Geschichte und Herkunft.” Das alles brauche selbstverständlich programmatische Leitvorstellungen: die “Verständigung auf eine programmatische Grundlage.” So die ersten Zeilen in der Präambel im Eckpunktepapier.

Noch ziemlich unverbindlich, wird doch zunächst nur der gute Vorsatz bekundet, dass man sich zusammenfinden müsse, weil man gemeinsam stark sein will. Mit einem Vorsatz zu beginnen, anders und menschlicher sein zu wollen als andere Parteien, ist nicht nur legitim, sondern notwendig. Der Vorsatz, sich diesbezüglich zu verständigen, darüber zu kommunizieren, ist sogar erfreulich. Auch wenn der Vorsatz allein nicht ausreichend ist als Basis, so schnell als möglich eine neue Partei zu gründen. Schon im Vorfeld substanzieller Verständigung sollen wir uns vereinigen, auf der Grundlage von Sätzen, die so allgemein sind, dass sie in der Präambel auch eines SPD-Programms stehen könnten. Im Text heißt es ohne die Spur einer Verweigerungshaltung (wie man nicht sein will) wie folgt: “Uns eint der Kampf für eine friedliche, gerechte und demokratische Welt, in der jede und jeder (...) in Würde leben kann.” – Es geht um “eine Welt ohne Kriege, ohne Armut und Hunger.”

Nun sollte man meinen, dass die nächsten Zeilen konkreter werden, mehr als nur den guten Willen und die positive Versicherung bekunden, dass man sich der Spezies der besseren Menschen zugehörig fühlt. Natürlich, es muss einen konkreten Grund geben, der auf Praxis zielt, nicht auf den guten Vorsatz. Wahrheit ist – noch da, wo sie abstrakt formuliert – immer konkret, wusste schon Hegel. Abstraktionen müssen nicht Wischi- Waschi sein, ja sie dürfen es nicht sein. Das weiß leider nur instinktiv – immerhin – auch die Präambel. Und so zählt sie in den folgenden Absätzen auf, was alles in unserer Gesellschaft schief läuft, bzw. anders laufen muss, von der Massenarbeitslosigkeit bis zur Zerstörung der Natur, Abbau sozialer und demokratischer Rechte, Kriege, etc., um dann festzustellen, dass es dagegen einen Kampf geben müsse, um das alles zu ändern, “einen Richtungswechsel herbeizuführen” für eine bessere Welt.

Auch das ist recht formelhaft. So was könnte ebenso in einem SPD- oder Grünen-Programm stehen. Wir brauchen aber eine Präambel, in der steht, worin wir uns von anderen Parteien im politischen Verhalten, in der Praxis unterscheiden. Wir brauchen eine Definition in Bezug auf eine Handlungsorientierung im politischen Raum. Handeln zielt immer auf Konkretes, auf das, was man konkret tut, vorerst (deshalb Präambel) auf keinen Fall tun will, nicht nur darauf, dass man sich als der bessere Politiker fühlt. Nicht wie man sich fühlt, ist entscheidend, vielmehr Wille und Bewusstsein, sich an einem faktischen Konkretikon messen zu lassen, das anzeigt: so wie ich gerade politisch handle, so verhalte ich mich richtig oder falsch.

Der zweite Teil der Präambel, nachdem im ersten noch nichts Substanzielles in Bezug auf Handlungsorientierung steht, versucht sich denn auch an einer Definition, die, um es gleich zu sagen, ebenfalls über Formelerklärungen nicht hinauskommt. Diese lauten in etwa so: wir wollen dagegen kämpfen, gegen Unrecht, Ungerechtigkeit, etc...

Natürlich will man sich konkret anhören. Die Redefiguren sollen schon den Anschein von Praxisbezogenheit erwecken, dass die Autoren wissen, wovon sie reden, was sie machen wollen, und zwar konkret. An einer Stelle im Präambeltext kommt sogar das Wort Handlungsorientierung vor. Doch auch in solchen Passagen will man de facto nur das Gute (wer will das nicht?): unverbindlich und formelhaft. Man will

die Unterordnung der Wirtschaft unter soziale Belange. Das sagt Müntefering auch, wenn man ihn fragt: die Wirtschaft ist für die Menschen da und nicht umgekehrt.

die Demokratisierung der Gesellschaft. Auch das könnte von Münte stammen.

die Schaffung einer internationalen Friedensordnung, dafür die EU das Vorbild abgeben soll. Auch dieser Satz ist in der SPD mehrheitsfähig.

Und last not least: es wird auch betont, dass wir das alles mit friedlichen Mitteln erreichen wollen. Das sagen sogar alle SPD-Mitglieder, wenn man sie fragte.

Nachdem dies gesagt, hat man schon gut zwei Drittel des Präambeltextes verbraten und hat immer noch nicht konkret formuliert, warum wir uns in einer neuen Partei zusammenschließen sollen. Anstatt sich um solche Formulierungen zu bemühen, stellt man weiterhin fest, dass “die Grundlagen für alte Spaltungen innerhalb der Linken” entfallen seien, “selbst wenn das noch nicht überall akzeptiert ist”; das ist der Fall bei unverbesserlichen Sektierern und Spaltern; die wollen immer nur diskutieren und nichts begreifen.

Zum Ende hin macht sich ein wenig Tradition ganz gut: demokratische, sozialistische Bewegungen. Man sieht die Geschichte auf seiner Seite. Die alten Bilder sind auch zu putzig. Nichtsdestotrotz: man will eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, insbesondere der DDR, weil es in der Linkspartei noch so viele alte Menschen gibt. Die jetzt durch Selbstkritik gereinigt, ganz anders als früher, nämlich aufgeklärt sind. Denn sie sind seit dem Mauerfall mit westlicher Zivilisation in Berührung gekommen. Man müsse begreifen, dass die PDS sich geändert habe, so sprach Oskar einst etwas unwirsch zu einem Reporter, der das immer noch nicht begriffen hatte. Etwas gebildeter formuliert: wir alle, auch im Osten, “stellen uns bewusst in die Tradition europäischer Aufklärung, des demokratischen Sozialismus, der großen Emanzipationsbewegungen der Arbeiterinnen und Arbeiter und der Frauen, der kolonial und rassistisch unterdrückten Völker.” Kurz, wir haben aus der Geschichte gelernt. Na, bei so viel Vergangenheitsbewältigung kann ja nichts mehr passieren. Gut, dass es so etwas wie Aufklärung im Absolutismus gegeben hat. Trotzdem, die Präambel ist jetzt fertig, und es ist immer noch nicht die Rede davon, warum wir uns in einer neuen Partei zusammen finden sollen, anstatt allesamt feierlich z.B. in die SPD einzutreten, um dort Sonntagsreden von Münte zu beklatschen. Anstatt sich in den letzten Absätzen um Handlungsorientierung, die auf Konkretes zielen, zu bemühen, nur Formulierungen, die zum Ausdruck bringen, dass man sich vom Saulus zum Paulus gemausert hat: “Wir lehnen jede Form von Diktatur ab und verurteilen den Stalinismus als verbrecherischen Missbrauch des Sozialismus.” In der neuen Partei sollen “radikaldemokratische, linkssozialdemokratische und linke antikapitalistische Positionen ebenso wie Orientierungen auf die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, Erkenntnissen aus gewerkschaftlichen und von Erwerbslosen getragenen Protestbewegungen gegen den Neoliberalismus” zum Zuge kommen. In diesem Zusammenhang erteilt man der neuen Sozialdemokratie und allen Sektierern (das sind die, die immer nur sinnlos Diskussionsbedarf anmelden) eine Absage, um gemeinsam “eine linke Partei zu bilden, wie es sie in Deutschland seit 1914 nicht gegeben hat (...), die offen alle gesellschaftlichen Herausforderungen debattiert und einen Richtungswechsel in der Gesellschaft durchsetzen will.” Ende der Präambel. Mehr soll nicht sein im Hinblick darauf, was uns in einer neuen Partei zusammenführen soll. Nur gut gemeinte Absichtserklärungen, die, man verstehe mich nicht falsch, durchaus in einem Text stehen dürfen, uns aber prätentiös nur als bessere Menschen ausweisen, solche, wie sie die Geschichte noch nicht gesehen hat, wenn sie nicht ergänzt werden durch ein Handeln, das sich praktisch an einem Konkretikon messen lässt. Im Gründungsmanifest der WASG hatten wir ansatzweise einen handlungsorientierenden Satz, der da lautet: “Wir werden uns nicht an einer Regierung beteiligen oder sie tolerieren, die Sozialabbau betreibt.”

Natürlich bedarf solch ein Satz einer Ergänzung in Bezug auf das, was Sozialabbau ist, wie sich Sozialabbau auslebt, wie, durch welche Strukturen und Verhältnisse, Sozialabbau zustande kommt – z.B. durch bürokratische Hürden. Ein solcher Satz analysiert nichts, er fordert aber zur Analyse heraus. Derartige, mehr analytische Konkretionen können im Haupttext eines Parteiprogramms formuliert werden. Sie sollten noch gar nicht in der Präambel stehen. In dieser allgemeinen Form stünde die eben formulierte Verweigerungshaltung gegenüber neoliberaler Praxis auch der Präambel eines Eckpunktepapiers gut zu Gesicht. Leider steht solch ein Satz nicht einmal im Hauptteil des Eckpunktepapiers.

PT2 (A2): Die Gesellschaft als Black Box?

Ein Ver- und Beharren auf dem Status quo braucht und will Analyse nicht. Analyse ist von vornherein auf die Notwendigkeit von Veränderungen bestehender Strukturen gefasst, um sie dann wirklich zu wollen. Eine auf Veränderung zielende Einstellung lassen die Autoren der programmatischen Eckpunkte (BIJ-PEP) nicht erkennen. Ihr Papier zielt in Anlehnung an das PDS-Steuerkonzept (“Einfach, sozial, gerecht”, 3. Auflage Juni 2005) deskriptiv auf das, was ist: Man ist fixiert auf finanz- und steuerpolitische Verschiebebahnhöfe ohne einen Begriff von dem, wo und wie ggf. ein Wandel in der Gesellschaft im Hinblick sowohl auf ökonomische Strukturen und Abläufe als auch in den sozialen Beziehungen ansetzen kann.

Was die sozialen Beziehungen betrifft, so müsste man sich auch hier die Frage stellen: wollen wir substanzielle Beziehungen und Kommunikation, z.B. zu unseren Kindern, oder wollen wir sie nicht. Die Gewalt an den Schulen zeigt wieder einmal symptomatisch: Erwachsene und politisch Verantwortliche wollen sie nicht, denn Kommunikation kostet Geld und Zeit. Und überhaupt, hat Wolfgang Schäuble als Behinderter nicht schon genug zu tun? Billiger, v.a. stressabladend ist es, auf Gewalt mit Gewalt zu reagieren: hart durchgreifen, Recht muss wieder Recht sein, geltendes Recht konsequent anwenden, ggf. verschärfen; Stammtischsprüche ohne Ende; wozu Analyse mit etwas Tiefgang? Unmittelbar reagieren auf das, was ist, reicht. Auch was soziale Beziehungen betrifft gilt: der Ist-Zustand ist – bitsch-batsch – dem Grunde nach unproblematisch. Das erfahren Heranwachsende Tag für Tag von uns, womit sie nicht zurecht kommen. Sie wissen instinktiv: nur da sein wollen sie nicht. Philosophischer gesagt: Gesellschaft ist mehr als die Summe ihrer Individuen. Dagegen reagieren sie, wenn’s sein muss, mit Gewalt nicht nur an Schulen; zurecht, denn die politisch Verantwortlichen haben friedliche Signale noch nie wahrgenommen. Sie merken immer erst was, wenn ihnen der Arsch auf Grundeis geht. Sie sind es, denen kulturelle Werte fehlen, daran ihre jährlichen Bayreuthbesuche nichts ändern. Dass das so ist, versuchen v.a. Politiker zu verhehlen – durch Härte. SPD und Grüne zieht immer nur den Kopf ein, so lang es irgend geht, um dann am Ende doch Härte zu zeigen; schließlich sind Haushaltsprobleme zu bewältigen.

Was die Ökonomie betrifft, so legt das Papier den Akzent zu wenig auf Analyse gesamtwirtschaftlicher Prozesse, auf ihre Dynamik unter kapitalverwertender Definitionshoheit, um Armut und Ausgrenzung insgesamt ins Visier zu bekommen, ungeachtet vieler gut gemeinter Forderungen gegen Armut und Ausgrenzung, die es wert sind, dass man sie formuliert; nur bezieht man sich diesbezüglich auf einzelne Gruppen, die – man will gerecht sein – alle Erwähnung finden: Arbeitnehmer hier, Rentner dort, Arbeitslose wieder woanders etc., um Forderungen in alle Richtungen zu formulieren, die, bei näherer Betrachtung, sich gegenseitig ausschließen, weil unberücksichtigt bleibt, dass das Bewegen von Verschiebebahnhöfen – linke Tasche, rechte Tasche – nicht ausreicht, nur Atempausen verschafft, Probleme also nur ausgesessen werden, um am Ende größer zu werden, während eine gleichzeitig anschwellende Stimmung für Gewaltlösungen immer weniger Raum für Analyse lässt. So was kann man an der mangelnden Debattenkultur auch innerhalb der WASG erkennen (ja, auch wir sind Kinder dieser Gesellschaft!), insbesondere von Seiten des WASG-Bundesvorstands; dort setzt man auf Ausgrenzung, selbstverständlich im Interesse übergeordneter Fusionsziele. Dort oben hat man den Durchblick, während die da unten immer dann Diskussionsbedarf anmelden, wenn’s grad nicht passt.

Es könnte vielleicht ein ökonomietheoretisch fundierter Gesellschaftsbegriff vonnöten sein, der möglichst früh auf ein Gesamtinteresse zielt, der von vorn herein alle Menschen der Gesellschaft einbezieht in eine umfassende Analyse, um zu vermeiden, dass – wenn von Arbeitnehmern die Rede ist – Arbeitslose, Rentner, Kranke, etc. sich ausgeschlossen fühlen. So was wäre segregativ deskriptiv, liefe theorieschwach auf eine Politik des Stückwerks hinaus und hätte mit Analyse nichts zu tun.

Da, wo das Papier Wirtschaft insgesamt ins Auge nimmt, suggeriert es nur Analyse gesamtwirtschaftlicher Vorgänge. Global verwendete Begriffe nehmen das Ganze der Gesellschaft ins Auge, um dann doch nur verschwommen Nebel zu produzieren: Schnell ist von der Macht des Kapitals die Rede, die man brechen oder wenigstens zurückdrängen müsse durch schnelle Vereinigung anti-neoliberaler Kräfte, gut gemeinte Vorsätze. Das bloße Einkleiden unmittelbarer Faktizität in globale Begriffe greift zu kurz, mögen verwendete Kennziffern oder Aggregate auch gesamtwirtschaftlicher Natur sein, so wenn Armut global gegeißelt wird, eine zurückgehende Lohnquote global ausgemacht wird oder zu niedrige Steuersätze auf Gewinne und Vermögen global zu beklagen sind, woraus man kurzschlüssig politische Forderungen ableitet: Löhne hoch, Vermögenssteuern zu niedrig! Natürlich, eine Zeitlang mag so was gut gehen, doch für wie viele Menschen? Und ist so etwas nachhaltig? Könnte es nicht doch richtig sein, dass das bloße Umverteilen den Mangel nur verallgemeinert, wenn bestimmte gesellschaftliche Strukturen nicht grundlegend geändert werden? Die Neoliberalen also Recht haben, wenn auch auf eine Weise, wie es ihnen gar nicht in Kram passen würde?

Der Gesellschaftsbegriff des Papiers greift zu kurz, nicht zuletzt weil es ohne Systembegriff arbeitet; es sieht die Gesellschaft nicht als systemisches Ganzes, bestehend aus Komponenten mit bestimmten Funktionen und Beziehungen. Die Betrachtung schielt statisch auf Verteilungszustände, auf Summierungen volkswirtschaftlicher Größen, ohne dass die Dynamik interner Wirkmechanismen funktional aufeinander sich beziehender Komponenten zur Sprache kommt. Aus dem Rechenwerk der VGR, das summarisch das Ende einer Abrechnungsperiode fixiert, lässt sich zureichend keine Politik formulieren, die nachhaltig eine Ökonomie der sozialen Verträglichkeit beförderte. Sie begründet eine pseudosoziale Politik, die sich darin gefällt, das kleinere Übel zu sein; denn dass höhere Gewinn- und Vermögenssteuern kleineren Einkommen zugute kommen, liegt einfach zu augenfällig auf der Hand, um nicht gebetsmühlenhaft wiederholt zu werden, um es dann dabei zu belassen.

Systeme – auch unsere Gesellschaft als System betrachtet – sind per definitionem problematisch und fordern Systemanalyse und Systementwicklung heraus, ggf. strukturelle Änderungen und veränderte Abläufe. Weil die Autoren des Papiers ohne zureichenden Systembegriff arbeiten, haben sie keinen problematischen Begriff von unserem Gesellschaftssystem und bewegen sich in der Gesellschaft deshalb weitgehend unproblematisch. Wie gesagt, Vermögens- und Gewinnsteuern hoch. Das Problem scheint allein zu sein: Deutsche Bank-Chef Ackermann will von seinen Millionen und Milliardengewinnen nichts abgeben, sogar noch Leute zu Tausenden entlassen. So sehr man sich gegen Entlassungen wehren muss, so richtig könnte es darüber hinaus sein, dass es im Kapitalismus nur vordergründig um ein Verteilungsproblem geht. (Verteilungs-)Ungerechtigkeit existiert vielleicht deshalb, weil in unserer Gesellschaft der Wurm steckt: wir es mit einem grundlegenden Systemproblem zu tun haben.

Dass die Linken keine Ahnung von Systementwicklung und -theorie haben, sich dafür nicht interessieren, erkennt man daran, wie sie das Wort Dialektik verwenden. Sehr oft wird es verwendet, um nicht sagen zu müssen, wie etwas genau funktioniert. Wenn’s hoch kommt, kennen unsere Linken das Wort System. Doch begnügen sie sich damit, das sozialökonomische System als Black Box zu sehen. Informationen gehen rein und raus. Man steht auf EVA (Eingabe-Verarbeitung-Ausgabe): man sieht das Unmittelbare: ein- und ausgehende Ströme, ohne sich für V – das Verbindende – zu interessieren. Was im System intern wie und warum passiert, bleibt dunkel. Das macht sich ganz besonders nicht nur in geldtheoretischen Phrasen neoliberaler Monetaristen, sondern auch bei Wissenschaftlern bemerkbar, die sich – wie Hermannus Pfeiffer, Journalist und Volkswirt – zur Linken rechnen.(PFH-DZG) Wenn man Pfeiffer in einem der zentralen Organe der Linken liest, kann man sich nicht nur bei ihm des Eindrucks nicht erwehren, da möchte sich einer, noch dazu im Stil eines Sparkassenleiters, als Berater des Zentralbankpräsidenten empfehlen: “Die ‘Härte’ des Euro muss die vorrangige Aufgabe der EZB bleiben, denn Preiswertstabilität ist ein hohes wirtschaftliches Gut, (...) sie hilft dabei, die gesellschaftliche Hegemonie über ökonomische Gesetze zu sichern (...)”, denn Geldwertstabilität biete “andererseits auch ‘kleinen’ Sparern, Handwerk und Gewerbe Sicherheit für ihre Sparanlagen, Konsum, Altersvorsorge und Investitionen.”(ebd S.75) Kein Wort darüber, dass die Zentralbank die zentrale Gelenk- und Schnittstelle, der Transmissionsriemen der Kapitalverwertung ist, dass in ihrer Kreditpolitik die Mechanik der Kapitalverwertung grundsätzlich und zentral, zudem unmittelbar zum Vorschein kommt, und dass als notwendige Bedingung an dieser institutionellen Gelenkstelle sich grundsätzlich und strukturell etwas ändern muss und zwar um den Mechanismus der Kapitalverwertung auszuhebeln. Mit ein bisschen Zinsen rauf und runter ist es nicht getan.

Zu viele Linke begreifen nicht, dass Kapitalverwertung notwendig fällt und steht mit der Institution der Zentralbank. Heute mehr denn je wird das sichtbar. Dort muss sich was ändern, damit überall woanders sich etwas ändern kann: Ein letzter Formenwandel des Geldes muss ermöglicht werden, der primär einen Rechtsanspruch auf Verzehr verbürgt und nicht mehr die kapitalverwertende Fähigkeit des Geldes absichert, sich zu vermehren; bindet der Vermehrungszwang die Verwendung des Geldes doch an den Mehrwert, der primär in der Produktion stattfindet. Geld allein schafft keinen Mehrwert; das macht nur menschliche Arbeitskraft, wiewohl es für den Kapitalbesitzer keinen Unterschied macht, ob er Geldvermögen oder Produktionsmittel besitzt; in beiden Fällen ist er interessiert an der Vermehrung des eingesetzten Kapitals.

Der Produktionsmittelbesitzer denkt, dass sich seine Produktionsmittel verzinsen, Einkommen generieren, mehr Wert als sie selbst an Wert besitzen schaffen (Mehrwert). Dass der Mehrwert allein durch lebendige Arbeit generiert wird, nicht durch Maschinen, wie Marx sagt, davon macht er sich keinen Begriff. Schließlich hat er die Produktionsmittel mit seinem Geld erworben, das er auch auf ein Sparbuch hätte legen können. Und so will er – gleiche Rechte für alle! – den in Geld ausdrückbaren Einsatz von Maschinen und Arbeitskraft am Ende eines Produktionszyklus’ anständig verzinst sehen, wie der Vermögensbesitzer sein Sparbuch. Dass ihm seine Maschinen, bei Marx das konstante Kapital, einen Streich dabei spielen, merkt er nicht. Er übersieht, dass Maschinen als geronnene Arbeit sich nicht verzinsen können, weil sie auf die zu produzierende Ware nur ihren Wert übertragen. Bei der Produktion einer Maschine wird zwar – wiederum durch den Arbeiter – Mehrwert produziert; das ist aber etwas anderes als das, was ihre Anwendung in der Produktion bedeutet. Dort ist ihre Existenz als Mittel der Produktion Bedingung für die Erzeugung von Mehrwert. Sie selbst produzieren keinen Mehrwert. Der Unternehmer will von dieser differenzierenden Betrachtungsweise nichts wissen, obwohl es für den Wertübertrag in der Betriebswirtschaftslehre einen schönen Begriff gibt: Abschreibung.

In den Kategorien von Marx ausgedrückt: Maschinen übertragen ihren Wert auf das Produkt; sie erzeugen keinen Mehrwert wie der Arbeiter, so dass als Folge davon die Profitrate mit zunehmendem Maschinenpark tendenziell sinkt: Verschaffen die Arbeiter dem Unternehmer zu wenig Profit (Verzinsung des insgesamt eingesetzten Kapitals), weil im Verhältnis zur eingesetzten Arbeitskraft der Maschinenpark immer größer wird (organische Zusammensetzung des Kapitals), müssen halt über Jahrzehnte eingefrorene Rechtsansprüche auf Verzehr, z.B. Renten, dran glauben, um dem Profit auf die Sprünge zu helfen. Das heißt: Lohnsteigerungen früherer Zeiten werden nachträglich einkassiert. Das passiert heute immer mehr und ist ein Zeichen dafür, dass Kapitalverwertung schwächelt, nicht davon, dass das Kapital große Macht besitzt. Die besitzt es so oder so. Oder auch nicht, je nachdem was die Politik will.

Der Begriff der Profitrate wird im dritten Band des Kapitals entwickelt (Untertitel: Der Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion); er ist notwendige Bedingung zu erkennen, dass Kapitalverwertung sich gesamtwirtschaftlich auslebt, in der Tendenz nur noch gesamtgesellschaftlich realisierbar ist, weniger dadurch, dass ein einzelner Unternehmer böse ist zu Arbeitnehmern. Ist er das, was vorkommt, so zeugt es eher von Schwäche, von wenig Macht, von Verzweiflung. Das Gegenteil mögen Arbeitnehmer denken, weil sie sich noch unmächtiger fühlen, die Zeche verzweifelter Bemühungen um mehr Profit zahlen müssen, v.a. wenn sie entlassen werden. Ja, Hartz-IV, längere Arbeitszeiten, Rentenkürzungen etc. sind verzweifelte, nutzlose, überdies zynische Anstrengungen von Politik und Wirtschaft, den Kapitalverwertungsprozess gerecht zu gestalten. Darüber vermag martialisches Getue in Politik und Wirtschaft – Forderungen nach mehr Eigenverantwortung, schlankem Staat, weniger Bürokratie, etc. – immer weniger hinwegzutäuschen.

Da Kapitalverwertung sich nur gesamtwirtschaftlich (mithilfe des Staates) zureichend auszuleben vermag, wird diese sich – umgekehrt – einzelwirtschaftlich nicht aushebeln lassen können, z.B. indem sich Arbeiter mit der Roten Fahne in der Hand in den Besitz ihres Betriebes bringen. Dann würden auch sie sich am Markt behaupten müssen, wie es vordem der Unternehmer musste. Sie müssten sich selbst ausbeuten. Und sie müssten andere ausbeuten, für sinkende Renten kämpfen, für Hartz-IV und das ganze übrige Programm eintreten. Nachhaltig ändern täte sich nichts. Das schließt Demokratisierungsprozesse in Betrieben und Gesellschaft keineswegs aus, z.B. um arbeitplatzvernichtende Fusionen oder Auslagerungen zu verhindern. Aber selbst das löst den Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit nicht auf. Das deutet sogar das Eckpunktepapier an: “Der Interessengegensatz zwischen den Bezieherinnen und Beziehern von Gewinn- und Vermögenseinkommen und den abhängig Beschäftigten wird durch die Wirtschaftsdemokratie nicht aufgehoben.”(BIJ-PEP)

Die Frage muss allerdings erlaubt sein, ob die Autoren mit dem Satz das Richtige meinen. Das muss bezweifelt werden, denn ein Satz zuvor heißt es, dass Wirtschaftsdemokratie darauf ziele, “die abhängig Beschäftigten vor den Risiken des Marktes und der Willkür der Arbeitgeber zu schützen und auf allen wirtschaftlichen Ebenen Mitbestimmungsrechte zu verwirklichen.” – Ja, was denn nun? Beide Sätze sind in ihrer Aussage missverständlich, wenn sie sich nicht gar widersprechen. Nun, vielleicht gibt es ja keinen wirklichen Interessengegensatz, sondern nur so ein bisschen Interessengegensatz, der nicht so ins Gewicht fällt. Wie dem auch sei, ich werde in PT3 darauf zu sprechen kommen, dass man die Beschäftigten weniger vor den Risiken des Marktes, ja nicht einmal vor den Arbeitgebern schützen muss. Denn sowohl Märkte als auch Arbeitgeber machen genau das, was Politik ihnen gewährt.

Es tauchen in den Eckpunkten immerhin zentrale und wichtige Worte auf wie Kapital oder Kapitalverwertungsmechanismus. Auch vor dem Namen Marx fürchtet man sich nicht; denn man ist links und fühlt sich linker Tradition verpflichtet. Auch Linke wollen wissen, woher sie kommen, um zu wissen, wohin es geht. Und überhaupt, wer wollte die Allgegenwärtigkeit der Macht des Kapitals in Abrede stellen? Dass Kapital irgendwie böse ist, hat jeder schon mal gehört, so oft, dass es eine ausgemachte Sache ist. Dennoch, auch Allgemeinplätze könnten ein Anfang sein. Nur hat jeder – trotz Marx – seine ganz besonderen, hypostasierenden Vorstellungen (Bilder) von der Macht (des Kapitals). Ähnlich wie die meisten Menschen in Gott das schlechthin Gute und Zukunftsverheißung vergegenständlicht sehen, ohne zu wissen, was in der Bibel steht. Viele begnügen sich damit, das Böse im großen Vorsitzenden eines großen Konzerns zu vergegenständlichen, ähnlich wie man das Böse im Teufel sieht, der um uns herum sein Unwesen treibt. Und so müssen wir uns vor dem Chef eines großen Konzerns fürchten, weil der mit uns ganz böse Sachen macht. Gegen so etwas braucht man eine gute, nämlich anti-neoliberale Gegenkraft, sozusagen einen mächtigen Engel: schnellstmögliche Vereinigung, um dann zu glauben: jetzt kann es losgehen mit dem Kampf des Guten gegen das Böse. Gut gegen Böse. Mal sehen, wer gewinnt. Wir sollten unserem Oskar alle ganz feste die Daumen drücken, anstatt ihm immer nur Knüppel zwischen die Beine zu werfen.