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Das Einzige, worauf Lou sich freut, wenn sie an Hamburg denkt, ist ihre Cousine Motte. Doch die reagiert anders als erwartet auf die Verwandtschaft aus Kanada. Und auch in der neuen Schule hat Lou es sich einfacher vorgestellt: Hier machen ihr schon bald der Klassenstar Billi und die schüchterne Rosa das Leben schwer. Doch so schnell gibt Lou nicht auf! Als im Musikunterricht ein ganz besonderes Projekt angekündigt wird, stehen die vier Mädchen plötzlich vor einer unlösbaren Aufgabe. Denn vier sind eindeutig drei zu viel. Oder?
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Seitenzahl: 208
Die Autorin
Stefanie Taschinski,geboren 1969, studierte Geschichte, Soziologie und Drehbuch.Die erfolgreiche Drehbuchautorin lebt mit ihrem Mannund ihren zwei Töchtern in Hamburg. Ihre ersten Kinderbücher,die Abenteuer der »kleinen Dame«, wurden von den Lesernund in der Presse mit großer Begeisterung aufgenommen.»Die POPkörner. Ein Stern für Lou« ist der Auftakt einer neuenMädchenreihe von Stefanie Taschinski.
Widmung
In Liebe für Frank»There’s a crack in everything, that’s how the light gets in.«
(Leonard Cohen)
Titel
Stefanie Taschinski
Die POPkörner
Ein Stern für Lou
Impressum
Erste Veröffentlichung als E-Book 2012© 2012 Arena Verlag GmbH, WürzburgAlle Rechte vorbehaltenEinband und Vignetten: Silke SchmidtISBN 978-3-401-80263-3www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.de
Prolog
Auf den Wellen tanzte das rote Wasserflugzeug, das sie nach Vancouver bringen sollte. »Seid ihr alle gut angeschnallt?«, fragte der Pilot und griff nach dem Zündschlüssel.
Lou, die vorne auf dem Sitz neben dem Piloten saß, zog ihren Gurt fester und drehte sich um. »Startklar?«
»Ja, Lusi!«, antwortete ihr kleiner Bruder Anton.
Herr Blum legte den Arm um seine Frau. »Sind wir so weit?«
»Ja«, seufzte Frau Blum und sah mit geröteten Augen hinter ihrem Taschentuch hervor. Auch Lous Herz fühlte sich ziemlich schwer für so ein kleines Flugzeug an.
In diesem Moment startete der Pilot den Motor. Ein Beben ging durch die Maschine, und während das Flugzeug langsam auf seinen Kufen über das Wasser glitt, drehte sich der Propeller immer schneller, bis die einzelnen Propellerblätter nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren. Unter Lous Füßen vibrierte der Metallboden und sie fühlte, wie ihre Beine zitterten.
»Auf Wiedersehen… Alert Bay«, flüsterte sie der grünen Insel zu, auf der sie die letzten fünf Jahre gelebt hatte. Hinter den Felsen und moosbewachsenen Sitkafichten leuchtete noch einmal das helle Holz ihrer Blockhütte auf. »Auf Wiedersehen!«
Fünf Jahre hatte die Familie Blum auf der kanadischen Insel gelebt. Fünf Jahre war Lou jeden Morgen mit ihrem Kajak zur Schule auf die Nachbarinsel gefahren und ihre Mutter hatte in dem winzigen Inselkrankenhaus als Ärztin gearbeitet. Nun hatte Frau Blum eine Stelle als Oberärztin in Deutschland angenommen und Anton sollte dort eingeschult werden.
Der Pilot lenkte das Flugzeug die letzten Meter aus der Bucht hinaus und beschleunigte. Lou klammerte sich an ihren Armlehnen fest. Die Nase des Fliegers stieg nach oben, noch ein-, zweimal stießen die Wellen von unten gegen die Kufen, dann hob das Flugzeug ab. Lou wurde tief in den weichen Sitz gedrückt. Das Flugzeug stieg und stieg.
In weniger als zwei Tagen würden sie in Hamburg ankommen: bei ihrer Großmutter, ihrem Onkel und ihrer Tante, den Zwillingen und vor allem bei MOTTE!
Lou war so gespannt auf ihre Cousine. Wie sah sie inzwischen aus? Was mochte Motte für Musik? Hatte sie ein Lieblingsbuch? Wollte sie überhaupt noch Motte genannt werden?
Bisher hatte Lou ihre Cousine erst ein einziges Mal getroffen – vor vier Jahren auf dem sechzigsten Geburtstag ihrer Großmutter –, aber ab übermorgen würden sie sogar Haus an Haus leben! Dann konnte Motte ihr alles zeigen: die neue Stadt, die neue Schule, und wenn sie Lust hatten, machten sie jede Nacht eine Pyjamaparty und quatschten bis nach Mitternacht! Endlich würde sie eine Freundin haben, die ganz nah bei ihr wohnte – und nicht zwei Inseln weiter.
1. Song
Motte Jacobi machte Kopfstand und ihre Totenkopfsocken blitzten wie zwei Warnzeichen aus der schwarzen Jeans.
Sie überlegte, was sie mit ihrem letzten Ferientag anfangen wollte. Mit dem letzten Tag, bevor…
Oh nein. Stopp.
Das war gedankliches Sperrgebiet!
Motte tippte mit den Füßen gegen ihr Bücherregal und konzentrierte sich auf das Kribbeln in ihren Beinen. Das kam immer, wenn sie Kopfstand machte. Erst kribbelte es nur ganz leicht in den Kniekehlen, dann stieg es hoch bis in ihre Zehenspitzen. Wie die Bläschen einer Colaflasche, die man auf den Kopf stellt. Je länger es kribbelte, desto leichter fühlte sie sich.
Am liebsten wäre Motte ja zu Grandmère nach oben ins Dachgeschoss der Jacobi-Villa gegangen. Aber die war erst vor einer Stunde zum Flohmarkt aufgebrochen. Und vor eins, halb zwei kam sie nicht zurück.
Motte hätte auch gern Brille oder David angerufen, um sich mit ihnen an der Skaterbahn im Park zu treffen. Aber das erlaubte ihre Mutter sowieso nicht, weil ja die Bluuuu…
Halt! Dieser Name kam ihr nicht in den Kopf! Motte wackelte mit den Zehen und ließ eine neue Welle Bläschen aufsteigen, bis sich auch der letzte Buchstabe des Namens aufgelöst hatte. Inzwischen kribbelte es bis zu den Ellenbogen und vor Mottes Augen wurde es langsam schwarz. Sie stieß sich vom Regal ab und kam aus dem Kopfstand.
Vielleicht sollte sie zu Maja gehen. Das konnte nicht einmal ihre Mutter verbieten. Denn Maja war ihr Meerschweinchen. Grandmère hatte es Motte zum elften Geburtstag geschenkt. Die Meerschweinchendame hatte weiches weißes Fell und auf dem Rücken zwei kleine braune Flecken, die aussahen wie Flügel. Motte beschloss, ein Buch mitzunehmen und es sich hinter dem Stall mit Maja auf dem Schoß gemütlich zu machen. Dort würde sie niemand stören.
Eben hatte sie das Robinson-Crusoe-Buch von ihrem Nachttisch genommen, als es unten an der Tür der Villa läutete. Keine drei Sekunden später schallte die Stimme ihrer Mutter durch das Treppenhaus. »Karlotta? Karlotta! Dein Nachhilfelehrer ist da!«
Nachhilfe am Sonntag? Hallo?! Hatte sie da was verpasst? Motte stopfte sich das Buch hinten in die Hose und huschte aus ihrem Zimmer. Auf der Treppe waren Schritte zu hören.
Eilig drückte Motte die Klinke des Gästezimmers nach unten.
»Karlotta kann sich ja nicht in Luft aufgelöst haben«, sagte ihre Mutter.
»Äh, äh, nein –… äh.« Dieser hochintelligente Kommentar stammte von Superhirni Mottes ebenso hochintelligentem Nachhilfelehrer, dessen mangelnde Fähigkeiten, mathematische Zusammenhänge zu erklären, bereits jetzt auf eine vielversprechende Karriere als Mathematiklehrer hinwiesen. Motte hatte schon nach der ersten Stunde kapiert, dass sie von diesem Einstein rein gar nichts lernen konnte. Und sie fragte sich, wie viele Fünfer sie noch schreiben musste, bis sie ihn endlich wieder los war. Ihre letzten freien Stunden würde Motte auf keinen Fall mit ihm verbringen!
Ganz sachte zog Motte die Tür hinter sich zu und verschwand, wie schon so viele Nachmittage zuvor, hinter den bodentiefen Vorhängen, die in steifen Falten vor den Fenstern des Erkers hingen.
»Karlotta-Sophie Jacobi!«, rief ihre Mutter wieder. »Komm sofort zu mir!«
Doch Motte machte es sich auf der Fensterbank gemütlich und strich sich das lange schwarze Haar hinter die Ohren. Warum musste ihre Mutter nur immer so rumstressen? Sie würde bestimmt nicht kommen. Nie im Leben!
Draußen im Flur begann ihre Mutter, eine Tür nach der anderen zu öffnen. Erst vor einer Woche war Motte – natürlich aus Versehen – mit einer brennenden Kerze gegen ihre Tür gekommen und die Flamme hatte einen winzigen braunen Fleck in den sonst makellosen Lack gebrannt. Ihre Mutter hatte ein Riesentheater gemacht. Aber Motte mochte den Fleck. Wenn sie die Augen zusammenkniff, sah es aus, als hätte sich ein kleiner dunkler Falter auf der Tür niedergelassen.
Direkt gegenüber von Mottes Zimmer lag der Aufgang in das Dachgeschoss der Villa: Dort lebte Mottes Großmutter, Marlene Jacobi. Früher war sie Französischlehrerin gewesen. Und wenn ihr etwas gegen den Strich ging, schimpfte sie noch immer auf Französisch. Grandmère trug grundsätzlich Seidenstrümpfe, las Klassiker und liebte Edith Piaf, eine französische Sängerin. Motte fand ja, dass diese Piaf furchtbar peinliche Lieder sang – immer mit ganz viel l’amour – Liebe und l’armes – Tränen. Aber abgesehen von ihrem Musikgeschmack war Grandmère top.
Ganz hinten am Ende des Flurs befanden sich zwei weitere Zimmer: Mottes Lieblingsversteck – das alte Gästezimmer, das ihre Mutter so gut wie nie betrat, weil sie sich vor den silbernen Motten fürchtete, die dort in den Vorhängen nisteten.
Und dann war da noch das Zimmer mit der verschlossenen Tür. Laut Grandmère war der Schlüssel vor gut einem halben Jahrhundert verloren gegangen. Motte hatte da allerdings ihre Zweifel. Denn manchmal, wenn sie nachts in ihrem Versteck saß, hörte sie aus dem Zimmer nebenan Geräusche. Aber jedes Mal, wenn sie Grandmère darauf ansprach, fiel diese prompt ins Französische und Motte begriff, dass sie nicht darüber reden wollte. Von ihrem Vater wusste Motte nur, dass dieser Raum früher das Kinderzimmer von Grandmères verstorbener Zwillingsschwester Gertrud gewesen war. Motte hätte ein Dutzend ihrer Lieblingsbücher dafür gegeben, nur um einmal dieses Zimmer zu betreten.
Draußen auf dem Flur kamen die Schritte näher.
»Wo steckt dieses unmögliche Mädchen nur schon wieder?«, hörte Motte die genervte Stimme ihrer Mutter. Nun verharrten die Schritte genau vor der Tür des Gästezimmers. Motte lauschte. Ihre Mutter wollte doch nicht ausgerechnet heute hereinkommen?
»Ich fürchte, wir müssen die Stunde verschieben«, seufzte Frau Jacobi.
»Verschieben?«, quäkte Superhirni. »Sie wissen, dass Nachhilfestunden, die nicht vierundzwanzig Stunden vorher abgesagt werden, voll bezahlt werden müssen?«
»Ach?«, sagte Frau Jacobi.
Und Motte konnte förmlich hören, wie ihre Mutter die Lippen spitzte. So wie sie es immer tat, wenn sie sich ärgerte.
»Nun, dann geht das von Karlottas Taschengeld ab!« Mit diesen Worten machte Frau Jacobi auf dem Absatz kehrt und verließ den ersten Stock.
Mist! Von diesem Geld wollte Motte doch ein neues Haus für Maja kaufen!
Sie zog die Beine an und kauerte sich zusammen. Hinten drückte das Buch, das sie in ihren Hosenbund gestopft hatte. Motte angelte es heraus und strich über den Titel. Es war eine alte Taschenbuchausgabe von Robinson Crusoe, die Papa ihr ausgeliehen hatte. Motte war schon zur Hälfte durch. Dieser Crusoe war echt ein Glückspilz. Klar war es blöd, dass sein Schiff untergegangen war, aber dafür hatte er eine ganze Insel für sich allein! Keine kleinen, nervigen Brüder wie Till und Ole. Keine Mutter, die dauernd Stress wegen der Schule machte, und schon gar keine Eindringlinge, die ihm seine Insel streitig machen wollten.
Sie schlug das Buch auf. »Als ich eines Mittags nach meinem Boot hinauswanderte, entdeckte ich im Sande des Strandes die Spur eines Menschenfußes. Ich stand wie vom Donner gerührt, kein Gespenst hätte mich mehr in Schrecken setzen können.«
Motte las die Stelle zweimal. Wie kam denn jetzt dieser Fußabdruck an den Strand? War Robinsons Insel doch nicht so unbewohnt, wie es den Anschein gehabt hatte? Motte konnte seinen Schock supergut nachvollziehen. Denn auch ihre Insel war in Gefahr.
Sie legte das Buch zur Seite und starrte aus dem Fenster zum alten Kutscherhaus hinüber, das halb verdeckt unter der großen Kastanie stand. Früher waren dort im Stall vier Pferde und zwei Kutschen untergebracht. Und in der kleinen Wohnung darüber lebte der Kutscher. Natürlich war aus dem Kutscherhaus längst eine gewöhnliche Garage geworden, in der die Jacobis ihre Autos und Fahrräder parkten und im Winter die Tischtennisplatte unterstellten. Nur die Wohnung war erhalten geblieben. Zwischendurch hatte dort ein Au-pair gewohnt. Aber nun stand die Kutscherwohnung schon einige Jahre leer.
Und wenn es nach Motte gegangen wäre, hätte sich daran auch nie etwas geändert! Sie war von Anfang an dagegen gewesen!
Nicht dass dies die Entscheidung ihrer Eltern und ihrer Großmutter in irgendeiner Weise beeinflusst hätte.
»Das ist doch kein Weltuntergang, Motte«, hatte Papa gesagt und versucht, sie an sich zu ziehen. »Sie ist deine Cousine!«
Na und? Nur weil dieses Mädchen rein zufällig die Tochter von Papas Schwester war, brach Motte nicht automatisch in Freudentränen aus! Schlimm genug, dass die Briefe ihrer Cousine seit Jahren Grandmères Briefkasten verstopften! Jetzt würde sie sich auch noch mit ihrer ganzen Familie hier breitmachen. Motte knabberte an ihrer Unterlippe. Aber das würde sie nicht zulassen. Sie würde diese Blums aus dem Kutscherhaus vertreiben, ehe die bis drei zählen konnten!
In diesem Augenblick drang von der Straße lautes Motorengeräusch herauf. Motte spähte zum Gartentor. Unten auf der Einfahrt kam ein alter weißer VW-Bus zum Stehen. An den Seiten war er mit Blumen aus schwarzer Folie beklebt. Selbst ausgeschnittenen Blumen. Wie peinlich war das denn! Dieser VW-Bus konnte wirklich nur den Blums gehören.
Was um Himmels willen machten die schon hier? Ihre Mutter hatte doch behauptet, dass sie erst abends ankommen sollten. Und jetzt war es gerade mal Mittag. Aber Motte blieb keine Zeit, sich einen Reim darauf zu machen, denn schon wurde die hintere Tür des Busses aufgeschoben.
Motte presste die Nase gegen die kalte Fensterscheibe.
2. Song
»Herrjemine, wir sind viel zu früh!«, sagte Frau Blum und pustete sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. »Das wird Vanessa überhaupt nicht gefallen.«
Herr Blum warf seiner Frau einen belustigten Blick zu. »Vielleicht hätten wir doch an der letzten Autobahnraststätte warten sollen, bis es fünf Uhr ist«, frotzelte er.
»Nein!«, lachte Frau Blum. »Aber es wird ein Schock für sie sein.«
Lou liebte das Lachen ihrer Mutter und beugte sich nach vorne zwischen ihre Eltern. »Im schlimmsten Fall kannst du sie ja medizinisch versorgen«, schlug Lou vor. Schließlich war ihre Mutter Ärztin.
In diesem Moment meldete sich Anton zu Wort. »Freut sich Tante Vessa nicht?«, fragte er ängstlich.
Lou sah zu ihm. Anton hatte genauso tiefblaue Augen wie ihr Vater. Nur mit einem ganz leichten Silberblick und seine runde Nase war übersät mit Sommersprossen.
»Aber logo freut sie sich«, versicherte Lou.
Anton presste seinen Strickkäfer, Kirk, an die Brust. Das tat er immer, wenn er unsicher war oder etwas nicht verstand. Antons einundzwanzigstes Chromosom war etwas anders gebaut als das von Lou – in der Medizinersprache hieß das Downsyndrom – und Ironie verstand er nicht.
»Alle freuen sich auf uns: Tante Vanessa, Onkel Oliver, Grandmère, Motte, Till und Ole. Alle! Alle! Alle!«, sagte Lou und schob die Wagentür auf. Behände sprang sie aus dem VW-Bus und reckte ihre Arme und Beine in alle vier Himmelsrichtungen. Von dem langen Flug und der Autofahrt waren sie ganz steif. Vor genau zwei Tagen hatten sie und ihr Bruder noch auf dem Holzsteg vor ihrer kanadischen Blockhütte gesessen, die nackten Füße ins kalte Wasser des Pazifiks gehalten und den Robben zugeschaut, die sich auf dem Felsen gegenüber sonnten. Und nun ragte die Jacobi-Villa imposant vor ihr auf. Die Fassade war in einem eleganten Hellgrau gestrichen und in allen Fenstern hingen die gleichen gestreiften Vorhänge. Lou ging die letzten Meter auf das schmiedeeiserne Tor zu.
»Lusi, warte!«, ertönte hinter ihr die Stimme ihres Bruders. »Kirk und ich kommen mit!« Anton sprang aus dem Bus.
Lou sah zur Villa hinauf und blinzelte. War da nicht eben ein Gesicht gewesen, hinter dem vorletzten Fenster im ersten Stock?
Sie rieb sich die Augen. Das Fenster war leer. Na ja, sie war ja auch total übermüdet vom Jetlag. Vermutlich sah sie schon Gespenster.
Anton schob mit Kirk im Arm die linke Hälfte des Tors auf. Lou bemerkte, wie er dabei die Beine zusammenklemmte. »Musst du mal?«, fragte sie besorgt.
»Nur Pipi.«
Da öffnete Lou schnell die rechte Seite des Tors und nahm Anton an die Hand. »Komm«, sagte sie und zog ihn mit in Richtung der großen Rhododendronbüsche, die die Auffahrt der Villa säumten. Bis sie ins Haus kamen, war es bestimmt zu spät. Und Lou wollte unter keinen Umständen, dass Tante Vanessa Anton gleich am ersten Tag mit vollgepinkelter Hose sah. Solche Höhepunkte wollte sie sich lieber für später aufheben.
Während Lou und Anton im schattigen Grün abtauchten, fuhr Herr Blum den VW-Bus langsam die kiesbedeckte Auffahrt zum Kutscherhaus hoch.
Lou spähte durch die ledrigen Blätter zur Villa hinüber. Gerade ging hinten die Terrassentür auf und Onkel Oliver kam auf die Veranda. »Hallo, Moni! Hallo, Stefan!«, rief er und lief auf Lous Eltern zu.
Lou drehte sich wieder zu ihrem Bruder. »Fertig?«
»Jahaa«, sagte Anton und zog seine Hose ein Stückchen höher. Lou seufzte erleichtert. War alles noch mal gut gegangen. Nur ein winziger Spritzer war vorne auf Antons Turnschuhen zu sehen. Lou wartete, bis ihre Mutter und ihr Onkel sich in die Arme fielen, dann schlüpfte sie so unauffällig wie möglich mit Anton aus dem Rhododendron.
»Hallo, Onkel Oliver«, sagte Lou, als sie neben ihm standen.
Ihr Onkel drehte sich um. Er war ein ganzes Stück kleiner als Herr Blum, hatte schmale Schultern und sein Kopf war bis auf einen spärlichen Haarkranz kahl. Aber seine braunen Augen strahlten die Kinder freundlich an. »Louise! Anton! Da seid ihr ja! Ich habe mich schon gefragt, ob eure Eltern euch auf dieser kleinen Insel vor Vancouver vergessen haben«, sagte er und zog die beiden an sich.
»Ne, leider nicht«, grinste Lou. »Wir…«
Ein lauter Nieser unterbrach sie. »Hapüüüh!«
Lou drehte sich zur Villa. Oben auf der Terrasse stand Tante Vanessa und tupfte sich mit einem Taschentuch die Nase. Ihre glatten schwarzen Haare rollten sich über den Schultern in einem vollendeten Schwung nach innen. Sie trug ein edles bordeauxfarbenes Kostüm und eine hellgraue Bluse. Sie sieht aus wie eine Schaufensterpuppe, schoss es Lou durch den Kopf.
Links und rechts von Tante Vanessa standen die frisch gestriegelten Zwillinge: Till und Ole.
Lou sah sich um. Wo waren Motte und Grandmère?
Tante Vanessa schritt die Stufen von der Veranda hinunter.
»Ooh, ihr seid schon da. Willkommen, willkommen!« Doch statt einer echten Umarmung verteilte sie nur gehauchte Luftküsschen.
Die Zwillinge machten eine steife Verbeugung und sagten »Guten Tag«.
»Hey, Till! Hey, Ole!« Lou ging auf ihre Tante zu. »Wo ist denn Motte?«
Aber gerade da hatte ihre Tante den Fleck auf Antons Schuh entdeckt und musterte ihren Neffen von oben bis unten. Ehe sie noch etwas sagen konnte, stand schon Herr Blum neben seinem Sohn und legte den Arm um seine Schulter.
»Guten Tag, Anton«, sagte Tante Vanessa und nur ihr gespitzter Mund verriet, dass ihr noch etwas ganz anderes auf den Lippen lag.
»Hallo, Tante Vessa«, murmelte Anton eingeschüchtert.
Onkel Oliver räusperte sich und sah zu seinen Söhnen. »Wollt ihr Lou und Anton nicht mal unsere Meerschweinchen zeigen?« Er blickte zu Anton. »Wir haben nämlich drei!«
Lou bemerkte, wie ihre Tante angewidert das Gesicht verzog.
»Echte Meerscheinchen?«, fragte Anton begeistert.
Die Zwillinge stießen sich in die Rippen.
»Meerscheinchen…«, äffte der im dunkelblauen Poloshirt Anton nach. Der andere lachte mit.
Lou warf ihrem Vater einen fragenden Blick zu. Aber Herr Blum lächelte seiner Tochter beruhigend zu.
»Dann sollte aber auf jeden Fall ein Erwachsener mitgehen«, wandte Tante Vanessa sich an ihren Mann und sah vielsagend zu Anton. »Ich meine…«
»Ach, das schaffen die Kinder schon allein«, winkte Frau Blum unbekümmert ab.
»Keine Sorge, Tante Vessa, Kirk kommt doch mit«, erklärte Anton ernst und hielt ihr den Strickkäfer hin.
»Na, dann mal ab die Post!«, sagte Onkel Oliver schnell, bevor seine Frau weitere Einwände erheben konnte.
Die Jungs rannten los. Nur Lou blieb stehen.
»Willst du nicht mit?«, fragte Herr Blum überrascht.
»Doch…«, sagte Lou. Sie blickte zur Villa hoch. »Aber wo ist Motte? Sie ist doch da, oder?«
Onkel Oliver wollte gerade antworten, da unterbrach ihn Tante Vanessa. »Selbstverständlich ist sie da. Karlotta hat nur etwas für die Schule vorzubereiten. Aber spätestens zum Abendessen werdet ihr euch sehen.«
»Motte macht was für die Schule?«, fragte Lou erstaunt. »Ich dachte, es sind noch Ferien?«
Tante Vanessa lächelte nachsichtig. »In der Tat, aber Karlotta möchte selbstverständlich bestens auf den Unterricht vorbereitet sein.«
»Aah!«, brachte Lou heraus. Ehe sie noch weitere Fragen stellen konnte, klopfte Herr Blum beherzt auf die Kofferraumklappe des Busses. »Zeit zum Auspacken!«
Onkel Oliver atmete aus. »Ich helfe euch.«
Tante Vanessa wandte sich zum Gehen. »Also ich muss mich noch um unser Menü kümmern«, verkündete sie. »Ihr seid ja wirklich sehr früh gekommen…«
»Einen Moment noch, Vanessa. Ist die Wohnung denn schon offen?«, fragte Frau Blum.
Tante Vanessa hielt inne. »Oh, keine Ahnung. Ich habe den Schlüssel jedenfalls nicht«, sagte sie und eilte in Richtung Villa.
»Ich schau mal nach«, bot Lou an und rannte die Metalltreppe hoch, die außen an der Seite des Kutscherhauses in den ersten Stock führte. Neben der Haustür standen eine hübsche Holzbank und auf dem Fensterbrett Blumentöpfe mit blauen und gelben Krokussen. Lou rüttelte an der Tür. »Ist abgeschlossen, Ma!«
»Sieh mal unter der Fußmatte nach. Vielleicht hat Grandmère den Schlüssel dort versteckt.«
Lou hob die Matte an, aber darunter lag auch nichts.
»Fehlanzeige.«
Genau in diesem Augenblick fuhr ein kleines dunkelblaues Auto mit offenem Verdeck die Auffahrt hoch.
»Grandmère!«, rief Lou und flitzte die Treppe wieder herunter. Ihre Großmutter stieg aus dem Auto. Der Fahrtwind hatte ihr kräftiges silbernes Haar durcheinandergewirbelt und ihre Wangen waren leicht gerötet. Ihre Augen strahlten Klugheit aus und ihr lächelnder Mund verriet Wärme und Humor.
»Mon Dieu, bin ich etwa zu spät?«, fragte sie und schritt auf ihre Familie zu. In dem Knopfloch ihres jadegrünen Blazers steckte ein winziges Sträußchen Schneeglöckchen und unter ihrer weiten Hose schimmerte ein Paar weißer Turnschuhe. Lou flog in ihre Arme. »Du kommst genau richtig!«
»Ma petite fille«, seufzte Grandmère und drückte Lou zwei Küsse auf die Wangen. »Lass dich ansehen.«
Bewundernd wanderte ihr Blick von Lous leuchtend gelbem Kapuzenpulli über die ultramarinblaue Pumphose bis hin zu ihren weichen Wildlederstiefeln. »Meine Große! Magnifique! Genauso hübsch wie deine Mutter!«
Nachdem Grandmère auch ihre Tochter, Frau Blum, und ihren Schwiegersohn, Herrn Blum, fest in die Arme geschlossen hatte, sah sie sich erstaunt um. »Und wo ist mein Lieblingsenkelsohn? Wo ist Anton?«
»Hinten im Garten«, erklärte Frau Blum. »Ole und Till zeigen ihm die Meerschweinchen.«
»Ah, bon«, nickte Grandmère. »Natürlich. Die Tiere machen uns allen sehr viel Freude.«
»Oh ja«, prustete Lou. Insbesondere Tante Vanessa… Aber das sagte sie lieber nicht.
»Wir wollten eigentlich gerade mit dem Auspacken beginnen«, meldete Onkel Oliver sich zu Wort.
»Eine ausgezeichnete Idee!«, stimmte Grandmère zu.
»Ja, aber die Wohnungstür ist abgeschlossen und wir haben leider keinen Schlüssel!«, erzählte Frau Blum weiter.
Grandmère schlug die Hände vor den Mund, klappte ihre große violette Handtasche auf und begann, darin zu suchen. »C’est un bordel, ça!« Sie schob ihren Arm immer tiefer und tiefer in die Tasche. »Diese Tasche frisst einfach alles auf!«
»Wir müssten irgendwo noch einen Ersatzschlüssel haben«, überlegte Onkel Oliver.
Aber da zog Grandmère einen silbernen Schlüssel hervor und drückte ihn Lou in die Hand. Und während Lou und Grandmère lachend die Treppe zur Wohnung hinaufstiegen, saß in der Villa hinter dem vorletzten Fenster im ersten Stock ein anderes Mädchen und knabberte wütend ihre Fingernägel ab. Sie musste handeln – und zwar schnell!
3. Song
Die Wohnung oben im alten Kutscherhaus war winzig – fast so klein, als stammte sie aus dem Reich Lilliput, dachte Lou. Aber Grandmère hatte alles getan, um sie für die Blums behaglich zu machen. Die Räume waren in frischen Creme- und Blautönen gestrichen, und da die Möbel der Blums noch gut verpackt auf einem Containerschiff über den Ozean fuhren, hatte Grandmère sie mit Möbeln aus der Villa eingerichtet. Im Wohnzimmer gleich neben dem Fenster stand ein wunderschöner Sekretär. Frau Blum stellte sofort ihre Tasche daneben. Dies war der Platz, an dem sie ihre Patientenberichte verfassen wollte.
In der Küche entdeckte Herr Blum den großen Gasherd, den Grandmère für ihn besorgt hatte. Herr Blum drehte das Gas auf und ließ den vorderen rechten Metallkreis auflodern. Dies war genau der Herd, an dem er für seine Familie kochen wollte.
»Und wo ist mein Zimmer?«, fragte Anton, der von seiner Meerschweinchentour zurück war. Herr Blum füllte gerade Wasser in die Espressokanne. »Gleich neben unserem Schlafzimmer«, erklärte er und schraubte die Kanne fest zu. »Gehst du mit, Lou?«
Lou atmete geräuschvoll aus. Eigentlich hätte sie jetzt gern ihr Zimmer gesehen. Aber sie wusste, dass es für ihren Bruder viel schwieriger war, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. So ging sie vor bis zu dem Zimmer, das ihr Vater beschrieben hatte. Die Tür stand halb offen und die Nachmittagssonne schien durch zwei große Fenster. Anton stieß einen Jubelschrei aus. Das Zimmer war leuchtend blau gestrichen – und es hatte ein Hochbett.
»Lusi! Lusi«, rief er aufgeregt. »Halt mal!« Er drückte ihr Kirk in die Hand und kletterte die Leiter hoch. »Komm!«, rief er. »Komm doch!«
Aber jetzt wollte Lou wirklich ihr Zimmer sehen! Sie warf Kirk aufs Bett. »Gleich«, rief sie und war schon wieder draußen im Flur. Sie sah sich um. Wo war ihr Zimmer?
Lou war schon auf dem Weg zurück in die Küche, als sie die Leiter entdeckte. Oben in der Decke war eine Luke. Das musste der Durchgang zum Dachboden sein. Ob ihr Zimmer dort…? Lou nahm die Leiter und hakte sie ein. Als sie die oberste Sprosse erreicht hatte, drückte sie die Luke nach oben und streckte den Kopf hindurch.