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Die Ferien stehen vor der Tür - Motte, Lou, Rosa und Billie träumen von Nachmittagen im Freibad, neuen Songs und gemeinsamen Proben. Aber nachdem der Bandraum der Schule wegen Renovierung geschlossen wird, stehen die POPkörner plötzlich auf der Straße. Wo sollen sie sich nun treffen? Unterdessen beschäftigen Motte ganz andere Fragen: Ihr Vater lässt sich immer seltener zu Hause blicken und die Mutter benimmt sich geradezu unheimlich nachsichtig. Als Motte das Geheimnis ihrer Mutter schließlich entdeckt, gerät sie in Gefahr. Doch die POPkörner halten zusammen, auch wenn es brenzlig wird.
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Seitenzahl: 206
Stefanie Taschinski
Die POPkörner
Ein Feuerwerk für Motte
Weitere Bücher von Stefanie Taschinski im Arena Verlag:
Die POPkörner. Ein Stern für Lou (Band 1)
Die kleine Dame (Band 1) Die kleine Dame und der rote Prinz (Band 2) Die kleine Dame auf Salafari (Band 3)
Stefanie Taschinski, geboren 1969, studierte Geschichte, Soziologie und Drehbuch. Die Drehbuchautorin lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in Hamburg. Ihre ersten Kinderbücher, die Abenteuer der »kleinen Dame«, wurden von den Lesern und in der Presse mit großer Begeisterung aufgenommen. »Die POPkörner. Ein Feuerwerk für Motte« ist der zweite Band einer neuen, erfolgreichen Mädchenreihe von Stefanie Taschinski.
Für die neue Generation: Jasmin, Pauli, Josi, Sophie, Philipp, Lilly und Kathi in Liebe S.T.
1. Auflage 2013 © 2013 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Einband und Vignetten: Silke Schmidt ISBN 978-3-401-80264-0
www.popkörner.de
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1. Song
Milchreis mit unregelmäßigen Verben
Durch das gekippte Fenster der Schülerbibliothek wehte der Duft des Sommers. Es war eine Mischung aus warmem Asphalt, blühendem Jasmin und Bratwürstchen. Mottes Magen knurrte. Sie war in dieser Mittagspause nicht mit den anderen in die Mensa gegangen, sondern hatte sich in die Bibliothek gesetzt, um vor dem Englischtest in der Fünften wenigstens einen Blick auf die unregelmäßigen Verben zu werfen. Wenn sie doch auch wie Lou ein paar Jahre in Kanada gelebt hätte! Es war so ungerecht! Ihre Cousine musste für Englisch überhaupt nichts tun. Im Gegenteil, in manchen Nächten träumte Lou sogar in Englisch! Noch vor wenigen Wochen hätte Lou auf Suaheli oder Mandarin träumen können – es wäre Motte einfach nur schnuppe gewesen. So wie ihr Lou überhaupt total schnuppe gewesen war und sie nichts unversucht ließ, um ihre lästige Cousine möglichst schnell loszuwerden. Wenn ihr damals jemand prophezeit hätte, dass sie und Lou Freundinnen werden würden – sogar beste Freundinnen – hätte Motte höchstens trocken gehustet.
Sie knabberte an ihrem Bleistift. Nun war die einstündige Mittagspause fast vorüber. In nicht einmal zehn Minuten kam Herr John, der Hausmeister, und würde abschließen. Und sie hatte noch nicht einmal die Hälfte der Verben geschafft! Mit finsterem Blick blätterte Motte eine Seite weiter und schrieb die nächsten Verben ab. »See, saw, seen. Seek, saught, saught. Sing, sung, sung…« Motte hielt inne und blickte wieder ins Buch. Mist! Das Simple Present von singen schrieb sich mit »a« und nicht mit »u«. Genervt strich sie das Wort durch und schrieb die Reihe neu auf. »Sing, sang, sung.« Im selben Moment ging ihr der erste Auftritt der Popkörner durch den Kopf. Der lag noch keinen Monat zurück. Lou schwärmte immer noch von dieser »Sternstunde«.
Motte dagegen hatte es als die »Begegnung mit dem Todesstern« abgespeichert. Sie hatte Lous Krächzen noch lebhaft im Ohr. Denn so schön ihre Cousine bei den Proben singen konnte, vor Publikum schlotterten ihr die Knie und ihre Stimme nahm Reißaus. Motte war kurz davor gewesen, von der Bühne zu flüchten, als urplötzlich Billie neben Lou am Mikro stand. Von einer Sekunde auf die andere war Lous Lampenfieber weggeblasen und sie hatte zusammen mit Billie ihren Song Von einem andern Stern gesungen. Ein kleines Lächeln huschte über Mottes Gesicht. Der Todesstern war haarscharf an ihnen vorbeigerauscht. Der Song war saucool! Nicht umsonst war Von einem andern Stern seit dem Schulfest auf allen Fluren Thema Nummer eins. Es gab nur einen klitzekleinen Haken bei der Sache: Billie! Motte nahm sich die nächste Verbenreihe vor. »Sell, sold, sold.« Es hatte eben alles seinen Preis.
Motte war so in ihre Vokabeln vertieft, dass sie kaum hörte, wie die Tür zur Bibliothek sich öffnete und ein Mädchen hereinschlüpfte. Sie war klein, trug ihr kinnlanges blondes Haar in einem stacheligen Minizopf und sah sich suchend um.
»Herr John ist nicht da«, flüsterte sie.
Hinter ihr schlüpfte ein zweites Mädchen hinein. Sie war einen guten Kopf größer, hatte braune Haare und versteckte etwas unter ihrem blau-weiß karierten Holzfällerhemd, das sie offen über ihrer Jeans trug.
»Sag ich doch.« Lou steuerte auf den Tisch zu, an dem Motte saß. »Wir haben dir was mitgebracht«, sagte sie und holte den Plastikbecher unter ihrem Hemd hervor.
Motte sah über ihre Schulter. »Lou? Rosa? Ich dachte, ihr habt mich vergessen.«
Lou nahm den Deckel von dem Becher und hielt ihn ihr hin. »Wir können unsere Keyboarderin doch nicht verhungern lassen.«
»Milchreis mit Kirschen!«, rief Motte begeistert, dann glitt ihr Blick suchend über den Tisch. »Aber wie…?«
»Tatatataaaa!« Rosa zog einen Löffel aus der Hosentasche.
Motte schnappte ihn sich und fiel heißhungrig über den Milchreis her. »Ihr seid fantastisch!«
»Ich weiß«, grinste Lou.
Rosa setzte sich auf die Tischkante. »Und, bist du mit Englisch fertig?«
Motte stopfte sich den nächsten Löffel in den Mund und rollte mit den Augen. »Nee, nur mit den Nerven!«
Lou klappte das Englischbuch zu. »Für heute ist Schluss.«
»Sagt mal, wisst ihr, wann wir Deutsch schreiben?« Rosa baumelte mit den Beinen. »David meinte irgendwas von Dienstag. Kann das sein?«
Motte verschluckte sich an dem Milchreis und hustete. »Dienstag?! Wir schreiben doch Donnerstag schon Mathe!«
Lou klopfte Motte auf den Rücken. »Stimmt trotzdem. Deutsch ist Dienstag und Mathe ist Donnerstag. Ist mal wieder der Vor-den-Ferien-Wahnsinn.«
»Allerdings«, stöhnte Motte, die die letzten Milchreiskrümel aus ihrem Becher kratzte. »Und ich muss auch noch dieses bescheuerte Referat über griechische Mythen halten!«
»Ach, Herr Wiese ist nicht so streng«, meinte Rosa.
»Du erzählst ein bisschen über Zeus und griechischen Wein und das war’s«, versuchte Lou, sie aufzumuntern.
»Sicher, Lou«, sagte Motte. »Ich bringe Oliven und Zaziki mit und schon hab ich meine Zwei.«
Lou wollte gerade antworten, da flog die Tür der Bibliothek auf und ein rothaariges Mädchen wirbelte herein. »Ich fasse es nicht!« Billies rote Locken quollen unter ihrem frechen Hut hervor und zwischen ihren Augenbrauen stand eine steile Falte. »Das können die nicht machen!«, empörte sie sich. »Nicht mit MIR!«
Motte, Lou und Rosa wechselten einen Blick.
»Was ist passiert?«, fragte Lou.
»Zoff mit Johanna?«, erkundigte sich Rosa, die wusste, dass Billie sich häufiger mit ihrer älteren Schwester stritt.
Billie knallte ein gefaltetes Blatt Papier auf den Tisch. »Frau Schneider hat meinen Artikel abgenommen!«
»Billie«, stöhnte Motte. »Chill dein Leben!«
Lou faltete das Blatt auseinander. Es war der Artikel, den Billie für die Schülerzeitung geschrieben hatte: Neue Mädchenband an der Lessing-Schule startet durch: Die Popkörner begeistern das Publikum mit ihrem ersten Song! Natürlich hatte Billie dafür gesorgt, dass ein Riesenfoto von ihnen mit abgedruckt wurde.
Billie trommelte mit den Fingern auf dem Tisch.
»Ich berufe eine sofortige Krisensitzung der Popkörner ein!«
»Aber Frau Schneider räumt die Pinnwand doch jede Woche auf«, wagte Rosa sich vor.
»Und den Bericht über unser Konzert hat sie sogar zwei Wochen länger hängen lassen«, erinnerte Lou Billie.
»Kapiert ihr nicht?«, brauste Billie auf. »Wir müssen PRÄSENT sein! Wenn die Leute nicht wissen, wer wir sind, kommen sie nicht zu unserem nächsten Auftritt! Dann, dann vergessen sie die Popkörner wieder! Und wenn die blöde Schneider diesen Artikel nicht mehr aufhängen will, schreibe ich eben einen neuen! Ich könnte eine Reihe über uns machen. Wisst ihr, wo wir jede von uns vorstellen und…«
»Pausentaste!«, schnitt Motte ihr das Wort ab. »Ich weiß nicht, wie Lou und Rosa darüber denken, aber mir ist nicht wichtig, was die anderen über die Popkörner denken. Ob es unsere Band weiter gibt, hängt doch nicht davon ab, ob wir an irgendeiner Pinnwand kleben, sondern ob wir Musik machen!«
Rosa nickte heftig. »Es geht um den Spaß. Gemeinsame Proben. Auftritte!«
»Ihr checkt es einfach nicht!«, stieß Billie hervor und sah zu Lou. »Das A und O ist die Pressearbeit! Wenn die nicht funktioniert, kannst du alles andere in die Tonne werfen.«
Lou faltete den Artikel zusammen. »Also ich finde, wenn Billie einen neuen Artikel schreiben möchte, ist das total lieb von ihr.«
Motte sah ihre Cousine verzweifelt an. »Louhou, bitte!«
»Ich dachte an eine Starporträt-Reihe!«, fuhr Billie unbeirrt fort. »Wir brauchen eine richtige Kampagne…«
Doch dieses Mal schüttelte Lou den Kopf. »Nee, Billie, was wir brauchen, ist ein neuer Song!«
2. Song
Sechs Saiten und ein Ozean aus Tönen
Nachdem Lou in der Küche des Kutscherhauses ein großes Glas Apfelschorle runtergestürzt und ihrem Vater die Einladung zum Elternabend gegeben hatte, schnappte sie sich ihren Rucksack und kletterte die Leiter in ihr Zimmer hoch. Das Dachzimmer, das mit seinen knapp acht Quadratmetern eher einer Kammer glich, in die nichts als ein kleiner Schreibtisch, ein schmales Bett und ein eintüriger Schrank passten. Dieses Dachzimmer war Lous absoluter Lieblingsort. Von ihrem Schreibtisch aus konnte sie direkt zu Mottes Fenster in der Jacobi-Villa sehen und ihr vor dem Schlafengehen Botschaften mit der Taschenlampe zublinken. Das Gemütlichste aber war das verschnörkelte Bett, das Grandmère für sie auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Es war das Schiff, mit dem Lou nachts über die Meere ihrer Träume segelte und auf dem sie tagsüber im Schneidersitz Gitarre übte. Lou stellte ihren Rucksack auf den Schreibtisch, machte ihn auf und holte ihr Deutsch- und Mathebuch heraus. Zwischen den Büchern steckte noch das Blatt, das Billie in die Bibliothek mitgebracht hatte. Lou faltete den Bogen auseinander und betrachtete das Foto, das über die ganze Breite des Artikels ging. Mottes Vater hatte es bei ihrem Auftritt gemacht. Rosa ließ die Sticks über das Trommelset wirbeln. Motte saß mit abwesendem Gesicht am Keyboard. Und sie selbst stand gemeinsam mit Billie vorn am Mikro. Wenn Lou an den Moment dachte, als sich der Knoten in ihrem Hals gelöst hatte und sie wieder singen konnte, bekam sie immer noch Herzklopfen. Lou blickte zur Wand neben ihrem Schreibtisch, an die sie ihre Lieblingsfotos aus Kanada gehängt hatte. Zwischen dem Foto mit der Orcafamilie und dem Bild von ihrer Blockhütte war noch Platz. Dort sollte das erste Popkörner-Bild hängen – als Beweis, dass sie sich nicht alles nur eingebildet hatte. Denn manchmal, wenn Lou mitten in der Nacht aus einem Traum erwachte, in dem sie mal wieder ganz allein auf einer Bühne stand und keinen Ton hervorbrachte, erschien es ihr absolut unwahrscheinlich, dass ausgerechnet sie, das Mädchen, das sogar im Schlaf Lampenfieber bekam, eine eigene Band gegründet hatte! Sie pinnte den Artikel an die schräge Wand. Aber genauso war es: Die Popkörner hatte sie nicht geträumt! Lou fühlte ein Prickeln in den Fingern. Ein erwartungsvolles Prickeln, das ihr genau sagte, was sie sich jetzt am meisten wünschte. Deutsch und Mathe konnten warten. Durch das Dachfenster schien die Sonne genau auf ihr Bett und malte einen einladenden Fleck auf die Tagesdecke. Draußen in der Krone der alten Kastanie ruhte sich ein Vogel vom Nestbau aus und zwitscherte leise zwischen den großen Blättern.
Genau danach war Lou jetzt auch. Sie wollte sich in ihr Nest kuscheln und Gitarre spielen. Die Gitarre, eine Gibson Sunburst, war Lous ganzer Stolz. Ihre Mutter hatte sie als junges Mädchen bereits secondhand bekommen und nun hatte sie das Instrument Lou zum zwölften Geburtstag geschenkt. Direkt unter dem Schallloch zogen sich zwei Kratzer über das honigfarbene Holz. Spuren einer wilden Vergangenheit. Vor vielen Jahren, als Lou noch nicht auf der Welt war, hatte ihre Mutter mit dieser Gitarre Konzerte gegeben, war mit ihrer Band durch Europa gereist und hatte an jedem Lagerfeuer von Lissabon bis Moskau gespielt. Als Lou sich im Schneidersitz auf ihr Bett setzte, fühlte sie das Gewicht der Gitarre, ihr langes Griffbrett und den geschwungenen Körper. Im Sonnenlicht lag die Gitarre still in ihren Händen. Lou griff den ersten Akkord und strich mit den Daumen über die Saiten. Sechs Saiten, die irgendjemand mit den Buchstaben E, A, D, G, H und E bezeichnet hatte. Ein Buchstabe pro Saite. Ein Buchstabe für jeden Ton, der als Welle von der Saite ausging, die sie zupfte.
Eine unsichtbare Welle, die kaum hörbar das Ohr kitzeln konnte wie ein Grashalm, oder zu einer Riesenwelle anwuchs, die Lou mitriss. Sie spielte die ersten Töne. Wie Seevögel glitten sie ruhig über das Wasser. Lou wechselte zu einem Akkord, dann noch einem und aus den sechs Saiten strömten bunte Klangwellen, schwappten um ihre Füße, streichelten ihren Bauch und wanderten den Rücken hoch, bis Lou das Gefühl hatte, weit draußen auf einem Ozean aus Tönen zu treiben.
»Lusi! Kohomm!«
Vor Schreck machte Lou einen kleinen Satz auf dem Bett nach hinten und stieß sich den Kopf an der Schräge. Die Idee, die noch vor einer Sekunde direkt vor ihrer Nase getrieben war, tauchte auf Nimmerwiedersehen ab. Lou sah zu dem Seeungeheuer, das sie vertrieben hatte: Ihr kleiner Bruder, Anton, der sie hinter seiner schief sitzenden Brille angrinste.
»Kleiner Hai, du schwimmst in gefährlichen Gewässern«, sagte Lou und rieb sich die schmerzende Stelle an ihrem Hinterkopf.
»In was für Wässern?«, fragte Anton und legte seinen Strickkäfer Kirk auf den Rand neben die Luke.
»Im Schwarzen Meer, in dem der Riesenkrake wohnt!«
»Lass das, Lusi. Das Spiel mag ich nicht.« Anton griff sich Kirk und kletterte die Leiter wieder runter.
»Warte«, rief Lou. Schnell legte sie ihre Gitarre zur Seite und beugte sich über die Luke. »Was ist denn?«
»Nix! Riesenpraken mögen keinen Erdbeerkuchen.«
»Erdbeerkuchen?«
»Onkel Oliver mag auch keine Kraken.« Schon war Anton unten im Flur angekommen und floh in Richtung Küche.
Lou ließ sich auf die Leiter hinuntergleiten und rannte ihrem Bruder hinterher. Auch wenn er sie gestört hatte, war es nicht fair, ihn so zu necken. Wegen seiner Behinderung lagen für Anton Wirklichkeit und Spiel noch enger zusammen als für andere Kinder, und wenn Lou ihm sagte, in ihrem Zimmer sei ein Riesenkrake, dann war in ihrem Zimmer ein Riesenkrake.
Lou bog gerade um die Ecke zur Küche, als ihre Mutter mit Onkel Oliver in den Flur trat. Wieder einmal fiel Lou auf, wie sehr die zwei einander ähnelten. Beide hatten große braune Augen, die von Lachfalten umgeben waren, beide hatten Grandmères schmale und gerade Nase geerbt und beide strahlten diese Wärme aus, die für die Jacobis so typisch war. Na ja, dachte Lou, zumindest für fast alle Jacobis.
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr du uns hilfst, Monika.«
»Ach, kein Problem«, lächelte Frau Blum ihrem Bruder zu.
Lou kam zum Stehen.
»Gehst du schon wieder?«, fragte sie ihren Onkel mit einem Anflug von Enttäuschung. »Anton meinte, wir essen zusammen Erdbeerkuchen!«
Onkel Oliver ließ sein ultradünnes Smartphone in die Innentasche seines Jacketts gleiten. »Der Kuchen ist für euch!«, lächelte er seiner Nichte zu. »Ich muss leider los.«
»Schaaade!«
Und mit einem Kuss auf die Wange seiner Schwester verließ ihr Onkel das Kutscherhaus.
Lou folgte ihrer Mutter in die Küche. Als Anton sie sah, rückte er seinen Teller ein Stück von ihrem weg. Lou zwinkerte ihm zu. »Der Krake ist weg!«, flüsterte sie.
Dann wandte sie sich zu ihrer Mutter. »Warum konnte Oliver nicht bleiben?«
»Er muss einen Geschäftspartner am Flughafen abholen.«
»Mmh.« Lou nahm sich ein Stück Kuchen.
Frau Blum sah zu ihrem Sohn. »Und er hat gefragt, ob du einverstanden bist, dass Till und Ole das Wochenende über bei uns übernachten.«
»Bei mir? In meinem Zimmer?«, fragte Anton mit vollen Backen.
»Wir haben noch zwei Isomatten unten in der Garage und Bettzeug können sie aus der Villa mitbringen. Was meinst du?«
»Ja!« Er hielt inne und sah zu Lou. »Du darfst auch bei mir schlafen.«
»Das ist lieb, aber danke.« Lou warf ihrer Mutter einen neugierigen Blick zu. »Wollen Onkel Oliver und Tante Vanessa ausgehen?«
Frau Blum schüttelte den Kopf. »Oliver hat das ganze Wochenende seine Partner aus den USA zu Besuch und Tante Vanessa fährt ja nach Venedig, zu dieser antiken Besteckmesse.«
Lou wusste, dass ihre Mutter die Leidenschaft ihrer Tante für altes silbernes Besteck genauso wenig verstehen konnte wie sie.
Lou piekste mit der Gabel die letzte Erdbeere auf. »Darf ich dann bei Motte schlafen?«
3. Song
Mütter sind unberechenbar
Motte starrte den Terminplan an, den ihre Mutter an die Kühlschranktür gehängt hatte. »Unmöglich!«, murmelte sie. Motte war sich absolut sicher. Als sie mit Lou, Billie und Rosa die nächste Bandprobe abgesprochen hatte, war dieser Freitag frei gewesen. Hundertpro! »Professor Dr. Dr. Rainer M. Wildersand stellt seine Meisterschüler vor«, las Motte. Sie war schon bei Hunderten solcher Vorspiele gewesen. Hoch motivierte Musikstudenten zeigten am Flügel ihr Können, während der jeweilige Dozent – je nach Temperament angespannt oder betont gelassen – danebensaß und sich Notizen machte. Motte lehnte sich gegen den Kühlschrank. Seit sie acht war, schleppte ihre Mutter sie zu solchen Veranstaltungen. Um ihr Gehör zu schulen und sie mit den Professoren bekannt zu machen, wie sie sagte. Motte schüttelte verärgert den Kopf. Natürlich hat sie mich nicht gefragt, ob ich vielleicht etwas anderes vorhabe, dachte sie grimmig. Solche Termine wurden angeordnet und Motte hatte sie zu befolgen.
»Mittwoch Mathenachhilfe!«
Aye-aye!
»Donnerstag Diktat vorbereiten!«
Schon erledigt!
»Freitag Klaviervorspiel in der Hochschule!«
Aber gerne!
Motte schlug mit der flachen Hand gegen den Kühlschrank. Hatte sie denn überhaupt keine Rechte? Sie stieß sich von der Tür ab. Nein, dieses Mal würde sie nicht machen, was ihre Mutter wollte. Morgen hatte sie Bandprobe und keine Macht des Universums, nicht einmal ihre Mutter, würde sie davon abhalten.
Mit festen Schritten und gesenktem Kopf steuerte Motte auf das Schlafzimmer ihrer Eltern zu. »Wenn sie glaubt, sie kann mir die Popkörner verbieten, hat sie sich geschnitten!« Sie stieß die Tür auf. Durch die hohen Fenster fiel die Nachmittagssonne auf das elegante Doppelbett und ließ die bestickte Seidendecke aufschimmern.
»Mama?«
Offenbar war ihre Mutter mit den Vorbereitungen für Venedig fast fertig. Die Reisetasche stand gepackt neben dem Schrank und über dem Stuhl lag die schneeweiße Kombi, die ihre Mutter für die Reise ausgesucht hatte. »Mama!«, rief Motte ungeduldig. Da hörte sie etwas aus dem Bad. Motte lauschte irritiert. Ihre Mutter sang!
»Semplicetta tortorella che non vede il suo periglio…«
Zögernd klopfte Motte an und trat ins Bad. Ihre Mutter stand im Bademantel vor dem Spiegel und bürstete sich ihre nassen Haare. »…per fugir dal crudo artiglio…«
»Mama, ich muss etwas mit dir besprechen.«
Frau Jacobi warf ihrer Tochter einen Blick durch den Spiegel zu.
»Kann das nicht noch eine Minute warten?«
Nein!, dachte Motte und presste ein »Geht ganz schnell!« hervor.
Ihre Mutter hielt im Bürsten inne. »Na, gut«, seufzte sie. »Was hast du auf dem Herzen?«
»Ich kann morgen nicht. Auf gar keinen Fall!«
»Auf gar keinen Fall, was?«, fragte Frau Jacobi.
»Frag mich doch wenigstens, ob ich Zeit habe!«
»Karlotta, könntest du mir bitte verraten, wovon du sprichst?«
»Von Professor Wildermann!«
»Professor Wildersand.«
»Von mir aus auch Wilderzwerg. Ich bin morgen mit Lou, Rosa und Billie zum Proben verabredet.« Motte schluckte und reckte ihr Kinn vor. »Die Probe sage ich auf keinen Fall ab!«
Ihre Mutter legte die Bürste auf die Ablage und drehte sich um. »Von der Probe wusste ich gar nichts.«
Nein, das hängte Motte absichtlich nicht an die große Glocke. »Du fragst ja auch nie!«
Zu Mottes Erstaunen nickte ihre Mutter leicht. »Ja, das hätte ich machen sollen.«
Motte fiel die Kinnlade runter. Wie bitte!? Frau Jacobi nahm den silbernen Föhn aus der Schublade. »Ich schicke Professor Wildersands Sekretärin eine SMS, dass du morgen nicht dabei sein kannst.« Sie lächelte ihrer Tochter zu, die sie noch immer fassungslos anstarrte. »Wenn wir einmal absagen, ist das schließlich kein Beinbruch.«
Motte klappte den Mund zu und schüttelte stumm den Kopf. Ihre Mutter sagte ohne großes Drama einen superwichtigen zukunftsweisenden Klaviertermin ab. Motte musterte sie verwirrt. War sie etwa krank?
An diesem Abend übernachtete Lou bei Motte. Nachdem ihre Mutter sich verabschiedet und mit dem Taxi in Richtung Bahnhof abgefahren war, machten sich die Mädchen sofort daran, Till und Ole beim Umziehen zu helfen. Bettdecken und Kissen, DVDs und Kuscheltiger, Ranzen und Sporttaschen wurden verfrachtet und gemeinsam mit Lous Vater in das Kutscherhaus gebracht. Bis Mottes Mutter aus Venedig zurückkam, sollten die Zwillinge bei Anton wohnen.
Motte boxte ihr Kissen zurecht und schob ihre Hand in den Spalt zwischen Bettrahmen und Matratze. »Vier Tage eine Kleine-Brüder-freie-Zone! Das müssen wir feiern.«
Lou rutschte vom Fensterbrett und kam zu Motte auf das breite Himmelbett. »Die Zwerge haben gerade das Licht ausgemacht.«
»Süße Träume, ihr Monster!«, rief Motte und steckte ihre Hand noch tiefer in den Spalt. Da, endlich bekam sie die glatte Packung zu fassen.
»Sie werden schlafen wie Steine«, sagte Lou. »Pa hat sie den ganzen Nachmittag über den Fußballplatz gescheucht.«
Motte drehte sich zu Lou und wedelte mit der Tafel Schokolade. »Vollmilch-Cornflakes, magst du?«
Lou nahm sich ein Viererstück. »Hiermit eröffne ich offiziell die Pyjama-Party!«
Motte legte sich zurück aufs Kissen und lutschte ein Stück Schokolade. »Morgen noch einmal Schule und dann ist endlich Wochenende!«
»Ausschlafen«, seufzte Lou wohlig.
»Frühstück im Schlafanzug«, sagte Motte.
»Im Bett!«, ergänzte Lou.
»Den ganzen Nachmittag Filme gucken«, fügte Motte der Wunschliste hinzu.
»Oh, ja!«, nickte Lou. »Und außerdem können wir in Mas alten Songbüchern stöbern und alle Ideen aufschreiben, die uns für unseren neuen Song einfallen!«
Motte brach zwei weitere Riegel von der Schokolade ab. »Ja, und Grandmère beim Ausräumen der Garage helfen.«
Während sie sich ausmalten, welche Familienschätze sie in der Garage des Kutscherhauses wohl finden würden, wurde es draußen dunkel und die Schokolade schmolz auf einen letzten Krümel zusammen.
Lou kletterte aus dem Bett. »Ich geh Zähne putzen.«
Motte drehte sich auf den Bauch und sah zu ihrer Cousine. »Weißt du, es war fast ein bisschen unheimlich.«
»Was denn?«
»Sie hat gesungen! Im Bad!«
Lou blieb für einen Moment die Luft weg, dann lachte sie. »Vielleicht gründet deine Mutter ja ihre eigene Band!«
»Quatsch!«, widersprach Motte. »Das wäre unter ihrem Niveau.«
»Aber sie hat den Termin bei diesem Klavierguru abgesagt«, erinnerte sie Lou.
Motte machte ein ratloses Gesicht. »Das gab’s noch nie.«
Lou ging zur Tür hinüber. »Sie merkt eben, wie wichtig dir die Popkörner sind.«
Motte zog eine Grimasse. »Wenn deine Mutter dir plötzlich alles erlaubt, fändest du das nicht gruselig?«
»Gruselig? Nein! Ich fänd es toll.«
Motte gab ein undefinierbares Geräusch von sich und kam aus dem Bett. Unten wurde die Haustür der Villa aufgeschlossen. Sofort knipste Motte ihre Nachttischlampe aus.
»Papa kommt zurück«, flüsterte sie.
Aus dem Erdgeschoss waren Stimmen zu hören.
»Und Grandmère«, antwortete Lou leise.
Motte öffnete die Tür einen Spalt.
Ihr Vater hängte seine Jacke an die Garderobe.
»Und es gibt tellement keine andere Möglichkeit, Oliver?«, fragte Grandmère.
Herr Jacobi antwortete mit belegter Stimme. »Du weißt, dass wir inzwischen ein internationales Unternehmen sind.«
»Ich weiß, dass die Geschäftswelt sich verändert hat. Aber deine Familie ist hier und nicht…«
Wie die Unterhaltung weiterging, konnten die Mädchen nicht mehr hören, denn Herr Jacobi und Grand-mère verließen den Flur.
Motte blickte zu Lou. »Ich glaube, Grandmère macht sich Sorgen um Papa. Er ist in letzter Zeit nur noch unterwegs.«
»Es sind bald Ferien«, sagte Lou.
Die zwei gingen den Flur zum Bad hinunter.
»Ich wünschte mir einfach, Papa wäre jetzt häufiger für uns da«, sagte Motte.
4. Song
Billies Starporträt und ein gurgelnder Brille
Am nächsten Morgen noch vor der ersten Stunde zog Billie Rosa mit in den Flügel der Schule, in dem die Oberstufe untergebracht war. »Yep, das ist es!«, sagte sie und drückte Rosa die Kamera in die Hand. Für ihre Reihe über die Popkörner brauchte sie von jedem Popkorn ein neues Foto und da sie die Starporträt-Reihe eröffnete, war es nur logisch, dass Rosa von ihr ein paar Bilder schoss. Bevor es allerding losgehen konnte, zog Billie ihr kirschrotes Lipgloss aus der Hosentasche. »Sooo.« Großzügig verteilte sie das Gloss auf ihre Lippen, wuschelte durch ihre Locken und lehnte sich so lässig gegen eines der hohen Schließfächer, als sei es ihr eigenes.
Rosa zoomte sie mit dem Objektiv heran. Billie atmete tief ein, machte ihre grünen Augen weit auf, senkte das Kinn ein wenig und lachte selbstsicher.
Rosa ließ die Kamera sinken. »Du hast was Rotes an den Zähnen.«
Billie wischte über ihre Schneidezähne. »Weg?«
Rosa nickte und trat zwei Schritte zurück. Keine zwei Sekunden später leuchtete der Blitz auf: Billie blinzelte kess in die Kamera. Billie schüttelte ihren Kopf, sodass die Locken in alle Richtungen flogen, als tanzte sie wild über die Bühne. Billie klappte ihr Notizbuch auf und tat so, als würde sie gerade wahnsinnig über ein neues Lied nachdenken, bis plötzlich Motte und Lou durch das Treppenhaus nach oben kamen.
»Hey, hier seid ihr!«, begrüßte Lou sie.
»Was wird denn das für eine Nummer?«, fragte Motte und sah zwischen Rosa und Billie hin und her.
»Wir machen Fotos für unsere Popkörner-Porträts«, erklärte Rosa.
In diesem Moment tänzelte Billie auf Motte zu und strich ihr über die Wange. »Oh, Süße. Mit diesem Kissenabdruck im Gesicht können wir von dir heute kein Foto machen.« Sie warf einen Blick zu Lou. »Uups, du siehst ja auch aus wie eine kleine Schildkröte. Schlecht geschlafen?«
Lou unterdrückte ein Gähnen. »Nur eine Pyjamaparty bei Motte.«
Billie holte drei Bögen aus ihrem Rucksack und verteilte sie an Rosa, Lou und Motte. »Na, wenn ihr wieder unter den Lebenden weilt, könnt ihr euch den Steckbrief mal ansehen.«