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Der Strategie-Kompass für die heutige Welt Wie konnte es trotz aller frühzeitigen Warnungen zur COVID-19-Pandemie kommen? Was hat sich durch sie grundlegend verändert? Und was können wir tun, um künftig noch Schlimmeres zu verhindern? Um in der Welt nach der Krise zielgerichtet handeln zu können, müssen wir zum einen verstehen, was an welchen Stellen falsch gelaufen ist. Zum anderen müssen wir uns neu orientieren und die großen Trends und Themen der Post-Corona-Welt identifizieren. Ein Leitfaden für diejenigen, die unsere Zukunft aktiv gestalten. Für Lenkerinnen und Macher aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.
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Seitenzahl: 447
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Georg Vielmetter
Die Post-Corona-Welt
Wie wir die Zeichen der Pandemie lesen und die Trends der Zeit für uns nutzen
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
Wie konnte es trotz aller frühzeitigen Warnungen zur Covid-19-Pandemie kommen? Und was sollten wir tun, um künftig noch Schlimmeres zu verhindern? Für den richtigen Umgang mit der Welt nach der Krise müssen wir zum einen verstehen, was an welchen Stellen falsch gelaufen ist. Zum anderen müssen wir uns neu orientieren und die großen Themen der Post-Corona-Welt identifizieren. Georg Vielmetters umfassende Analyse relevanter Trends und Megatrends hilft Entscheiderinnen und Entscheidern in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dabei, die Weichen richtig zu stellen. Ein Leitfaden für diejenigen, die unsere Zukunft aktiv gestalten: erhellend und oft überraschend.
Vita
Der Philosoph, Soziologe und Führungsexperte Dr. Georg Vielmetter leitet eine Unternehmensakademie und unterstützt Spitzenmanager und Topteams als Coach und Berater. Zuvor hat er an Universitäten wie der Freien Universität Berlin gearbeitet und war viele Jahre im europäischen Managementteam der internationalen Unternehmensberatung Hay Group tätig.
Für meine Eltern, Felicitas und Günter Vielmetter,die der Pandemie mit einem Optimismus und einer Widerstandskraft entgegengetreten sind,die mir ein Vorbild waren.
Kapitel EinleitungDer schwarzhalsige Schwan
TEIL 1WIE DIE CORONAPANDEMIE IN DIE WELT KAM. UND WARUM DAS NICHT HÄTTE SEIN MÜSSEN.
Einleitung
Kapitel 1Landraub, Tiermärkte und die Fleischindustrie – der zoonotische Ursprung der Pandemie
1.1Warum eine Pandemie keine Naturkatastrophe ist
1.2Vom Tier zum Menschen: Die Zoonose ist eine Folge menschlicher Entscheidungen
1.3Die industrielle Tierzucht verschärft die Coronakrise
Kapitel 2Dr. Li, die CDC und die Behörden von Wuhan – eine Epidemie nimmt ihren Lauf
2.1Von der Zoonose zur Epidemie: Die Entwicklung in China ist eine Folge menschlicher Entscheidungen und systemischer Zwänge
2.2Exkurs: Woher stammt das SARS-CoV-2-Virus?
Kapitel 3Lévy-Flug, das RKI und der Ballermann der Alpen – die Pandemie erreicht uns
3.1Von der Epidemie zur Pandemie: SARS-CoV-2 findet den Weg nach Europa
3.2Warum sich die Pandemie in Europa ausbreitet
3.2.1Mangelnde Vorbereitung
3.2.2Verantwortungsdiffusion, Verantwortungsdelegation
3.2.3Globale Arbeitsteilung
3.2.4Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung
3.2.5Unzureichende Kommunikation
3.2.6Strategisches Defizit der Politik
3.2.7Verantwortungslosigkeit
Kapitel 4Autoritäre Blindheit, demokratische Trägheit und menschliche Denkfehler – die Tiefenursachen der Pandemie
4.1Die Tiefenursachen der Zoonose
4.1.1Industrialisierung
4.1.2Bevölkerungswachstum
4.1.3Globalisierung
4.1.4Kulturelle Präferenzen/Tradition: Karnismus
4.2Die Tiefenursachen der Epidemie
4.2.1Nicht-Einhaltung von Prozessen
4.2.2Verschleierung und Vertuschung
4.2.3Keine oder unwahre Kommunikation
4.2.4Repression, Einschüchterung und Verfolgung
4.2.5Misstrauens- und Angstkultur
4.2.6Totalitärer Kontrollzwang
4.3Die Tiefenursachen der Pandemie
4.3.1Psychologisch-kognitive Tiefenursachen
4.3.2Systemisch-strukturelle Tiefenursachen
4.4Die happy few: Warum einige Länder die Pandemie besser bewältigt haben
Gute Führung kann eine Pandemie besiegen – diese zehn Lehren aus der Pandemie sollten wir für die Zukunft ziehen
TEIL 2WO WIR HEUTE STEHEN. UND WAS SICH VERÄNDERN WIRD.
Entwicklungen und Perspektiven
Kapitel 5Spannungen, Risiken, Solidarität – fünf politische Entwicklungen
5.1Spannungen oder Kooperation zwischen großen Mächten
5.1.1Beziehungen zwischen den Großmächten
5.1.2Beziehungen innerhalb der Europäischen Union
5.2Nationaler Egoismus oder internationale Solidarität
5.3Globaler Süden: falling back further
5.4Innenpolitischer Zusammenhalt oder Spannungen
5.5Stärkung oder Schwächung der Demokratie
5.6Überblick über wahrscheinliche politische Entwicklungen
5.7Exkurs: Warum Europa bei der Impfstoffbeschaffung hinten ansteht
Kapitel 6Klimaschutz, Horizonterweiterungen, Ungleichheit – fünf gesellschaftliche Entwicklungen
6.1Stärkung oder Schwächung der Staatsorientierung/Staatsresilienz
6.1.1Verhältnis von Staat und Markt
6.1.2Organisationsprinzip des Staates
6.1.3Stärkung der Überwachung versus digitale Ermächtigung
6.2Auftrieb oder Rückschlag für Klima- und Umweltschutz
6.3Psychische Belastungen: Verunsicherungen, Ängste, Einsamkeit
6.4Horizonterweiterungen: Eroberung geografischer, sozialer und digitaler Nahräume, Entschleunigung
6.4.1Geografische und soziale Nahräume
6.4.2Digitaler Nahraum
6.4.3Entschleunigung
6.5Vergrößerung der sozialen Ungleichheit
6.6Überblick über wahrscheinliche gesellschaftliche und psychologische Entwicklungen
Kapitel 7Kosteneffekte, Glokalisierung, Digitalisierung – fünf ökonomische Entwicklungen
7.1Konjunktur: Schneller Aufschwung oder Absturz in die Depression
7.2Hohe Kosten, hohe Schulden
7.3Globalisierung 3.0: Beschleunigung der Glokalisierung
7.3.1Was bedeutet Globalisierung?
7.3.2Globalisierung 1.0
7.3.3Globalisierung 2.0
7.3.4Globalisierung 3.0
7.4Beschleunigung von Digitalisierung und Automatisierung
7.5Konsumentenverhalten: Digital und lokal
7.5.1Digitalisierung des Konsums
7.5.2Lokalisierung des Konsums
7.6Überblick über wahrscheinliche wirtschaftliche Entwicklungen
Kapitel 8Entfernung, Schutz, Haltung – fünf organisatorische Entwicklungen
8.1Entfernung: Zunahme von digital remote work
8.2Schutz: Aufbau organisatorischer Resilienz
8.2.1Resilienz der Mitarbeiterinnen
8.2.2Die Resilienz der Strukturen und Prozesse
8.3Beweglichkeit: Organisatorische Flexibilität und Beidhändigkeit
8.4Weit- und Umsicht: Entwicklung strategischer Effizienz
8.5Reife: Altrozentrische Führung
8.5.1Überlegenheit weiblicher Führung in der Coronapandemie
8.5.2Reife und Haltung: Altrozentrische Führung
8.6Überblick über mögliche organisatorische Entwicklungen
Die Starken werden stärker, die Schwachen schwächer – diese zehn Trends sollten wir in den nächsten Jahren im Blick behalten
Kapitel 9Der weiße Schwan. Zehn Dinge, die wir jetzt tun sollten.
9.1Fünf Handlungsempfehlungen zur Vermeidung von Pandemien sowie zur Vorsorge im Falle von Gesundheitskrisen
9.2ünf Handlungsempfehlungen zur Abschwächung negativer Effekte der Coronapandemie
Checkliste: Fragen zur Reflexion des eigenen Verantwortungsbereiches
Literatur
Anmerkungen
Einleitung: Der schwarzhalsige Schwan
Einleitung
Kapitel 1: Landraub, Tiermärkte und die Fleischindustrie – der zoonotische Ursprung der Pandemie
Kapitel 2: Dr. Li, die CDC und die Behörden von Wuhan – eine Epidemie nimmt ihren Lauf
Kapitel 3: Lévy-Flug, das RKI und der Ballermann der Alpen – die Pandemie erreicht uns
Kapitel 4: Autoritäre Blindheit, demokratische Trägheit und menschliche Denkfehler – die Tiefenursachen der Pandemie
Gute Führung kann eine Pandemie besiegen – diese zehn Lehren aus der Pandemie sollten wir für die Zukunft ziehen
Kapitel 5: Spannungen, Risiken, Solidarität – fünf politische Entwicklungen
Kapitel 6: Klimaschutz, Horizonterweiterungen, Ungleichheit – fünf gesellschaftliche Entwicklungen
Kapitel 7: Kosteneffekte, Glokalisierung, Digitalisierung – fünf ökonomische Entwicklungen
Kapitel 8: Entfernung, Schutz, Haltung – fünf organisatorische Entwicklungen
Kapitel 9: Der weiße Schwan. Zehn Dinge, die wir jetzt tun sollten.
»Keine Frage des Ob, sondern des Wann.«
Das Robert-Koch-Institut 2007 zu der Möglichkeit, dass ein Virus eine Pandemie auslöst
»Reality is that which when you stop believing in it, it doesn’t go away.«
Philip K. Dick
»Der Schwarzhalsschwan […] kommt lediglich im Süden Südamerikas vor. […] Die Art ist durch den schwarz gefärbten Kopf und Hals in Verbindung mit dem sonst völlig weiß gefärbten Gefieder leicht zu erkennen. […] Die Art gilt als nicht gefährdet.«
Wikipedia
Kurz vor Weihnachten 2020 war es so weit. Es geschah auf der Basis General Bernardo O’Higgins Riquelme. Die kurze, randständige Meldung in der New York Times1 kam überraschend. Obwohl – eigentlich hätte man es sich denken können (wenn man denn darüber nachgedacht hätte).
Denn am 22. Dezember 2020 lernte die Welt, dass dem SARS-CoV-2-Virus etwas Erstaunliches gelungen war: nämlich einen eigentlich, aber eben doch nicht gänzlich unbewohnten Kontinent zu bevölkern – die Antarktis. Auf der nach einem chilenischen Unabhängigkeitskämpfer benannten Forschungsstation hatten sich 36 Mitarbeiter angesteckt. Damit hatte das Coronavirus nach Asien, Europa, Nord- und Südamerika, Afrika und Australien auch noch den siebten Kontinent und damit die ganze Welt erobert. Und das, obwohl in jenem Winter nur eintausend Menschen in der Antarktis lebten, trotz strikter Quarantänebestimmungen für alle Neuankömmlinge, trotz systematisch durchgeführter Tests.
Trotz alledem hat die Eroberung des letzten Winkels der Welt durch das Coronavirus nur ziemlich genau ein Jahr gedauert, gerechnet ab dem Zeitpunkt, als die neuartige Krankheit in Wuhan zum ersten Mal auftauchte.
Bereits drei Monate nach dem Beginn der Epidemie in China, im März 2020, dominierte nur noch ein einziges Thema die weltweite Nachrichtenlage für den Rest des Jahres und bis weit in das Jahr 2021 hinein. Im Economist und in der New York Times war 2020 in beinahe der Hälfte der Beiträge die Pandemie zumindest mitthematisch; eine solch dominante Berichterstattung hatte es in der 170-jährigen Geschichte der NYT noch nie und in der 180-jährigen des Economist erst zweimal gegeben – während der beiden Weltkriege.2
Abbildung 1: Schwan mit schwarzem Hals
https://www.flickr.com/photos/juanelo242a/11656473244/
Anfangs waren alle von der Pandemie überrascht. Schnell machte die beliebte Redewendung vom »schwarzen Schwan« die Runde, auf die immer dann zurückgegriffen wird, wenn ein völlig unvorhersehbares und seltenes Ereignis zu dramatischen gesellschaftlichen, politischen oder sozialen Veränderungen führt.
Wobei, genauer gesagt können wir in Bezug auf die Coronapandemie zwar von einem seltenen Ereignis sprechen, nicht aber von einem unvorhersehbaren. Lediglich von einem unvorhergesehenen.
Aus diesem Grund ist der Schöpfer der Theorie der Black Swans, der libanesisch-amerikanische Risikoforscher Nassim Nicholas Taleb, auch so nachhaltig irritiert und verärgert, wenn sein Name und seine Theorie mit der Coronapandemie in Verbindung gebracht werden.3 Er selbst hat sich immer gegen die Rede von der Coronapandemie als einem schwarzen Schwan verwehrt. Gleich im Januar 2020 hatte er mit anderen Autoren ein Papier verfasst, sehr konkret und mit genauen Maßnahmen, die verhindern sollten (und das wohl auch getan hätten), dass aus dem lokalen Ereignis in China eine weltumspannende Pandemie werden würde.4 Vor ihm hatten, neben anderen, bereits Bill Gates, im Jahr 2005 die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und im Jahr 2007 das Robert-Koch-Institut (RKI) eindringlich vor der grundsätzlichen Gefahr einer bevorstehenden Pandemie gewarnt.
Wieso ist es dann dennoch zur Coronapandemie gekommen? Nun könnte man es sich einfach machen und das beliebte blame game starten, das besonders unter Besserwissern und am Stammtisch beliebt ist: »Die Politik« sei schuld. Denn wenn wir schon vor fünfzehn Jahren wussten, dass eine Pandemie kurz bevorsteht, warum habe »die Politik« dann nicht entsprechend reagiert? Als echte Frage ist die Frage berechtigt, als rhetorische, die die Antwort schon zu kennen glaubt (auf dem Niveau von »Faulheit/Dummheit/Korruption/Verschwörung«), sicher nicht. Verhält es sich in Wahrheit doch so, dass – mit Ausnahme von Expertinnen und einigen wenigen anderen Interessierten – sich niemand mit dem Thema beschäftigt hatte – weder die Medien noch die Intellektuellen oder die Öffentlichkeit, und ja, auch nur wenige Politikerinnen (lediglich in Ostasien und Teilen Afrikas stand das Thema auf der Agenda).
Die folgende Geschichte illustriert das anschaulich: Anlässlich des Ausbruches der Vogelgrippe im Jahr 2005 setzte der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan eine Arbeitsgruppe ein. Deren Leiter erklärte auf einer Pressekonferenz in New York, dass er bei der nächsten Pandemie mit bis zu 150 Millionen Toten rechne. Raten Sie, wie viele Journalisten zu sehen waren, als die Kamera in den Zuschauerraum schwenkte? Es waren ganze vier!5
Wer also meint, den Zeigefinger auf andere richten zu müssen, möge bedenken, dass Mittel-, Ring- und kleiner Finger auf ihn oder sie selbst zurückweisen.
Nun hätten wir natürlich alle Talebs Buch Der schwarze Schwan lesen können. Taleb selbst – wir sind nicht wirklich überrascht – empfiehlt die Lektüre nachdrücklich. In der Neuen Zürcher Zeitung schrieb er: »Hätten sie das Buch wirklich gelesen, dann wüssten sie, dass eine globale Pandemie dort klar und deutlich als weißer Schwan figuriert – als ein Ereignis, das mit Gewissheit irgendwann eintreffen wird.«6 So sind wir zum Beispiel gewiss, dass ein neunjähriges Kind in absehbarer Zeit die Grundschule verlassen und auf eine weitergehende Schule gehen wird, dass die Miete meiner Wohnung am Monatsende abgebucht werden wird, dass mein Auto irgendwann neue Reifen braucht und dass ich irgendwann sterben werde.
Da aber die meisten von uns Talebs Buch leider nicht gelesen haben, sah für die klare Mehrheit die Pandemie eben doch wie der schwarze Schwan oben auf dem Foto aus. Nur dass der dort abgebildete Schwanenhals gar nicht zu einem schwarzen Schwan gehört. Dieser Schwan mit dem sprechenden Namen Schwarzhalsschwan ist eben nicht schwarz und nicht weiß; er ist schwarz und weiß. Zum Beweis schauen Sie bitte auf das ganze Foto unten.
Abbildung 2: Schwarzhalsschwan
https://www.flickr.com/photos/juanelo242a/11656473244/
Wenn man nur flüchtig hinschaut, der Körper des Schwans verborgen ist oder man nur einen Ausschnitt sieht, dann glaubt man, einen schwarzen Schwan vor sich zu haben. Genauso ist es den allermeisten von uns auch mit Pandemien gegangen. Wir haben nicht richtig hingeschaut. Das hat zunächst einmal mit zwei Merkmalen von Pandemien zu tun, die diese mit dem schwarzhalsigen Schwan teilen: Sie sind relativ selten. Und sie waren – aus einer europäischen Perspektive betrachtet – ziemlich weit weg (zeitlich Jahrzehnte, räumlich Tausende von Kilometern in Asien oder Afrika). Genauso wie der schwarzhalsige Schwan erst dann die Aufmerksamkeitsschwelle überschreitet, wenn er uns zufällig im Berliner Tierpark über den Weg läuft und wir genau hinschauen, nehmen wir die Pandemie erst wahr, wenn sie schon ausgebrochen ist. Dann allerdings sind beide – der Schwan und die Pandemie – sehr leicht zu erkennen. Und beide sind in ihrem Bestand nicht gefährdet.
Dafür, dass die Möglichkeit einer Pandemie die Aufmerksamkeitsschwelle der zentralen Entscheiderinnen und der Öffentlichkeit nicht überschritten hat, gibt es sehr viele Ursachen. Systemische, strukturelle, aufmerksamkeitsökonomische, narrative, psychologische und auch kognitive Fehlleistungen. All diese Ursachen legen – nüchtern betrachtet – nahe, dass es uns in einer ähnlich gelagerten Situation auch wieder ähnlich ergehen könnte, dass wir eine vergleichbar dramatische Situation wieder erleben können. Dass wir womöglich wieder versagen werden, wenn es darum geht, einer aufkommenden Pandemie Einhalt zu gebieten.
Der deutsche Philosoph Jürgen Mittelstraß hat die Unterscheidung zwischen Verfügungs- und Orientierungswissen eingeführt.7 Verfügungswissen ist Sachwissen um Ursachen, Mittel und Wirkungen. Bei Orientierungswissen geht es im Wesentlichen darum, gerechtfertigten Zwecken und Zielen zu folgen – eben den richtigen Weg zu finden. Aber uns vernünftig orientieren, den richtigen Weg einschlagen, können wir nur dann, wenn wir Wissen um Wirkzusammenhänge haben und keinen kausalen Irrtümern unterliegen, also wenn wir über Ursachen aufgeklärt sind. Darum basiert Orientierungswissen auf Verfügungswissen. Und während Verfügungswissen ohne Orientierungswissen richtungslos ist, ist Orientierungswissen ohne Verfügungswissen substanzlos. Für den richtigen Umgang mit der Post-Corona-Welt benötigen wir daher Folgendes: Zunächst brauchen wir Verfügungswissen, um überhaupt zu verstehen, welche Ursachen und Tiefenursachen zur Coronapandemie und in die Krise geführt haben sowie um unsere Lehren daraus zu ziehen. Und dann benötigen wir Orientierungswissen, um uns in der Krise zurechtzufinden, mögliche Trends zu erkennen und zu bewerten, sodass wir angemessene Entscheidungen über den Weg für die nächsten Jahre fällen können. Dazu möchte dieses Buch einen Beitrag leisten.
Es richtet sich dabei an zwei Gruppen von Leserinnen: Zum einen allgemein an alle, die verstehen möchten, welche Konsequenzen der Pandemie wir in den nächsten Jahren zu erwarten haben und wie wir darauf Einfluss nehmen können, und die auch wissen möchten, wie Pandemien, und besonders die Coronapandemie, entstehen. Und zum anderen speziell an Menschen in Verantwortungs- und Entscheidungspositionen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft: Manager, Unternehmerinnen, Politiker, Verwaltungsbeamte, Behördenleiterinnen, Professoren, Beraterinnen und so weiter. Für diese Gruppe von Lesern soll dieses Buch auch als eine Fallstudie für das Management einer großen Krise und deren Folgen dienen, und es wird mögliche Handlungskonsequenzen für Unternehmen, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft aufzeigen.
Da die Lehren, die wir aus der Auseinandersetzung mit der Krise ziehen, und die Trends, die wir beobachten können, für Entscheiderinnen auch in anderen Situationen relevant sind, finden sich am Ende eines jeden Kapitels beziehungsweise Unterkapitels Reflexionsfragen. Sie sollen den gedanklichen Transfer von der Coronapandemie in die eigene Lebens- und Arbeitswelt anstoßen und Anregungen bieten, sich mit den Erkenntnissen des jeweiligen Kapitels im Kontext des eigenen Verantwortungs- und Entscheidungsbereiches auseinanderzusetzen, um so zu einer besseren, reflektierteren Steuerung des eigenen Bereiches zu gelangen. Im Anhang sind diese Fragen – thematisch geordnet – in Form einer Checkliste zusammengestellt.
Im ersten Teil gehen wir der Frage nach, wie es zur Coronakrise kam; er analysiert, rekonstruiert und benennt die Ursachen und Tiefenursachen der Pandemie. Diese Analyse dient zum einen dazu, die Entwicklung der Coronapandemie genau zu verstehen. Zum anderen aber – und ebenso wichtig – verfolgt sie ein systematisches Ziel: nämlich unser aller Krisenverständnis und -management zu verbessern. Die Coronakrise ist nämlich ein eindrückliches Lehrbuchbeispiel dafür, was passiert, wenn wir die Ursachen und Tiefenursachen eines kritischen Ereignisses nicht verstehen oder ignorieren, wenn wir fürs Krisenmanagement eine falsche Strategie wählen oder gar keine haben, wenn Verantwortlichkeiten nicht klar zugeordnet sind, wenn Exekutionsschwächen vorliegen, wenn Informationen systematisch unterdrückt werden, wenn ungeeignete Führungsstile verwendet werden, wenn es keine klare und die Zielgruppen emotional nicht mitnehmende Kommunikation gibt, und vieles mehr. Diese systematische Gesamtschau beabsichtigt, all denen, die in Entscheidungspositionen sind, Verfügungswissen bereitzustellen, das ihnen dabei helfen kann, in einer kritischen Situation besser zu agieren beziehungsweise die Wahrscheinlichkeit des Aufkommens einer solchen Situation zu reduzieren.
Dabei wird sich Folgendes zeigen: Die Tiefenursachen von Zoonosen sind historische Prozesse, Megatrends und Traditionen: Industrialisierung, Globalisierung, Bevölkerungswachstum und -verdichtung sowie eine ausgeprägte Fleischesserkultur (Karnismus). Auf diese Tiefenursachen haben wir teilweise keinen oder kaum Zugriff, teilweise aber sehr deutlich. Dafür müssten wir aber unsere eigenen Traditionen und Gebräuche, vor allem unseren Umgang mit Tieren, enttabuisieren und kritisch infrage stellen.
Die Tiefenursache der Epidemie in China ist die autoritäre Blindheit. Hier werden unterschiedliche Aspekte aufgezeigt, die die Einhegung der Epidemie verhindert haben: Nichteinhaltung von Prozessen, keine oder unwahre Kommunikation, Repression und Einschüchterung, Misstrauens- und Angstkultur und totalitärer Kontrollzwang.
Die Tiefenursachen der Pandemie fallen in zwei Gruppen: Die erste Gruppe besteht aus fünf psychologisch-kognitiven Denkfehlern, die wohl Teil der menschlichen Natur sind und denen nur schwer (jedoch: nicht unmöglich) beizukommen ist: Normalitätsverzerrung, Optimismusverzerrung, Nichtanwendung eines Vorsichtsprinzips (Hedging-Prinzip), exponentielle Kurzsichtigkeit und Präventionsparadox. Die zweite Gruppe von Tiefenursachen der Pandemie umfasst drei systemisch-strukturelle Ursachen: die Globalisierung, mangelnde Regulation durch den Staat und bestimmte Merkmale demokratischer, besonders föderaler Systeme. Wir werden aber auch Lichtblicke aufzeigen können: Demokratien, die die Coronakrise durch gute Führung sehr gut bewältigt haben. Dies wird an drei Fallbeispielen dargestellt und wir werden zeigen, dass für den Erfolg dieser Länder vor allem sechs Ursachen verantwortlich sind.
Zum Schluss des ersten Teiles werden zehn Lehren aus der Coronapandemie gezogen. Wenn wir sie beherzigen, sollte uns das einen optimistischeren Ausblick auf die nächste, nun wirklich vorhersehbare Pandemie erlauben.
Natürlich traten mit Ausbruch der Pandemie sofort die Auguren auf den Plan. Ihnen war in Windeseile klar, dass die Pandemie eine »echte Zäsur«, eine »Disruption« oder »eine fundamentale Veränderung der Verhältnisse« darstellt. Sie wussten genau, dass das Zeitalter der Internationalisierung und Globalisierung hiermit »beendet« sei, dass nun eine »De-Globalisierung«, Protektionismus und eine »Re-Nationalisierung«, ein Nationalismusschub, folgen würden. Andere waren sich hingegen absolut sicher, dass die Pandemie zu weitgehender Internationalisierung und Kooperation führen würde. Die einen sahen China als den klaren Verlierer der Krise, die anderen als die neue Supermacht. Für die einen wurden Demokratien durch die Pandemie gestärkt, für die anderen autoritäre Regime. Die einen wussten, dass es einen Rechtsruck geben würde, die anderen sahen das Zeitalter der Entschleunigung, Rücksichtnahme und Achtsamkeit aufziehen. Für die einen war klar, dass die Lieferketten verkürzt werden würden, die anderen fanden das ganz abwegig. Sehr früh gab es hier eine erstaunlich sicher vorgetragene, meinungsstarke Kakophonie von Stimmen. Ein Zukunftsforscher stellte sich im März 2020 sogar vor, im September 2020 in einem »Straßencafé in einer Großstadt« (war es vielleicht Wien?) zu sitzen und auf die Pandemie zurückzuschauen: »Es ist warm, und auf der Straße bewegen sich wieder Menschen. Bewegen sie sich anders? Ist alles so wie früher? Schmeckt der Wein, der Cocktail, der Kaffee, wieder wie früher? Wie damals vor Corona? Oder sogar besser?«
Wir wissen nicht, ob der Wein, der Cocktail oder der Kaffee in dem Großstadtcafé besser geschmeckt haben, wohl aber, dass damals nicht nach Corona war (eine der wenigen Dinge, die man nach allen epidemiologischen Modellierungen und Szenarien auch schon im Frühjahr 2020 hätte wissen können8). Nur wer eine Glaskugel besitzt, kann sich all dessen so sicher sein, und erst recht so früh. Wir können die Zukunft nicht vorhersagen! Und einfach zu extrapolieren, also das, was heute ist, einfach in die Zukunft zu verlängern, ist auch nicht hilfreich. Letztlich hatte bereits Wilhelm Busch alles zu diesem Thema gesagt: »Aber hier, wie überhaupt, kommt es anders als man glaubt.«
Im zweiten Teil dieses Buches wird daher anders vorgegangen. Wissend, dass wir die Zukunft nicht vorhersagen können, werden wir hier vorsichtig mögliche Entwicklungen in den nächsten Jahren in vier wichtigen Lebensbereichen in den Blick nehmen: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Organisationen/Unternehmen. Auch hier wird also – wie im ersten Teil – versucht, eine möglichst umfassende, holistische Perspektive einzunehmen, eben weil die Pandemie in fast allen sozialen Bereichen wirkmächtig ist. Jedem Lebensbereich ist ein Kapitel gewidmet, und in jedem Kapitel werden fünf Themen erschlossen. Ausgangspunkt ist dabei stets die Frage, wo wir heute stehen, um dann darzustellen, wie sich das Thema in den nächsten Jahren weiterentwickeln könnte. Bei einigen der diskutierten Entwicklungen wird sich zeigen, dass die Richtung ganz unklar ist. Bei anderen scheint die Entwicklung viel deutlicher, sodass sich sogar eine begründete Prognose abgeben lässt. Es wird sich auch herausstellen, dass die Coronapandemie keine »echte Zäsur«, keinen harten Schnitt und keine Disruption darstellt, wohl aber in vielerlei Hinsicht ein Katalysator ist, ein starker Beschleuniger bereits vorhandener Tendenzen, Trends und Megatrends. Dieser Teil des Buches dient der Horizonterweiterung. Menschen in Verantwortungspositionen, Entscheiderinnen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und allen Bürgerinnen, die sich verantwortlich für den Lauf der Dinge sehen, hilft der umfassende Blick auf mögliche, durchaus auch widersprüchliche Entwicklungen bei der Entscheidungsfindung. Der zweite Teil stellt somit neben Verfügungs- auch Orientierungswissen zur Verfügung.
Dabei wird deutlich werden, dass durch die Verstärkung von Trends durch die Krise auf Entscheiderinnen große Herausforderungen zukommen werden: Politik und Unternehmen könnten durch geopolitische Spannungen in eine delikate, beinahe dilemmatische Situation geraten; das Wiedererstarken der Klimabewegung, veränderte Erwartungshaltungen an die Staatsresilienz, an einen protektiven Staat sowie an die digitale Verfügbarkeit von Dienstleistungen und Produkten erhöhen den Modernisierungsdruck auf Politik und Unternehmen ebenso wie eine zu erwartende Weiterentwicklung der Globalisierung. All dies wird begleitet werden von einer Vergrößerung der sozialen und kulturellen Ungleichheit in Deutschland und Europa sowie einem möglicherweise dramatischen Rückfall des globalen Südens. Für Entscheider in Unternehmen bedeutet dies, ihre Organisation weiterzuentwickeln, flexibler und resilienter zu machen, strategisch mehr Weit- und Umsicht und ein anderes Führungsverhalten zu entwickeln.
Am Ende des zweiten Teils werden zehn Trends ausgewiesen, die wir in den nächsten Jahren im Auge behalten sollten.
Zum Schluss werden wir im neunten Kapitel noch einmal die zehn Lehren des ersten Teils mit den zehn Trends des zweiten Teils in Beziehung setzen. Dabei leitet uns die Frage, welche Handlungsräume sich aus der Kombination der Lehren und Trends, des Verfügungs- und Orientierungswissens, für Entscheiderinnen ergeben und welche Wege möglicherweise anderen vorzuziehen sind. Wir werden zehn Handlungsempfehlungen aussprechen, fünf zur generellen Vermeidung zukünftiger Pandemien und fünf zur konkreten Einhegung der negativen Konsequenzen der Coronapandemie.
Abschließend noch einige Bemerkungen. Zunächst eine editorische Notiz, um möglichen Irritationen vorzubeugen: Wir alle wissen, wie wirkmächtig Sprache ist. Sie eröffnet Assoziationsräume, framet unser Denken und leitet unser Handeln. Ich halte es daher für unangemessen und im besten Fall für bequem, das generische Maskulinum zu benutzen und dann noch en passant anzufügen, dass »natürlich Frauen mitgemeint« seien. Diese reine Legaldefinition mag subjektiv aufrichtig gemeint sein, assoziativ ist das nicht der Fall. Um aber Gendersternchen, Unterstriche, Binnen-Is oder Ähnliches zu vermeiden, werde ich manchmal das Maskulinum und manchmal das Femininum verwenden, analog der in amerikanischen Publikationen seit Jahrzehnten verbreiteten Praxis, abwechselnd das weibliche und männliche Personalpronomen zu gebrauchen.
Dann ein Lesehinweis: Während die vier Kapitel des ersten Teils aufeinander aufbauen und besonders das vierte Kapitel sich nur dann richtig erschließt, wenn man die vorhergehenden gelesen hat, gilt das für die vier Kapitel des zweiten Teils nicht. Diese sind weitgehend in sich geschlossen, sodass einzelne Kapitel ungelesen bleiben können, wenn sich jemand für eines der Themenfelder nicht besonders interessiert.
Und schließlich eine persönliche Bemerkung: Dieses Buch ist ein Ergebnis von Entschleunigung und Beschleunigung zugleich. Entschleunigt war die Zeit des Schreibens während der Pandemie, weil ich meiner gewöhnlichen Arbeit fast nur im Homeoffice nachging und dadurch Hunderte von Stunden an Zeit gewann, die ich sonst mit Reisen verbracht hätte. Beschleunigt war sie, weil während des Schreibens ununterbrochen neue Informationen, Studien und Recherchen zum Thema des Buches über mich hereinbrachen. Ohne die Entschleunigung wäre die Beschleunigung nicht zu bewältigen gewesen und ich hoffe, entschleunigt genug gewesen zu sein, um nichts Wichtiges übersehen zu haben.
Sehr herzlich danken möchte ich Elena Nancu, Konrad Reiher, Holm Tetens und Uwe Vorberg für den Aufwand, den sie sich mit dem Lesen des Manuskriptes gemacht haben, sowie für wertvolle Hinweise und ihr ermutigendes und genaues Feedback; bei meinem Sohn Jan Lenhard Vielmetter, der mir immer wieder bohrende Fragen gestellt hat, die mich in Erklärungsnöte brachten und zum Nachdenken anregten, sowie beim Campus Verlag, und dort vor allem bei meinen Lektoren Joscha-Nikolaj Barisch, Stephanie Walter und Patrik Ludwig, die mich bestens unterstützt haben.
Georg Vielmetter
Berlin, April 2021
TEIL 1
»Pandemien und Epidemien sind zwar eines natürlichen Ursprungs, aber sind keine Naturkatastrophen.«
Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
»Wenn man sich das vergangene Jahrhundert und seine Pandemie-Alarme anschaut, sieht man: Es gab stets einen Zyklus von Panik und Gleichgültigkeit. Sobald die [Notfälle] vorüber waren, rutschten wir, getrieben von einem kurzfristig denkenden Nachrichten- und Politikbetrieb, zurück in alte Muster. […] Covid-19 ist eine Krise auf allen Ebenen: der medizinischen, der sozialen, der politischen, der kulturellen und der ökonomischen Ebene. Wir müssen aus ihr lernen.«
Mark Honigsbaum, Medizinhistoriker
Oft sprach der bayerische Ministerpräsident davon. Von der »Naturkatastrophe«.1 Eine solche sei die Coronapandemie, »die Prüfung unserer Zeit.« Ein Philosophieprofessor war noch 2021 dieser Ansicht2 und ein saarländischer Medizinprofessor meinte zu Corona, »[d]as ist ja so wie eine Naturkatastrophe, die gewissermaßen in Zeitlupe abläuft.«3 Und der niedersächsische Ministerpräsident, der hier Zweifel anmeldete, wurde ohne weitere Argumentation von einem Journalisten eines Besseren belehrt: »Tatsächlich ist eine Pandemie eine Naturkatastrophe, die sich lediglich in Raum und Zeit von vergleichbaren Ereignissen unterscheidet.«4 Diese Einschätzung teilt das Brüsseler Center for Research on the Epidemiology of Disasters.5 Aber erstaunlicherweise sieht das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe das ganz anders: Pandemien seien keinesfalls Naturkatastrophen.
Die Antwort auf diese Frage ist kein bloßes Spiel um Worte. Wir wollen ja verstehen, welchen Einfluss die Coronapandemie auf zukünftige Entwicklungen, auf unsere Lebenswelt hat. Und dafür ist es wichtig, zunächst die Ursachen und den Charakter der Pandemie besser zu begreifen.
Wie kam es überhaupt dazu? Warum hat es sich so und nicht anders entwickelt? Ist die Pandemie nun etwas Schicksalhaftes, eine unvermeidliche Naturkatastrophe? Oder haben wir Menschen hier unsere Hände im Spiel? Können wir als Managerin, Unternehmensführer, Politikerin und Bürger durch Entscheidungen Einfluss nehmen? Stellt die Pandemie eine echte Disruption, einen Epochenbruch dar? Oder ein zwar einschneidendes, aber das System nicht fundamental veränderndes Ereignis? Haben demokratische Systeme die besten Antworten auf die Krise gefunden? Oder autoritäre?
Die Beantwortung dieser und weiterer Fragen zeigt uns auf, was wir aus der Coronakrise lernen können. Zumindest prinzipiell. Das heißt nicht, dass wir lernen werden. Aber die Chance, zu lernen, haben wir nur dann, wenn wir ein angemessenes Verständnis der Pandemie entwickeln können und dann entsprechendes Verfügungswissen haben. Wir müssen also den Charakter von Pandemien dieser Art, ihren Verlauf und mögliche Handlungsoptionen richtig einschätzen und verstehen können, wollen wir informiert über die Zukunft nachdenken.
Diesen Themen gehen wir in diesem Teil in vier Kapiteln nach. Im ersten Kapitel stellen wir die Frage, wie eine Pandemie überhaupt in die Welt kommt. Woher kommen diese tödlichen Infektionen, unter welchen Bedingungen entstehen sie und entwickeln sich, und inwiefern ist das abhängig von menschlichen Entscheidungen oder – allgemeiner – menschlichem Verhalten, das auch anders sein könnte? Anders gefragt: Wie stark hatten wir Einfluss auf den Ausbruch einer solchen Pandemie? Im zweiten Kapitel gehen wir der Frage nach, was genau sich in China zu Beginn der COVID-19-Epidemie ereignet hat. Wo begann das alles, was waren die entscheidenden Schritte, und wiederum: War diese Entwicklung zwangsläufig oder hätte die Sache auch anders – besser – verlaufen können? Im dritten Kapitel rekapitulieren wir die Entwicklung von COVID-19 von einer chinesischen Epidemie zu einer globalen Pandemie. Wie ging das vonstatten, und warum ist es nicht anders gekommen? Im vierten Kapitel gehen wir den Tiefenursachen der Erstinfektion, der Epidemie in China und der Pandemie nach, vor allem mit Bezug auf Deutschland und Europa. Welche systemisch-strukturellen, aber auch psychologischen und kognitiven Ursachen führten zur weltweiten Coronapandemie? Warum geht es einigen Ländern dabei so viel besser als anderen? Damit haben wir alle Faktoren freigelegt, die zur Coronapandemie führten. In einer kurzen Betrachtung zum Abschluss dieses Teiles ziehen wir zehn Lehren aus der Pandemie. Diese zu kennen, erscheint wichtig für Entscheider – Politikerinnen, Unternehmer, Managerinnen –, aber auch allgemein für alle Bürgerinnen, die sich damit beschäftigen, wie wir die Welt zukünftig besser gestalten können.
»But perhaps the biggest risk to humans is that spillover could result in the coronavirus establishing a reservoir in new animals and regions. […] This had already happened on a small scale with human–to–mink–to–human transmission on mink farms in Denmark. The discovery of the infected wild mink [in Utah in December 2020] confirmed our fears. Seeing the first wild animal with natural COVID-19 is alarming, but sadly, not surprising.«
Prof. Dr. Jonathan Runstadler und Dr. Kaitlin Sawatzki, Tierseuchenexperten, Tufts University
»Die Massentierhaltung ist anfällig für Pandemien und zugleich deren Verursacher. Es ist ein sich selbst zerstörender Kreislauf, der Werte vernichtet und Leben gefährdet.«
Jeremy Coller, britischer Geschäftsmann und Philanthrop
Oft ist es heiß in Wuhan, der Elf-Millionen-Metropole in Zentralchina. Heiß und feucht. Im Sommer regnet es häufig, Herbst und Winter sind trockener. Und es wird kälter, gerade im November. Wie überall auf der Welt nehmen Erkältungskrankheiten zu, die Menschen husten, haben Schnupfen, wenn es schlecht läuft, eine Grippe. Wie überall geht das in der Regel gut, aber einige haben Pech. Sie erkranken schwer, manche sogar tödlich. Das ist in Wuhan nicht anders als sonst wo auf der Welt. Mit einem Unterschied. Irgendwann im Herbst 2019 hat sich in Wuhan oder der umliegenden Provinz Hubei ein Mensch mit einem neuen Virus infiziert, das wir später SARS-CoV-2 nennen werden. Der Mensch soll ein Mann und 55 Jahre alt sein. Die Infektion soll am 17. November 2019 erfolgt sein.1 Genaueres wissen wir nicht, auch was aus dem Mann geworden ist, wurde nicht berichtet. Vielleicht war er der sogenannte Patient Null, wahrscheinlich aber ist das nicht. Der Mann hat wahrscheinlich einfach nur Pech gehabt, aber sein Schicksal löste eine Kette aus. Die Dinge nahmen ihren Lauf. Wie eine Naturkatastrophe.
Und genau so wird die Coronapandemie immer wieder bezeichnet. »Tatsächlich ist eine Pandemie eine Naturkatastrophe […]«, hören wir dann in Talkshows oder lesen in Zeitungen.2 Vergleiche mit Erdbeben, Überschwemmungen, Sturmfluten oder Dürren drängen sich dann auf. Doch stimmt das eigentlich? Was bedeutet eigentlich das Wort »Katastrophe«? Der Duden hat hier eine klare Definition: Er versteht darunter ein »schweres Unglück, Naturereignis mit verheerenden Folgen«3.
Aber handelt es sich bei der Coronapandemie wirklich um ein Naturereignis, ein schweres Unglück? Diese Begriffe assoziieren etwas Schicksalhaftes, so als sei die Pandemie ein Widerfahrnis, auf das wir Menschen keinen Einfluss haben, das einfach geschieht. Das viele früher wohl als »Gottgegeben« bezeichnet hätten, und manche heute noch.
Nun verhält es sich so, dass eine Lawine, die in einem entlegenen, von Mensch und Tier unbewohnten Tal des Himalaya abgeht, zwar ein mächtiges Naturereignis sein mag, aber gar nichts Verheerendes, Furchtbares an sich hat. Es gibt dort nämlich nichts zu verheeren. Und insofern stellt sie auch keine Katastrophe dar. Eine Lawine ähnlichen Ausmaßes in einem von Skitouristen überfluteten Tal der Alpen würden wir anders einschätzen. Das Abgehen der Lawine führte hier zu den »verheerenden Folgen«, die aus dem Naturereignis die Katastrophe machten. Der Schlüssel zum Verständnis liegt in dem kleinen Adjektiv »verheerend«. »Verheerend« ist ein normativer, ein wertender Begriff. Es ist etwas Schreckliches, Furchtbares.
In der Naturkatastrophenforschung spricht man von Naturereignissen, die man dann als Naturgefahr qualifiziert, wenn sie für den Menschen eine enorme Gefahr darstellen können.4 »In Fortsetzung dieser Begriffsbestimmungen spricht man von einer Naturkatastrophe, wenn ein gefährliches Naturereignis eingetreten ist und Schäden nach sich gezogen hat.«5
Worin liegt im Falle der Coronapandemie das »gefährliche Naturereignis«? Womit begann die Pandemie und nahm dann ihren Lauf?
Am Anfang der Pandemie stand die Zoonose. Zoonotische Infektionen übertragen sich wechselseitig zwischen Mensch und Tier und werden durch Viren, Bakterien, Parasiten oder Prionen ausgelöst. 60 bis 70 Prozent aller beim Menschen neu auftretenden Infektionskrankheiten stammen ursprünglich von Tieren: Es sind über 200 Krankheiten bekannt, die zu den Zoonosen gezählt werden. Dazu gehören die ältesten bekannten Infektionskrankheiten wie Tollwut, Pest, Tuberkulose und Influenza sowie zahlreiche mit Lebensmitteln assoziierte Infektionen, aber auch neu auftretende Erkrankungen (emerging diseases) wie Ebola, MERS (Middle East Respiratory Syndrome), BSE (Bovine Spongiforme Enzephalopathie) und verschiedene antibiotikamultiresistente Erreger. Oder eben SARS (Severe Acute Respiratory Syndrome).6
Sobald Menschen mit Tieren in Kontakt kommen, sind Zoonosen möglich. Da es eine unrealistische und auch unsinnige Vorstellung ist, dass zwischen Menschen und Tieren kein Kontakt besteht, ist es also unmöglich, Zoonosen prinzipiell zu verhindern. Zoonosen sind immer möglich. Die ältesten und verheerendsten Infektionskrankheiten, wie die Pest, wüten seit Jahrtausenden (selbst heute gibt es auf Madagaskar, wo die Krankheit erst Ende des 19. Jahrhunderts eingeschleppt wurde, noch jedes Jahr neue Fälle der Beulen- und der Lungenpest7). Interessant ist aber, dass in den letzten Jahrzehnten Zoonosen deutlich zugenommen haben.
Schon 2008 berichtete die TMF (das ist die Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V., die Dachorganisation für die medizinische Verbundforschung in Deutschland), dass die Gefahr zoonotischer Infektionskrankheiten stark zunimmt.8 Von insgesamt 586 in Säugetieren vorkommenden Virusspezies sind bislang 263 bereits im Menschen nachgewiesen worden. 188 Virusarten waren zoonotischen Ursprunges und gelangten entweder über Zwischenwirte oder direkt aus dem ursprünglichen Wirt auf den Menschen.9 Allein zwischen 1960 und 2004 sind 335 Krankheiten beim Menschen neu aufgetaucht, von denen mindestens 60 Prozent der Erreger von Tieren übergesprungen sind.10 Immer wieder kam es dabei zu Ausbrüchen gefährlicher und exotischer Epidemien: Machupo-Virus, Bolivien, 1962 bis 1964; Marburg-Virus, Deutschland, 1967; Ebola-Virus, Zaire und Sudan, 1976; HIV/Aids-Virus, USA, ab 1981; Sin-Nombre/Hanta-Virus, USA, 1993; Vogelgrippe H5N1, Hongkong, 1997; MERS, Saudi-Arabien, 2012. Und jetzt Sars-CoV-2, China, 2019. Und das ist nur eine Auswahl.11 Angesichts der Häufung von Zoonosen fördert die Bundesregierung seit 2007 ressortübergreifend neun verschiedene Forschungsverbünde zum Thema Zoonose-Forschung, darunter auch den Forschungsverband SARS.
Da es in den letzten 30, 40 Jahren verstärkt zu Zoonosen kam, stellt sich die Frage, woran das liegt. Wieso kommt es gerade heute verstärkt zu Zoonosen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst fragen, wo und wodurch Zoonosen typischerweise entstehen. Und das sind im Wesentlichen vier Bereiche:
a) Nassmärkte (wet markets)
Dabei handelt es sich um in Asien, zum Teil auch in Afrika verbreitete Märkte, auf denen Wildtiere lebend verkauft oder bei Kauf geschlachtet werden. Und genau hier, auf einem Fisch- und Wildtiermarkt in Wuhan, nahm im Dezember 2019 die Coronaepidemie ihren Lauf. Forscherinnen vermuten, dass die ursprüngliche menschliche Infektion über ein Schuppentier erfolgte, das wohl ein Zwischenwirt war. Als ursprünglicher Wirt des neuen Virus gilt eine Fledermausart.
b) Orte industrieller Nutztierhaltung
Nicht nur von Wildtieren, sondern auch von Nutztieren können Viren oder Bakterien auf Menschen übergehen. Hier finden wir sogar die gravierendsten Beispiele für große Pandemien, und auf diesen Bereich haben wir als Industrienation den größten direkten Einfluss. Die größte Pandemie der letzten Jahrhunderte, die sogenannte Spanische Grippe, stammt vermutlich von Geflügel oder Schweinen. Patient Null war wahrscheinlich ein Geflügelzüchter aus Kansas, und innerhalb von zwei Jahren waren eine Milliarde Menschen weltweit infiziert. Das Schweinegrippevirus, das 360 000 Menschen tötete, ging von Schweinen über, Rinderwahnsinn von Rindern. Die industrielle Massentierhaltung ist eine gefährliche Quelle von Zoonosen, weil Schweine und Hühner besonders oft als Zwischenwirte dienen. Das hat biologische und industrielle Gründe (siehe Kapitel 1.3).
c) Vordringen in unbesiedelte Räume / Ökosystemveränderungen
Durch das starke Bevölkerungswachstum gerade in Asien, Afrika und Südamerika kommt es vermehrt zum Vordringen des Menschen in bisher unbesiedelte Räume. Doch auch hier gibt es bereits historische Beispiele für Zoonosen. So gehen die ersten Gelbfieber-Ausbrüche beim Menschen im 16. Jahrhundert auf die Rodung des afrikanischen Regenwaldes zurück. Vorher zirkulierte das Gelbfiebervirus nur zwischen Mücken und Affen. Durch das Eindringen des Menschen in deren Lebensraum breitete sich das Virus aus und gelangte durch den Sklavenhandel bis nach Amerika.12
d) Klimawandel
Der Klimawandel trägt vor allem zur Verbreitung von Zoonosen in bisher davon verschonte, häufig kältere Weltgegenden bei. Hauptgrund dabei ist der Temperaturanstieg. So schrieb das Robert-Koch-Institut schon 2009: »Statistische Analysen zeigen einen deutlichen Zusammenhang zwischen Temperatur und der Häufigkeit Lebensmittel-übertragener Zoonoseerreger (zum Beispiel Campylobacter). […] Eine besondere Gefahr geht von Erregern aus, die bisher in Deutschland nicht heimisch sind, aber durch erkrankte Menschen, Vektoren13 und Reservoirtiere verstärkt eingeschleppt werden können. Bei fortschreitender Erwärmung finden sowohl die Vektoren als auch einige Erreger bessere Bedingungen für die autochthone Ausbreitung. Hier sind vor allem die durch Stechmücken übertragenen Krankheiten wie Chikungunya-, West-Nile-, Dengue-Fieber, Malaria und Leishmaniose zu nennen. […] Aufgrund des erwarteten Temperaturanstieges und verbesserter Brutbedingungen für die Vektoren müssen wir jedoch auch in Deutschland in Zukunft mit Ausbrüchen durch einige dieser Erreger rechnen.«14 Wenige Jahre später waren Zecken schon im Norden Schwedens und Norwegens zu finden, und die Tigermücke, die sowohl Dengue-, Chikungunya- als auch Gelbfieberviren übertragen kann, breitet sich in Zentraleuropa aus.
Zoonosen entstehen also vor allem und vermehrt durch das Eindringen in unbesiedelte Lebensräume, durch Nassmärkte, durch Massentierhaltung und durch den Klimawandel. Verstärkt wird die Gefahr von Zoonosen durch das Zusammenspiel und die wechselseitige Verstärkung dieser Ursachen, wie die Dynamik zwischen dem Coronavirus und der industriellen Nerzzucht zeigt. Der Frage, welche systemisch-strukturellen Ursachen dahinterstehen und inwieweit wir darauf Einfluss nehmen können, gehen wir im vierten Kapitel nach.
Schon diese kurze Betrachtung zur Entstehung von Zoonosen, dem Übergang tierischer Infektionen auf Menschen, erlaubt es uns aber, unsere Eingangsfrage recht eindeutig zu beantworten: Ist die Coronapandemie, die ja eindeutig durch eine Zoonose entstanden ist, eine Naturkatastrophe, ein schicksalhaftes, trauriges Widerfahrnis, dem wir Menschen einfach ausgeliefert sind, oder ist sie menschenverursacht in dem Sinne, dass menschliche Entscheidungen – grundlegende Antworten auf die Frage, wie wir leben wollen – bei ihrem Entstehen eine zentrale Rolle gespielt haben? Die Antwort ist klar: Die Coronapandemie ist menschenverursacht. Nicht natürlich in dem lächerlichen Sinne eines Verschwörungsmythos, nach der sich böse Mächte gegen uns arme (Wut- und Hut-)Bürger verschworen haben, wohl aber in dem Sinne, dass die Pandemie höchstwahrscheinlich an einem der oben geschilderten Orte (und noch wahrscheinlicher auf einem wet market in Wuhan) ihren Anfang nahm.
Reflexionsfrage für den eigenen Verantwortungsbereich
R1: Gibt es in Ihrem Verantwortungsbereich Muster oder Ereignisse, die als naturgegeben, schicksalhaft und unbeeinflussbar wahrgenommen werden, obwohl sie es bei genauerer Betrachtung nicht sind?
Gegen Ende der ersten Welle der Coronapandemie, Ende Juni 2020, kamen neue erschreckende Nachrichten aus China. Eine Forschergruppe um den Virologen Honglein Sun stellte eine Studie des Frühwarnzentrums der chinesischen Wissenschaftsakademie vor. Die zentrale Botschaft: Ein Zehntel der Arbeiter in Schweinemastfabriken in China hatte bereits Kontakt mit einem neuartigen, hochinfektiösen und gefährlichen Influenza-Virus namens G4. Die meisten hatten sich in nur wenigen Jahren, zwischen 2016 und 2019, infiziert. Und dabei war die G4-Variante des Influenza-Virus überhaupt erst 2013 zum ersten Mal bei Schweinen festgestellt worden. Warum ist dieses Virus so gefährlich, und welche besondere Rolle spielen dabei Schweine?
Schweine sind der ideale Wirt für Viren, die dann auf den Menschen überspringen. Das hat mehrere Gründe: Sie haben viel Kontakt zu Menschen und anderen Tieren. Sie stehen genetisch dem Menschen besonders nahe, sodass die Viren keine großen molekularbiologischen Sprünge machen müssen, um auf den Menschen überzugehen. Und sie werden in der Massentierhaltung unter Bedingungen gehalten, die nicht nur tierethisch haarsträubend sind, sondern auch ideale Bedingungen für die Ausbreitung von Erregern darstellen. Gleiches gilt für die »Verarbeitung« von Schweinen, besonders in industriellen Schlachtbetrieben à la Tönnies.
Damit stellen sie perfekte Wirte für sogenannte Reassortanten dar. Das sind neue Viren-Mischungen, die auch Genschnipsel von Menschen-, Schweine-, Vogel- oder anderer Tier-DNA enthalten können. Ergibt sich hierbei eine besonders ungünstige Mischung, kann das menschliche Immunsystem das Virus nicht mehr neutralisieren – so geschehen zum Beispiel bei der Spanischen Grippe 1918, der Asiengrippe 1957 und der Hongkong-Grippe in den Achtziger Jahren.
Genauso ein Typ ist das neue G4-Virus. Es ist aggressiver und infektiöser als andere Schweinegrippeviren und hat diese in den chinesischen Schweinebeständen in wenigen Jahren verdrängt. Die chinesischen Wissenschaftlerinnen schlagen Alarm. Hier könnte eine neue Pandemie im Anmarsch sein.
Abbildung 3: Brutto-Fleischeigenerzeugung 2020 (vorläufig in 1 000 Tonnen Schlachtgewicht)
Quelle: BMEL 2021
Deutsche Forscher kommen zu ähnlichen Einschätzungen. Sie stellen fest, dass sich die Anzahl von Schweineviren in Europa von ehemals zwölf auf mehr als 30 erhöht hat. Dabei gibt es geographische Unterschiede, doch durch den internationalen Schweinehandel in Europa drohen auch hier »verrückte Mischungen« von Reassortanten.
Eine andere internationale Studie kommt zu dem Ergebnis, dass fast drei Viertel der 50 größten börsennotierten Unternehmen der Fleisch- und Fischindustrie Missstände aufweisen, die ein hohes Risiko für die Entstehung und Verbreitung künftiger Infektionskrankheiten einschließlich Zoonosen bedingen.
Weltweit werden 70 Milliarden Tiere jedes Jahr von Industriefarmen, Mastbetrieben und Märkten »produziert«. In Deutschland wurden pro Betrieb 2019 durchschnittlich 1 229 Schweine gehalten. Das waren rund 15,5-mal so viele Schweine pro Betrieb wie noch 2001 und rund 14-mal so viele wie 1992.16 Allein der Marktführer Tönnies schlachtet mehr als 16 Millionen Schweine im Jahr, davon fast 14 Millionen in Deutschland. Tönnies hat in Deutschland 19 Standorte. Zum Vergleich: In der Schweiz werden weit weniger als 3 Millionen Schweine pro Jahr geschlachtet, und das in fast 700 Schlachthöfen. Der mit Abstand größte Schweizer Schlachthof in Zürich schlachtet dabei in der Woche weniger Schweine als Tönnies Hauptstandort am Tag.
Diese Verdichtung führt die Studie zu folgendem Schluss: »Die Massentierhaltung ist anfällig für Pandemien und zugleich deren Verursacher. Es ist ein selbstzerstörerischer Kreislauf.«
Abbildung 4: Durchschnittlich in Deutschland pro Betrieb gehaltene Tiere
Quelle: BLE 2020
Herr Tönnies wiederum hält die Diskussion um Großschlachtbetriebe für »Romantik« und sieht vielmehr einen anderen Skandal: Dass nämlich aufgrund der nach den Massenausbrüchen von COVID-19 in seinem Hauptwerk verhängten Quarantäne geschlachtetes Fleisch zur Tierbeseitigung gefahren werden musste: »Das ist ein Skandal für sich.« Denn: »Die Rechnung ist noch offen, da suche ich einen Adressaten.«17
Nun könnte man vielleicht fragen, warum wir uns hier mit industrieller Tierhaltung beschäftigen und was das mit der Coronapandemie zu tun hat. Die Antwort: Zum einen geht es hier grundsätzlich um die Entstehung von Pandemien, und da ist die industrielle Tierhaltung mindestens so bedeutsam wie die anderen Ursachen, aber auf diese Ursache haben wir den größten Einfluss. Und zum anderen besteht ein Zusammenhang zwischen den verschiedenen Ursachen. Auch im Fall der Coronapandemie verstärkt industrial farming die Gefahr durch das Coronavirus ganz zweifellos, wie man an der industriellen Nerzzucht sehen kann, die in Dänemark jetzt vor ihrem Ende steht..
17 Millionen Tiere will die dänische Regierung töten. Das gab sie am Mittwoch, dem 4. November 2020, bekannt.18 Im Januar 2021 hatte sie das Ziel unter teilweise skandalösen Umständen dann erreicht.19 Ziel der Aktion waren alle Nerze, die in Dänemark auf 1 500 Farmen gezüchtet werden. Und dies, damit deren Fell nach einem kurzen, sechs Monate währenden Leben als Innenfutter oder Kragen von Mänteln dienen kann.
Die Ankündigung der Massentötung war insofern erstaunlich, als dass der Weltmarktführer Dänemark gar nicht vorhatte, aus der Nerzindustrie auszusteigen. Anders als alle anderen Länder der EU, die die Nerzzucht entweder schon verboten oder mit unerfüllbaren Auflagen versehen hatten (beziehungsweise kurz davor standen). Der Grund für den Ausstieg: Nerze sind Wildtiere. Einzelgänger, die 100 bis 400 Hektar große Reviere durchstreifen. Sie werden dort zehn Jahre alt. Sie verbringen 60 Prozent ihrer Zeit im Wasser und bauen sich Höhlen. Sie verfügen über einen äußerst sensiblen Geruchssinn.20
Auf einer Nerzfarm hingegen, zumeist offene, zugige Schuppen, werden sie zu Tausenden in winzigen, übereinandergestapelten Gitterkäfigen gehalten, oft mehrere Tiere in einem Käfig. Dort beißen sie sich, und manchmal führt der extreme Stress sogar zu Kannibalisierungen. Es stinkt entsetzlich nach Exkrementen. Nach sechs Monaten werden sie vergast. Obwohl das in Dänemark auf wenig Bedenken stieß, wurden trotzdem alle Tiere getötet und entsorgt. Warum?
Weil sie sich das Coronavirus eingefangen hatten. Im Juni 2020 die ersten Tiere, und im Oktober waren es dann schon 1,5 Millionen. Es war zu einer weiteren zoonotischen Infektion gekommen, diesmal vom Menschen auf den Nerz. Dort hatte sich das Virus verändert und war dann wieder auf den Menschen übergesprungen, und zwar in einer Variante, die, wie man inzwischen weiß, der aggressiveren B.1.1.7-Mutante ähnelt, die zuerst im Dezember 2020 in London aufgetaucht war. Laut der WHO hatten sich bis Anfang Dezember 2020 644 Menschen durch Kontakt zu Nerzpelzfarmen und weitere 338 durch Nerzpelzverarbeitung angesteckt.21 Zu diesem Zeitpunkt hatte es Übertragungen von Menschen auf Nerze und zurück bereits in neun verschiedenen Ländern weltweit gegeben.22
Das stellt gerade durch die Mutationen eine große Gefahr für den Menschen dar. Die größte Gefahr sahen Expertinnen jedoch in der Übertragung des Coronavirus von den Zuchtnerzen auf solche in der freien Natur. Anders als die Zuchtnerze kann man die wildlebenden nun einmal nicht alle töten, und daher besteht die Gefahr der unkontrollierten Ausbreitung, der Übertragung auf andere Tiere (dem spillover), zusätzlicher Mutationen und dann wieder dem Übersprung auf den Menschen.
Am 13. Dezember 2020 war es dann so weit. Die US-Veterinärbehörde hat den ersten wilden Nerz mit exakt dem Zuchtnerz-Coronavirus entdeckt; ganz in der Nähe einer Nerzfarm in Utah.23
Jonathan Runstadler, Professor für Tierseuchen an der Tufts Universität, und seine Kollegin Kaitlin Sawatzki kommentieren: »Das erste Wildtier mit COVID-19 zu sehen ist alarmierend, aber traurigerweise nicht überraschend.«24
Nach dem Ausstieg Dänemarks aus der industriellen Nerzzucht gibt es übrigens einen neuen Weltmarktführer: China. Und China ist gleich zweifach glücklich: Zum einen berichtet es – anders als die anderen Länder, in denen noch gezüchtet wird – nicht von einem einzigen vom Coronavirus befallenen Zuchtnerz! Das ist schon großes Glück bei einer Population von über acht Millionen Tieren. Und zum anderen, so der Nerzzüchter und -händler Wang He, sind die Fellpreise nach dem Ausstieg Dänemarks um 30 bis 50 Prozent gestiegen.25 Sicherlich ein guter Grund, noch ein paar Millionen mehr Wildtiere in Gitterkäfige zu zwängen, um aus ihnen Innenfutter zu machen.
Reflexionsfrage für den eigenen Verantwortungsbereich
R2: Gibt es in Ihrem Bereich Ereignisse oder Vorgänge, die als unabhängig voneinander wahrgenommen werden, sich in Wahrheit aber wechselseitig verstärken können?
»[Chinas Kampf gegen die Epidemie hat] voll und ganz die klare Überlegenheit der Führung der Kommunistischen Partei Chinas und des sozialistischen Systems unseres Landes demonstriert«.
Xi Jinping, Präsident der Volksrepublik China
»Eine gesunde Gesellschaft spricht mit mehr als einer Stimme.«
Dr. Li Wenliang, Arzt in Wuhan, der bestraft wurde, weil er die Öffentlichkeit und Kollegen vor dem neuen Virus warnte, kurz vor seinem Tod durch COVID-19 am 7. Februar 2020
Wir wissen nicht, wie die vermutlich erste SARS-CoV-2-Infektion im November 2019 auf dem zentralen Huanan-Markt für Fisch und Wildtiere in Hubeis Provinzhauptstadt Wuhan von dem 55-jährigen Mann in Hubei auf die 57-jährige Krabbenverkäuferin überging. Was wir allerdings wissen, ist, dass die Rahmenbedingungen, die zum Beginn der Epidemie in China führten, eine Folge menschlicher Entscheidungen waren: In extrem verdichteten Städten zu leben. Fleisch zu essen. Wildtiere auf so einem Markt zu verkaufen. Einen solchen Markt in dieser Form in einer extrem verdichteten Großstadt mit einem großen internationalen Flughafen und einem der größten Eisenbahnknotenpunkte zu betreiben. Mangelhafte hygienische Verhältnisse hinzunehmen.
Nun stellt sich die Frage, ob der weitere Verlauf quasi »naturgegeben« war: War es unausweichlich, dass sich aus dem Übersprung vom Tier zum Menschen, zum »Patienten Null«, eine Epidemie in China entwickelte?
Dies ist der entscheidende Moment in der Entstehung der Coronapandemie. Wenige Wochen um Weihnachten 2019 herum waren dafür entscheidend, dass aus einem lokalen Ausbruch in China eine weltumspannende Pandemie mit Millionen von Toten wurde. Und das, obwohl China vom wissenschaftlichen Wissen, den technologischen und digitalen Fertigkeiten und der Kompetenz der Ärzte höchste Standards erfüllt. Dennoch konnte die Pandemie nicht verhindert werden. Was in China passiert ist, ist deswegen ein Lehrstück für alle, die Entscheidungen treffen und Krisen managen müssen: Das beste Wissen, die höchsten Fertigkeiten und die engagiertesten Mitarbeiterinnen sind nutzlos, wenn die Kultur repressiv ist und einen transparenten Informationsfluss und schnelle Entscheidungen verhindert.
Um dies nachvollziehen zu können, muss man sich detailliert die ersten Wochen nach der Übertragung anschauen. Dies liest sich spannend wie ein Krimi und zeigt auch, wie verschiedene Akteure versuchen, der Sache einen Spin zu geben.1
Anfang Dezember 2019: Ärzte in Wuhan bemerken ein seltsames Muster an Krankheitssymptomen bei Patienten, die alle mit einem riesigen, sieben Fußballfelder großen Markt für Fische und Meeresfrüchte in Wuhan zu tun haben. Dort werden auch lebendige Säugetiere verkauft. Die Ärztinnen sind frühzeitig wachsam und alarmiert, zumal einige von ihnen bereits Erfahrungen mit SARS im Jahr 2003 gemacht haben. Entgegen der klaren Vorgaben des nach der SARS-Epidemie 2003 entwickelten Frühwarnsystems zur Seuchenbekämpfung wenden sie sich aber nicht an das nationale chinesische Zentrum zur Bekämpfung von Seuchen (Center for Disease Control and Prevention, CDC), sondern an die lokalen Behörden.
8. Dezember 2019: Rückblickend wissen wir, dass nachweislich 27 Menschen in Wuhan mit einer seltsamen Lungenkrankheit infiziert sind. Bekannt wird das erst am 31. Dezember.
Zweite Hälfte Dezember 2019: Das Zentralkrankenhaus von Wuhan, in dem die meisten Patienten mit den eigenartigen Krankheitssymptomen behandelt wurden, stellt fest, dass sich die Krankheit, vermutlich ein Virus, von Mensch zu Mensch überträgt. Test-Samples werden an Labore geschickt, um das Genom zu entschlüsseln.
27. Dezember 2019: Das kommerzielle Labor Vision Medicals hat das Genom bereits größtenteils entschlüsselt und als ein neues Coronavirus ähnlich dem von SARS identifiziert. Es schickt seine Ergebnisse an Offizielle in Wuhan und an die Chinesische Akademie der medizinischen Wissenschaften. Wenige Tage später erhält ein Labormitarbeiter von Vision Medicals einen Anruf der Gesundheitskommission der Provinz Hubei. Er wird aufgefordert, die Proben zu zerstören und die Tests sofort zu stoppen.
Gleichzeitig melden mehrere Ärzte verschiedener Krankenhäuser das neue Krankheitsbild an ihre Krankenhausleitungen, die Stadtregierung und die lokale Seuchenbekämpfungsstelle.
30. Dezember 2019: Inzwischen befinden sich sieben Patientinnen in Isolation. Eine Gruppe von Ärzten versucht, die Öffentlichkeit zu informieren. Dr. Li Wenliang warnt in einer WeChat-Gruppe seine Arztkolleginnen. Er wird von der Krankenhausleitung und der Polizei einbestellt.
Der Chef des CDC, Gao Fu, erfährt nicht über das Frühwarnsystem von der womöglich neuen Krankheit, sondern zufällig durch eine Chatgruppe. Er schickt sofort ein Expertenteam nach Wuhan.
31. Dezember 2019: Die Regierung von Wuhan berichtet erstmals öffentlich über den Krankheitsausbruch und bestätigt, dass 27 Menschen davon betroffen sind. Zugleich bestreitet die Regierung, dass es zu Mensch-zu-Mensch-Übertragungen gekommen ist. Das Expertenteam des CDC triff in Wuhan ein.
Die chinesischen sozialen Medien beginnen, Beiträge zum Ausbruch zu löschen.
1. Januar 2020: Der Huanan-Fischmarkt wird geschlossen. Gleichzeitig bestraft die Polizei in Wuhan acht Ärzte wegen des Verbreitens von Gerüchten, darunter Dr. Li, der als einer der ersten die Gefahr der neuen Krankheit wahrnahm. Dr. Li unterschreibt eine Erklärung, in der er zum Ausdruck bringt, »unwahre Behauptungen gemacht« zu haben, die die »gesellschaftliche Ordnung ernsthaft gestört« hätten.
Die Behörden in Taiwan hatten schon im Dezember eigene Experten zur Sondierung nach Wuhan geschickt. Sie beginnen, alle Ankömmlinge aus Wuhan systematisch auf Lungenkrankheiten zu untersuchen.
2. Januar 2020: Die Bestrafung der Ärzte wird landesweit im Fernsehen verkündet.
Das Genom des SARS-CoV-2-Virus wird vollständig durch das international bekannte Wuhan Institute of Virology unter Leitung der berühmten Virologin Shi Zhengi dekodiert. Die als »Batwoman« bezeichnete Virologin hatte 2005 entdeckt, dass das SARS-Virus von Fledermäusen abstammt, und in ihrem Institut seit Jahren teilweise riskante Forschung mit Fledermausviren betrieben, nur wenige Kilometer vom Wildtiermarkt entfernt. Gleichzeitig verbieten die Behörden ihrem und anderen Laboren, das Genom zu veröffentlichen.
3. Januar 2020: Das Labor des CDC in Beijing hat das Genom ebenfalls vollständig dekodiert. Der WHO werden 44 Infizierte gemeldet. Regierungsunterlagen belegen, dass es Ende Dezember bereits 266 Personen waren.
4. Januar 2020: Deutsche Medien berichten in kurzen Meldungen erstmals über eine nicht identifizierte Lungenkrankheit in China.
5. bis 16. Januar: Wuhan zensiert Ärzte und Krankenhäuser und meldet so gut wie keine Neuinfektionen mehr. Gleichzeitig kommen Hunderte von Offiziellen zu den zwei größten politischen Versammlungen des Jahres in Wuhan zusammen, darunter dem bedeutenden regionalen Volkskongress.2 Der Druck, diesen Kongress durchzuführen, ist groß. Krankenhäuser sind angewiesen, in den ersten beiden Wochen keine neuen Patienten zu melden; Krankenakten werden gefälscht. Diese Manipulationen und Zensur führt einige CDC-Forscherinnen zu dem Irrglauben, das Virus verbreite sich nicht schnell. Zudem lehnen sie trotz eines Mangels an molekularbiologischer Expertise externen Rat ab.
5. Januar 2020: Ein drittes Virologen-Team in Shanghai und ein viertes in Beijing haben das Genom des Virus vollständig dekodiert. Beide dürfen die Ergebnisse nicht veröffentlichen.
Die WHO berichtet auf der Basis der ihr mitgeteilten unvollständigen Informationen, dass das Virus sich langsam verbreite, und spricht daher keine Reisewarnung aus. Gleichzeitig gibt es erheblich mehr Betrieb in Notaufnahmen in Wuhan, auch von Familienangehörigen von Mitarbeitern des Marktes.
6. Januar 2020: Dr. Li identifiziert eine Infektion bei einem Kollegen, wird aber angewiesen, keine Informationen dazu zu verbreiten. Die CDC spricht die zweithöchste Warnstufe aus, level two, hält sie aber vor der Öffentlichkeit und selbst vor vielen Mitarbeiterinnen geheim.
7. Januar 2020: Ein anderes Team in Wuhan hat das Virus ebenfalls sequenziert. Als Grund für die Nichtveröffentlichung wird von vielen die extreme Konkurrenz gerade innerhalb des CDC angesehen. Das CDC, und innerhalb des CDC einige bestimmte Forscher, wollen als Erste die Genomdekodierung veröffentlichen.
8. Januar 2020: Das Wall Street Journal berichtet, dass chinesische Stellen das Virus dekodiert haben und die Ergebnisse nicht veröffentlichen. Die WHO, die intern wiederholt nach Information gefragt hatte, ist empört, äußert sich aber so nicht. Staatliche Stellen bestätigen den WSJ-Bericht.
9. Januar 2020: Der erste Coronapatient in Wuhan stirbt.
10. Januar 2020: Dr. Li zeigt erste Symptome von COVID-19. Er zieht in ein Hotelzimmer, um seine schwangere Frau nicht anzustecken.
11. Januar 2020: Der renommierte Virologe Zhang aus Shanghai veröffentlicht nun unerlaubt seine Sequenz vom 5. Januar 2020 auf einer Virologie-Plattform. Das missfällt dem CDC; Zhangs Labor wird vorübergehend geschlossen. Die anderen Labore, einschließlich des CDC-Labors, ziehen nun nach, und veröffentlichen in schneller Folge.
13. Januar 2020: