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Es ist eine auffallende Diskrepanz zu beobachten: Mädchen, eigentlich die Gewinner der Bildungsentwicklung, sind immer häufiger in Therapien anzutreffen. Warum ist das so? Und wie können wir therapeutisch und erzieherisch damit umgehen? Die Autorin zeigt, welche Konstellationen und zentralen Beziehungskonflikte zu psychischen Störungen führen, was daran "typisch weiblich" ist, und welche therapeutischen Herausforderungen sich daraus ergeben. Inge Seiffge-Krenke analysiert, ob Autonomie heute noch Angst macht, welche zentralen Beziehungsdilemmata Mädchen lösen müssen und wie wir sie dabei unterstützen können. Sie zeigt, welche Konstellationen und zentralen Beziehungskonflikte zu psychischen Störungen führen, was daran "typisch weiblich" ist, und welche therapeutischen Herausforderungen sich daraus ergeben: - Psychoanalytische Weiblichkeitstheorien – wo bleibt das Mädchen? - Entwicklung von Mädchen aus psychoanalytischer und entwicklungspsychologischer Sicht - die Beziehung der Mädchen zu ihren Müttern, ihren Vätern, zu Geschwistern und Freundinnen - Mädchenkörper und Sexualität - Erste Liebe, romantische Erfahrungen und Gefährdungen - Aggressives und selbstschädigendes Verhalten - Ängste, Depressionen, Ess- und Persönlichkeitsstörungen - Probleme von Mädchen aus Migrantenfamilien - Hilfreiche Vergleiche mit klinisch-unauffälligen Mädchen zur Einschätzung der Krankheitswertigkeit einer Störung - Therapeutische Hilfen Dieses Buch richtet sich an: - PsychoanalytikerInnen - Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen - EntwicklungspsychologInnen - ErziehungsgsberaterInnen - KinderärztInnen - SozialarbeiterInnen
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Seitenzahl: 727
Inge Seiffge-Krenke
Die Psychoanalyse des Mädchens
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E-Book: ISBN 978-3-608-10859-0
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Vorwort
Kapitel 1Hurra – ein Mädchen?! Der Wunsch nach einem Mädchen und das Verhalten von Eltern gegenüber Töchtern
1.1 Die Geburt eines Mädchens als Makel – in einigen Ländern
Sohnpräferenz in Indien und China
Auch Töchter sind »nützlich«
Mädchenopfer zu Ehren einer Kriegerin
»Töchter der Erde«: Mädchen in matrilinearen Kulturen
1.2 Wunschbaby Mädchen
Bis in die jüngste Zeit wirksam: Mädchen sind eine Belastung
Die moderne Medizin und der Baby-Geschlechtsrechner
Antiker Mythos: Mädchen kommen aus dem linken Hoden
In schlechten Zeiten werden mehr Mädchen geboren
Die Kommerzialisierung des Wunsches nach einer Tochter
1.3 Die psychoanalytische Sicht: Homme manque und naive Theorien bis 1960
Lang ersehntes Mädchen
1.4 Das imaginäre und das reale Mädchen: Betrauern des Geschlechts
Trauerarbeit bei der Mutter – und Wut bei den Geschwistern
Das imaginierte Baby erfüllt die Bedürfnisse der Eltern
1.5 Ein Mädchen wird »gemacht«
Genetische Ausstattung, Biologie und Einflüsse der Umgebung
Vom Baby X zum »Mädchen«: Der Einfluss der Kultur und der elterlichen Erwartungen
Gegenwärtige Praxis: Die Bildungsgewinner – Mädchen
Das Verhalten der Eltern gegenüber Töchtern
Kapitel 2Konzepte über Weiblichkeit in der Psychoanalyse
2.1 Die frühe Sichtweise Freuds: Das kleine Mädchen als Mangelwesen
Sigmund Freuds Sichtweise des kleinen Mädchens als unvollständiger Junge
Die Unsicherheit Freuds und frühe Proteste
Fortsetzung des phallischen Monismus bei Helene Deutsch, Marie Bonaparte und Jeanne Lampl-de Groot
2.2 Diskrepanzen: Starke, souveräne Frauen um Freud – und dennoch keine eigenständigen Konzepte zur Entwicklung des Mädchens?
Freud und die Frauen: Männersolidarität vor Frauenverstehen
Frauen in der Familie Freud
Selbständige Frauen, die dennoch keine eigenständigen Konzepte über die Entwicklung des Mädchens vorlegten
2.3 Hier irrte Freud!
2.4 Weiterentwicklungen: Konzepte der narzisstischen Wunde, der Verleugnung der Vagina, des weiblichen Narzissmus und der weiblichen Schuldgefühle
Eine unabhängige Denkerin: Karen Horney
Weiblichkeit, Mütterlichkeit und die Beziehung zur Mutter
Die Verleugnung der Vagina und vaginale Ängste
Frühe Weiblichkeitstheorien als Abwehrformationen gegen die omnipotente Mutter
Die Idee der narzisstischen Wunde
Die weiblichen Schuldgefühle
2.5 Im Schatten der Mutter: Jokastes Tochter
2.6 Erstaunlich: Warum gibt es keine Psychoanalyse des Mädchens?
Kapitel 3Die Entwicklung des Mädchens aus psychoanalytischer Sicht: Das Babymädchen
3.1 Von den Trieben zum Objekt, zum Selbst und zur Intersubjektivität: Ein wichtiger Schritt
3.2 Babymädchen – das Mädchen als Säugling aus der Sicht der Psychoanalyse: Von Klein zu Winnicott
Es gibt keinen Säugling ohne seine Mutter
Das Selbst und der Andere treten in Erscheinung: Mütterliche Bezogenheit und die Rücksichtslosigkeit des Säuglings
Wie aus der bösen Mutter und dem bösen Baby etwas Gutes entsteht
Spaltung, Aggression, Neid und Unruhe im Leben von Melanie Klein
3.3 Objektbeziehungen von Anfang an!? Die Entwicklung des Selbst und früher Objektbeziehungen aus der Sicht von Melanie Klein und Margaret Mahler
Frühe Objektbeziehungen aus der Sicht von Melanie Klein
Ist das Baby autistisch? Die Sicht von Margaret Mahler
3.4 Die Sicht auf das Babymädchen: Die Urangst vor der Beschädigung des Körperinneren
3.5 Ergebnisse der ersten Säuglingsbeobachtungen: Lächeln, Fremdeln und Second Skin – René Spitz und Esther Bick
3.6 Daniel Stern: Koordinierte Interaktionen zwischen Mutter und Baby als Grundlage des Selbstempfindens
3.7 Was können Babys und wie passt das zur Genese der Intersubjektivität beim kleinen Mädchen?
Viele Belege für eine frühe Beziehungsfähigkeit beim Babymädchen
3.8 Eine neue Sicht des Babymädchens: Aktiv, differenziert und besonders beziehungsfähig
Kapitel 4Die Psychoanalyse des Kindergartenmädchens
4.1 Prägenitalität – ist diese heute bei der psychoanalytischen Sicht auf das kleine Mädchen noch von Bedeutung?
Objektbeziehungen in der oralen Phase: Das »Hemd der Mutter«
Anale Phase: Einverleibung, Ausstoßung, Macht und Kontrolle als Beziehungsmodalitäten
Urethrale Phase: Wichtig für Mädchen, aber wenig beachtet
Psychosexuelle Entwicklung: Unmentalisiert – oder doch durch die Eltern bestätigt?
Die frühe genitale Phase und ihre Beziehung zu Mahlers Individuationskonzept
4.2 Die heutige Sicht auf den weiblichen Ödipuskomplex: Primäre Weiblichkeit, problemlosere Identitätsentwicklung – aber kein Begehren?
Primäre Weiblichkeit des kleinen Mädchens
Problemlosere Identitätskonstitution durch fehlenden Objektwechsel
Empathie ja – aber kein Begehren?
4.3 Der vollständige Ödipuskomplex: Ein Tagtraum der Liebe, der in Enttäuschung und Verzicht enden muss
Differenzierungsprozess und ödipales Begehren: Genuin weibliche Interessen führen zum Objektwechsel
4.4 Metapher des Mangels: Was ist dran am Penisneid?
4.5 Ein wichtiger Lernfortschritt in der Triade: Das Erleben der elterlichen Paarbeziehung und das Akzeptieren des Ausgeschlossenseins
4.6 Anerkennung von Grenzen, Strukturbildung und die Identifizierung mit beiden Eltern
4.7 Wenn der Ödipuskomplex schiefläuft: Die Schwierigkeit der Integration oraler, analer und urethraler Impulse und der Bezug zu den Eltern als Paar
4.8 Entwicklungspsychologische Befunde: Zunehmende kognitive Reife, beschleunigte Empathie- und Schamentwicklung und die Ausweitung des sozialen Raumes
Komplexe sozial-kognitive Fertigkeiten
Beschleunigte Empathieentwicklung und die Bedeutung der Scham
Interaktion im Kindergarten: Intime, kleine Mädchengruppen
Kapitel 5Latenzmädchen: Das Mädchen in der mittleren Kindheit
5.1 Die Latenzphase – doch keine Phase, in der die Sexualität ruht?
Freuds Sicht auf die Latenz: Eine »Pause« mit viel Sublimierung und mildem Über-Ich
Die Sicht von Anna Freud, Edith Jacobson und Winnicott: Gute Ich-Leistungen, Angstbewältigung und stabile Identifizierungen
Die heutige Sicht: Sexuell gebremst aktiv, relativ unabhängig von den Eltern
5.2 Nochmals »das Hemd der Mutter« und das Fortbestehen ödipaler Themen
5.3 Selbsterleben, Gefühlswelt und Intersubjektivität des Latenzmädchens
Wahrnehmung des Selbst durch die Augen anderer
Stolz, Scham und Schuld und die Entwicklung zum Selbst als Beobachter
Warum werden ambivalente Gefühle so spät verbalisiert?
5.4 Die Bedeutung der Schamaffekte für die Identitätsentwicklung und die Selbst-Objekt-Differenzierung
5.5 Stärkere Emotions- und Verhaltenskontrolle und stärkere Beschämung als Konsequenz einer starken intersubjektiven Bezogenheit
Der »Schub an Abwehr«: Starke Verhaltenskontrolle und stärkere Beschämung
Die Berücksichtigung des Erlebens anderer und Fortschritte in der Kontrolle von negativen Emotionen
5.6 Strenge soziale Normen, starke Geschlechtstypisierungen in der Gruppe der Mädchen
Eine andere soziale Welt: Mädchengruppen
5.7 Die tüchtigen Mädchen: Kognitive Entwicklung, Schulleistungen und zweierlei Hirn
Gedächtnisleistungen, kognitive Entwicklung, Schulleistung und sprachliche Fertigkeiten
Zweierlei Hirn, hormonelle Unterschiede, Unterschiede im Reifungstempo
5.8 Auf der Suche nach der Lebenswelt der »Lückemädchen«
Wie beschreiben die Mädchen im Interview ihre Lebenswelt?
GPS-Tracking und Begehung wichtiger Plätze: Wo halten sich Mädchen auf und was tun sie dort?
Kapitel 6Die weibliche Jugendliche: Kind bleiben oder Frau werden?
6.1 Die Adoleszenz: Mehr als eine Neuauflage des Ödipuskomplexes
Die Mädchenentwicklung in der Pubertät: Große Verdrängungswelle in der »zweiten ödipalen Phase«
Anna Freud: Entidealisierung der Eltern, Trauerarbeit und jugendspezifische Abwehrmechanismen
6.2 Was sagt das Fünfphasenmodell der Adoleszenz von Peter Blos über Mädchen aus?
6.3 Die heutige Sicht auf die Entwicklung der weiblichen Identität
Die Identitätsentwicklung: Ist Erikson noch von Bedeutung?
Verlängerung der Identitätsentwicklung
Identitätsherausforderungen durch die körperliche Reife, Bedeutung der Körperscham
Spannungsbogen zwischen Verfrühung der körperlichen Reife und Verspätung der Identitätsentwicklung
6.4 Weitere sozial-kognitive Reife, adoleszenter Egozentrismus und eine immer noch nicht ganz abgeschlossene Hirnreifung
6.5 Ein neuer Blick auf das Selbst: Die relationale Identität der Mädchen
Freunde und Partner als Entwicklungshelfer für die Identitätsentwicklung
6.6 Eine zweite Chance für die Eltern – trotz Separationsangst
Eltern als Identitätsbremse?
In ganz normale Familien: Separationsangst von Mutter und Vater
6.7 Veränderungen in den familiären Beziehungen, schulische Belastungen und Zukunftsängste
Ängstliche Eroberung: Hinaus in die Welt und die Angst bei der Trennung von der Mutter
Aushandeln von Autonomie durch Zunahme von Konflikten
Individuation innerhalb der Familie
Zunehmende Belastungen in der Schule, Zukunftsangst
Schulstress ist auch Beziehungsstress
6.8 Ritenarmut und der adoleszente Initialtraum: Kind bleiben oder Frau werden?
Das Fehlen von Markern und Riten für den Übergang zur Frau
Der adoleszente Initialtraum
6.9 Selbstexploration in Tagebüchern, Blogs, WhatsApp,
»... die sweet sixteen ist ein Alter, wo man meist sehr verdreht ist«
Mädchenwelt in Tagebuchaufzeichnungen
Selbstexploration im Dialog: Durch Homepages, Foren, Instagram und Blogs
Kapitel 7Mütter und Töchter
7.1 Die Anfänge der Beziehung: Regression, Affektabstimmung und ein Gefährdungspotential
Die Leere nach der Geburt: Im Strudel der Regression und primäre Mütterlichkeit
Was passiert, wenn die Mutter den Hautkontakt, das Halten nicht aushält?
Die fehlende Sprache
Mutterschaftskonstellation und Affektabstimmung beim Babymädchen
Das Dritte, das unterstützende Netzwerk für die Mutter und ein Gefährdungspotential
7.2 Gleichgeschlechtlichkeit von Mutter und Tochter: Identifikatorische Prozesse, frühe Aggression und die Kontamination von oraler und genitaler Erregung
Empathie zwischen Mutter und Tochter, wechselseitige Identifikation
Frühe Ambivalenzen und das Überstehen der primitiven Rücksichtslosigkeit der kleinen Tochter
Frühe Aggression von Seiten der Mutter
Die Kontamination von oraler und genitaler Erregung
7.3 Die Mutter als erste Lustquelle, sexuelle Verschmelzungsphantasien und Sexualität als trennendes Element
Die Freude der Mutter am Körper der Tochter, sexuelle Verschmelzungsphantasien
Sexualität als trennendes Element: Sexualität der Tochter und Ablösung von der Mutter
7.4 Wenn die Differenzierung misslingt: Intrusive Mütter und die Tochter als Selbstobjekt
Wenn die Differenzierung misslingt: Die verschobene aggressive Abgrenzung von der Mutter
Die Symbiose mit der Tochter zur Abwehr und Vermeidung der Beziehung zum Vater
Die Tochter als Selbstobjekt der Mutter, falsche Empathie und die symbiotische Illusion
»Jetzt hübsch dich ...«: Schneewittchen
7.5 »Mein Leben war, sie zu beleben«: Die depressive Mutter, ihre Tochter und die Gefahr der Parentifizierung
Die »tote Mutter« und die Versuche, sie zu beleben
Mädchen als Risikogruppe für die Parentifizierung: Das Aschenputtel
7.6 Das doppelte Gesicht der Mutter: Die Abspaltung der aggressiven Anteile und das Tabu der Mutter-Tochter-Aggression
Der Schatten des Objekts: Das doppelte Gesicht der Mutter
Das Tabu der Mutter-Tochter-Aggression und die Abspaltung der aggressiven Anteile
Die auf die Therapeutin verschobene Aggression
Trennungsaggression: Hass verbindet
7.7 Neid und Aggression als Reaktionen auf die Schwangerschaft und Sexualität der Mutter
Das kleine Mädchen und seine schwangere Mutter
Wut auf die Mutter, die ständig Babys bekommt
7.8 Neid und Rivalität zwischen Mutter und Tochter in der Adoleszenz: Viele Konflikte, Geheimnisse und der Drang zu Unterleibsoperationen
Viele Konflikte mit der Mutter und ein verborgenes Leben: »Your mother doesn’t know«
Freude und Neid der Mutter bezüglich der erwachenden Weiblichkeit der Tochter
Die machtvolle Mutter und die Überantwortung des Körpers an Operateure
7.9 Die berufstätige Mutter und ihre Tochter
Belastungen berufstätiger Mütter
Der Beruf der Mutter als Konkurrent für die Tochter
Kapitel 8Die Beziehung zum Vater
8.1 Die erste Liebesbeziehung ist nicht mehr ausschließlich die zur Mutter
8.2 Die Bindung an den Vater, seine Spielfeinfühligkeit und die triadische Kompetenz der Tochter
Warum ist Spielfeinfühligkeit für Mädchen so wichtig?
Triangulierungsfähigkeit der Eltern und triadische Kompetenz der Tochter
8.3 Der liebevolle Blick des Vaters: Spielpartner, Autonomieförderer, Lehrer
Kamikaze-Spiel mit der kleinen Tochter
Der Vater als Lehrer: Die Förderung der kognitiven und emotionalen Entwicklung und die Beruhigung durch Erklärungen
Rollenmodell für Autonomie und Abgrenzung
8.4 Die tüchtige Tochter und die (selektive) Identifizierung mit dem Vater
»Daddy’s little girl« und das »Mädchen ohne Hände« – heute noch wirksam?
Die tüchtige Tochter: Anna Freud
Identifizierung mit Differenz
8.5 Die Bedeutung des Vaters für die Entwicklung der Weiblichkeit seiner Tochter
Nochmals: Die zärtliche Vater-Tochter Beziehung: »Daddy’s little girl ...«
»Secure exitement«: Umgang mit körperlicher Reife und veränderter Körperkontakt
Schutz, Eifersucht und Kontrolle: Die Tochter wendet sich anderen Männern zu
Schwierig zu erreichen: Kontrollierte Erotik
8.6 Begehren und begehrt werden: Das Mädchen in der Triade gegenüber dem Elternpaar
Gemischte Gefühle: Die Mutter muss die Tochter zum Vater lassen ...
... und die Tochter muss die Beziehung der Mutter zum Vater akzeptieren
Die Eltern als Paar, die Tochter ist ausgeschlossen
Fehlende Triangulierung und gefährliche »Lösungen«: Die Bedeutung des Schlafarrangements
8.7 Vaterhunger auch bei Mädchen? Uninvolvierte Väter, Trennungsväter und der Tod des Vaters
Uninvolvierte Väter in vollständigen Familien: »Wo wohnt eigentlich Papa?«
Wenn der Vater fehlt: Leise Symptome und der Übertragungswiderstand
»... und Du bist nicht zurückgekommen«
Töchter ohne Vater: Sehnsucht und vermiedene Trauer
Kapitel 9Das Mädchen im Kreis von Freundinnen und Geschwistern
9.1 Neid und Eifersucht als Themen zwischen Geschwistern und Freundinnen
Neid: Körperlicher und psychischer Mangel und das Verderbenwollen
9.2 Geschwisterneid und Ungleichbehandlung
Geschwisterneid und Ungleichbehandlung als Kind bei Anna Freud und Melanie Klein
9.3 Nischenspezialisierung und der Kampf um Anerkennung
Wie kommt es, dass Schwestern so verschieden sind?
Wenn die Eltern nicht differenzieren
9.4 Die Position in der Geschwisterfolge: Älteste und jüngste Schwestern
Anna – die jüngste Tochter und ihre Geschwister: »möchte auch«
Die älteste Tochter – Neid auf die Nachgeborenen: »Wir sind doch schon so viele«
Schwestern berühmter Männer: Der ältere Bruder
9.5 Stützend und entwicklungsfördernd – aber auch inzestuöse Unterströmungen
Geschwister als »horizontales Trainingsfeld«
Inzestuöse Unterströme: Das Hänsel-und-Gretel-Phänomen
9.6 Freundinnen: Warum sie so wichtig sind
Veränderungen der sozialen Netzwerke von der Kindheit zur Adoleszenz
9.7 Intimer Austausch – eine neue Qualität in Freundschaftsbeziehungen weiblicher Jugendlicher
9.8 Mädchenfreundschaften: Hochintim, aber auch konfliktreich
Wir reden bloß ...
Geheimnisse, Vertrauensbruch und Neid auf die Freundinnen
9.9 Gefährliche Merkmale von Mädchenfreundschaften: Co-rumination und ein hohes Maß an relationaler Aggression
Die Bedeutung von Beschämung und relationaler Aggression
9.10 Mädchenspiele und miteinander geteilte Phantasien
»Vater – Mutter – Kind« und der Familienroman
Puppenspiel: Mehr als nur die Identifizierung mit der Mutter
Der Siegeszug der Kuscheltiere
Geteilte aufregende sinnliche Erfahrungen: Jelly Beans
Geteilte Tagträume und Phantasien
9.11 Umgang mit der körperlichen Reife, homoerotische Erfahrungen und Schutz bei der Annäherung an »den Mann«
Was wissen wir aus Mädchentagebüchern über Freundschaftsbeziehungen?
Bisexuelles Schwanken und der Schutz der Freundinnen bei der Annäherung an das gefährliche Objekt »Mann«
9.12 Kreative Hilfen: Die imaginäre Freundin
Schreiben – ein fortgesetztes Gespräch: »Papier ist geduldiger als Menschen«
Kapitel 10Romantische Beziehungen und der Gebrauch des Körpers als Wege zur Loslösung und Individuation
10.1 Warum sind romantische Beziehungen von Mädchen im therapeutischen Kontext wichtig?
10.2 Psychoanalytische Konzeptionen zu romantischen Beziehungen und die erste Liebe am Beispiel von Sigmund Freud und Karen Horney
Psychoanalytische Konzeptionen zu romantischen Beziehungen
Romantische Beziehungen: ... und wie war es bei Freud?
Die sanfte Rebellin der Psychoanalyse: Karen Horneys frühe romantische Beziehungen
10.3 Zwischen Symbiose und Individuation: Romantische Beziehungen als Wendepunkte in der Entwicklung des Mädchens
Die positiven Auswirkungen von Partnerschaften im Jugendalter ...
... aber auch Wendepunkte zum Negativen
10.4 Phasen der romantischen Entwicklung: Wie entsteht »das Paar«?
Typische Entwicklungsphasen der Paarbeziehung während des Jugendalters
10.5 Wirrwarr der Gefühle: Bindung, Erotik, Homoerotik
Freundinnen: Hilfen bei der Initiierung und Trösterinnen bei der Trennung
Verwirrende Gefühle: »Freunde« oder »Lover«?
Was man mit Freundinnen erprobt: Homoerotische Erfahrungen und Intimität
Einflüsse der Bindung an die Eltern
10.6 Noch Platz fürs Selbst: Ein spezifisch weibliches Problem?
Symbiotische und zu distanzierte Partnerbeziehungen und die Bedeutung der Bindung
10.7 Relativierung der mütterlichen Bedeutsamkeit – neue Freiheiten, neue Möglichkeiten? Wie passt das zur Reviktimisierung und zu Genitalängsten?
Relativierung des mütterlichen Einflusses und »Mutterimitate«
Reviktimisierung in problematischen Partnerbeziehungen
Die frühe Beziehung zum Vater und Genitalängste in der Adoleszenz
10.8 Vom eigenen Körper Gebrauch machen: Sexualität als Ausdruck der Sehnsucht nach der präödipalen Bemutterung und deren Abwehr
10.9 Die Bedeutung der frühkindlichen Erfahrungen für Sexualität, Schwangerschaft, Mutterschaft und Abtreibung bei jungen Mädchen
Schwangerschaft als Möglichkeit der Identifizierung mit der Mutter und mit sich als Baby
Schwangerschaft und Abtreibung als uneingestandene, schuldbeladene Kleinmädchenwünsche
Kapitel 11Mädchen und Bindung
11.1 Bindung, Mutterliebe und Emanzipation der berufstätigen Mutter
11.2 Widerstände gegen die Bindung und die heutige Bedeutung der Bindung
Widerstände gegen die Bindung – selbst in der Psychoanalyse
Anna Freuds frühe Bindungserfahrungen: »Du hast mich verloren«
11.3 Das Bindungskonzept und seine Besonderheiten bei Kindern und Jugendlichen
Entwicklungsbesonderheiten: Innere Arbeitsmodelle, Auswirkungen auf Beziehungen und Lernen
11.4 Langdauernde Auswirkungen und die Zuordnung zu Krankheitsbildern
11.5 Elterliche Psychopathologie und Bindungsstörungen bei Mädchen
11.6 Allerdings: Mädchen in Kindergartenbetreuung profitieren
»Wie viel Mutter braucht ein Kind?« Ein Blick nach Afrika
Mädchen profitieren im Kindergarten und in der Krippe
Sie profitieren meistens, aber nicht immer
11.7 Mädchen mit Bindungsstörungen
11.8 Therapeutische Zugangsweisen zur Vermittlung von Bindungssicherheit
Bindungsbasierte Psychotherapieansätze
Programme zur Förderung der Feinfühligkeit bei jugendlichen Müttern
Bindungsstil und Therapieerfolg
Kapitel 12Mädchenkörper, Sexualität und Krankheit
12.1 Kleine Mädchen: Genitales Spiel, die zunehmende Entdeckung der Innergenitalität und Phantasien über Zeugung und Geburt
Gleichgeschlechtlichkeit mit der Mutter – und dennoch anders
Genitales Spiel bei kleinen Mädchen
Die zunehmende Entdeckung der Innergenitalität
Schwängerung und Geburtsphantasien
12.2 Körperbild, Attraktivität und Essverhalten
Das negativere Körperbild und auffälliges Essverhalten von Mädchen: Seit Jahrzehnten konstant
Sexy, aber auch selbstbestimmt: Die Vermarktung des weiblichen Körpers und der Sexualität
»Schönheitswahn«: Schminke mit 12, Brust-OP mit 18?
12.3 Menstruationserleben: Von der »Unreinheit« zu den »Feuchtgebieten«
Die erste Menstruation: Janusköpfigkeit und der Bezug zur Mutter-Tochter-Beziehung
Die »Krankheit« und der Verlust der Kontrolle
Gleichsetzung von Menstruation mit Unreinheit
Die abgewehrten positiven Aspekte der Menstruation
12.4 »Geburtswehen« der Weiblichkeit in der Adoleszenz
Die Angleichung an den Körper der Mutter und neue Aspekte der Innergenitalität
Gefahren durch die physisch reifen Genitalien und das Verbot, die Hände zu gebrauchen
Vaginale Erregung, sexuelle Phantasien, Vergewaltigungsängste und Penetrationslust
Angst vor der Sexualität, die Diffusität der Erregung und die »Blinddarm-OP«
12.5 Der Mann als Indikator und die Nähe zu traumatischen sexuellen Übergriffen
»Ich war eben auch eine kleine Schlampe«
12.6 Körperinszenierungen: Essstörungen und Schnittsymptome
Zum Wandel weiblicher Körperinszenierungen
Viele Funktionen: Selbstbeschädigung als Selbstfürsorge, zur Selbsterhaltung, zur Emotionsregulierung, zur Identitätsstabilisierung, zur Kommunikation
Tattoos und Piercings
Nein – ich esse deine Suppe nicht: Essstörungen
Illusion der Beherrschung des Körpers, Objektersatz und Grenzziehungsfunktion
12.7 Körperlich kranke Mädchen
Körperlich krank und auch noch psychisch beeinträchtigt?
Chronisch kranke Mädchen und ihre Eltern: Zwischen Vernachlässigung und »ein Körper für zwei«
Wenn die Bindung zu symbiotisch ist: Das behinderte Kind und seine Mutter
Therapeutische Implikationen
Kapitel 13Das friedfertige Mädchen? Mädchen als Täterinnen und die Bedeutung der Beziehungsaggression
13.1 Offen gezeigte Aggression: Bei Mädchen deutlich seltener
Komorbidität: Meist in Kombination mit anderen Störungen
Wann zeigen Mädchen offen Aggression? Der Bezug zu Geschwisterrivalität, zu Trennungsaggression und Bindungsstörungen
13.2 Die stärkere Emotions- und Verhaltenskontrolle bei Mädchen
Starke Kontrolle bei Mädchen: »An Geburtstagen bin ich meistens etwas brav«
Schlagephantasien und »Ein Kind wird geschlagen«
13.3 Entwicklungsverlauf und mädchenspezifische Aggression
Phasenspezifische Äußerungsformen
Gibt es einen Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Aggression?
Der Entwicklungsverlauf: Von außen nach innen
Verschiedene Aggressionsformen mit unterschiedlicher Schädigungswirkung
13.4 Beziehungsaggression und Mobbing bei Mädchen
Ausgrenzen und entwerten: Mobbing, eine relationale Form der Aggression
Die eigene unbewusste Beteiligung am Mobbing
13.5 Aggression bei jugendlichen Paaren: Warum mehr Mädchen?
Die Häufigkeit von Aggression in den Partnerschaften Jugendlicher
Aggression bei jugendlichen Paaren: Häufige einseitige Aggression der Mädchen
Ursachen: Der Kampf um die Autonomie, unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe und Funktionen von Aggression
Therapeutische Implikationen
13.6 Mädchengewalt: Im Zunehmen begriffen?
Was ist dran am Krankheitswandel und den »radikalen Prinzessinnen«?
Zunahme an Mädchengewalt
13.7 Mädchen als Täterinnen im Missbrauchs-, Vernachlässigungs- und Misshandlungskontext
Biographische Hintergründe bei Mädchen, die Gewaltstraftaten verübt hatten: Komplexe Traumatisierungen und Bindungsstörungen
Mädchen als Täter im Missbrauchskontext: Eine wichtige, aber häufig übersehene Gruppe
Vom Opfer zur Täterin: Die Bedeutung der Identifikation mit dem Aggressor
13.8 Bei schweren Gewaltformen: Kein Fall für das ambulante Einzelsetting
Kapitel 14Andere Kulturen: Vernachlässigung und gesundheitliche Gefährdung von Töchtern
14.1 »Eigentlich ganz schön hier!« Geglückte Entwicklungen und der Kampf um die Integration der verschiedenen Identitäten
14.2 Welche Implikationen hat die Bevorzugung von Söhnen für Lebensbedingungen, Bildung, Gesundheitsstatus und Therapie von Mädchen?
Gebildete Mütter wünschen sich auch Mädchen
Mädchen werden schlechter versorgt, wenn sie noch Schwestern haben
Bedeutung für Arbeitsbündnis, therapeutische Beziehung und Elternarbeit
14.3 Einflüsse der Weltreligionen auf die (sexuelle) Selbstbestimmung von Mädchen
Einschränkungen im Bewegungsraum, aber auch Respekt
Die herausragende Stellung der Mutter
14.4 Die »Hausfrauenfabrik«: Autonomiebestrebungen des Mädchens und strikte Erziehungshaltungen der Eltern
Die Schwierigkeit der Integration von religiösen Werten und westlichen Erziehungsvorstellungen für die Eltern von Mädchen
14.5 Therapeutische Arbeit mit adoptierten Mädchen
Therapeutische Perspektiven
14.6 Verbrechen gegen Mädchen: Ehrenmorde, Genitalbeschneidung und Zwangsverheiratung
Sexuelle Greueltaten gegen Mädchen
Genitalbeschneidung
Zwangsverheiratung, arrangierte Ehen und psychische Störungen
Die rechtliche Situation
Die Situation in Deutschland: Zwangsverheiratung junger Mädchen als Beratungsfälle
14.7 Unbegleitete minderjährige Flüchtlingsmädchen: Eine Herausforderung für die therapeutische Arbeit
Keine geringe Zahl ...
Zur rechtlichen Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen
Zur psychosozialen Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen: Therapeutische Implikationen
Anforderungen an die Therapie mit minderjährigen Flüchtlingsmädchen
Kapitel 15Überlegungen zur Behandlungstechnik bei Mädchen
15.1 Die therapeutische Beziehung, Umsetzung von Bindungsthemen, die »Unzerstörbarkeit« des Therapeuten, der Therapeutin
15.2 Stützung der Elternfunktionen, Hilfen bei der Mentalisierung
15.3 Begleitende Elternarbeit und Nebenübertragungen der Mutter
15.4 Sensibilisierung für Trennungserfahrungen
15.5 Strukturelle Defizite, Strukturaufbau und Spezifika bei der Arbeit an der Strukturachse
15.6 Arbeit an inneren und äußeren Konflikten
15.7 Trennungsangst, Angst vor Liebesverlust und Separationsangst der Eltern
15.8 Die dunkle Seite der Beziehungsfähigkeit: Beziehungen nicht nur als Schutz-, sondern auch als Risikofaktor
15.9 Das Schuldthema, negative Übertragung und Übertragungswiderstände
15.10 Die unmentalisierten Körpererfahrungen und der Körper in der Therapie
15.11 Der Spiegel des Selbst: Die Nutzung von Symbolisierung, Spiel und Selbstreflexion
15.12 Therapeutische Interventionen: »Etwas mehr als Deutung«, implizites Beziehungswissen und die Bedeutung von »ruptures«
Literatur
Dieses Buch wäre wahrscheinlich ohne die freundliche, aber auch beharrliche Unterstützung von Hans Hopf nie geschrieben worden. Nachdem er 2014 mit seinem Buch über die Psychoanalyse des Jungen eine umfangreiche Anthologie des Jungen vorgelegt und in dieses Buch die ganze Kompetenz, Kreativität und Begeisterung eines erfahrenen Therapeuten – er ist sicherlich unser bekanntester Kinderanalytiker – hineingelegt hat, entstand die Idee, auch eine Psychoanalyse des Mädchens zu verfassen.
Ich habe lange gezögert – schließlich gibt es ja schon so viel über Weiblichkeit und Psychoanalyse, und dies seit Jahrzehnten: Was konnte ich da noch hinzufügen? Andererseits: In den frühen analytischen Schriften von Helene Deutsch und Karen Horney, erst recht aber in den analytischen Diskursen der Nachkriegszeit standen mehr die Mütter (oder Mütter und Töchter zusammen), seltener die Töchter im Vordergrund – wäre es da nicht an der Zeit, die Töchter etwas stärker in den Blick zu nehmen? Schließlich: Es gibt viele entwicklungspsychologische Befunde zu Mädchen – sollte ich da nicht als Entwicklungspsychologin versuchen, diese beiden Perspektiven, Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie, stärker zusammenzubringen? Dies gilt ja insbesondere für Lebensbereiche des Mädchens, die in der Psychoanalyse gar nicht so bekannt sind – wie Freundschaftsbeziehungen, körperliche Entwicklung, die erste Liebe –, aber auch für die Mädchenspiele, die aggressiven Auseinandersetzungen mit den wichtigen Bezugspersonen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Gerade für Therapeuten und Therapeutinnen kann es hilfreich sein, Rahmendaten über nicht klinisch auffällige Mädchen zu haben, markieren sie doch Grenzen, um die Krankheitswertigkeit eines Verhaltens, einer Störung besser einschätzen zu können. Die zu starke Konzentration auf die Eltern, speziell die Mutter als Dritte im Bunde des therapeutischen Geschehens, fand ich ungut. Mädchen auf der Suche nach ihrer Identität zu begleiten und ihre einzigartigen, besonderen Charakteristiken herauszuarbeiten und Skotome wie die Aggressivität aufzugreifen, war mir wichtig.
Das Buch von Hans Hopf über Jungen ist unerschrocken und mutig, aber auch mutmachend – und es zeugt von einem unglaublich reichen theoretischen und therapeutischen Wissen. Was konnte ich nun, in Ergänzung seines Werks, Neues über Mädchen berichten, was nicht schon in der jahrelangen Diskussion der Weiblichkeitstheorien immer und immer wieder beschworen worden war? Das konnte einen schon verzagt machen. Dann aber fiel mir auf, dass Mädchen viel stärker als Jungen zu Symbolisierungen neigen, in denen Beziehungen erprobt werden – seien es nun Tagbücher, Blogs oder Fantasiefreundinnen. Es hat mich sehr beschäftigt, was das bedeuten mag: Ist das ein Alleinstellungsmerkmal, etwas Besonderes, das nur Mädchen haben? Und wenn ja: Warum ist das der Fall? Ist das wirklich nur alles auf die inner genitality zurückzuführen, wie eine Autorin, Vera King (1997), behauptet? Oder ist das wiederum zu sehr von der Mutter aus gedacht? Auch die versteckte Aggressivität der Mädchen schien mir einer genaueren Beachtung wert.
Mein Interesse war geweckt, aber ich hatte erst noch an dem Vaterbuch Väter, Männer und kindliche Entwicklung (erschienen 2016) zu arbeiten. So stand ich vor der großen Herausforderung, mich nun auch der töchterlichen und mütterlichen Seiten anzunehmen. Am Anfang erfolgte also die Arbeit parallel, und das war auch ganz aufschlussreich, denn: Müssen wir nicht alle unsere Mutter- und Vaterkomplexe zusammenbringen, und sind wir nicht alle mal Töchter gewesen und immer noch Tochter, und möglicherweise auch Mutter einer Tochter?
Nach Abschluss des Vaterbuchs im Juni 2015 war aber die Bahn frei für mein Mädchenbuch, und so konnte ich mich ihm dann ganz widmen. Das war auch dringend nötig, denn es gab viel zu sichten und zu lesen, nicht nur psychoanalytische Theorie, sondern auch empirische Studien zu Mädchen, Behandlungsfälle mit Mädchen, und vor allem viel nachzudenken, nachzuspüren und zu verstehen, denn vieles bei Mädchen offenbart sich eher im Verborgenen. Ich habe, ausgehend von der Psychoanalyse, in sehr unterschiedlichen Bereichen gesucht, damit es zu einem Dialog zwischen den Disziplinen kommt und das Mädchen als eigenständiges Geschöpf ein bisschen deutlicher wird.
Eine Arbeit an einem Buch ist immer auch eine Konfrontation mit der eigenen Biographie, und mir wurde deutlich, wie viel Frauen meiner Generation, die in der Nachkriegszeit Töchter waren, mit einigen Mädchen heute, die wir in Therapien sehen, gemein haben. Es gab viele Flüchtlinge aus den Ostgebieten, die alles andere als gern gesehen waren, die Familien waren groß (das hieß damals »kinderreich«), und die Kinder hatten oftmals Eltern, die durch Kriegsereignisse wie Tod und Trennung von früheren Partnern zusammengefunden hatten (heute würde man das »Patchworkfamilie« nennen) und versuchten, ihren Alltag in wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen zu stemmen (heute heißt das »prekäre Verhältnisse«). Väter waren oftmals nicht vorhanden: aufgrund von Tod, kriegsbedingten Beeinträchtigungen (wie von Luise Reddemann, 2015, und Hartmut Radebold, 2000, beschrieben) oder umfangreicher Berufstätigkeit als alleiniger Ernährer, und es gab viele alleinerziehende Mütter (»Kriegswitwen«). Unterschiedliche Konfessionen der Eltern galten als problematisch, das nannte man »Mischehe«. Aber eine große Familie und schwierige Verhältnisse enthalten auch ein Potential für Kreativität und Autonomie, und so möchte ich mich mit diesem Buch bei meiner Herkunftsfamilie bedanken, in der ich Tochter und Schwester war.
Das Buch folgt einer bestimmten Logik. Es beginnt mit Theorien über Weiblichkeit in der Psychoanalyse und greift dann die Entwicklung des Mädchens vom Babyalter bis zur Adoleszenz auf. Dann wird der intersubjektive Raum aufgefächert und – neben klinisch relevanten Aspekten der Beziehung des Mädchens zu beiden Eltern – die Bedeutung von Geschwistern, Freundinnen und romantischen Partnern betrachtet. Daran schließen sich Beobachtungen und klinische Befunde zu Aspekten an, die für die Therapie wichtig sind, wie Bindung, Aggression und Körper des Mädchens. Im letzten Kapitel werden einige Überlegungen zu mädchenspezifischen Behandlungstechniken dargestellt.
Es ist mir ein besonders Anliegen, meinen Patientinnen sowie den Kollegen und Kolleginnen aus der Supervisionsarbeit zu danken wie Dr. Kohl und seinem Team, Kinderpsychosomatik, Darmstadt, Dr. Anke Hüther und Dr. Daniela Pfannkuch, Psychiatrische Praxisgemeinschaft Mainz-Gonsenheim, und ihrem Team sowie Rima Burkert, Anuschka Leipnitz, Nadejda Schmidt, Renata Fischer-Roßbach, Tal Lichtman, Nicole Gauler, Marcus Mrjic, Athanasia Tsotalou-Lehmann und Anne Grothe. Ein großes Dankeschön geht auch an Thomas Reichert für die sorgfältige Durchsicht und an Dr. Heinz Beyer vom Klett-Cotta Verlag, der das gesamte Buchprojekt (und auch das von Herrn Hopf) liebevoll und kompetent begleitet hat und damit Geburtshelfer für zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, wurde.
Mainz, 2. 11. 2016
Inge Seiffge-Krenke
Kapitel 1
Heutzutage scheint zumindest in der westlichen Welt der Geschlechtswunsch relativ gleichmäßig auf Jungen und Mädchen verteilt, und in Deutschland werden auch (fast) gleich viele Töchter wie Söhne geboren. Welches Geschlecht das Baby hat, ist für die Eltern eine spannende Frage – bevor Ultraschall oder sogar erst die Geburt endlich Gewissheit verschaffen.
Wie man das Geschlecht beeinflusst, darüber gibt es schon seit vielen Jahrhunderten die verrücktesten Strategien und Ammenmärchen. Sie zeigen insgesamt eine erschreckend negative Haltung gegenüber der Geburt von Töchtern, aber auch oftmals eine sehr vernachlässigendes Verhalten gegenüber der Erziehung dieser Töchter, von dem wir gegenwärtig durchaus noch Spuren finden können. In Kapitel 14 werde ich dann auf die gesundheitlichen Gefährdungen dieser unerwünschten Mädchen eingehen.
Im therapeutischen Raum stößt man allerdings auch heute noch bisweilen auf eher unbewusste Wünsche und Tendenzen, die das Geschlecht des Kindes betreffen. Auch bei einer geschlechtsneutralen Erziehung, wie wir sie heute in vielen westlichen Industrieländern haben, gibt es manchmal ein Betrauern, dass es doch kein Sohn geworden ist, und das reale und das imaginäre Baby müssen zusammengebracht werden, was für manche Eltern ein schmerzlicher Lernprozess ist; denn der Wunsch nach einem bestimmten Geschlecht hängt auch mit der Biographie der Eltern zusammen.
Schockierende Dokumentationen wie die von Phoenix am 1. 5. 2016 über Kinder, die tot auf Müllplätzen in Karatschi gefunden werden (Die Kinder von Karachi. Film von Gábor Halász), verdeutlichen, dass es nicht in allen Kulturen Lebensbedingungen und Einstellungen gibt, die Kindern ein Überleben ermöglichen. Zweimal in der Woche fahren Helfer auf die Müllkippe und suchen nach toten oder noch lebenden Babys – die meisten davon sind Mädchen. Ein freiwilliges Helferteam geht durch die Straßen, um die Polioimpfung kleiner Kinder zu ermöglichen – oft unter Lebensgefahr, denn die Polioimpfung ist durch die Taliban verboten und es vergeht kaum ein Tag, an dem keine Bombe explodiert. Wiederum sind Mädchen in der schlechteren Position – es werden vor allem Jungen gebracht und geimpft.
In manchen Kulturen galt und gilt es als ein Makel, wenn ein Mädchen geboren wurde. Die Frau gilt als Versagerin, wenn sie ihrem Mann keinen Sohn geboren hat. Zwei Beispiele mögen das illustrieren:
Wir wissen inzwischen, dass chinesische Kinder wieder Geschwister haben können. China hat die seit 1979 bestehende Ein-Kind-Politik für beendet erklärt. Die Nebenwirkungen des Gesellschaftsversuchs waren am Ende zu groß. Weil sich die meisten Paare einen Jungen wünschten, wurden weibliche Föten abgetrieben. Nun fehlen die Frauen im Land, die Zahl der frustrierten Single-Männer ist hoch, die Gesellschaft droht zu vergreisen. Die Idee, dass der Staat als oberster Geburtenplaner auftritt, hat ziemliche Kratzer bekommen (Süddeutsche Zeitung, 31. 10. 2015, S. 23).
Vor einer ähnlichen Situation steht Indien: Die indische Geburtenkontroll-Politik mit Sterilisations- und Verhütungsprogrammen hat wie in China vor allem den Effekt, dass sehr viel weniger Mädchen geboren werden, so dass indische Männer inzwischen, ähnlich wie die chinesischen Männer, im Ausland auf Brautschau bzw. Brautkauf gehen müssen. Wie ich in Kapitel 14 zeige, hat die starke Sohnorientierung dramatische Auswirkungen auf die Lebenssituation, die Gesundheit und die Bildung der Mädchen in Indien.
Über viele Jahrhunderte war Bevölkerungspolitik vor allem Wachstumspolitik. Menschen waren knapp, nach Kriegen, Hungersnöten und Seuchen war es wichtig, das viele Babys geboren wurden, und angesichts der mangelnden Geburtenkontrolle und kirchlicher Interventionen (»Seid fruchtbar und mehret Euch«) war dies auch erwünscht bzw. nicht zu verhindern. Dabei hatten Mädchen und Frauen genauso ihren Platz und ihre Aufgabe in der Familie und Gesellschaft wie Jungen und Männer. Zwar wurden Söhne traditionell bevorzugt, solange das Erbrecht am erstgeborenen Sohn festgemacht wurde, aber Töchter waren auch willkommen, sicherten sie doch Pflege und Unterstützung für die alten Eltern.
Die gelungene Heiratspolitik der Habsburger, allen voran Maria Theresia (1717 – 1780) mit ihren vielen Töchtern, die sie mit anderen Herrscherhäusern verheiratete (»Kriege führen mögen andere, du, glückliches Österreich, heirate«) illustriert, dass Töchter sehr nützlich sein konnten. Maria Theresia war nicht nur eine große Kriegerin, sondern auch eine weitblickende Reformerin (Hamann, 2011). Die Erbfolge war, falls kein männlicher Erbe da war, auf eine Tochter möglich, und die von ihr 1774 erlassene Schulordnung legte eine sechsjährige Schulpflicht für Jungen und Mädchen fest. Ihre Töchter verheiratete sie geschickt, nur einer der Töchter wurde eine Liebesheirat zugestanden. Berühmtestes Beispiel für den »Nutzen« von Töchtern ist Maria Antonia, die als Marie Antoinette Königin von Frankreich wurde (und auf dem Schafott endete).
Wie die Ausstellung Frauensache: Die Frauen der Hohenzollern in Berlin 2015 zeigte, war die Heiratspolitik der Hohenzollern ähnlich erfolgreich: Ehen verankerten die Hohenzollern in ganz Europa. Von Italien bis Dänemark, von England bis nach Russland reichte das von den Frauen geknüpfte Netzwerk. Sie wurden nicht nach Zuneigung, sondern nach politischen Überlegungen verheiratet, legten aber eine bemerkenswerte Kompetenz und Expertise an den Tag, was das Networking angeht. Heute werden zwar weniger Schüsse abgefeuert, wenn ein Mädchen (im Vergleich zu einem Sohn) in den royalen Häusern geboren wird, so dass das »Hurra, ein Mädchen!« etwas weniger laut ausfällt, doch die Tatsache, dass in allen europäischen Herrscherhäusern kurzerhand die Gesetzgebung geändert und eine Thronfolge der Töchter möglich ist, verdeutlicht, dass Gleichberechtigung angestrebt und realisiert wird.
Es gibt einige Kulturen, in denen Mädchen, vor allem Häuptlingstöchtern, eine herausragende Position zukam. In der Nähe einer Pyramide, der Huaca Cao Viejo im Norden Perus, entdeckten Forscher 2006 die Mumie eines jungen Mädchens – bestattet in einem prunkvollen Grab, eingewickelt in Hunderte Meter Baumwollstoff; das Mädchen war offenbar geopfert worden. Das Seil, mit dem es erwürgt wurde, hing noch um seinen Hals. Eine Datierung mit dem Radiokarbon-Verfahren ergab, dass das Seil aus der Zeit um das Jahr 450 stammt. Noch erstaunlicher als der Schmuck, die Halbedelsteine, waren die Tätowierungen auf dem Körper der Bestatteten, die Bären und mythische Wesen zeigen. Außerdem fanden Archäologen als Beigabe zahlreiche Waffen. Zwei zeremonielle Keulen und 28 sogenannte Speerschleudern – Stöcke, welche die Reichweite und Durchschlagskraft eines Speers enorm erhöhen – befanden sich in dem Grab. Man vermutet, dass es sich bei dem Mädchen um eine junge Kriegerin handelt. Mädchenopfer sind aus anderen Funden in Peru bekannt, und sie waren für die Betroffenen eine Ehre. Heute erscheint es als erstaunlich, wie die auserwählten Mädchen, häufig Häuptlingstöchter, den beschwerlichen Aufstieg in große Höhen (4000 m) ohne Essen, nur mit ihren Waffen und vermutlich Kokablättern, geschafft haben.
Ein hoher Status von Mädchen wird auch in Bezug auf matrilineare Kulturen berichtet, bei denen die individuellen Rechte und Pflichten, insbesondere die Erbansprüche, nach der Deszendenz aus der mütterlichen Linie abgeleitet wurden (Bronowski, 1979). Entscheidend ist dabei die weibliche Abstammung der Vorfahren (uterine Deszendenz: »Nachkommen aus der Gebärmutter«), die Linie läuft über die Mutter, deren Mutter (Großmutter), wiederum deren Mutter (Urgroßmutter) und so weiter zurück bis zu einer Stammmutter. Solche einlinigen Abstammungsregeln – nur über die mütterliche oder nur über die Linie der Väter – finden sich in ethnischen Gruppen, in denen es wichtige Güter wie Land und Vieh aufzuteilen und zu vererben galt. Allerdings wurden auch in solchen Gesellschaften politische und repräsentative Aufgaben in der Regel von Männern wahrgenommen. Im Jahre 1998 verzeichnete der Ethnographic Atlas 160 rein matrilineare Ethnien, das sind rund 13 % der weltweit erfassten 1267 Ethnien.
Ein Beispiel für solche Familien und Erbschaftsverhältnisse, die mit einer besonderen Wertschätzung von Töchtern einhergehen, sind die Tuareg in Nordafrika und viele Indianerstämme, wie die Navajo und Zuñi in New Mexiko sowie die Hopi in Arizona, USA. In ihrem Buch Töchter der Erde beschreibt Carolyn Niethammer (1977; dt. 1985 unter diesem Titel) das Leben der Navajo-Mädchen. Nach der Verheiratung zog die junge Frau nahe zu ihrer Mutter, ihre Geschwister halfen ihr bei der Aufzucht ihrer Kinder. Es gab bei der Geburt keine Geschlechterpräferenz, das Wichtigste war, dass das Baby »strong« war, also stark und gesund. Die Mädchenerziehung umschloss das Herstellen der Lebensmittel (»grinding corn«), Pflanzungen, aber auch Beteiligung an der Jagd, so dass jedes Mädchen früh schwimmen, reiten sowie den Umgang mit Werkzeug und Waffen lernte. Es gab Rituale bei der ersten Menstruation der Tochter (Menarche); ganz generell gab es in Bezug auf die Menstruation der Tochter viele Tabus und Gebräuche, die von der Zuschreibung einer Macht des weiblichen Bluts zeugen. In der Gegenwart gibt es allerdings in vielen großen Weltreligionen eine Ignoranz gegenüber Frauen und ihre Entmachtung, eine Situation, die trotz aller Reformbemühungen immer noch deutlich ist und die sich auch auf die Lebensbedingungen und den Gesundheitsstatus von Mädchen auswirkt.
Wenn man in die vergangenen Jahrhunderte zurückblickt, bis in die jüngste Zeit, so fällt, von Ausnahmen abgesehen, eine relativ starke Vernachlässigung von Mädchen auf. Lange Zeit wurden erstgeborene Söhne bevorzugt. Die Geburt von Mädchen ist zwar nicht mehr länger ein Makel, aber es sind doch noch einige negative Unterströmungen nachweisbar. Auffällig ist auch eine Tendenz zur Verkitschung und Kommerzialisierung der Geburt eines Mädchens in manchen Kreisen und ein intensives Bestreben (mancher) Eltern, das Geschlecht ihres Kindes (mit)zu bestimmen.
Die Vorstellung eines Makels ist in der heutigen westlichen Welt nicht mehr üblich, doch ist auffällig, dass es immer noch »Alltagsweisheiten« gibt, die darauf hindeuten, dass die Geburt eines Sohnes ein positiver konnotiertes Ereignis ist. So wird der Schwangeren, wenn sie rund, gesund und vital ist, häufig auf den Kopf zu gesagt, sie erwarte einen Jungen. Ist sie dagegen wehleidig, leidet unter zahlreichen Schwangerschaftsbeschwerden und nicht dick genug, vermutet man ein Mädchen.
Diese Zuschreibungen waren vor einigen Jahrzehnten noch viel massiver und hängen generell mit dem niedrigen Status und den geringen Rechten von Frauen und Mädchen zusammen. Über viele Jahrhunderte und bis ins 20. Jahrhundert hinein wurden Jungen in Europa, besonders erstgeborene, bevorzugt, besser gekleidet, besser erzogen (Seiffge-Krenke, 2012). Mädchen wurde bis ins 19. Jahrhundert der Zugang zur Berufsausbildung, von Ausnahmen abgesehen, verwehrt. In Deutschland konnten Mädchen erst ab 1900 studieren. Viele begabte Mädchen, so Rosa Luxemburg aus Polen, kamen zum Studium in die Schweiz, wo Mädchen schon ab 1864 zugelassen worden waren. In Deutschland gab es nur wenige Studentinnen, und ihnen waren bestimmte Fächer wie Medizin verwehrt (vgl. das in Kapitel 2.2 zu Helene Deutsch Ausgeführte).
Trotz der potentiellen Schul-, Berufs- und Studienmöglichkeiten: Bis etwa in die 1960 Jahre herrschte in Deutschland eine Sicht der Mädchenerziehung vor, die an das gemahnt, was wir heute bei manchen strenggläubigen Familien mit Migrationshintergrund, insbesondere aus einigen asiatischen und muslimischen Ländern, bestaunen, abwerten, ungläubig wahrnehmen: Die Ausbildung galt als kurzer Zwischenstopp bis zum eigentlichen Ziel – Hausfrau und Mutter, und bis 1973 konnte eine junge Frau in Deutschland nicht berufstätig sein, wenn es ihr Ehemann verbot. Die Altersgrenze bis zu Volljährigkeit war hoch, 21 Jahre, das Alter bei der Heirat niedrig und signalisierte, zusammen mit der Jungfräulichkeit, dass die junge Frau praktisch von der kindlichen Abhängigkeit in der Familie, unter dem mehr oder weniger autoritären Regime des Vaters, dem zukünftigen Ehemann in eine nur wenige Freiheitsgrade aufweisende Ehe übergeben wurde. Die Fortsetzung der patrialen Linie war, durch Annahme des Namens des Ehemannes, unterbrochen, und man konnte sich keine finanzielle Unterstützung, sondern bestenfalls eine emotionale und tatkräftige Versorgung im Alter von den Töchtern erwarten. Dies wirkte sich auch auf den Wunsch aus, lieber Söhne als Töchter zu bekommen, und darauf, dass Frauen, die Söhne geboren hatten, besonders beglückwünscht wurden.
Der in Deutschland bis in die 1960 bzw. 1970er Jahre gepflegte Brauch, das der Vater bzw. die Familie von Töchtern deren Aussteuer zu erwirtschaften habe, konnte natürlich einen Vater vieler Töchter durchaus in den finanziellen Ruin treiben. Die bange Sorge meines Vaters, der bereits zwei seiner fünf Töchter mit einer Aussteuer verheiratet hatte, wie er denn das Geld für die restlichen drei aufbringen solle, wurde allerdings durch eine zunehmende Liberalisierung in Deutschland mit einer Emanzipation der Töchter, die dann ihr eigenes Geld verdienten und keinen Vater oder Mann als Ernährer brauchten, hinfällig.
Und wie sehen das Eltern heute? Besonders bei Paaren, die bereits Eltern von einem oder mehreren Kindern sind, ist der Kinderwunsch nicht selten mit dem nach einem bestimmten Geschlecht verbunden. Das Geschlecht des Wunschbabys wird durch das Spermium bestimmt, welches die Eizelle befruchtet hat. Denn während die Eizelle nur die Anlage für weibliche Nachkommen enthält, gibt es Spermien mit einem weiblichen X- oder einem männlichen Y-Chromosom. Soll das Wunschbaby ein Mädchen sein, beschäftigen sich einige Eltern mit den unterschiedlichsten Theorien und Ansätzen. So soll man z. B. viele Milchprodukte zu sich nehmen, wenn es ein Mädchen werden soll; für einen Jungen werden dagegen besonders würzige und salzige Speisen empfohlen. Auch eine möglichst genaue Bestimmung des Eisprungs und damit der fruchtbaren Tage kann helfen, dem entsprechenden Wunschbaby etwas näher zu kommen. Man benutzt hierbei das Wissen, dass männliche Spermien zwar schneller sind als weibliche, dafür aber auch früher absterben.
Manche Frauen, die schwanger sind und gerne wissen möchten, ob es ein Junge oder Mädchen wird – wenn der Ultraschall etwa ein unklares Ergebnis erbracht hat –, benutzen dazu einen Baby-Geschlechtsrechner aus dem Internet. Allerdings gibt es heute zahlreiche relevantere medizinische Methoden, um das Geschlecht des Babys schon vor der Geburt zu ermitteln. Rein technisch gesehen kann man heute den Traum »Wunschbaby soll ein Mädchen sein« künstlich beeinflussen. Dabei werden vorab entweder im Labor männliche und weibliche Spermien voneinander getrennt und gezielt eingesetzt oder in vitro gezeugte Embryonen werden mittels Präimplantationsdiagnostik auf ihr Geschlecht hin untersucht und nur passende in die Gebärmutter der zukünftigen Mutter eingepflanzt. Ethisch gesehen sind beide Verfahren sehr umstritten und in vielen Ländern entweder komplett verboten oder sie dürfen nur unter strengsten ethischen Kriterien, wenn eine bestimmte Erkrankung des Erbgutes vorliegt und diese nur in männlicher oder weiblicher Erbfolge auftritt, eingesetzt werden.
Wird es ein Junge oder ein Mädchen? Diese Frage beschäftigt die Menschheit schon seit mehr als 4000 Jahren. Mindestens ebenso lange versucht sie, auf die eine oder andere Weise das Geschlecht ihrer Nachkommen schon vor oder während der Zeugung festzulegen – und ist dabei mehr oder minder erfolgreich.
Die Ägypter erkannten bereits um 2000 v. Chr. die Bedeutung der Hoden für die Fortpflanzung und sie wussten auch, dass kastrierte Männer ihre Zeugungsfähigkeit verlieren. Rituale und Aberglauben prägten die Vorstellungen über Schwangerschaft und Geburt bis weit in das Mittelalter hinein. War eine Frau schwanger, wurde überall nach »Zeichen« für das Geschlecht des Kindes gesucht. Der französische Historiker Jacques Gélis zitiert in einem seiner Werke folgende Volksweisheiten:
»Wenn die Mutter blass und bedächtig ist, links und tief trägt, schon älter ist, ein trockenes und warmes Temperament hat, dann wird es ein Mädchen. Wenn die Mutter dagegen blühend und fröhlich ist, rechts und hoch trägt, jung und feurig ist, ein frisches und feuchtes Temperament hat, dann wird es ein Knabe.«
Eines konnte seit der Antike jedoch zuverlässig geklärt werden: dass es zur Zeugung eines Kindes einer Eizelle und eines Spermiums bedarf. Der griechische Philosoph Anaxagoras vermutete, dass die Spermien aus dem linken Hoden Mädchen und die aus dem richtigen, dem »rechten« natürlich, Jungen produzierten. Den Möchtegern-Vätern eines Stammhalters empfahl er, sich bei der Zeugung einfach den falschen Hoden abzubinden. Manche französische Adelige wählten die endgültigere Variante und ließen sich den linken Hoden lieber gleich ganz entfernen, was ihnen den ersehnten männlichen Erben garantieren sollte. Auch im 17. Jahrhundert ging das ärztliche Wissen bezüglich der Geschlechtsprognose nicht über die Weisheiten der Antike hinaus; Vorhersagen beruhten auf den ersten Kindsbewegungen. Jungen, so nahm man an, entwickelten sich schneller als Mädchen, deshalb könne die Schwangere, wenn sie einen Jungen erwarte, bereits im dritten Schwangerschaftsmonat Kindsbewegungen spüren, bei Mädchen erst im vierten. Hinter allen Geschlechtsprognosen und Praktiken verbarg sich der Wunsch nach einem Sohn, einem Erben und Stammhalter.
Es gibt statistische Daten, die zeigen, dass die Sterblichkeitsrate der Feten und Babys in Abhängigkeit vom Geschlecht insgesamt auf der Welt unterschiedlich ist, ganz abgesehen von Ländern, in denen weibliche Embryonen systematisch getötet werden. 2014 hatten Forscher in BMC Medicine berichtet, dass späte Fehlgeburten bei Jungen häufiger vorkommen als bei Mädchen. Das Risiko sei rund 10 % höher; sie hatten mehr als 30 Millionen Geburten weltweit in ihre Analyse einbezogen.
Allerdings können auch Umweltbedingungen das Geschlechterverhältnis beeinflussen. So kamen US-Wissenschaftler 2013 zu dem Ergebnis, dass in Hungerphasen mehr Mädchen als Jungen geboren werden. Sie hatten die Daten von Neugeborenen analysiert, die während und nach der großen Hungersnot in China zwischen 1959 und 1961 zur Welt kamen. Vorherige Studien zu den Auswirkungen anderer Hungersnöte hatten ähnliche Ergebnisse geliefert. Warum in schlechten Zeiten mehr Mädchen geboren werden, sei unklar, es gebe aber die Theorie, dass weibliche Ungeborene »anspruchsloser« sind.
In Deutschland werden 48,8 % Mädchen und 51,2 % Jungen geboren und damit etwas weniger, als die Gleichverteilung erwarten ließe. Der Wunsch und die reale Geburtenrate sprechen insgesamt für eine geschlechtsneutrale Familienplanung. Der Wunsch nach einem Mädchen wird auch kommerziell stark vermarktet. Das Internet ist voll von Botschaften wie:
»Komme von der Frauenärztin, die mir gezeigt hat, dass es ein Mädchen wird. Deutlicher geht es nicht. Habe mir auf dem Weg nach Hause ein paar rosa Babyschuhe gekauft.« Silke, 24. SSW
Inzwischen gibt es einen riesigen Markt: Man kann eine rosa Babyfahne kaufen (»Hurra ein Mädchen!«), die man mit Saugnäpfen ins Fenster kleben kann, oder rosa Luftballons (»It’s a girl!«) oder rosa Girlanden mit rosa Babysöckchen oder Karten, die man zur Geburt verschicken kann, alles in Rosa, einschließlich passender Gedichte für die Tochter. Das geht von der rosa Baby-Ausstattung und den rosa Windeln für Mädchen dann nahtlos über in den Prinzessin Lilifee-Shop, wo man alles, vom Rucksack über die Kleidung zum Spielzeug, online kaufen kann, am häufigsten in Rosa mit Glitzer. Für Eltern, die sich nicht so stromlinienförmig in die rosa Welle einordnen wollen, wird die Auswahl schwierig.
Die Psychoanalyse interessiert sich natürlich für die unbewusste Seite und sie geht davon aus, dass es einen entscheidenden Unterschied für Mutter und Vater macht, ob sie eine Tochter erwarten oder einen Sohn. Eingebettet in die damalige gesellschaftliche Ordnung und Sicht, hat Freud postuliert, dass sich eine Frau erst durch die Geburt eines Sohnes narzisstisch komplett fühlen kann. Das entspricht der damaligen Sicht der Minderwertigkeit der Frau (homme manque) und ihrer Aufwertung bzw. Komplettierung durch den (kleinen) Mann. Aber auch in den Mythen und Ratschlägen für schwangere Frauen, die ein Mädchen erwarten, wird die negative Sicht deutlich.
Wie bereits geschildert, ließ sich dies bis in die 1960er Jahre nachweisen. Ich kann mich noch an die mitleidigen Blicke von Frauen erinnern, die eine erschöpft aussehende Schwangere, die unter vielen Schwangerschaftsbeschwerden litt, mit: »Bestimmt wird es ein Mädchen!«, »trösteten« bzw. eine rundherum zufriedene Schwangere mit der aufmunternden Bemerkungen: »Ihnen geht es gut, bestimmt erwarten Sie einen Jungen«, bedachten. Diese »Vorzeichen« wurden auch deshalb so wichtig, weil es noch keinen Möglichkeiten gab, das Geschlecht des Kindes vor der Geburt zu bestimmen, und man an allen möglichen Stimmungen, äußeren Merkmalen der Schwangeren, gar ihren Essensgewohnheiten festmachte, ob das Kind ein Mädchen oder ein Junge werden sollte. In diesen Zusammenhang gehört auch ein Vorurteil, das damals üblich war und sich teilweise auch heute noch abgeschwächt findet, nach dem ein Junge der Schwangeren Schönheit schenkt, während ein Mädchen sie ihr natürlich nehmen muss. Die Botschaft war damals: Ein Sohn präsentiert alles Gute, Schöne und Edle, eine Tochter das genaue Gegenteil.
Allerdings: Nicht immer war der Sohn das, was in einer Familie ersehnt war – insbesondere dann nicht, wenn schon viele Söhne geboren waren. In den Lebenserinnerungen von Anna Freud-Bernays, der ältesten Schwester Sigmund Freuds, die den Bruder seiner Frau Martha geheiratet hatte und durch die Auswanderung dem Schicksal der anderen vier Schwestern Freuds entging, die 1942/1943 in Theresienstadt hochbetagt ermordet wurden, findet sich eine solche Schilderung:
»Wohl selten ist die Geburt eines Mädchens mit mehr Freude begrüßt worden als die meine. War ich doch nach vier Söhnen als erste Tochter gefolgt, denn mein Vater (Jakob Freud) hatte drei Söhne aus erster Ehe, und auch der Erstgeborene aus der zweiten Ehe mit meiner Mutter (Amalie Freud, geb. Nathanson) war ein Sohn gewesen … Meine ersten Erinnerungen reichten bis zu meinem fünften Jahr zurück, wo ich bereits die Älteste von vier Mädchen und der Liebling unserer Großmutter (Martha Freud) war, die mich für den Sommer zu sich nach Grinzing nahm …« (Freud-Bernays, 2006, S. 11)
Insbesondere bevor das Kind geboren ist, spielen Phantasien der werdenden Eltern über Aussehen, Charakter, aber auch Geschlecht eine große Rolle.
Phantasien über das Baby und speziell sein Geschlecht beginnen schon lange vor der Geburt. Schon dann beginnen Zuschreibungen, wie wir im nächsten Abschnitt noch sehen werden, und diese sind auch nach der Geburt vorhanden und stark: Schon kurz nach der Geburt wird das Babymädchen als Schreihals oder Prinzessin bezeichnet (Stern & Bruschweiler-Stern, 2014), oft indem man eigene Persönlichkeitsmerkmale auf das Baby projiziert. Auch bei der Wahl des Namens wird oft deutlich, was die Mutter, der Vater vom Baby erwarten. Der Brauch, den Vornamen der Mutter als zweiten Vornamen zu wählen, deutet ebenfalls darauf hin. Solche Phantasien sind wichtig, allerdings müssen nach der Geburt das phantasierte und das reale Kind in Verbindung gebracht werden.
Jean-Louis Trintignants Mutter hatte sich immer als zweites Kind eine Tochter gewünscht und war dann sehr enttäuscht, als es wiederum ein Sohn wurde. Bis zum Alter von sechs Jahren wurde Jean-Louis in Mädchenkleider gesteckt und sieht auf Bildern wirklich allerliebst aus mit seinem zarten Gesicht und seinen feinen Locken. Als er aber dann im Alter von sechs Jahren beim Urinieren das Kleid nass machte, war es vorbei: Das reale Kind wurde akzeptiert und er durfte Hosen tragen.
Andere Beispiele zeigen, wie lange Mütter bzw. Eltern trauern, die sich einen Jungen gewünscht haben, und wie das dann die Tochter erlebt, die ein Junge hätte werden sollen:
Die 24-jährige Franziska stammt aus einer Flüchtlingsfamilie, die nach Deutschland gekommen ist. Ihre sehr junge Mutter hatte den wesentlich älteren Vater, einen ortsbekannten Hallodri und Schürzenjäger, geheiratet und war sehr schnell schwanger geworden. In schneller Folge wurden vier Kinder geboren. Die Patientin, die an einer Essstörung leidet, ist die älteste der vier Schwestern, die – so der Wunsch der Eltern – Söhne hatten werden sollen. Angeblich hat die Großmutter den Vater nach der Geburt der letzten Tochter geohrfeigt, berichtet die Patientin. Alle Mädchen hatten auch einen Jungennamen, mit dem sie gerufen wurden, und die Patientin hat die Abwertung, ein Mädchen zu sein, sehr massiv erlebt. Sie schildert ihre Kindheit in trostlosen Farben und insbesondere die Depressivität ihrer Mutter, die sich von dem Makel, nur Mädchen geboren zu haben, nicht befreien konnte.
Die Patientin berichtet in der Analyse von einem immer wiederkehrenden Traum: Ihre Mutter hätte sich darin im Kreißbett nach vorne gebeugt, um zu schauen, ob das Kind gesund sei – behauptete die Mutter. Die Tochter, die Patientin, ist dagegen überzeugt, dass sie sich nach vorne beugte, um zu sehen, ob es ein Junge ist. Dann war jedes Mal die Enttäuschung groß, wenn es wieder ein Mädchen war.
In der Analyse der Patientin spielte die Depressivität der Mutter eine große Rolle und auch ihr Gefühl, nicht genügend zu sein, weniger wert zu sein. Zugleich wurde offenkundig, wie sehr der »gut ausgestattete Vater« im Verborgenen bewundert wurde. Sie hatte sich übrigens einen ebenso hübschen und attraktiven Freund zugelegt. Eine schwere Belastungsprobe für die Patientin stellte die Schwangerschaft der Therapeutin dar, die, wie sich dann herausstellte, einen Jungen bekam. In der Behandlung ging es im letzten Drittel viel um die eigene Wut der Patientin (auf die Mutter, auf die Therapeutin), aber auch um Verständnis für die (pathologische) Trauerarbeit bei der Mutter.
Einige Mütter (und Väter) erwarten, dass das Baby ihre persönlichen Bedürfnisse, Ambitionen und Wünsche erfüllt und so auch einige Misserfolge und Enttäuschungen ausbügelt. Vor kurzem berichtete der Mann einer Ausbildungskandidatin, die vor einigen Monaten ihr erstes Kind, ein Mädchen, geboren hatte, er wünsche sich bald eine zweite Tochter, und die solle so schwarzhaarig werden wie seine Frau mit ihren wunderschönen, dichten, schwarzen Haaren. Die erstgeborene Tochter sei dagegen blond und mit ihren schütteren Haaren (das Baby ist 8 Monate alt!) eher ihm ähnlich. Was imaginäre Babys angeht, so nennen Stern & Bruschweiler-Stern (2014) folgende Konstellationen:
das Baby als Entschädigung: Das Baby soll die bedingungslose Liebe sichern, nach der sich die Mutter gesehnt, die sie selbst aber nicht kennengelernt hat;
das Baby als Ersatz: Dies tritt besonders häufig auf, wenn die Mutter während oder kurz vor der Schwangerschaft/Geburt einen Menschen verloren hat;
das Baby als Antidepressivum: Die Mutter benutzt das Baby unbewusst dazu, sich lebendig zu fühlen;
das Baby als Bindemittel: Das Baby wird benutzt, um eine bedrohte Ehe bzw. Beziehung zu retten;
das Baby als Konkurrent: Das Baby wird als Konkurrenz erlebt, besonders vom Vater bezüglich der Liebe seiner Frau;
das Baby als Geschenk: von der Frau an den Mann, wenn er keinen so starken Kinderwunsch hat wie sie.
Nach der Geburt trifft das imaginierte Baby auf das reale Baby. Ein solches imaginiertes Baby verschwindet allerdings nicht ganz. Es werden einige Korrekturen am Bild vorgenommen, aber dennoch bleibt noch lange Zeit eine Erwartung, eine Wunschvorstellung bestehen, und wenn das reale Baby dann ganz anders ist, ist das eine große Enttäuschung. Dies müssen wir auch beim Babymädchen bedenken, das vielleicht so ganz anders ist, als die Eltern es erwartet hatten – und das vielleicht ein Junge hätte werden sollen.
Ob man sich über die Geburt eines Mädchens freut, hängt, wie beschrieben, von der Stellung und Funktion von Töchtern in der Familie ab und hat sich historisch sehr verändert. Es war ein langer Weg bis zur Geschlechtergleichheit, wie er beispielsweise im Grundgesetz in Deutschland 1949 festgehalten ist, und es dauerte noch eine Weile, bis durch weitere Gesetze auch die formalen Voraussetzungen für diese Gleichheit geschaffen wurden; bis heute sind Ungleichheiten in einigen Bereichen (wie Lohn) nachweisbar.
Die jeweils bestehenden Gesetze und ein allgemeiner Wandel in den Erziehungshaltungen seit 1960 hatten auch Auswirkungen darauf, wie Eltern Töchter damals – die heutigen Großmütter – und diese ihre Töchter, die heutigen Mütter, erzogen. Nun spielt zwar in der Tat die Biologie eine Rolle, aber ein Mädchen wird letztendlich auch durch seine Eltern und seine Umgebung »gemacht«. Dabei hilft die Konsumgüterindustrie bereits nach der Geburt heute kräftig mit (»Hurra – ein Mädchen!«-Flagge).
Das Geschlecht ist natürlich biologisch determiniert, und bei den meisten Völkern der Erde gibt es auch nur zwei Geschlechter, männlich und weiblich. Die Untersuchungen an Neandertalern zeigten, dass die Morphologie von Männern und Frauen noch gleich war, was darauf schließen lässt, dass noch keine strenge Arbeitsteilung vorlag. Mit der Herstellung von Steinwerkzeugen und dem beginnenden Ackerbau wurden Unterschiede deutlicher. Erste dreidimensionale Skulpturen zeigten meistens weibliche Figuren mit stark hervorgehobenen Geschlechtsmerkmalen wie großen Brüsten und breitem Becken (Venusfigurinen). Eine der bekanntesten jungpaläolithischen Skulpturen ist die etwa elf Zentimeter hohe Venus von Willendorf.
Etwa ab der Altsteinzeit, dem Paläolithikum, bemerkten Anthropologen in der Entwicklung der Menschheitsgeschichte einen immer stärkeren kulturellen Einfluss, der die biologische Ausstattung von Männern und Frauen, und damit auch von ihren Kindern, modifizierte. Es ist bemerkenswert, dass beim Menschen beide Geschlechter zunächst biologisch und morphologisch weitgehend ähnlich sind – und sich erst durch die Umgebungseinflüsse zu unterscheiden beginnen –, während im Tierreich schon viel mehr äußerlich sichtbare Unterschiede bestehen (Bronowski, 1979). Beim Menschen werden diese Unterschiede demnach »gemacht«.
Kultur hat einen Einfluss darauf, wie Kinder geboren, wie sie erzogen werden, was als intelligent oder schön gilt, welche Aufgaben und Funktionen Söhne und Töchter haben, und dies bestimmt auch den Wunsch nach Töchtern vom Moment der Geburt an und davor (Matsumoto, 2001). Eltern interpretieren die biologischen Charakteristika, und die kulturellen Praktiken, die sie anwenden, führen dazu, dass das Kind dann immer stärker in das kulturelle Schema eines Mädchens passt.
So ist bemerkenswert, dass sich Eltern bereits unmittelbar nach der Geburt gegenüber einem Mädchen deutlich anders als gegenüber einem Jungen verhalten – obwohl für Außenstehende alle Babys irgendwie gleich aussehen. Die »Baby X«-Studien zeigten (Sidorowicz & Lunney, 1980), dass Personen ganz unterschiedlich mit einem Baby umgingen, wenn man ihnen sagte, es sei ein Mädchen (oder ein Junge). Sie waren bei einem Babymädchen vorsichtiger und sanfter, dagegen robuster und körperbezogener, wenn man ihnen sagte, sie hielten einen Jungen. Selbst auf Ultraschallbildern beschrieben Eltern Mädchen anders als Jungen: als ruhiger, zierlicher (Matsumoto, 2001).
Jungen und Mädchen kommen jeweils biologisch präpariert auf die Welt, werden aber auch unterschiedlichen Umgebungen, Erfahrungen ausgesetzt. Dazu gehören auch Ernährung und Bildung. In Eine Kindheit in Cambridge beschreibt Gwen Raverat (1991, S. 50), eine Enkelin von Charles Darwin, die Frühstücksgewohnheiten in ihrer Familie in Cambridge etwa um 1900, als sie Kind war:
»Zum Frühstück gab es Haferbrei mit Salz, ohne Zucker und Milch dazu. Haferbrei erinnerte mich immer daran, wie ich allein mit meinem Vater frühstückte. Da war ich noch so klein, dass ich den Haferbrei mit dem Finger auf den Löffel schob, während er mir auf Französisch Geschichten erzählte. Meine Mutter kam erst später herunter, wahrscheinlich in der verständlichen Absicht, mich und den Haferbrei und das Französisch zu vermeiden. Es gab auch Toast und Butter, aber für mich nie etwas Kräftigeres zum Frühstück, bis ich im Alter von 10 Jahren, zu Besuch bei meiner Cousine Francis, zum ersten Mal Speck kostete. Mein Bruder Billy, 9 Jahre jünger als ich, aß zum Frühstück einfach alles, was da war, wie die Erwachsenen auch. Etwaige Schäden an seinem Charakter konnte ich nicht feststellen.«
Raverat (1991) bezieht sich auf Marmelade, Zucker, Kuchen, Milch, Eier. Man hatte Gwen erzählt, alle diese Dinge verursachten »Schäden«, um sie davon abzuhalten, sie zu essen, bzw. um ihr zu erklären, warum sie sie nicht bekam. Ihre Mutter ließ die Tochter zu Hause unterrichten, während der Bruder außerhalb auf eine Schule bzw. ein Internat ging.
»Es hieß: ›Wir schicken unsere Töchter nicht zur Schule aus dem Haus!‹ Ich sehnte mich danach, zur Schule zu gehen, auch wenn ich nichts davon sagte. Alles wäre besser gewesen als das Schulzimmer zu Hause, wo jedes Mädchen getrennt unterrichtet wurde, statt ich und meine vier Freundinnen zusammen. Und uns hätte es solchen Spaß gemacht. Aber soviel ich weiß, wurde kein Gedanke daran verschwendet. Da waren also vier Mädchen in einzelnen Schulzimmern mit einzelnen Hauslehrerinnen eingesperrt. Phantastisch!« (Raverat, 1991, S. 55)
Seit den 1960er Jahren und besonders in den Jahren 1970 bis 1980 wurde durch die Bildungsexpansion Mädchen immer starker der Zugang zu weiterführenden Schulen ermöglicht. Während es zuvor noch hieß, eine gute Ausbildung sei nicht notwendig, denn Mädchen heirateten ja doch, wurden jetzt immer mehr Mädchen auf weiterführende Schulen geschickt und machten Abitur. Waren zunächst noch – einer Mehrzahl von Jungen gegenüber – wenige Mädchen in Klassen, die das Abitur machten, hat sich heute das Verhältnis geradezu umgekehrt: Mädchen machen häufiger Abitur, und sie machen ein besseres Abitur als Jungen und sind in der Folge in vielen Studiengängen viel stärker vertreten.
Auch die oben beschrieben Ernährungspraktiken, die Ignoranz gegenüber Mädchen und der Ausschluss aus dem öffentlichen Leben sind verschwunden. Dennoch: In den meisten Kulturen sind die Sozialisationspraktiken bei Mädchen und Jungen leicht unterschiedlich, werden Mädchen mehr zum Gehorsam, zum Sich-Fügen erzogen. Geschlechtsspezifisches Verhalten (Interaktionsstil, Segregation in Spielgruppen) wird dann erlernt bzw. zugelassen und mädchentypisches Verhalten wird unterstützt. Insbesondere das Rollenspiel mit Puppen bereitet Mädchen auf die Geschlechtsrollenstereotype vor (vgl. Kapitel 9). Und, wie wir noch in späteren Kapiteln sehen werden: Es gibt immer noch mehr »Stoppregeln« für Mädchen.
Natürlich werden wir in diesem Buch in vielen Kapiteln darauf eingehen, wie sich Eltern gegenüber ihrer Tochter verhalten, wie sie ihre Tochter erleben und wie vor allem die Tochter die Eltern erlebt. Dabei wird es sehr stark um den innerseelischen Raum gehen. Daher seien hier zum Abschluss des ersten Kapitels einige Bemerkungen erlaubt, die auf der manifesten, der Verhaltensebene bleiben und sich im Kulturvergleich auf das Verhalten von Eltern gegenüber Töchtern beziehen.
Gegenwärtig wünschen sich Eltern in Zentraleuropa anscheinend genauso häufig eine Tochter wie einen Sohn und praktizieren weitgehend geschlechtsneutrale Erziehungsstile mit nur noch wenigen Unterschieden. In Studien aus den 1980er Jahren in über 100 Ländern fand man nur einen deutlichen Unterschied: In allen Ländern wurden Jungen eher unabhängig, fordernder, autonomer erzogen, Mädchen eher zu Gehorsam, Anpassung, Fürsorge für andere. Eltern aus allen Ländern fördern demnach die Geschlechtsrollenstereotype bei ihren Kindern (Lytton & Romney, 1991). Während die Metaanalysen der 1990er Jahre ansonsten belegten, dass Väter und Mütter Söhne und Töchter in allen anderen Aspekten gleich erziehen, finden wir seit Anfang des 21. Jahrhunderts eine Rückkehr zu bzw. eine Verstärkung von bestimmten Geschlechtsrollenstereotypen (Hastings & Coplan, 2007), die eher für die 1960er Jahre galten. Dies gilt auch für das Auftreten und Aussehen der Mädchen, wie ich in Kapitel 12 deutlich machen werde
Die Unterschiede in den elterlichen Erziehungspraktiken sind gegenwärtig aber insgesamt eher subtil als gravierend und betreffen vor allem die Väter, die wesentlich stärker geschlechtsrollen-spezifisches Verhalten unterstützen als Mütter (Seiffge-Krenke, 2016). Dennoch: Eltern vermitteln ihren Töchtern durch subtile Reaktionen auf deren Verhalten durchaus irritierende Botschaften. Das fanden Lindsey et al. (2010), die die Kommunikation in der Vater-Kind- und in der Mutter-Kind-Dyade untersuchten, die jeweils in einer Spiel- und in einer Pflegesituation beobachtet wurden. In beiden Situationen wurde von beiden Eltern eher ignoriert, wenn die Töchter etwas zu ihnen sagten, als wenn die Söhne dies taten. Ist hier doch noch etwas spürbar von der eingangs beschriebenen früheren Sichtweise auf das Mädchen als weniger »wichtig«?