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Ich wollte Apollo unbedingt lieben. "Ich liebe dich." Apollo sagte nichts. Nur ein leises, zartes Männerseufzen, das mich wie ein Soundtrack durch mein ganzes Leben begleiten würde. Plötzlich fing es in meinem Bauch an zu flattern. Keine Schmetterlinge, sondern Motten. Giftige, riesige Motten taumelten kopflos in meinem Magen. Solche, die mit ihrem Urin Löcher in Autolack brennen. Weil ich den Unterschied zwischen Motten und Schmetterlingen im Bauch nicht kannte, hielt ich diese Angst aus Versehen für die echte große Liebe. Für die Berufsfreundin Luzy sind Männer der Mittelpunkt ihrer Welt. Auch wenn es ihr gar nicht passt: Sie kann nicht alleine sein. Also, in einem Raum geht das schon, aber ohne einen Freund im Leben wird es schwierig. Bislang konnte Luzy sich immer retten. Wenn das Beziehungsende nahte, suchte sie sich rechtzeitig den Nächsten. Apollo, Peter, Jonas. Von einem zum anderen wie der Affe im Dschungel. Sie investiert all ihre Energie in den Erhalt der oft nicht einfachen Beziehungen mit Männern, die sich so flüchtig verhalten wie Edelgase. Aber plötzlich geht etwas schief, und Luzys Putzerfisch-Verhalten kann ihre Trennungsangst nicht mehr kaschieren. Sie flippt aus. Im Streit bricht sie Jonas den Arm und muss fortan 100 Meter Abstand zu ihm wahren. Mit Liebeskummer im Herzen und einem Entfernungsmesser in der Hand stellt sie fest, dass sich etwas ändern muss, denn von aufrichtiger Liebe versteht sie nichts. Mit Illustrationen von Laura Tonke "Talentbombe im Buch explodiert." Katja Riemann "Kein Buch für Männer, ich liebe es." Christian Ulmen
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Das Buch
Luzy hat ein Problem: Sie kann nicht alleine sein. Alleine in einem Raum geht schon, nur ohne Mann im Leben, das geht leider gar nicht. Luzy steckt all ihre Energie in den Erhalt der oft nicht einfachen Beziehungen. Dabei gibt Luzy alles: Sie kümmert sich, plant gemeinsame Veranstaltungen, bringt Essen herbei und den Müll raus, ist großzügig beim Sex, pumpt Geld, cremt ein und massiert, bis die Finger bluten. Ihr Putzerfischverhalten kann die Trennungsangst nicht kaschieren. Bis Luzy richtig anstrengend wird. Eine Unterlassungserklärung und eine Verhaftung wegen Hausfriedensbruch später kämpft sie immer noch mit Liebeskummer und Angst vor dem Alleinsein. Sie muss etwas ändern, denn von aufrichtiger Liebe versteht sie nichts.
Die Autorin
Laura Lackmann, geboren 1979 in Berlin, hat an der New-York-Filmakademie und der dffb Berlin Regie studiert. Sie ist als Drehbuchautorin und Regisseurin tätig. Ihr Regiedebut absolvierte sie mit der Verfilmung des Romans "Mängelexemplar" von Sarah Kuttner. Sie arbeitete als Coautorin an der Fernsehserie „Blochin“ von Matthias Glasner mit. Zur Zeit bereitet sie ihren nächsten Kinofilm vor, „Die sachliche Romanze", der im Herbst 2016 entstehen wird.
Laura Lackmann
Die Punkte nach dem Schlussstrich
Roman
Mit Illustrationen von Laura Tonke
List
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ISBN 978-3-8437-1259-0
© 2016 © 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München Umschlagabbildung: Illustration ©Adams Carvalho
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Um sich auf einen Menschen zu verlassen, tut man gut, sich auf ihn zu setzen; man ist wenigstens für diese Zeit sicher, dass er nicht davonläuft.
Kurt Tucholsky
Es ist nicht das erste Mal, dass ich verhaftet werde. Aber dieses Mal ist es salonfähiger.
Vor zehn Jahren war es wegen Grabschändung. Heute ist es nur Körperverletzung.
Jemand anderem einen Arm zu brechen kann schon mal passieren, im Affekt. Besonders wenn der Geschubste unglücklich fällt. Man spricht dann von einem Unfall. Wie wenn zwei Autos ineinanderrasen, ohne dass jemand das absichtlich wollte. Dann steigt man aus, guckt sich den Schaden an, rechnet, denn sehr wahrscheinlich ist man schuld.
Ich bin in der Erwartungshaltung, jederzeit verhaftet zu werden, auch ohne Auto, denn ich bin die Verantwortliche.
Ehrlicherweise muss man zugeben, dass der gebrochene Arm von Jonas kein richtiger Unfall war. Mir war klar, dass das IKEA-Expeditregal über ihm zusammenbrechen würde, wenn ich ihn mit Schwung dagegenschubse. Ich kenne das Ding gut. Ich habe es selber in die Wohnung geschleppt und zusammengeschraubt. Es war schwer und von sehr schlechter Qualität, denn ich hatte es in der Fundgrube gefunden. Das ist der Ort bei IKEA vor den Kassen, wo die Gegenstände einen eigenen Preis haben. So ein selbstgemalter. Einer ohne Barcode, so dass der Mensch an der Kasse nicht wissen kann, ob die Zahl vor dem Eurozeichen zu dem Möbel gehört, das man kauft. Also hab ich den Preis vom Expeditregal gegen den Preis von Fundgrubenbettwäsche ausgetauscht. Das machte das blöde Ding gleich noch mal um acht Prozent günstiger.
Ich hab genug Geld. Nicht nur ausreichend, sondern richtig viel.
Das Austauschen von hohen gegen niedrige Preisen ist eine politische Sache, die ich von meiner Mutter gelernt habe. Sie macht das, um Ausbeuterkonzerne wie H&M und IKEA in den Ruin zu treiben.
»Luzy, schau mal, dieses Ding kann unmöglich nur zehn Euro kosten. Dass da kein Kinderfinger mit eingenäht worden ist, wundert einen.« Wütend beißt sie dann das Plastik-T, das den Dumpingpreis am Oberteil festhält, zusammen, fiddelt das T, das jetzt ein L ist, durch das vorgestanzte Loch hindurch, findet einen noch günstigeren Artikel, wiederholt dann das Ganze und tauscht schließlich die Preise aus.
»Wir könnten es doch auch teurer machen?« War mein Vorschlag, der nur durch einen ironischen Blick aus dem Augenwinkel erwidert wird.
»Sei nicht so naiv. Nur wenn die Minus machen, fangen sie an nachzudenken. Dann müssen sie einfach alles insgesamt teurer machen, damit kein Verlust entsteht, wenn wir die Schilder immer noch austauschen. Dann können wir die Sachen ja nicht mehr billiger machen, weil alles den Preis hat, den es verdient. Das Plus in der Kasse geht dann an die armen ausgebeuteten Arbeiter!«
Einfach: Nein. Aber was soll’s.
Soll sie doch daran glauben, die platinblonde Mama, die monatlich durch das Färben ihres grau gewordenen Haaransatzes die Gewässer dieser Welt vergiftet. Wie soll man es auch richtig machen, politisch korrekt zu leben ist unmöglich. Ich bin ein wandelndes Verbrechen, auch ohne jemandem den Arm gebrochen zu haben.
Ich wusste, was ich tat. Ich hab Jonas extra geschubst. Aus Wut und um ihm doll weh zu tun. Trotzdem war es keine Absicht, denn der Unfall an dem Ganzen war mein Gefühl. Das raste einfach in mein Herz, wie ein Auto bei Aquaplaning. Ich hatte keine Kontrolle mehr, und dann passierte es einfach.
Dass ich nicht Herr meiner Gefühle bin, war nicht immer so.
Ich komme aus einer Familie, in der es sehr emotional zugeht. Mein Vater ist Maler. Berühmt wurde er mit einer Serie von Aktbildern, die er von meiner Mutter gemacht hatte.
Sein frühes Werk zeigt aber nicht nur eine nackte Frau. Eigentlich sind es eher Porträts ihrer Muschi mit restlichem Körper dran. Das war politisch.
Meine Eltern haben sich bei irgendeinem NACKT/KUNST/EVENT kennengelernt. Meine Mutter hatte zu dieser Zeit unter dem Namen Lizzy Lollipop Pornos gedreht. Nicht so soft wie Emmanuelle, aber fast so kultig. Die Lollipop-Filme waren vor den Bildern meines Vaters einfach nur schmuddelig. Aber Papas Gemälde warfen ein anderes Licht auf Mamas Pornos.
»Und dann wurde das, was vorher einfach nur Ficken war, auf einmal Kunst, ist das nicht lustig?« Mama findet es lustig.
Die beiden zogen in eine große Villa. Meine Mutter wurde schwanger, ihre riesigen Pornobrüste bekamen eine andere Aufgabe. Ich wurde geboren, und dann war die Beziehung meiner Eltern vorbei. Vielleicht hatten sie einfach alle Gefühle füreinander verbraucht, bestimmt auch meine, denn ich zeigte als Kind keine emotionalen Regungen irgendeiner Art. Kein Weinen, kein Lachen. Es war nicht so, dass ich still war, ich machte schon Geräusche, auch laute, aber eben offensichtlich ohne einen erkennbaren emotionalen Bezug.
»Ahhhh.« Kann auch einfach monoton sein.
»Vielleicht ist die Luzy ein bisschen autistisch«, meinte mein Kinderarzt. Er riet meinen Eltern, mir das Fühlen »expressiv« beizubringen. »Sie sind doch kreative Menschen, Ihnen fällt bestimmt was ein.«
Sie versuchten es, indem sie mir Pappkarten mit Gesichtsausdrücken zeigten und ich das Gefühl dazu benennen sollte. »Wütend«, antwortete ich unbewegt auf die Karte mit dem Zusammengezogene-Augenbrauen-Mann, den mein Vater für mich gemalt hatte.
»Richtig«, bestätigte mein Vater, trotzdem war er sehr unzufrieden mit mir. »Das Kind spricht, ohne eine Miene zu verziehen!« Er brüllte und warf frustriert die Gesichtskarten hin, um in sein Atelier zu gehen.
Meine Mutter übernahm, setzte sich zu mir auf den Boden und schaute mich nachdenklich an.
»Luzy, weißt du eigentlich, was Gefühle sind?«
»Wütend, traurig, eklig, Angst, glücklich, müde?«, zählte ich ohne Anteilnahme auf.
»Wenn ich schauspiele, dann will ich, dass mir die Leute glauben, dass ich auch wirklich das meine, was ich sage. Ich muss die Sachen richtig betonen, also traurig oder neugierig oder interessiert. Dazu muss ich das dann entweder richtig fühlen oder so tun als ob …«
In diesem Moment kam mein Vater ins Zimmer, packte meine Mutter und gab ihr eine schallende Ohrfeige, dann schaute er mich prüfend an. Bevor ich mich regen konnte, schlug meine Mutter zurück. Zackzackzackzack, so ging das eine Weile zwischen meinen Eltern hin und her.
»… und dann hast du ganz doll angefangen zu weinen! Weil du begriffen hast, wie man Angst ausdrückt! Und wir haben uns wie verrückt gefreut, dein Vater und ich, weil du nicht autistisch warst, sondern einfach ein bisschen langsam. Das war zwar brutal, aber stell dir mal vor, was heute mit dir los wäre, wenn damals nicht der Knoten geplatzt wäre?«
Vielleicht wäre es einfach ruhiger.
Gott sei Dank kann ich mich an dieses Ereignis nicht erinnern. Aber es wird schon irgendwie so gewesen sein, denn umsonst verschönert meine Mutter sicher keine Keilerei zwischen ihr und meinem Vater. Während er an Destruktivität nicht zu überbieten ist, schafft meine Mutter es noch, einem vollgekackten, umgefallenen Bauzaun etwas Schönes abzugewinnen.
»Schau, wie toll! Die Natur findet immer ihren Weg.«
Eins ist sicher, heute achte ich darauf, wie ich und andere Emotionen ausdrücken.
Wenn Gefühle schon wie Unfälle einfach in einen reinrauschen, dann ist es nur gut, wenn sie wenigstens eindeutig geäußert werden. Man will ja verstanden werden.
»Sind Sie vorbestraft?«, fragt mich der Polizist, der mich wegen der Körperverletzung von Jonas Dunker verhaftet hat.
»Ja, wegen Grabschändung, aber das war vor zehn Jahren, das ist inzwischen bestimmt gelöscht.« Beschwichtigend, ruhig und kontrolliert vorgetragen. Ich schaue ihn prüfend an und bin mir sicher, dass ich ihn emotional erreicht habe, denn: er starrt.
Gut, ein Grab zu schänden klingt auch einfach schlecht, und es passiert nicht mal eben so nebenbei. Es ist ein Ritual, das geplant werden muss. Langfristiger als Schubsen. Zumindest glaubt man das. Aber bei mir war es nicht so. Es war fast noch »unfalliger« als das Schubsen.
Das Einzige, was meine ganz persönliche Grabschändung mit einer normalen gemein hatte, war meine Besessenheit.
Ich war besessen von Liebe. Es ist also derselbe Grund, wegen dem ich heute hier im Polizeiauto sitze. In zehn Jahren hat sich nix geändert.
Eigentlich hieß er Daniel, Apollo war nur sein Rollenspielname. Der echte, richtige Gott Apollo hatte eine Schlange getötet, die Pest nach Troja geschickt, sich mit seinem Vater gestritten und war dann in einem fliegenden, von Schwänen gezogenen Wagen abgehauen.
Klar wollte Daniel Schmidtmayer ein Apollo sein.
Ich hab ihn kennengelernt, bevor er mich kennenlernte, denn er lag mit einer Apfelkornflasche in der Hand neben einem Hasenkäfig und schlief. Es war ein Grillfest, auf dem aber nur getrunken wurde, weil niemand an Kohle gedacht hatte. Essen war ein Vorwand, um erwachsen auszusehen.
Bis Mitternacht hatte man versucht, mit allem brennbaren Material den Grill funktionstüchtig zu machen. Nicht weil irgendwer Hunger gehabt hätte, man wollte einfach Dinge brennen sehen.
Die, die nach zwölf noch zündelten und keinen zum Knutschen abbekommen hatten, nannten wir die »Totgebissenen«. Junge Männer, die, wenn wir noch im Rudel im Wald leben würden, von den starken Alphajungs an der Kehle gepackt und so lange geschüttelt und gebissen werden, bis sie tot sind. Arme zurückgebliebene, dicke oder zu schmale, bebrillte Wesen mit quietschiger Stimme und falscher Kleidung.
Drei von der Sorte standen am Grill, ich bemitleidete sie aus dem Augenwinkel. Ich hatte mich hingesetzt, bevor ich Apollo entdeckt hatte. Er lag einfach da, hinter den Hasen, rechts vor meinem Stuhl, ich hab ihn also nicht »aktiv« gesucht.
Die Idee, dass er mein Freund sein würde, war auch nicht meine, sondern die von einem Totgebissenen, der sich neue Papptellermunition zum Zündeln vom Tisch holte, Apollo sah und mich fragte: »Ist das dein Freund?« Erst da hab ich Apollo bemerkt.
Weil nicht so richtig klar war, ob die Frage des armen unterentwickelten Feuerteufels eine Anmache war, hab ich ganz schnell genickt. »Jaaa.«
»Cool! Der ist völlig hinüber, was?«, sagte der Tote und zog ab.
Hinüber. Das stimmte.
Er war für einige Stunden ausgeschaltet, und so hatte ich genug Zeit, ihn mir anzugucken und mir eine Zukunft mit ihm vorzustellen. Dass ich mich auf ihn einließ, war mir damals noch nicht bewusst, es passierte einfach von selbst. Ohne Mühe, ohne Berechnung, ohne Plan.
Verliebt war ich bis dahin noch nicht gewesen. Männer waren mir egal, ich hatte eine Freundin, die ich heiß und innig liebte. Das mit Apollo war Notwehr in einer Situation, in der ich drohte, den Anschluss an meine allerbeste Freundin zu verpassen.
»Vielleicht bist du auch einfach lesbisch, mein Schatz«, fand meine Mutter. »Diese Freundschaft zwischen dir und Sophie geht doch weit über das hinaus, was man Freundschaft nennt.« Sie hatte recht, nicht so sehr mit dem Lesbischsein, aber eigentlich war Sophie wirklich so was wie meine erste große Liebe gewesen.
Sophie und ich waren schon zusammen in den Kindergarten gegangen, wurden im selben Overall, also nicht im gleichen, sondern im Partnerlook, eingeschult, wir wohnten um die Ecke und hatten in einem alten Baum einen toten Briefkasten, in den wir Briefchen steckten, wenn wir nicht telefonierten oder ohnehin zusammen waren.
Unsere Namen waren Vieh und Zy.
Viehs Knie berührten nie den Boden. Sie war immer sauber, denn sie konnte stundenlang hocken. Ihre feinen Gliedmaßen waren dazu gemacht, sich ohne Mühe zusammenzuklappen, wenn es nötig war. Sie trug Haarreifen und rosa Schalmützen und legte so ungeniert ihre hohe Stirn frei, die sie später mit Pony und Schirmmützen verstecken würde.
Mir war der Ziegenbockkopf egal, ich liebte sogar ihren Herpes an der Oberlippe, der nie abzuheilen schien und den ich für eine Sportverletzung hielt. Warum auch nicht, denn an mir gab es keine Körperstelle, die nicht verpflastert oder durch Jod orange gefärbt war.
Damit wir noch öfter zusammen sein konnten, hatte Sophie sogar ihrer Katze wegen meiner Allergie die Haare abrasiert. Im Grunde waren wir aber immer bei mir im Keller, denn dahin kam kein Erwachsener. So hatten wir mit zwölf schon unsere eigene WG.
Es gab nur einen Zeitpunkt am Tag, an dem wir getrennte Wege gingen. Während Sophie im Französischunterricht saß, hatte ich Englisch. Wie es dazu überhaupt kommen konnte, weiß ich heute nicht mehr. Wahrscheinlich hatten irgendwelche Eltern für uns entschieden, welche Sprache wir sprechen sollten. Wir waren Kinder, die Auswahl von Frisuren, Sportarten, Kleidung, Mittagessen und Urlaubszielen lag nicht in unserer Hand.
Mir waren diese getrennten Unterrichtsstunden nahezu unerträglich. Was Männer heute »klammern« nennen, war damals unter Freundinnen ganz normal.
»Ich geh da ohne dich nicht hin!« »Ich bring dich noch bis zur Tür.« »Noch bis zum Tisch!« »Gut, ich warte hier, bis du fertig bist!« »Okay, ich geh jetzt, aber lass uns einfach in zehn Minuten auf der Toilette treffen!«
Sophie und ich waren einfach: beste Freundinnen.
»Du bist meine allerbeste Freundin!«
»Du meine allerallerbeste!«
»Du meine alleralleraller…«
Nur dass »allerbeste Freundinnen sein« eben grundsätzlich kein normales Verhältnis ist. Wir lebten in einer Symbiose.
Seit es Sophie gab, hatte ich in meinem Leben immer einen festen Platz. Im Bus neben ihr, im Hochbett über ihr, auf dem Pony vor ihr, in der Schule hinter ihr, denn man ließ uns nicht nebeneinander sitzen.
Sophie war klüger als ich, sauberer und ihr Elternhaus eindeutig spießiger. Vielleicht war es aber auch einfach nur ein Zuhause ohne Pornomutter und suizidalen Vater. Natürlich fanden ihre Eltern den Kontakt mit mir nicht ideal, besonders ihr Vater Klaus konnte mich nicht leiden, aber gegen unsere Liebe kam er nicht an. Bis die Parisscheiße kam.
»Ich werde ein Austauschjahr in Frankreich machen müssen, Papa hat da was bei Freunden von ihm klargemacht, mitten in Montmartre!«
»Vieh fährt nach Paris. Ich möchte dort bitte auch hin!«, erklärte ich meiner Mutter eindringlich.
»Ach, wie schön für euch, sicher kannst du. Wann denn?«
»Diesen September bis nächsten September!«
Mitfühlende Mutteraugen und ein Wort, das ich damals schon nicht kannte: »Nein! Mein Schatz, das geht leider nicht. Du hast doch gar kein Französisch.«
Natürlich ging es nicht, denn ich war klein und schulpflichtig und konnte nicht, wie ich vorschlug, in einer Parfumfabrik als Rosenblattabzupferin arbeiten.
»Du könntest aber währenddessen doch nach New York, das ist doch ideal mit dem Englisch, dann trefft ihr euch in einem Jahr wieder und habt euch ganz viel zu erzählen!« Was hatte New York schon zu bieten, ohne Sophie drin.
»Ich hasse Frankreich!« Sophie hasste Frankreich.
»Ich hasse die Franzosen!« Ich hasste die Franzosen.
»Ich hau einfach ab, nehm den Zug und versteck mich das nächste Jahr bei dir im Keller!«
Bis ins kleinste Detail organisierten wir Sophies Flucht und unser Versteck im Souterrain.
Es war von allen Plänen auf der ganzen Welt der schönste Plan, denn er war in Wahrheit der von Ronja und Dirk, die sich vor den Eltern aus der Mattisburg im Wald versteckt hielten.
Aus Tschernobyl-Zeiten gab es noch ordentlich Milchpulver, Maiskolben und Benzin im Keller, so dass wir nie hungern würden und zur Not auch Mamas Cabrio tanken konnten.
Wir hatten alles durchdacht, so dass ich keine Angst mehr vor der Trennung hatte, als meine allerallerbeste Freundin durch die Glastür zur Sicherheitskontrolle in Tegel ging und mir ein letztes Mal zuwinkte. Ich war mir sicher, dass sie schon morgen wieder bei mir sein würde.
Aber Sophie kam nicht zurück.
Nach zwei Tagen rief sie an. »Luuucyyy, du würdest das hier so toll finden. Julie, das ist die Tochter von meinen Gasteltern, ist total verrückt. Ich hab dir schon einen Brief geschrieben, aber …« Leitung tot.
Es war eine Zeit, in der Telefonate ins Ausland tatsächlich noch von sehr schlechter Qualität waren, dass man sich schreiend verständigte und das freie Ohr zuhielt, um sich konzentrieren zu können.
Es kostete auch viel. Im ersten Monat hatten wir eine Telefonrechnung von 1500 Mark. Meine Mutter fand das nicht schlimm, sie machte sich erst Sorgen, als unsere Telefonrechnung wieder normal war.
Es wurde relativ schnell wieder billiger, denn ich erreichte Sophie immer seltener. Man konnte ihr keinen Vorwurf machen, denn Vieh war in Paris unterwegs.
Neben mir, vor mir, hinter mir, unter und über mir. Überall saß keiner mehr. Alle Plätze waren leer.
Ich schleppte einen Kassettenrekorder mit mir herum, um jederzeit alles für Sophie aufzunehmen. Das war wie Skypen, bloß ohne Video und mit einwöchiger Verzögerung. Hundertfünfzig Tapes einseitiges Gesabbel fuhren per Post von Berlin nach Paris.
Heute weiß ich nicht mehr, was ich damals alles erzählt hab, denn es passierte das ganze Jahr über nix. Klar ging es irgendwie weiter, aber ich nahm nicht mehr teil. Es war, als wäre ich in ein Glas mit Formaldehyd geklettert, um mich selber einzulegen. Ich wollte einfach nicht, dass irgendwas passierte, solange Sophie nicht da war, um mitzumachen.
Dass ich mich dabei selber so gut wie gar nicht weiterentwickelte, merkte ich erst, als Sophie nach einem Jahr mit ihrem Koffer am Flughafen wieder vor mir stand. In meinem Arm fühlte sie sich erst mal nur ein bisschen größer und dünner an. Ich kam aber auch nicht so nah an sie heran, wie ich wollte, denn ihre kleinen Brüste steckten in einem dick ausgepolsterten Wonderbra, der mich wie ein Airbag auf Abstand hielt.
Die allerbeste Freundin hatte sich in eine kleine französische Mademoiselle verwandelt. Sie hatte lange Fingernägel, war geschminkt und hatte sich offensichtlich extra »hübsch« gemacht. So standen wir voreinander.
Ich war auf dem Entwicklungsstand hängengeblieben, in dem man sich reinigte, weil die Eltern es aus hygienischen Gründen von einem verlangten. Tagelang hatte ich nicht mal meinen Pferdeschwanz aufgemacht, geschweige denn mich zu Ehren von Sophies Rückkehr gebürstet.
Es war nicht nur Sophies Oberfläche, die anders war.
Aus den Kopfhörern, die ihr um den Hals hingen, drang statt Bibi Blocksberg blöde Musik. Mehr konnte ich auf die Schnelle nicht feststellen, denn Sophie musste nach Hause, in den Schoß ihrer Familie, die sie ein Jahr vermisst hatte.
»Süüüß sieht sie aus, oder, mein Schatz? So erwachsen.« Meine Mutter hatte mich mit dem Auto zum Flughafen gebracht, und offensichtlich war auch ihr nicht entgangen, dass sich Vieh verändert hatte.
Still fing ich an zu weinen, denn alles erschien mir kalt und fremd.
Als meine Mutter das sah, hielt sie mit quietschenden Reifen am Bordstein. Rotze lief mir aus der Nase, und als sie mich in den Arm nahm, schleimte ich auf die Pornobrüste.
»Das ist nicht Viieeeh … die benutzt doch kein Parfum! Warum? Was soll ich denn jetzt machen, wenn Sophie nicht mehr Sophie ist, dann muss ich steeerben.«
Ich war hysterisch, verzweifelt und in Angst eingewickelt. Erst bei Douglas kam ich wieder zu mir.
Meine Mutter und eine sehr kräftig geschminkte Dame waren dabei, mich bei der Auswahl meines ersten persönlichen Duftes zu beraten. Vielleicht lag es an meiner Schnoddernase, durch die keine Luft mehr durchkam. Ich entschied mich für den süßesten, duftigsten Duft, im größten und dollsten Flakon, den es gab.
Wieder zu Hause musste meine Mutter mir die Nester aus den Haaren kämmen. Ganz schnell sollte alles verschwinden, was nach Kind aussah, die Beweise stopften meine Mutter und ich in große blaue Müllsäcke. Ich wollte alles in den Garten schleppen, mit Benzin übergießen und verbrennen, aber das erlaubte meine Mutter nicht. Sie packte alles zusammen, was mich Dimensionen von Sophies neuer Lebenswirklichkeit entfernte, brachte es die Treppe hoch und versteckte es vor mir.
Irgendwann konnte ich nicht mehr. Eingeduftet, mit lackierten Nägeln und rotgeweinten Augen schlief ich erschöpft ein.
Das Jahr, in dem ich meine Pubertät angehalten hatte, um auf meine Freundin Sophie zu warten, spielte sich an einem einzigen Abend ab.
In derselben Nacht klopfte es an mein Kellerfenster.
Sophie trug keine Schuhe, sondern nur ihren Pferdepyjama und ihre grüne Zahnklammer.
Sie kletterte durch die Luke, kuschelte sich zu mir unter die Decke. Die Leselampe nahmen wir mit. Die alte Glühbirne heizte unsere Höhle auf saunaartige Temperaturen. Hier hatten wir uns die wichtigen Fragen gestellt: »Wen hast du am liebsten auf der Welt?« »Dich!« »Was würdest du mitnehmen, wenn du für immer auf eine einsame Insel gehen müsstest?« »Dich!«
Alles war wieder wie immer, wie früher, wie vor Paris und dem Eau de Toilette.
Wir redeten bis 5 Uhr früh über alles, was in den letzten zwölf Monaten passiert und nicht passiert war.
Sophie hatte mir aus Paris eine Schachtel Parisienne und eine Schachtel Pariser mitgebracht.
Bislang hatten wir niemals rauchen wollen, denn es war super ungesund und der Gestank hielt Tiere ab.
Als Sophie sich aber eine Zigarette anzündete, änderte ich meine Meinung sofort. Ich hielt die Zigarette so, dass sie schnell abbrennen konnte, mit der Glut nach unten.
Es wurde hell draußen, und schließlich musste Sophie nach Hause gehen.
»Ich hol dich in einer Stunde zur Schule ab. Zy? Eine Sache ist noch passiert! Ich hab mich total verliebt! Erzähl ich dir gleich. Kusskuss.«
Sie verschwand in den Morgen, und ich fragte mich, wo ich so schnell einen Jungen zum Verlieben herbekommen sollte, um bei Sophie bleiben zu können.
Es kam anders als geplant. Ich fand Apollo und verlor Sophie.
Von außen war alles wie immer. Sophie und ich gingen gemeinsam auf Partys, aber nur durch die Tür. Sobald Typen da waren, wurden Freundinnen wie wir zersprengt und über weite Areale, die teilweise mit der eigentlichen Party gar nix mehr zu tun hatten, verteilt. Saufend, streitend, knutschend, suchend, weinend, lachend – alles voll mit Jungs- und Mädchenfetzen. Wie nach einem Bombenangriff. Auch meine Sophie war eins dieser Opfer. Der Franzose, mit dem sie die Liebe entdeckt hatte, war schnell vergessen, denn sie hatte sich auf den ersten Blick in einen Jungen aus der Parallelklasse verliebt, der schon immer da gewesen war.
»Das mit Milan und mir ist was anderes. Mit Jean war nur Kinderkram.«
Ich war übrig. Unbeschadet, ganz geblieben und allein. Obwohl es für mich nicht mal Kinderkram gab, fand ich mich gar nicht spätzünderig. Ich glaubte nichts von Sophies Theater.
Mir kam es vor, als sei Liebe plötzlich in Mode, nur dass die Jeans jetzt Milan oder Jean hießen. Die Markengeilheit damals war groß, viel größer als heute, wo es so viel Auswahl gibt. Klar war kein Krieg, trotzdem war gefühlt nix da. Was es gab, war entweder sehr billig oder sehr teuer. So war es auch bei den Jungs. Es war völlig egal, ob man Milan in Wirklichkeit so abstoßend hässlich wie einen bordeauxroten Body fand, man nahm ihn einfach und tat so, als wäre man begeistert. Wichtig war nur, dass er nicht in die Totgebissen-Gruppe gehörte.
Man wollte den besten Typen, der schick neben einem aussah. Und weil man nicht oberflächlich sein wollte, musste er es nicht nur optisch bringen, sondern vor allem inhaltlich. So stellte sich zumindest die ganze Freund-Freundinnen-Nummer für mich dar. Anders war das mit Milan und Sophie für mich auch nicht zu erklären.
An echte Liebe dachte ich gar nicht. Der einzige Mann, der mir liebenswert vorkam, war Helmut Kohl, denn der war, seit ich lebte, einfach immer präsent gewesen.
Weil ich aus Sicherheitsgründen ein Mitläufer bin, wusste ich, dass ich einen eigenen Freund brauchen würde, um nicht mit den anderen Totgebissenen zündelnd am Grill zu enden.
Apollo war optisch ein bisschen anders als die anderen Jungs. Unangepasster. Es war keine sichere Sache, dass er dem Trend entsprach. Die Gefahr, sich zu vergreifen, bestand also in jedem Fall. Ich betrachtete den schlafenden Apollo wie einen Rock, den man anziehen will, aber nicht genau weiß: Werde ich mit dem aussehen wie ein Schulmädchen oder wie eine Nutte? Ist das cool oder eine Modesünde? Kann ich ihn aufwerten oder einfach umnähen lassen?
Apollo trug einen dicken Silberring mit einem Cannabisblatt und ein schwarzes zerfetztes Band-Shirt.
Ich kannte die Band nicht, vielleicht war es seine eigene. Dann wäre er ein Künstler. Einer, der mehr empfindet, mehr als andere. Leidenschaftlich, aber voll von Zweifeln und Kummer. Wie mein Vater, dachte ich wohl.
Wahrscheinlich keuchte irgendwo Sigmund Freud in seinem Grab. Leider nicht laut genug, dass ich aufgehört hätte, Apollo anzuglotzen.
Alles mit ihm wäre ein Abenteuer.
Viel fühlen, so dass man auch was fühlt, denn bislang fühlte ich männermäßig ja nix.
Genau dieser Junge sollte es sein. Er passte perfekt zu mir, es war völlig unerheblich, dass wir noch kein Wort miteinander gewechselt hatten. Dass ich nicht wusste, wie er hieß oder woher er wirklich kam. Im Gegenteil, gerade das Nichtwissen war wahrscheinlich ausschlaggebend, wie ich heute weiß.
Der schlafende Apollo war eine frische Leinwand und bot Platz für meine Fantasien. Egal ob diese der Wirklichkeit entsprachen, sie wurden gedacht. Wenn ich eins kann, dann mir was vorstellen.
In ihrer blumigen Detailliertheit kam mir meine Fantasie so echt vor, dass sie sich für immer als wahrhaftig in mein Gehirn fräste.
Als Apollo aufwachte, war ich mit ihm und seiner Band schon einmal durch Europa gereist.
Ich war damals zwar noch nicht besonders kreativ, was die Kopfkinofilme angeht, daher glich meine Vorstellung ziemlich stark der aktuellen C&A-Werbung, in der Apollo wie ein Requisit nur am Rand auftauchte. In Sepiatönen VW-Bus fahren, mit Sophie nackt ins Meer rennen. Wie in einer großen Familie würden wir alle zusammen in einem großen duftigen, blütenweißen Hotelbett schlafen, also ich und Sophie, und irgendwo war da auch Apollos Arm. Wie in der Afri-Cola-Werbung würden die geklöppelten Vorhänge im Wind wehen, hinter ihnen meine Silhouette, zwar nicht schwarz wie die der farbigen Dame, die mit ihrem Körper Limonade verkaufte, aber irgendwie trotzdem hübsch.
So Zeug hatte ich im Kopf, als er aufwachte. Gott sei Dank, kann man sagen, wachte er auf, sonst wäre als Nächstes der Kuschelweichbär zu uns ins Bett gesprungen.
Es war 4 Uhr früh. Sophie lag unter Milan begraben knutschend auf dem Sofa. In der Küche brieten sich ein paar Leute ganz spießig Spiegeleier, und einer der Totgebissenen kotzte den Grill aus.
Gekotzt wurde wahnsinnig viel. Mit Stolz wurde sich erbrochen, wohin es nur ging. Ein Abend war nur gut, wenn man gespuckt hatte.
Es waren der Alkohol und die Zigaretten, aber vor allem die Maßlosigkeit, mit der man als Jugendlicher das Leben fühlte. Egal was, vor allem viel und doll.
Jeder sollte mitbekommen, dass man da war. Man stank zum Himmel nach Pubertät, die Jungs rochen nach Kokoswachs und Davidoff Cool Water, Mädchen nach dem über süßen Parfum von Chopard, das einen heute als Erwachsenen kotzen lässt.
Auch Apollo musste auf dem Heimweg spucken.
Ich war froh darüber, denn die Nacht war ein Erfolg, und ich konnte ihm wie sonst meiner Freundin Sophie die Haare halten.
Apollos Haare waren lang und braun und ein bisschen struppig. Ich fand das ganz toll.
Nicht weil es mir aus optischen Gründen gefallen hätte, sondern weil er offensichtlich niemand hatte, der sie ihm kämmte.
Er war verwahrlost und brauchte dringend jemanden, der sich um ihn kümmerte.
Apollo wohnte im Wedding, in dem ich bisher noch nie gewesen war, denn ich kam aus dem reichen Grunewald. Der aus Verzweiflung von den uncoolen jugendlichen Einwohnern »G.WOOD« genannt wurde.
Alles außer Wilmersdorf, Charlottenburg und Zehlendorf war für uns Ausland.
Randgebiete wie Kreuzberg waren endlos weit weg, vor allem weil man nur einen einzigen Bus zur Verfügung hatte, um in die Stadt zu kommen. Einen, der nur bis 21 Uhr fuhr. Ab da gab es so eine Art Ersatzverkehr, der am Wochenende alle zwei Stunden kam und aus einem VW-Bus mit schlechtgelauntem Fahrer bestand. Für so einen Doppelstockbusfahrer war das Downgrade auf VW-Bus sicher schlimm.
»Fahren Sie auch in den Wedding?«
»Seh ich aus wie ein Taxi?«
Eigentlich ja.
Der Grunewald war nach 21 Uhr ein unerreichbares Dorf. Dass Berlin in Ost und West geteilt war, wurde mir erst bewusst, als die Mauer fiel und meine Mutter ein kleines Stück davon an ihren Mantel pinnte. Dann kamen nach und nach immer mehr Steine ins Haus, denn meine Eltern zogen eine Wand in die Villa ein, um nicht mehr miteinander leben zu müssen. Damals war ich zehn, natürlich dachte ich, dass diese beiden Ereignisse – der Mauerfall und der darauffolgende Mauerbau bei uns zu Hause – in direktem Zusammenhang standen.
Wedding war wild. Und es wurde noch besser, denn Apollo lebte in einem Hochhaus. Kein Altbau, kein Garten. Ganz, ganz oben, in einer Zweizimmerwohnung allein mit seiner Mutter.
Die Wohnung war so klein, dass nur er ein eigenes Zimmer hatte, seine Mutter schlief im Wohnzimmer auf dem Ausklappbett. Ein Bett, das bei Bedarf aus der Schrankwand gezogen wurde, weil sonst kein Platz dafür dagewesen wäre. Ein Bett für eine einzige Person.
Ich fand es irre unheimlich bei Apollo. Und so wirklich, dass mir schwindelig wurde.
Klar, eigentlich war es ein ganz normales Jungszimmer wie bei uns im Grunewald. Es enthielt entsprechende Items wie Jack-Daniels-Flaschen, mit Cannabisblättern bedruckte Gegenstände und selbstgezeichnete Comics. Die Requisiten sollten den Raum in Richtung »erwachsener, düsterer, verwahrloster Jugendlicher« aufpeppen. Aber Apollos Zimmer war nicht gestylt, sondern echt, denn man konnte nirgends einen Fehler in der Kulisse erkennen.
Bei den Jungs aus meiner Klasse war mit Sicherheit irgendwo eine Alfpuppe auf dem Schrank versteckt, die den schönen Schein sofort zusammenbrechen ließ, wenn man sie entdeckte.
Hier war das nicht so. Apollo hatte nicht den Schreibtisch beklebt und zerkratzt, um ihn weniger teuer aussehen zu lassen, seiner war einfach oll.
Apollo holte eine Flasche Hohes C aus dem Kühlschrank, während ich mich schon mal in sein Bett legte. Bis hierher hatten wir kaum gesprochen. »Kommste mit zu mir? Ick wohn im Wedding.«
»O. k.«
Ausgezogen hab ich mich nicht. Bisher hatte ich mich für den Richtigen aufgehoben. Das machte man so, besonders wenn man so eine freizügige Mutter wie ich hatte.
Meine Mutter hatte die »Liebesfilme« zwar an den Nagel gehängt, aber sie war das Testimonial einer großen Sexshopkette geworden. Lasziv auf der Seite liegend, warb meine Mutter mit goldenen Sternchen auf den Brüsten von jeder Litfaßsäule für das Sexyland.
Mir war Geschlechtsverkehr peinlich, deswegen nahm ich vor allen Gesprächen, die sich in Richtung Aufklärung entwickelten, Reißaus.
»Aber Luzy, willst du nicht wissen, was Petting ist?« »Danke, nein!«
Keiner hatte es mir direkt ins Gesicht gesagt, aber in meinem Kopf stand, inspiriert von der Bravo Girl und mit Ausrufungszeichen markiert: Sex ist etwas ganz Besonderes! Und: Sex ist nur schön, wenn man sich liebt!
Ich hatte wenig bis keine Erfahrung. Meine bisherigen sexuellen Erlebnisse waren durch Stoff hindurch passiert. Man rieb Geschlechtsteile, die unter der Jeans erst steif und dann nass wurden. Deswegen hatte ich berechtigterweise ein bisschen Angst, dass, wenn die Stoffbarriere weg ist, der Penis von Apollo einfach automatisch in mich reinfahren würde. Hatte ein Pimmel Muskeln oder Gelenke? Möglich.
Aber Apollo – plus Schwanz – war schon eingeschlafen.
Ich betrachtete den blassen Jungen neben mir, der mein Freund werden sollte. Unter seiner Nase kringelte sich ein Haar, aus einer entzündeten Pore, das später mal ein Bart werden würde, wie ich hoffte.
Rührung packte mich, aber mehr darüber, dass ich nun endlich im Begriff war, mich selbst in einen Erwachsenen zu entwickeln.
»Ich bin Luzy«, erklärte ich Apollo feierlich. Ich nahm ihn in den Arm, hielt ihn fest, ganz fest, und beschloss, ihn nie wieder loszulassen.
Als ich morgens aufwachte, hatte er es irgendwie geschafft, sich loszumachen. Es glich demselben Zaubertrick, mit dem sich meine Mutter, als ich klein war, aus meiner Umklammerung lösen konnte, um meinem Vater auf die Couch hinterherzuziehen, ohne dass ich es mitbekam. Egal wie fest ich sie beim Einschlafen festhielt, wenn ich aufwachte, war sie aus dem Bett verschwunden.
Apollo saß an seinem Schreibtisch, zeichnete ein Pentagramm und rauchte.
»Meine Mutter macht uns Rührei.« Das war der erste richtige, nüchterne Satz, den er an mich richtete.
Stellvertretend für ein Gespräch mit ihm, sprach ich mit seiner Mutter, während er danebensaß und Ei in sich reinschaufelte.
Bini, so hieß sie, schien sich um einiges mehr für mich zu interessieren als ihr Sohn. Sie hatte einfach ein volles Tablett mit Frühstück ins Zimmer getragen und sich schnaufend zu uns ins Bett gesetzt. Mitten rein. Sie war dick und trotzdem unweiblich. Haare kurz geschnitten, ihre Augen müde.
Ihr Anblick war ein einziger Vorwurf. »Apollo, mein Sohn, sieh her, wie müde ich bin. Ich hab keine Zeit für lange Haare. Ich hab nicht das Glück wie Lizzy Lollipop, deren Muschi ihr den Vorruhestand gesichert hat, mir jeden Abend die platinblonde Mähne mit den von Frauenzeitschriften geforderten hundert Bürstenstrichen gesund und geschmeidig zu halten.« »Bini, jetzt hören Sie mal zu. Das Geld meines Mannes ist ein Fluch …« »Sei still, Mama, hier ist eine Frau, die sich die Hände wund arbeitet, um ihren Sohn durchzubringen!«
Bini steckte sich, zwischen uns sitzend, eine Zigarette an. Sie stellte Fragen, und ich erzählte von mir. Weil Apollo selber nichts wissen wollte, konnte ich ihm so trotzdem, durch das Gespräch mit seiner Mutter, Informationen zukommen lassen.
Also war ich bemüht, das zu erzählen, was Apollo meiner Meinung nach von mir begeistern müsste.
Das hatte mit meinem wirklichen Leben nicht so viel zu tun. Ich log. Aber wirkliches Lügen war es nicht. Ich stellte lediglich das echte Gefühl, das ich hatte, in eine Lebenssituation, die dazu passte. Denn mir selber kam damals alles normal vor.
So ist das mit dem, was man täglich sieht, man kennt es eben und nimmt es nicht wahr. Und fragt einen jemand, welche Farbe der Wohnzimmerteppich hat, weiß man nicht mal, ob da überhaupt jemals einer gelegen hat. Dass unter unserem pompösen Villendach alles durcheinander war, konnte man nur als Außenstehender sehen.
Zu Apollos Zeiten lebten meine Eltern längst getrennt, aber in derselben Villa, in zwei Wohnungen, allerdings ohne Verbindungstüren. Die große Doppeltür, die Speisezimmer und Wohnzimmer getrennt hatte, wurde irgendwann nach Tschernobyl und Mauerfall dichtgemacht.
Prächtig war es in dem alten Haus nie gewesen, denn als hippiesken Neureichen war es meinen Eltern nicht gegeben, das Haus seiner Beschaffenheit nach entsprechend geschmackvoll auszustatten.
Die Hälfte meines Vaters wurde »drüben« genannt, denn man war meist »hier«, das war bei meiner Mutter. Ich selber lebte »unten« im Souterrain. Nicht weil ich abgeschoben wurde, also zumindest oberflächlich nicht, sondern weil der Keller einen eigenen Eingang hatte. Auf diese Art war auch ich gerecht aufgeteilt worden, denn ich wohnte bei keinem richtig.
»Die Luzy hat ihr eigenes Reich.« Betonte meine Mutter stolz vor anderen und beschönigte meine Einsamkeit zur Unabhängigkeit.
Um Stress aus dem Weg zu gehen, hatte jeder von uns seinen eigenen Telefonanschluss mit eigener Nummer. 23 Pfennig Flatrate pro Gespräch. So war das damals.
Ich lernte früh, dass man anrief und sich anmeldete, bevor man ungefragt zu Besuch kam. So konnten meine Eltern sicher sein, dass sie sich »in meinem Reich« nicht zufällig über den Weg liefen. Alles war geregelt. »Hallo, Luzy, ist Papa da?«
»Nein.« Denn Papa war so gut wie nie da.
»O. k., ich komm gleich.«
»Drüben« bei meinem Vater war ein Atelier mit Küche und Bad. Die Leinwände standen achtlos in der Gegend herum und schachtelten die Räume in sich wie ein Labyrinth.
»Wo ist das Klo?«
»Zweimal blau, dann links bei dem grünen Quaderhahn …« Der ganz normale grüne Quaderhahn war eine Skulptur. Kurz hatte er sich daran versucht. Deswegen war auch nicht klar, ob die Schlinge, die von der Decke baumelte, auch zur Kunst dazu gehörte.
»Drüben« war es nicht wohnlich, weil mein Vater nicht leben wollte.
Meine Mutter hatte ihren Teil der Villa nach der Teilung aufwendig zum Neubau umrenovieren lassen. Parkett raus, weißer Teppich rein. Die neue Wirklichkeit aus cremefarbenen Ledersofas, Whirlpool, Glastischchen und tuffigen Vorhängen mit Quasten schrie aber noch lauter Porno als das vorher Dagewesene.
Zu Hause war alles in reichhaltiger Ordnung. Wir hatten Essen, Trinken, Kleider und Meerschweinchen. Das waren die Fakten, die zu gut klangen, um bei Leuten aus dem Wedding mit Ausklappbett und richtigen Problemen Eindruck zu schinden.
Bini häufte mir Rührei auf den Teller, denn sie hatte Mitleid mit mir. »Du arme Maus. Und dann lebst du da ganz alleine ohne deine Eltern?«
In der Geschichte, die ich Apollo und seiner Mutter beim Frühstücken im Bett erzählte, war ich ein Heimkind mit totem Vater und alkoholabhängiger Mutter, die sich nicht mehr um mich kümmern konnte.
Irgendwie stimmte es sogar ein bisschen.
Alkoholsüchtig war vielleicht übertrieben, aber meine Mutter trank jeden Abend, um sich zu entspannen, auf ihrer Seite der Mauer im Whirlpool eine Flasche Champagner.
Mein Vater war zwar noch nicht tot, aber das war nur eine Frage der Zeit.
Irgendwo war ein Atomkraftwerk explodiert. Ich wusste nicht, was das war, aber es musste schlimm sein, denn meine Mutter war wochenlang im Ausnahmezustand. Für sie, den Hippie der Herzen mit dem Antiatombutton, war das Unglück die schon lange prophezeite Apokalypse. Sie sprach nur noch von Atompilzen, Krebs und dreiköpfigen Katzen, kaufte mir einen Geigerzähler und erklärte mir, wie ich damit umgehen sollte.
»Den nimmst du überall mit hin und prüfst alles erst mal durch! Wenn etwas verseucht ist, dann fängt das Gerät ganz doll an zu knacken. Nichts in den Mund nehmen, das vorher knackt, verstanden?«
Meine Mutter hatte den Weg der Wolke in den Nachrichten verfolgt und traf Vorsorge für den Fall, dass sie über die Stadt ziehen würde, um hier ihr Gift auf uns zu entleeren. Sie kaufte Maiskolben in Dosen, Trockenmilch und Benzin. Viel davon. So viel, dass sich Pakete und Behälter im Keller stapelten. Wir durften das Haus nicht mehr verlassen, die Gefahr, dass es anfangen könnte zu regnen, war ihr zu groß.
Wenn eine Familie unerwartet auf engstem Raum zusammengepfercht ist und sich von Trockenmilch und Maiskolben ernähren muss, kann man mit Spannungen rechnen. Ich glaube, meine Eltern hatten sich schon vorher nicht mehr verstanden, aber der gesamte Beziehungsfrust entlud sich in der Woche, in der wir auf die Wolke warteten. Es wurde ohne Unterlass gebrüllt und gezankt.
Als Kind versteht man nicht, worum es geht, wenn sich Erwachsene streiten. Die Fetzen, die einem zufliegen und die im Kopf hängenbleiben, ergeben erst Jahre später einen Sinn. Dann ploppt es plötzlich im Kopf und man begreift, warum Pullover »pull over« oder eine Reporterin Karla Columna heißt.
»Ich bin hier gefangen in einer SITUATION, die ich nie wollte!«
»Meinst du, ich hab mir das so vorgestellt?«
»Du wolltest doch dieses Kind, ich bin dir vollkommen egal. Dir ist doch nur wichtig, dass dir irgendwer am Busen hängt!«
»Du erträgst es einfach nicht, wenn du nur eine Sekunde nicht der Mittelpunkt der Welt bist. Du bist so ein egoistischer Wichser!«
»Schlampe!«
»Vielleicht hast du ja Glück, und sie ist gar nicht von dir …«
So unrecht hatte mein Vater nicht. Meine Mutter wollte wirklich einfach nicht aufhören, mich zu stillen. Sie war froh, dass ihre Brust endlich ihrer wahren Bestimmung folgen konnte. »Ich bin ein sehr sexuelles Wesen, aber irgendwann hat man von Schwänzen die Nase voll, mein Schatz. Ich wollte unbedingt ein Kind!«
Ich war ihr Ticket nach draußen, sie wurde zum Muttertier, und ich hielt ihren Busen besetzt, bis ich vier war. Man muss sich vorstellen, dass das ein Alter ist, in dem man schon läuft, Zähne hat und einigermaßen vernünftige Gespräche führen kann. Ich ernährte mich natürlich nicht ausschließlich von Muttermilch, eher so kleines Schnitzel mit Pommes und zum Nachtisch ein Schluck Brust.
»Man soll stillen, solang man kann, das ist so gesund für das Immunsystem. Schau dich mal an, mein Schatz, wie gut du in Schuss bist.«
Stimmt, ich bin richtig gut drauf.
Als der Regen wirklich kam, war das Geschrei meiner Eltern plötzlich vorbei, und es war totenstill im Haus. Meine Mutter, mein Vater und ich betrachteten die Straße, auf der sich Pfützen bildeten. Jeder Tropfen kam mir vor wie eine Bombe, die Tod und Verderben brachte.
Mein Vater starrte still auf die Straße, während meine Mutter sich in meiner kleinen Kinderhand so festkrallte, dass diese weiß wurde. Passend zum Regen liefen ihr die Tränen über die Wangen.
»Jetzt ist alles vorbei!«, hauchte sie vor sich hin.
Aus Angst grapschte ich neben mich, um auch bei meinem Vater Halt zu finden, aber der hatte sich schon umgedreht und den Raum verlassen.
In Panik fiel mir ein, dass ich das Fenster in meinem Zimmer offen gelassen hatte. Es bestand die Möglichkeit, dass es seitlich in den Raum hinein- und auf die Meerschweinchen draufregnen könnte. Ich befreite mich von der Kralle meiner Mutter, rannte die Treppe hinauf und stürzte in mein Zimmer, das damals noch nicht im Keller war. Um dem Gift nicht ausgesetzt zu werden, zog ich mir Handschuhe an und wickelte mich in eine Decke ein, bis nur noch ein Guckloch frei war. Todesmutig beugte ich mich hinaus, um das Fenster zu schließen. Dabei fiel mein Blick in den Garten.
Mein Vater saß auf einem Stuhl mitten auf dem Rasen hinter dem Haus.
Erst wollte ich schreien, doch die ganze Szene erschien mir so grotesk, dass ich nur zuschauen konnte, wie seine Kleidung immer stärker durchweichte. Aus seinen Haaren tropfte das Wasser in seinen Kragen, denn er trug keine Jacke und nichts, das ihn schützte. Schließlich legte mein Vater seinen Kopf nach hinten in den Nacken. Er schloss die Augen, öffnete den Mund und ließ das Regenwasser auf seine Zunge prasseln.
Erst glaubte ich zu träumen, denn der Anblick erschien mir für meine kindliche Logik zu unwirklich. Die Warnungen meiner Mutter, die Maiskolben in Dosen, der Geigerzähler, es war unwahrscheinlich, dass mein Vater zufällig in den Regen gekommen war. Die Gefahr war klar. Er musste absichtlich rausgegangen sein, dahin, wo der Tod von oben kam. Ohne dass ich wusste, was Selbstmord war, verstand ich, dass meinem Vater nichts an seinem Leben lag.
Die Tschernobyl-Geschichte war zu absurd, um damit Apollo und Bini zu beeindrucken.
Mir kam es schlimmer und damit passender vor, einfach nur ein Heimkind zu sein. Mein erfundenes Leben glich sehr der Geschichte von Oliver Twist, aber das merkte Bini nicht. Sie nahm mich in die Arme und hielt mich fest, während ihr Sohn neben uns im Bett einen weiteren Toast mit Butter beschmierte. Apollo gefiel die Fürsorge seiner Mutter offensichtlich überhaupt nicht.
Verständlich, denn genau wie ich und jeder Teenager war er ganz begierig darauf, Gründe zu haben, seine Mutter zu hassen. Leider war Bini offensichtlich eine sehr liebevolle Mutter und fuhr ihrem Sohn damit ordentlich in die Parade.
Irgendwann hievte sie sich hoch, um in der Küche noch eine zu rauchen. Als Apollo und ich allein waren, wurde mir klar, dass ich irgendwas machen musste, um die Verbindung zwischen uns zu besiegeln. Dass seine Mutter mich mochte, war nicht genug, es war sogar eher hinderlich, wie ich durch Apollos nächsten Satz lernte, denn er wollte offensichtlich, dass ich gehe.
»Ick muss jetze noch Gitarre üben und Mathe machen«, erklärte er mir und schickte damit eine Ausrede voraus, auf die mit Sicherheit ein Abschied für immer folgen würde.
Außer Haare beim Kotzen halten und Rührei essen war zwischen uns bisher nix passiert. Aber Händchen halten und Küssen waren wie der Wittenberg- und der Nollendorfplatz: sichere Stationen auf der U1 zum Pärchenwerden. Ei essen hingegen garantierte nicht mal, dass wir uns wiedersehen würden.
Mir war klar, dass es kein Ehering sein musste, aber irgendetwas Verbindliches brauchte ich, um Apollo zu behalten und somit Sophie einen eigenen Freund präsentieren zu können.
Küssen war nicht genug.
Romantik war hier im Reich der Dunkelheit zwischen Star Wars, Aschenbechern und Metalpostern nicht angesagt, das würde Apollo nicht beeindrucken.
Ich konnte selbstverständlich nicht mit ihm schlafen, denn dass ich noch Jungfrau war, kam einer körperlichen Behinderung gleich. Auf das erste Mal wollte ich besser vorbereitet sein. Lust als Grund für Sex erschloss sich mir ohnehin nicht. Irgendjemand hatte mir unter dem Pullover die Brüste gestreichelt und mich mit Fragezeichen in den Augen zurückgelassen.
Also habe ich Oralsex erfunden.
Dachte ich, weil ich nicht wusste, dass es ihn schon gab.
Die Pornos, die ich kannte, hießen Liebesgrüße aus der Lederhose, aber die waren ohne Schwanz und Muschi und fanden ausschließlich in Bayern statt. Im übrigen Land gab es offensichtlich keinen Sex. Die richtigen Filme, in den Regalen bei uns zu Hause, konnte ich mir nicht angucken, weil meine Mutter mitspielte. Bestimmt gab es auch welche ohne sie, aber die Gefahr, dass Mama als Statistin in einem Gangbang auftreten könnte, war mir einfach zu groß. Das Internet und die damit einhergehende Kenntnis von Praktiken wie Fistfuck, Analsex oder Gangbang waren noch Science-Fiction.
Weil ich es noch nie gesehen hatte und ich deswegen nichts davon wusste, gab es Blowjobs für mich einfach nicht. Ein Penis im Mund kam mir unmöglich vor, denn ich hatte ja noch nicht mal einen in der Hand gehabt. Es war so dermaßen unvorstellbar, dass das sicher bisher niemand gemacht haben konnte. Also fasste ich mir ein Herz und wagte mich vor.
Weil mir gar nicht klar war, dass die angestrebte Ziellinie ein Orgasmus war, hörte ich irgendwann einfach auf. Mein Unwissen spielte mir ungeplant in die Hände, denn Apollo wollte unbedingt, dass ich am nächsten Tag wiederkomme. Blasen war offensichtlich ein guter Kleber, der Menschen zusammenhielt.
Am Anfang war das Rummachen mit Apollo nur ein Spiel, denn in Wahrheit wollte ich mit Sophie zusammen sein. Aber ich brauchte einfach einen Freund, um dazuzugehören und mitreden zu können.
Leider hatte ich mir mit Apollo jemanden ausgesucht, der nicht soooo gerne unter Leuten war.
Als ich ihn auf einer von Sophies Schickimickipartys stolz präsentieren wollte, saß er schweigend in der Ecke und hasste alle.
Diese Art von Fest, vornehmlich von Mädchen ausgerichtet, feierte man in den 90ern, um ein Kleid und hohe Schuhe anziehen zu dürfen. Ab und zu brauchte man diese Partys, um zu zeigen, was sich unter der karierten Grungebluse in der Zwischenzeit gebildet hatte. Auch ich war unheimlich fein angezogen, um Apollo zu zeigen, wie ich aussehen würde, wenn ich kein Waisenkind, sondern reich und schick wäre.
»Sophie, das ist Apollo, Apollo, das ist Sophie.«
Apollo stand nicht auf, Sophie zog ihre Hand zurück.
»Was für reiche Schweine wohnen hier denn?«, wollte Apollo wissen.
Dass ich noch reicher und damit noch schweinischer war als Sophie, wusste er ja nicht.
»Meine Schweineeltern«, erklärte Sophie stolz, denn auch sie fand ihre Eltern unmöglich bescheuert.
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