„Die RAF hat euch lieb“ - Bettina Röhl - E-Book
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„Die RAF hat euch lieb“ E-Book

Bettina Röhl

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Beschreibung

Ein unverstellter Blick auf 1968 – fernab aller Klischees und Mythen

Brauchte die Bundesrepublik die Revolte von 68? Ist 68 gar das Jahr einer »Neugründung« der heutigen Bundesrepublik? Die APO-Bewegung – und ihre »Speerspitze«, die RAF – ist das wohl meist beschriebene Thema der neueren politischen Geschichte des Landes. Mit bisher unbekannten Fakten und den Stimmen neuer Zeitzeugen unterlegt, liefert Bettina Röhl, die als Kind die Gründung der RAF hautnah miterlebte, eine spannende Analyse und erzählt die scheinbar bekannte Geschichte neu. Bei ihren Recherchen fand Bettina Röhl zahlreiche bisher unveröffentlichte Briefe, Dokumente und Fotos, die die damalige Zeit hautnah miterleben und nachvollziehen lassen.

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Seitenzahl: 988

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BETTINA RÖHL

DIE BUNDESREPUBLIK IM RAUSCH VON 68

Eine Familie im Zentrum der Bewegung

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Um die Lesbarkeit dieses Buches zu erleichtern, wurden alle Zitate in die neue Rechtschreibung umgewandelt.
Zum Schutz einiger genannter Personen wurden ihre Namen anonymisiert.
Originalausgabe 2018
Copyright © 2018 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Mitarbeit an diesem Buch: Wolfgang Brümmer Beratung: Stefan Linde Redaktion: Heide Sommer Bildredaktion: Tanja Zielezniak Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich unter Verwendung eines Fotos von: Foto oben: Ruth Walz Foto unten © ullstein bild – Wolfgang Kunz

INHALT

Vorwort: Zur Entstehungsgeschichte dieses Buches

Essay I

Die beste Bundesrepublik aller Zeiten

TEIL I

Auf dem Höhepunkt von 68

März 1968: Umzug nach Berlin

Goßlerstraße 3

Ulrike Meinhof auf der Suche nach einem neuen Mann

Mao Zedong und die APO

Enteignet Springer!

Der Internationale Vietnamkongress

Die genehmigte Demonstration auf dem Ku’damm

Was genau war passiert?

Das APO-Movement und seine verschiedenen Protagonisten

Cohn-Bendit: »Sie gehören zu uns«

Schüsse auf Rudi Dutschke

Die Osterunruhen

Das Schweigen der APO

Die Demonstrationen

Die Scheidung meiner Eltern

Notstandsgesetze, le mai in Frankreich, 68 in der ČSSR

Ohne Dutschke implodiert der SDS

Die bunten Eimer waren leer

Ulrike Meinhof und ich

Das Umerziehungsprogramm

Kindergarten und erste Kinderladen-Experimente

»Ich bin am Ende«

Das Berliner Modell

Die Königin-Luise-Stiftung

Die Rettung

Kinderladen – Fantastisch!

Die APO-Kneipe

Die Brandstifter

Kapitalistische Ferien

Resümee des Jahres 1968

Neuer Vertrag für die Starkolumnistin

Meinhof versus Röhl: der »Kolumnismus«-Streit

Die Gegenredaktion

Ein Urlaubsversuch

Der Eklat

Meinhof und der SDS: ein revolutionärer Tiefpunkt

Polizei? Nein danke!

Die konkret-Aktion wird medial ausgeschlachtet

Mehrere Anrufe, eine Nabelkolik und Haare ab

Vierter Anschlag auf konkret

Meinhofs »bürgerliche Reputation«

Dick Busse und Ulrike Meinhof

Erholung bei Tante Holde

Marianne Herzog und Jan-Carl Raspe

Willy Brandt wird Bundeskanzler

Baader, Ensslin, Proll und Meinhof

Bambule

»Leute, die die Polizei sucht«

Meinhof, ein verlogenes Miststück?

»Mein lieber Schwalli …«

Ein fast vermasselter Kindergeburtstag

Weihnachten 1969

»Identifikationsschwierigkeiten mit ihrer klugen Mutter«

Der letzte Besuch

Streit mit Lai-tu

Essay II

Der Triumph von 68

Identifikation mit der Protestbewegung statt mit dem Staat

TEIL II

Die Entstehung der RAF

Horst Mahler

Die Kunzelmann-Gang

Der Chefdesigner der RAF

Hanna K. und die Erweiterung des »proletarischen Arschs«

Die Kufsteiner Straße wird konspirativ

Die Gründung der Stadtguerilla in unserem Wohnzimmer

Meinhof bricht die Brücken ab

»The original desperate housewife«

Problemmutter

Klauen lernen

Der Unfall mit dem R4

Baader wird festgenommen

Der Gefängnisausbruch

Gute Nacht, Revolution!

Homann trifft Jürgen B.

Meinhof und die Black-Panther-Frau

Horst Mahler geht in den Untergrund

Die Verschleppung

15 Jahre konkret

Italien

Über die grüne Grenze

Das Barackenlager

Der Abschied

Sizilien

Bei Bubi

»Natürlich kann geschossen werden«

Michèle Ray

Die Geburt des Mythos RAF

Günter Wallraff verurteilt Ulrike Meinhof

Das terroristische Start-up

Der Araber

»Hier geht die Lucy ab …«

Mord lag in der Luft

Hanna K. in Jordanien

Hilfe von den Palästinensern

Und was war jetzt genau der Plan?

Das »beste« palästinensische Waisenlager

Meinhof, ein personifizierter Irrtum der Bewegung

»Avanti Popolo«

Das »Untergrundsorgerecht«

Die »Holtkamp-Lösung«

Ulrike Meinhof in Ostberlin

Der erste Schritt zu unserer Rettung

Rückkehr in die Gesellschaft

Meinhof allein in Sizilien

Mit Pistolen

Verhaftungen und ein »Verrat«

»Die Rote Armee aufbauen«

Zu Hause

Von Udo Jürgens bis zu Mikis Theodorakis

Die Doppelfamilie Coulmas-Röhl

Emmi und Blankeneser Schulfreunde

Die Blankeneser Richterin Ingrid Schwenn

Renate Riemeck: »Heitere, ungezwungene, fröhliche Geschöpfe«

Peter Homann und Stefan Aust

Mit in den Abgrund reißen

TEIL III

Mythos Meinhof

Der Baader-Meinhof-Komplex

»Das Konzept RAF«

Merkwürdige Zwischenrolle

Nette »Restfamilie Röhl«

Die Morde

Der Ensslin-Kassiber

»Ulrike«

Heinrich Bölls Märchen vom »Krieg von 6 gegen 60000000«

Klaus Rainer Röhl außer Rand und Band

Essay III

Meinhof wird zur Ikone der Bewegung

Revolution wird mit Blut geschrieben

»Klar, Du bist jetzt der Anwalt von der Meinhof«

Meinhofs Unschuldsbewusstsein

Hannovers Besuch bei uns in Blankenese

»Wir incl. ich sind bis auf die Knochen politisch«

Die Anfrage des stern nach einem Interview

Jubel über den Tod der israelischen Sportler

Die Kinder-Olympiade

»Der Kaukasische Kreidekreis findet nicht statt«

»Die RAF hat Euch lieb«

Isolation

»Menschenexperiment ist richtig, Folter ist falsch«

Der erste große Hungerstreik

»Politisieren, politisieren, politisieren«

Der Bruch mit Heinrich Hannover

Das Christianeum

Weihnachten bei Tante Wienke, Silvester auf Sylt

Meinhof radikalisiert sich weiter

Ensslin und Meinhof im Toten Trakt

Schlusswort

Danke

VORWORT: ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DIESES BUCHES

Als ich 1996 anfing, für dieses Buch zu recherchieren, war ich 34 Jahre alt und hatte nichts anderes in den Händen als vier Briefe meiner Mutter Ulrike Meinhof aus ihrer Haftzeit in Köln-Ossendorf aus den Jahren 1972 und 1973. Unter anderem den Brief, in dem sie mir und meiner Zwillingsschwester aus dem Gefängnis schrieb: »Die RAF hat Euch lieb.« Ich besaß keine Akten, ich hatte die meisten Protagonisten des Terrors, die RAF-Leute und die Anwälte – außer als Kind – nie getroffen. Es gab schon 1996 Hunderte von Artikeln und Büchern über 68, die RAF und Ulrike Meinhof. Es gab Biografien, Bände mit ihren Kolumnen und massenhaft Broschüren, Raubdrucke, Flugblätter und Dissertationen. Und es gab schon eine ganze Reihe von Dokumentar- und Spielfilmen, Theaterstücken, Opern und Tanztheater, die das Leben von Ulrike Meinhof und ihrer Familie, und nebenbei immer auch von meiner Schwester und mir als süße blonde Statisten des gruselig-schönen Dramas, verarbeitet hatten.

Es gab und gibt unendlich viele Experten zum Thema Ulrike Meinhof, 68 und RAF, jede Sekretärin des NDR schien damals besser über meine Mutter Bescheid zu wissen als ich. Bilder mit dem RAF-Emblem, Babybilder von meiner Schwester und mir mit schwarzen Balken über den Augen, Jugendbilder meiner Mutter aus den Vierziger- und Fünfzigerjahren, zusammengeschnitten mit Bildern von Attentaten und Toten. Klaus Rainer Röhl als der sexy konkret-Verleger und Bösewicht, der Meinhof mit seinen Seitensprüngen in den Terror getrieben hätte, und die beiden RAF-Kumpanen Baader und Ensslin, die sie in Stammheim in den Tod gemobbt hätten. Immer mit dabei: Sex and Crime, Baader-Meinhof sells.

Selbst Kinderbilder von meiner Schwester und mir lagen nicht bei uns zu Hause, sondern in den Bildredaktionen von Spiegel, stern und ZEIT. Es war also nicht so, wie die Medien gern über mich schrieben, dass ich nur gemütlich in mein Familienalbum greifen musste, und schon stand das Buch, sondern es war umgekehrt: Die Öffentlichkeit, die Meinhof- und RAF-Experten in allen Medien wussten mehr von meiner Mutter als ich. Sie hatten die Unterlagen, die Materialien, das Wissen, und ich hatte nichts. Ich war eine Nachgeborene, die 68 als Kind erlebt hatte.

Auch mein Vater war nicht hilfreich. Das, was er in den Siebzigerjahren an Unterlagen und an Fotomaterial besaß, hatte er längst in Dutzenden von journalistischen Storys an die Medien veräußert und in vielen seiner Bücher, die oft um das Thema 68 kreisten, selber verwurstet. Akten besaß er keine, jedenfalls habe ich nie eine bei ihm gesehen. Er hatte auch seine Privatfilme mit Ulrike Meinhof und uns als Kleinkindern, die eigentlich auch meiner Schwester und mir als Erben von Ulrike Meinhof gehörten, 1994 einem Filmemacher gegeben, sodass auch das Privateste schon breitgetreten war, bevor ich überhaupt anfing zu recherchieren.

Das Einzige, was Klaus Röhl mir 2006 noch übergab, war eine schmale Filmrolle von einer konkret-Konferenz mit ihm und meiner Mutter und vielen jungen Redakteuren, Ende der Fünfzigerjahre, die ich in meinem Film »So macht Kommunismus Spaß!«, der 2007 bei SPIEGEL TV auf SAT1 lief, dann auch exklusiv verwendet habe. Diese kleine Sequenz, nicht einmal 30 Sekunden lang, ist sehr schön, aber das war auch alles.

Von meiner Mutter hatte ich gar keine Unterlagen. Nachdem sie im Mai 1970 in den Untergrund gegangen war, hatte sich ihre Schwester Wienke um die Haushaltsauflösung gekümmert. Akten, Bilder, Bücher und auch Fotos von unserer Mutter und von uns landeten also bei meiner Tante, und meine Tante verweigerte bis zu ihrem Tod 2017 Einsicht in die Unterlagen und die Herausgabe persönlicher Gegenstände. Nur einmal schickte sie mir 2004 ein altes, etwas vergilbtes Buch der palästinensischen Terroristin Leila Khalid, das sei ein Abschiedsgeschenk meiner Mutter an mich, welches diese ihr schon 1974 gegeben hätte, es sei jetzt meins.

Ich begann mit der Recherche: In Hamburg nahm ich mit den Scheidungsanwälten meiner Mutter, Kurt Groenewold und Heinrich Senfft, Kontakt auf, in Berlin traf ich mich mit Hans-Christian Ströbele, und schließlich besuchte ich in Bremen Heinrich Hannover, der meine Mutter, seitdem sie 1970 in den Untergrund gegangen war, als Anwalt begleitet hatte. Die bis heute unveröffentlichte Korrespondenz in den Akten, die ich von den Anwälten bekam, ermöglichte mir einen ganz neuen Blick auf meine Mutter. Hier sprachen plötzlich nicht mehr Journalisten mit irgendeinem Halbwissen über Ulrike Meinhof, sondern hier sprach zumeist sie selbst. Auf Hunderten von Seiten lernte ich meine Mutter, wie sie 1968/69 bis 1974 gedacht, gefühlt und geschrieben hatte, erst richtig kennen und verstehen.

Ich besorgte mir das gesamte Baader-Meinhof-Material in Form von vielen Hundert Kilo Akten bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe. Ich musste einen Transporter mieten, um die Akten über die Taten der ersten Generation der RAF nach Hamburg zu bringen. Dann die Frage: Wo sollte man die überhaupt lagern? Irgendwann Ende der Neunzigerjahre ließ ich sie also digitalisieren, denn so lesen sie sich viel besser. Und dann begann ich, die Protagonisten zu treffen und zu interviewen. Obwohl ich die meisten als Kind gesehen oder gekannt hatte, hörte ich nun zum ersten Mal, was sie damals gemacht und wie sie die APO-Bewegung und die RAF erlebt hatten, und schon während der Recherche dachte ich, die Öffentlichkeit muss das alles genauso hören und erfahren, wie ich es jetzt höre.

Und dann begann ich, in die Historie einzusteigen, und staunte nicht schlecht. Hunderte von Büchern über den Vietnamkrieg, die Frankfurter Schule, die Bundesrepublik in den Sechzigerjahren und vor allem über Mao Zedong und die Kulturrevolution in China brachten mich zum Nachdenken und zu der Erkenntnis, dass sehr vieles zu recherchieren blieb und neu erzählt und neu interpretiert werden müsste. Irgendwann dachte ich, jetzt könnte ich mal losschreiben. Aber da tobte ein Sturm über mich hinweg, als ich 2001 ein paar Details aus der Gewaltvergangenheit von Joschka Fischer (damals ein Säulenheiliger bei den Grünen und Bundesaußenminister) in stern und Bild veröffentlichte. Mein Buchvertrag wurde gekündigt, und das gesamte Projekt blieb erst mal liegen.

2006 veröffentlichte ich den ersten Band meines historisch-biografischen Werkes mit dem Titel »So macht Kommunismus Spaß!«, in dem ich meine Familiengeschichte und die Geschichte der Linken in der jungen Bundesrepublik von 1949 bis Februar 1968 erzähle. Ein großer Teil des Materials, das sich mit 1968 und der Gründung der RAF befasste, blieb weiterhin liegen. Ich habe mich von 2006 bis 2016 in Hunderten von Artikeln mit ganz anderen Themen befasst, mit Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, und fast hatte ich das Thema 68 schon vergessen, als im Herbst 2015 ein sehr netter Literaturagent, Stefan Linde, mit viel Nachdruck auf mich zukam und mich drängte, ein Buch zu schreiben, zum Beispiel über die Einwanderungspolitik von Angela Merkel. Ich sagte Nein, definitiv Nein. Ein halbes Jahr später rief er nochmals an, und da sagte ich okay, dann schreibe ich jetzt mein Buch über 68, das ich einst so begeistert recherchiert hatte.

Ich fuhr also in mein Archiv und holte die Bücher und Akten und die alten Dateien wieder hervor und fühlte mich wie das Fräulein aus dem Märchen, das in eine große einsame Kammer gesperrt wird und aus fünfzig Jahre alten Tonnen von Stroh Gold spinnen soll. Fünfzig Jahre alte Literatur in Massen lag um mich herum, Interpretationen, Zeitzeugenberichte, Autobiografien, Filmmaterial, Tonbandaufnahmen. Und natürlich meine eigenen Recherchen, Akteninhalte und Interviews, die ich nie veröffentlicht hatte, viele noch auf Kassette. Und es gab natürlich inzwischen auch einige historisch gut recherchierte Bücher über diese Zeit, vor allem aus den 2000er-Jahren. So gesehen, hat es sich vielleicht gelohnt zu warten.

Ich habe im Laufe der Jahre vielfach geschrieben und gesagt, dass die 68er-Bewegung zu einem großen Teil ein Missverständnis, eine Fehlverarbeitung der damals neuen Realitäten, der neuen Möglichkeiten gewesen ist, und auf die lange, allgemein verkannte Tatsache hingewiesen, dass die 68er-Generationen die Nutznießer und nicht die Erfinder der vielen neuen Freiheiten waren. Völlig überfordert und in einer Art »massenhafter Erleuchtung« füllten diese Generationen die neuen Freiheiten mit vielen Ideologien, und sie hoben ab. Sie steigerten sich in Extremismen hinein. Alles, was immer besser wurde, die neue Leichtigkeit des Lebens, »kulturrevolutionierten« sie nach fremden Vorbildern. Seit eh und je weise ich darauf hin, dass die 68er nicht die Erfinder der Aufarbeitung der Nazizeit sind, dass diese Aufarbeitung in Westdeutschland vorher begann und bei den 68ern lange Zeit nicht im Fokus stand. Dieses Thema entdeckten sie erst viel später und behandelten es oft allzu taktisch. Auch hierauf weisen immer mehr Alt-68er heute selbstkritisch hin, wie sie auch seit Längerem mühsam eingestehen, dass sie in Mao Zedong einem Rattenfänger und Despoten gigantischen Ausmaßes hinterhergelaufen sind.

Der Mao-Anhänger Rudi Dutschke war nicht nur ein Charismatiker, er war auch ein ausgesprochen sympathischer Mensch im persönlichen Umgang. Für die Revolution, die er wollte, war er womöglich zu weich. Dennoch gilt: Wer heute eine der noch besten Reden Rudi Dutschkes anschaut, kann angesichts des ideologischen Unsinns, in den er sich hineingesteigert hatte, fast schon Mitleid mit Dutschke und seinen Anhängern empfinden. Gleichwohl haben sich die damals entzündeten Ideologien der Westlinken in den letzten fünfzig Jahren zum gesellschaftlichen Leitbild entwickelt. 68 ist zur »Leitkultur« des Westens geworden. 68 ist also tatsächlich immer noch ein brennendes Thema. Dieses Buch handelt von den pop-kommunistischen Blessuren der Bundesrepublik, die sich von den Nachwirkungen der adaptierten »Kulturrevolution« selber nicht mehr befreien kann. Deswegen betrachte ich hier noch einmal die Zeit des ideologischen Urknalls, der die Gesellschaft seither antreibt, und erzähle am Beispiel meiner Familie die Geschichte von 68 neu. Wer die Politik heute verstehen will, findet einen guten Einstieg, wenn er sich den Anfang der Geschichte noch einmal genau ansieht.

Sehr oft werde ich nach meiner Zwillingsschwester gefragt, danach, wie sie alles erlebt und erfahren hat. Immerhin, es geht auch um ihren Vater, ihre Mutter, ihre Schwester, nämlich mich, und sie selbst. Dazu möchte ich sagen: Sie war zwar in fast allen Situationen, die ich beschreibe, dabei, aber natürlich hat sie ihre eigene Sicht auf die vielen Themen, Menschen und Ereignisse, die in diesem Buch vorkommen. Bei meiner Schwester möchte ich mich dafür bedanken, dass sie zustimmte, die vielen bisher unveröffentlichten Dokumente über und von Meinhof, die auch ihr als Miterbin gehören, zu verwenden und hier erstmalig zu veröffentlichen.

17.2.2018

Bettina Röhl

ESSAY I

Die beste Bundesrepublik aller Zeiten

Die Bundesrepublik der Sechziger- und Siebzigerjahre war ein Glücksfall in der deutschen Geschichte. Die junge Bundesrepublik hatte Glück. Vielleicht in dem Ausmaß, in welchem sie es hatte, nicht verdient, aber doch selbst erarbeitet. Nach den Schrecken der Nazizeit hatte sie, anders als die DDR, das Glück, im Westen Deutschlands zu liegen und Teil der westlichen Allianz zu werden. Vom Start an hatte sie Glück mit der Einführung der D-Mark am 20. Juni 1948 und einem gelungenen Grundgesetz, mit dessen Inkrafttreten im Mai 1949 die eigentliche Existenz der Bundesrepublik ihren Anfang nahm.

Auch mit ihrem ersten Kanzler, Konrad Adenauer, der am 15. September 1949 mit einer Stimme Mehrheit vom Bundestag gewählt wurde, hatte die Bundesrepublik Glück. Glück hatte sie auch mit dem ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss, mit dem die Bundesrepublik zugleich einen starken Gegenpart zum machtbewussten Adenauer besaß.

Die wirtschaftliche Entwicklung aus den Trümmern des Krieges in den Fünfzigerjahren war atemberaubend. Bereits 1960 war die Bundesrepublik die zweitgrößte Industrienation hinter den USA, Vollbeschäftigung war erreicht.

Um die Qualität dieses wirtschaftlichen Aufschwungs aus zerstörten Industrieanlagen, den zerstörten Häfen Hamburg und Bremen, zerstörten Innenstädten und dem zerstörten Wohnraum – circa 25 % aller Wohnungen in Westdeutschland lagen nach dem Krieg in Schutt und Asche – zu verstehen, ist eine demografische Ergänzung zur bloßen Feststellung dieses Aufschwungs hilfreich; man muss sich vorstellen, wie viele Millionen Menschen in diesen Jahren zusätzlich auf den Arbeitsmarkt strömten und Arbeit fanden, um die Dimension der geschaffenen Arbeitsplätze zu begreifen:

Die Bundesrepublik erlebte bis 1961 einen Zuzug von 3,1 Millionen Menschen aus der DDR und insgesamt 8 Millionen Menschen seit 1945 aus den früheren deutschen Ostgebieten und etlichen osteuropäischen Ländern. Diese Menschen, die durch Flucht, Vertreibung und schließlich die unerträglichen Lebensbedingungen in den Nachkriegsjahren im Bereich dessen, was später der Ostblock genannt wurde, in die Bundesrepublik strömten, mussten in Wirtschaft und Gesellschaft integriert werden, und das in einer Zeit, in der durch neue Techniken zum ersten Mal Arbeitsplätze in größerem Stil wegrationalisiert wurden. In der Landwirtschaft war der Verlust an Arbeitsplätzen aufgrund neuer Maschinen besonders krass, aber auch die dadurch betroffenen Menschen wurden sofort mit Arbeit versorgt.

Dazu kam: Bereits 1955 wurde das erste Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Italien, auch und besonders auf Wunsch Italiens, von Bundeskanzler Adenauer in Rom unterzeichnet, die erste Anwerbung von sogenannten Gastarbeitern aus Italien begann. Es folgten entsprechende Abkommen mit Spanien (1960), Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Südkorea (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Erst 1973 gab es unter der sozialliberalen Koalition einen Anwerbestopp. Danach begann bei den »Gastarbeitern«, die blieben, also nicht mehr Gast sein wollten, die große Welle des Familiennachzugs.

Bereits 1964 wurde der einmillionste Gastarbeiter, ein Portugiese, in der Bundesrepublik gezählt. 1973 lebten per Saldo knapp 4 Millionen ausländische Arbeitssuchende in der Bundesrepublik, eine teils größere Fluktuation eingerechnet.

Trotz all dieser Manpower überstieg die Zahl der offenen Stellen in der Bundesrepublik einige Jahre lang die Zahl der Arbeitslosen im Land. Es gab in der Spitze über weite Strecken bis zu einer Million offene Stellen, was die Arbeitslosenzahlen im Zeitraum zwischen 1960 und 1973 von circa 155000 bis 250000 (von der leichten wirtschaftlichen Delle von 1967 und 1968, wo es bis zu 460000 Arbeitslose gab, abgesehen) in einem anderen Licht erscheinen lässt. Unter dem ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt stieg die Arbeitslosigkeit ab 1973 dann erstmalig wieder an, doch der Wirtschaftsboom lief unverwüstlich weiter.

Der berühmte Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit war in diesen Jahren regelrecht aufgelöst, die Waage zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern war sehr sozial ausgeglichen. Das Bruttosozialprodukt stieg in rasantem Tempo. Die Investitionssteuer – ja, es gab eine Investitionssteuer – wurde von Mai 73 bis November 73 als kurzzeitiges Wirtschaftssteuerungsinstrument eingeführt, um das überschäumende Wirtschaftswachstum herunterzumoderieren. Der weltweite Ölschock von 1972, als die Ölförderländer den Westen seine Abhängigkeit vom schwarzen Gold spüren ließen und eine massive Verknappung des Rohstoffes drohte, hatte die Volkswirtschaften des Westens schwer getroffen. Nichtsdestotrotz lief die Wirtschaft nach kurzer Zeit wieder auf Hochtouren, um nicht zu sagen übertourig. Deswegen sollte mit der Investitionssteuer von 1973 die Investitionstätigkeit der Wirtschaft auf ein niedrigeres Niveau heruntergefahren werden.

Inflation, heutzutage zu einem Synonym für öffentliche Schuldentilgung geworden, galt damals als Feind wirtschaftlicher Stabilität. Nach kapitalistischen Marktgesetzen war es unvermeidlich, dass es den Arbeitnehmern in der Bundesrepublik prächtig ging. Und noch mal: Über viele Jahre hinweg gab es in der Bundesrepublik Vollbeschäftigung und einen teils millionenschweren Überhang an offenen Stellen. Und was Vollbeschäftigung nach Marktgesetzen zwangsläufig wirklich bedeutete, kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen:

Nicht erst heute sucht die Wirtschaft angeblich oder tatsächlich dringend Arbeits- und Fachkräfte. Nein, damals gab es einen ausgesprochenen Arbeitnehmermarkt, der jenseits aller Gesetzeslagen die Machtverhältnisse Richtung Arbeitnehmerseite austarierte, und dies trotz der massenhaften Anwerbung sogenannter Gastarbeiter. Die Gewerkschaften, denen die Arbeitnehmer damals noch vielfach die Treue hielten, waren mächtig wie nie.

Die Lohnzuwächse waren erheblich, und auch derjenige, der am Fließband malochte, gönnte sich nach Kühlschrank, Waschmaschine und dem ersten Farbfernseher die regelmäßigen Flug- oder Autoreisen in den sonnigen Süden. Mallorca war schon Mitte der Sechzigerjahre zur »Hausfrauen- und Sekretärinnen-Insel«, zum Urlaubsparadies für jedermann geworden. So sehr, dass es fast ausgeschlossen schien, dass es auf der Baleareninsel noch einmal einen Luxusboom obendrauf geben könnte, wie er seit den Neunzigerjahren zu beobachten ist.

Das Arbeitsrecht entfaltete auch dank einer sich plötzlich besonders arbeitnehmerfreundlich gerierenden Richterschaft eine enorme Wirkung, und zwar zugunsten der Arbeit und zulasten des Kapitals. Das große Thema der Mitbestimmung entwickelte sich, die Betriebsräte wurden immer mächtiger. »Chef, gib mir meine Papiere, ich hab was Besseres!« oder »Das oder du passt mir nicht mehr!« – das war Standard. Die ersten Taschengeld-verwöhnten Generationen von Schülern und Studenten konnten, wenn ihnen danach war, Geld generieren, wann und wo immer sie wollten. Die Jobs für sie lagen im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße und wurden gut bezahlt.

Rasantes Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und die damit einhergehende Euphorie, die Veränderung des Lebensstandards und Lebensstils beherrschten das wirtschaftliche und gesellschaftliche Geschehen im Land über Jahrzehnte. Auch wenn der Blick auf die Arbeitslosenquote, also auf die Prozentzahl allein, problematisch ist, weil man unvergleichbare Verhältnisse leicht gleichsetzen könnte, lässt sich per Saldo doch das Bild eines historischen Glückszustandes namens Bundesrepublik Deutschland zeichnen, und entsprechend war die Stimmung: ausgelassene Sorglosigkeit mit der Aussicht »für immer«.

Es war die Blütezeit der besten Republik, die es auf deutschem Boden je gab. Das Hauptproblem der Zeit war, dass es kein Problem gab. Natürlich ist nichts so gut, als dass es nicht noch verbessert werden könnte. Auch in dieser herrlichen Bundesrepublik gab es Menschen, die auf der Schattenseite lebten. Die Zahl der abgehängten Menschen war allerdings kleiner als zuvor und sehr viel kleiner als heutzutage.

Die Menschen hatten ihre persönlichen Träume von noch mehr Wohlstand, noch mehr Freizeit, aber auch von Bildung für jedermann: Die Abiturientenzahlen stiegen Jahr für Jahr.

Aufstieg, Karriere und die touristische Eroberung der Welt beschäftigten die Menschen. BIP und Wachstum stimmten und dito die Demografie. Eine ausgelassene Sorglosigkeit mit der Aussicht, dass dies jetzt für immer so bleiben und sogar noch besser werden würde, war das Grundgefühl der Zeit, und diese positive Aufstiegsstimmung half auch denjenigen Menschen, wieder Tritt zu fassen, die persönliche Probleme oder Schicksalsschläge erlitten hatten.

Man ging ins Kino, die Theater waren voll, das Sportangebot stieg, diversifizierte sich und wurde immer luxuriöser. Die Mode wurde internationaler, bunter, Musik spielte eine immer wichtigere Rolle.

Mit den ersten italienischen Gastarbeitern kamen Ende der Fünfzigerjahre die ersten kleinen Pizzerien auf. Man ging plötzlich zum »Italiener«, damals noch nicht »Edelitaliener«, aber wahnsinnig nett, persönlich und zuvorkommend. Pizza, Spaghetti und Chianti für wenig Geld schmeckten den Deutschen irrsinnig gut. Hier bahnte sich eine kleine Revolution der Esskultur an. Dann schossen auch griechische und chinesische Restaurants aus dem Boden. Neu, erschwinglich und enthusiasmierend waren die ersten Besuche in diesen kleinen Familienbetrieben, die bald in jeder Kleinstadt zu finden waren.

Waren die Flugreisen in die gelobten, gehassten USA zu Beginn der Sechzigerjahre noch horrend teuer – sie kosteten nicht sehr viel weniger als ein VW-Käfer –, konnten sich Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger plötzlich Schüler und Studenten einen Urlaubsflug in die Staaten leisten. Stichwort ABC-Flüge, Advanced Booking Charter.

Das Studium, meist das Wunschstudium, dauerte so lange, wie die Studierenden Lust hatten. Ein Autoleben war dagegen relativ kurz, mit der fantastischen Folge, dass die Autos, die auf schnellen Konsum hin gebaut wurden, dank eines schnellen Wertverfalls zu einem Gegenstand wurden, den sich Studenten problemlos selber erarbeiten konnten, manchmal sogar ältere Schüler.

Und die Studentenbude war angesichts der explodierenden Studentenzahlen zwar nichts mehr, was einem hinterhergetragen wurde, aber Wohnraum für Studenten war im Vergleich mit heute deutlich bezahlbarer, und wer zum Studieren oder zur Wehrdienstvermeidung nach Westberlin ging, fand immer ein Zimmer, meist in den großen Wohnungen und später auch in Wohngemeinschaften, die den schönen Berliner Altbaubestand, der den Krieg überlebt hatte, herunterwirtschafteten.

Die jungen Leute, vor allem die akademische Jugend, fanden damals paradiesische Verhältnisse vor, inklusive bester Aussichten auf einen gelungenen Einstieg in das Berufsleben, und sei es in Gestalt eines langen Marsches durch die Institutionen. Damals war Partytime. Man war privater als heute, und Party hieß Freundeskreis, hieß Einladung, hieß Privatfeiern. Die heutige Eventkultur braucht Tausende von Hilfsmitteln, um die Menschen zusammenzubringen, die 68er feierten individueller, aber umso mehr.

Und: Es gab keine No-go-Areas. Allerdings gibt es die, wie man hört, ja heute auch nicht.

So ist das eben, wenn Vollbeschäftigung herrscht und Arbeitskräfte Mangelware sind, wenn die Arbeit also mehr wert ist als das Kapital. Also, Vollbeschäftigung, Vollbeschäftigung, Vollbeschäftigung – das war das entscheidende Momentum dafür, wie Wohlstand und Wohlstandsverteilung eine Gesellschaft, die diesen Zustand für selbstverständlich hält, in einen euphorischen und allemal wünschenswerten Zustand versetzt.

Dem bundesrepublikanischen 68er (die in den Sechzigerjahren Jugendliche oder junge Erwachsene waren) ging es fantastisch. Die gleichaltrigen Brüder und Schwestern auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, der, mit selbstschießenden Mordwaffen und schießenden Grenzern bewacht, im Kalten Krieg die östliche und die westliche Hemisphäre voneinander trennte, waren dagegen die großen Verlierer der Zeit und dieses Teils der Weltgeschichte. Sie waren die großen Verlierer des Zweiten Weltkriegs und des ideologischen Experiments des real existierenden Sozialismus/Kommunismus.

Die sogenannte 68er-Generation hatte in der Bundesrepublik die absolute Glückskarte gezogen. Selber zum großen Teil Babyboomer, erlebten sie den Rausch des wirtschaftlichen Booms der Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahre. Die ersten Weltreisen führten die damaligen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu spannenden Abenteuern in noch nicht massentouristisch durchgestylte Länder, Gesellschaften und Strukturen. Und zu dem breit sozialisierten Glück trugen auch die kulturellen Impulse der Amerikaner und ihrer Westalliierten bei. Sie waren nicht nur der Garant für die demokratisch-rechtsstaatliche und sozialstaatliche Initialzündung (Grundgesetz) in der Bundesrepublik. Sie brachten den Swing, den Jazz, die Rock- und die Popmusik. Auch die Bewegungen der Avantgarden wie der Blumenkinder, Summerhill, der Hippies, der Beatniks, der Existenzialisten kamen aus Kalifornien, aus New York, London und Paris nach Deutschland. Die Symbolhose namens Jeans feierte ihren Durchbruch.

US-Präsident John F. Kennedy, ein kapitalistischer Großerbe eines mit zweifelhaften Methoden erworbenen Vermögens von Papa Joseph, hatte die Deutschen 1963 mit seinen beiden kleinen Sätzen »Kölle alaaf« und »Ich bin ein Berliner« in Verzücken versetzt und gleichsam ein bisschen Hollywood in den Kalten Krieg gebracht und einen neuen Politikertypus etabliert. Mit seinem Ausspruch »Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern frag, was du für dein Land tun kannst« hatte Kennedy die Jugend nicht nur in den USA, sondern auch in Westeuropa begeistert. Kennedy hat den Vietnamkrieg Anfang der Sechzigerjahre forciert und die USA tiefer in den ursprünglich französisch-vietnamesischen Konflikt hineinverstrickt. Auch in der Rassenfrage, dem Konflikt zwischen den weißen und den schwarzen US-Amerikanern, hatte Kennedy keine glückliche Hand. Gleichwohl wurde Kennedy, der das bürgerliche Deutschland mitgerissen hatte, schnell zu einem Idol der jungen Generation in der Bundesrepublik und weltweit. Das junge und glamouröse Präsidentenpaar verkörperte einen Aufbruch, wohin auch immer.

Der Westen und die Avantgarde

Klassisch erhebt das, was man das linke Lager nennen könnte, einen Monopolanspruch auf den Avantgardismus. Tatsächlich aber war mit der Russischen Revolution, später mit dem Stalinismus und ganz besonders auch mit dem Maoismus der Avantgardismus im Osten tot. Seit dem Zweiten Weltkrieg nichts Neues im Osten. Im Westen dagegen explodierten die Kultur und die Subkultur in ekstatischer Weise. Dank der rasend schnellen Entwicklung der Technik verfügte bald jeder Jugendliche über einen eigenen Plattenspieler, ein eigenes Radio und hatte Zugriff auf einen Fernseher und ein Telefon (damals noch mit Wählscheibe). Die allgemeine Mobilität stieg rasant, und so konnten die Menschen mit ihrer neu gewonnenen Freizeit (40-Stunden-Woche, der freie Samstag, bald auch in der Schule, sechs Wochen Urlaub usw.) auch gleich etwas anfangen. Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld und gute Löhne ermöglichten Reisen, Klamotten, Konsum und auch den Konsum der neuen kulturellen Angebote: Pop-Art, Nouvelle Vague, Bildungsreisen, Comics, Zeitschriften, Fernsehserien, Fernsehshows. Neue Genres wie der Western oder die vielen Fernsehserien für Kinder und Erwachsene kamen nach Deutschland und wurden über Nacht selbstverständlich.

Und das Schönste waren die ungeheure Liberalität und Großzügigkeit, die sich seit den Fünfzigerjahren in Deutschland entwickelten; sie waren auch der angelsächsischen Lässigkeit, dem französischen Charme und den vielen anderen Einflüssen aus Skandinavien und Italien geschuldet, aber eben auch der hier immer wieder hervorzuhebenden wirtschaftlichen Prosperität und ganz besonders der Vollbeschäftigung. Die Lohnzuwächse, also der wirtschaftliche Aufstieg und damit die Euphorie waren ganz essenziell für die damalige Zeit. Und ein besonderer i-Punkt obendrauf waren die bis dahin von noch keiner Jugend derartig frei ausgelebten eigenen Moden, Attitüden, Ansichten, Verhaltensweisen usw. in antagonistischer Abgrenzung gegenüber den Altvorderen.

Und es gab eine faktische Freiheit, die inzwischen von der Durchcomputerisierung der Gesellschaft und auch von der Computerisierung in den Köpfen erwürgt wird. Will sagen: Der heutige Mensch ist ein »gläserner Mensch«. Dein Finanzamt weiß alles über dich, deine Bank, dein Einwohnermeldeamt weiß alles über dich. Die Auskunfteien, Schufa, Kreditreform etc. wissen alles. Deine Universität, deine Schule, dein Arbeitgeber, deine Polizei, sie alle kennen dich durch und durch. Deine örtlich zuständige Behörde weiß alles, und damit weiß auch jede andere Behörde alles, und das große Computersystem wird immer europäischer und immer globaler. Das Netz wird enger und mit der Abschaffung des Bargeldes wird die faktische Freiheit gänzlich beseitigt. Die 68er hätten ihren Lebensstil, mal irgendwo wohnen, mal irgendwo arbeiten, mal sich irgendwo zum Schein anmelden, mal irgendwo ein paar Monate aussteigen, mal irgendwo studieren, mal ein bisschen Sprengstoff hin und her transportieren, mal irgendwo ein bisschen Terror machen, heutzutage nicht so stressfrei und entspannt auskosten können, wie sie es damals konnten.

Rasen betreten verboten

Die Kriegsgenerationen, geprägt durch Naziterror, Entbehrungen, Kriegserfahrungen und ungeheure wirtschaftliche Depressionen und jetzt hineingeworfen in einen ebenso ungeheuren Wirtschaftsaufschwung und Wohlstand, empfanden naturgemäß Dinge, die sie in ihrer eigenen Jugend vielleicht selber getan hatten oder gern getan hätten, als ungehörig, wenn sie nun von den jungen Leuten kamen. Lange Haare, laute, ihnen fremde Musik, »Herumgammeln« in der Freizeit, Miniröcke, Jeans, Coca-Cola, all das war suspekt und empörend. Das allerdings war nicht mehr als die typische Reaktion jeder älteren Generation, die ja auch immer ein bisschen neidisch auf die jüngere Generation ist und auch nicht gern zuschaut, wie ihre eigene Macht an die nachfolgende Generation übergeht. Auch der neue Luxus, in dem die jüngere Generation spätestens seit Beginn der Sechzigerjahre aufwuchs, ohne naturgemäß einen Handschlag dafür getan zu haben, mag manchen Neid der Älteren erzeugt haben.

Beispiel: Der Hamburger Stadtpark. Schon seit Kaisers Tagen war der Stadtpark ein echter Volkspark. Wald und Wiesen, Blumen, Büsche und viele Flächen zum Bespielen oder zum Ansehen. Flächen für Ruhe und Flächen für das laute Sport- oder Familienvergnügen. Da gab es den französischen Garten, die englische Landschaft, Wasserspiele, einen Schwimmbereich. Es gab Rasenflächen zum Angucken und Rasenflächen, um darauf herumzurasen, Fußball zu spielen oder sich dort mit der damals üblichen Picknickdecke ein paar Stunden aufzuhalten.

Klar, auch wenn es nirgends dranstand, niemand durfte die Bäume eigenmächtig fällen oder in Brand setzen, niemand durfte die Büsche oder die Blumen klauen oder vergiften, niemand die Goldfische grillen. Das stand nicht überall dran, das war Konsens. Die Rasenflächen, die zur Landschaftsgestaltung gehörten und deswegen als Rasenflächen nicht zertrampelt werden sollten, wurden bald durch die berühmt-berüchtigten kleinen Schildchen »Rasen betreten verboten« gesichert.

Das Kultur- bzw. Un-Kulturproblem, der Rocker, war auf Tabubruch gebürstet, war unpolitisch. Da musste schon manch eine Rasenfläche der Kategorie »Bitte nicht betreten« gelegentlich dran glauben. Das führte bei vernünftiger Betrachtung und durchaus zu Recht zu Ärger. Das »Rasen-nicht-betreten«-Schild1 allen Ernstes als das Symbol eines »bösartigen Hoheitsaktes« und einer »repressiven« und »gleichgültigen« Gesellschaft auszumachen, wie es die späteren sogenannten 68er taten, wollen wir großzügig als den Infantilismus verbuchen, der auch zu den Privilegien einer jungen Generation gehört. Man will halt als junger Erwachsener gelegentlich am liebsten genau das tun, was »verboten« ist.

Drogen

Ohne Zweifel, die real existierende und wachsende Liberalität in den Sechzigerjahren produzierte schnell die bis heute immer noch verharmloste Schattenseite eines ungesunden Verhältnisses zu Drogen und zu einem ungesunden Ausmaß an Drogenkonsum, der Ende der Sechziger hoch in Mode kam und dann überschäumte. Der geradezu politisierte Überbau, der damals sogar in den öffentlich-rechtlichen Medien, die noch eine Monopolstellung hatten, in einschlägigen Sendungen verbreitet wurde, gipfelte trotz aller Skepsis, aller Warnungen und aller Kritik unter anderem in der Formel, dass Drogen eine geradezu fantastische Bewusstseinserweiterung politisch, persönlich und natürlich sexuell bewirkten.

Gesellschaft und Staat waren damals de facto so liberal, dass nicht einmal kriminelle Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz adäquat geahndet wurden. Wie sonst ist es zu erklären, dass der Drogenkonsum in den späten Sechzigern und in den Siebzigern ein derartiges Ausmaß annehmen konnte? Wie sonst sollte damals in der angeblich so »repressiven«, »polizeistaatähnlichen« Situation eine derartige Verbreitung des Drogenkonsums überhaupt möglich gewesen sein, wenn nicht ein großes Laissez-faire des Staates an den Tag gelegt worden wäre? In den gelobten Ländern der menschenverachtenden, unrechtsstaatlichen Ostblocksysteme hatte kein Drogendealer den Hauch einer Chance. Nur in der Bundesrepublik, und vergleichbar in anderen westlichen Ländern, gab es diese Form des Drogenproblems, und zwar aus falsch verstandener Liberalität.

Sexuelle Revolution

Seit Mitte der Sechzigerjahre revolutionierte die für jedermann erhältliche Antibabypille zunehmend das Sexualleben der Gesellschaft. Erste Sexwellen schwappten in den Sechzigerjahren über das Land, der Minirock wurde immer kürzer. In Kampen auf Sylt, Timmendorfer Strand, Saint-Tropez und sonst wo sonnte sich die Damenwelt ganz selbstverständlich (an den Textilstränden) oben ohne. Popkultur, Pop-Art, Hippies (Flower-Power) und die sogenannte sexuelle Revolution bewegten die Gesellschaft durch alle Schichten hindurch. Über Pornografie oder die Sexläden von Beate Uhse regte sich bald niemand mehr auf. Und nicht etwa nur Zeitschriften wie Playboy und Penthouse warben mit nacktem Busen auf den Titelseiten. Verdammt viel Nacktheit gab es spätestens ab den Siebzigern in den Hochglanzmassenmedien wie stern, Spiegel usw. Und natürlich auch in der Studentenzeitschrift konkret.

Dank des medizinischen Fortschritts schien es eine Weile so, als ob infektiöse Begleiterscheinungen der freien Liebe mit wechselnden Partnern ihren früheren Schrecken verloren hätten. Das machte die Liebe für eine ganze Zeit noch ein Stück unbeschwerter als zuvor und auch als heutzutage.

Der heilige deutsche »Tatort«, der allsonntäglich auch damals schon im Monopolprogramm des Ersten Deutschen Fernsehens über die zunehmend bunt werdende Mattscheibe flimmerte, kam über einige Jahre nicht ohne die wohlgeformten Brüste einer hübschen Frau aus.

Nicht überall war die Liberalität schon angekommen

Der erste Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, war bei den Westalliierten, die unter eigenen erheblichen Opfern die Menschheit und Deutschland von der Naziherrschaft befreit hatten, und auch vom Staat Israel als Demokrat westlichen Zuschnitts respektiert. Er schwor, gegen den Widerstand großer Teile des linken Lagers, die Bundesrepublik auf den Kurs einer Westbindung ein. Etwas Besseres hätte der Bundesrepublik zu dieser Zeit nicht passieren können. Letzten Endes der besonderen Situation des Kalten Krieges geschuldet, hatte die BRD in dieser Zeit das Glück, ihr berühmtes »Wirtschaftswunder« zu entwickeln.

Nicht nur, aber doch ganz wesentlich wegen der Geldmittel, die aus dem berühmten Marshallplan nach Deutschland geflossen waren, so die gängige Geschichtsschreibung, sei die Bundesrepublik wirtschaftlich so schnell wieder auf die Beine gekommen. Tatsächlich zündete die Marshallhilfe in Deutschland ganz anders als in den meisten anderen europäischen Ländern. Die Griechen bekamen zum Beispiel pro Kopf eine etwas höhere Marshallstarthilfe als die Deutschen, die aber in Griechenland vollkommen versickert ist. Der Wille der Bundesbürger, wirtschaftlich, aber eben auch nicht nur wirtschaftlich neu zu starten, war groß, und das machte die ungeheure Stabilität der jungen Bundesrepublik aus, was einen politischen Wert an sich darstellt.

Die viel beschworene Arbeiterklasse war hochzufrieden und hatte sich bereits in den Fünfziger- und Sechzigerjahren von so manch kommunistischer Einwirkung2 nicht beirren lassen und bot keinerlei revolutionäres Potenzial für den Protest der Neuen Linken, die sich Anfang der Sechzigerjahre in den USA und auch in Westeuropa zu entwickeln begann. Auch die bürgerliche Gesellschaft war, von avantgardistischen Ausnahmen abgesehen, nicht revolutionsbereit. Das »System« stand für den Umsturz leider nicht zur Verfügung. Das Grundgesetz mit seinen rechts- und sozialstaatlichen Errungenschaften musste seit 1949 zwar noch mit Leben erfüllt werden, aber es trug. Und das Leben in der Bundesrepublik war für die meisten Menschen, die damals noch sehr bescheiden waren, sehr lebenswert. Auch der zweite Kanzler, Ludwig Erhard, war ein wirtschaftsliberaler weltoffener Politiker, dem die Sozialisierung des Wohlstands, also Verteilungsgerechtigkeit, so wichtig war wie das Leistungsprinzip.

Ohne Frage war die Liberalität der Bundesrepublik nicht überall angekommen. Die katholische Kirche, die sich etwas resistenter gegen die Naziherrschaft erwiesen hatte als die evangelische, die sich später schnell links anbiederte, war nicht gerade die modernste und liberalste Organisation. Recht und Ordnung in einem tradierten patriarchalen Sinn erwiesen sich als durchaus resistent. Es gab in Deutschland, wie in allen westlichen Ländern, in den Institutionen und auch in vielen Familien tradierte autoritäre Strukturen, deren Zeit allerdings abgelaufen war. Eine allgemeine Anpassung an die überkommene Ordnung war Konsens. Darin unterschied sich die Bundesrepublik nicht von den anderen Ländern des Westens.

Das Heimwesen, in denen Waisenkinder, schwer erziehbare Kinder oder sonst aus dem Raster gefallene junge Menschen lebten, war punktuell wenig menschenfreundlich. Und dies war nicht nur der zwölf Jahre währenden Naziherrschaft geschuldet, sondern Ausdruck einer noch viel älteren, obrigkeitsstaatlichen Grundhaltung vieler Menschen, mit der sie schon in die Nazizeit hineingegangen waren. Diese Angepasstheit an die Obrigkeit war keine deutsche Besonderheit. Auch in Frankreich, Italien, Österreich, England und überall sonst herrschten tradierte gesellschaftliche Hierarchien. Auch dort gab es in den Heimen, aber auch in den Schulen, in Internaten und in vielen Familien teilweise sehr rückständige Strukturen. Die körperliche Züchtigung von Schülern währte in England und Frankreich alles in allem länger als in Deutschland. Und nirgends in der Ersten Welt gab es so viel Leid an den Unterbringungsorten oder Verweilorten von aus der Gesellschaft herausgefallenen jungen Menschen wie in der DDR und den anderen Ländern der Comecon-Staaten. Ganz zu schweigen von den Heimsituationen in Nordvietnam, China, Nordkorea und sonstigen kommunistischen Horrordiktaturen, die damals von der APO als die gelobten Länder gepriesen wurden. Das alles ist keine Freizeichnung für Missstände in der Bundesrepublik. Nur im Namen von Mao Zedong, Ho Chi Minh, Che Guevara, Lenin die Bundesrepublik zerstören zu wollen, um eine menschlichere Gesellschaft zu formen, das liegt sowohl intellektuell als auch emotional jenseits der Grenze des Komplettirrsinns.

Die Nazis waren, möchte ich einmal in Anlehnung an Hannah Arendt sagen, viel zu banal, als dass sie in zwölf Jahren einen neuen Nazimenschen geschaffen haben können. Es ist also zu billig, die Elterngeneration als Immer-schon-Nazi und Für-immer-Nazi bleibend zu verbösern und dann Jahrzehnte nach Hitler den heldenhaften Widerstandskampf zu zelebrieren. Das war auch nicht sonderlich mutig. Und die Nazi-Karte haben die 68er, historisch gesehen, auch erst zweitrangig gespielt. Ihr erster Ansatz waren Marx und Co., war die kommunistische und sozialistische Revolution. Die Protestkultur oder Unkultur mit einem sehr ähnlichen Ansatz wie in Deutschland gab es auch andernorts im Westen, sogar in Japan, das ich auch einmal in diesem Zusammenhang zum westlichen Kulturkreis rechnen möchte. Die Nazis waren mitnichten der Protestauslöser, aber ein probater Protestverstärker. Die Verfolgung schuldig gewordener Nazis durch den Rechtsstaat Bundesrepublik war eine Mammutaufgabe, die gar nicht so perfekt gelöst werden konnte, wie es moralisch geboten war. Auch im öffentlich-rechtlichen Bereich dachten viele Staatsdiener unmodern. Und natürlich gab es auch noch Schuldige in den Ämtern.

Es war im goldenen Zeitalter der Bundesrepublik der Sechzigerjahre nicht alles Gold, und auch nicht alles, was glänzte, war Gold. Im Vergleich zu anderen westlichen Demokratien stand die Bundesrepublik jedoch nicht nur in Sachen Bildung und Produktivität und Exportleistung, sondern auch was ihre Verfassungsstabilität anbelangt, gut da.

Auch der Rechtsstaat, und der hieß Bundesrepublik Deutschland, funktionierte gut, auch wenn dies für viele Ohren heute ungewöhnlich klingt, da in den letzten 50 Jahren tonnenweise Literatur veröffentlicht wurde, die den Rechtsstaat Bundesrepublik – in den Fünfzigerjahren wegen des KPD-Verbots und der entsprechenden Verfahren gegen Kommunisten, dann wegen der zahlreichen Verfahren gegen die 68er und schließlich gegen die RAF (»Stammheim-Prozess« o. Ä.) – in maßloser Weise zu einem regelrecht faschistischen Unrechtsstaat runtermacht.

Unrechtsurteile gibt es. So war zum Beispiel der Freispruch für den Polizisten Karl-Heinz Kurras, der den Studenten Benno Ohnesorg 1967 nach einer Demonstration gegen den Schahbesuch erschoss und Jahrzehnte später als Stasi-Mann entlarvt wurde, sicher mehr als zweifelhaft, aber die Bundesrepublik war deshalb kein Unrechtsstaat. Wenn es eine Zeit gab, in der die Justiz funktionierte, dann waren es die Sechziger- und Siebzigerjahre. Selbst einzelne Richter mit oft unerkannter Nazivergangenheit machten aus der Bundesrepublik keinen Unrechtsstaat. Man schaue sich zum Beispiel die sehr liberale Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes von damals an. Die muss sich in keiner Weise verstecken. Es gab keine Orientierung an der heute allgegenwärtigen politischen Korrektheit, deren Existenz von den Korrekten natürlich geleugnet wird.

Was die Urteile und Verfahren gegen die teils sehr gewalttätigen und terroristischen Spitzenleute der APO und später der RAF und anderer Terrorgruppierungen aus den Siebzigerjahren angeht, weiß man längst, dass die Bundesrepublik bis heute eher moderat agierte und agiert. Tausende von straffällig gewordenen 68ern kamen bereits 1970 in den Genuss einer eigens für sie geschaffenen Amnestie3 ihrer zahlreichen Straftaten, die sie bei den teils massiven Protesten 1967/68 und 69 verübt hatten. Eine Modernisierung des Demonstrationsstrafrechts wurde in die Wege geleitet. Alle Strafen, die unter acht Monaten Haft lagen, wurden amnestiert und damit circa 5000 junge Menschen, die ihre Chance auf den erwünschten Eintritt in den öffentlichen Dienst bereits verspielt hatten, wieder zurück in die Gesellschaft (und eben auch in den Staatsdienst) geholt, was zeigt, wie liberal der Rechtsstaat mit der Protestgeneration schon vor 50 Jahren umging. Auch die Linksterroristen aller Couleur wurden, wie man heute weiß, eher privilegiert behandelt. Es gab sogar die Zusammenlegung von Männern und Frauen, wovon Gefangene weltweit bis heute nur träumen können. Viele RAF-Gefangene wurden trotz schwerer Haftstrafen frühzeitig (privilegiert) begnadigt.

Brauchte die Bundesrepublik also eine »Revolution«? Ich behaupte nein. Ein Systemumsturz war in den westlichen Demokratien gerade nicht angesagt. Er war fehl am Platz, kontraproduktiv. Diese These habe ich am 8. 9. 2007 in einem Artikel für die Welt am Sonntag vertreten, wo ich die Frage stellte, die ich auch hier stellen möchte:

»Wo stünde die Bundesrepublik heute, wenn es die Destruktionswut der APO und der 68er, die zwischenzeitlich sogar einmal Bundesregierung waren, nicht gegeben hätte? Die Bundesrepublik in den Endsechziger- und Siebzigerjahren unter den Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt stand im Weltranking nicht nur ökonomisch ganz weit oben, sondern auch ideell-politisch in der Spitzengruppe. Die Bundesrepublik hatte im Vergleich zu anderen Staaten ein hohes Niveau, was Bildung und wirtschaftliche Teilhabe aller Bürger anbelangt. Sie war ein stabiler Rechtsstaat, eine stabile Demokratie und ein überbordender Sozial-, Kranken- und Rentnerversorgungsstaat. Vollbeschäftigung war gewährleistet. Die Bundesrepublik musste sich im Kalten Krieg behaupten und stellte sich dem Versuch der Bewältigung der Nazivergangenheit. Die Geschichte muss wieder auf die Füße gestellt werden.«4

Diese Frage hat auch Bundestagspräsident Norbert Lammert kurz danach, im Oktober 2007, in seiner Rede5 bei der Gedenkfeier für die Opfer der RAF mit Hinweis auf meinen Artikel aufgegriffen.

Das Jahr 68 und die Geschichtsschreibung

Die 68er selber sehen ihr Land, die Bundesrepublik Deutschland, jedoch ganz anders. Sie sehen nicht das von allen Historikern erkannte goldene Zeitalter von 1950 bis 1973 inklusive des kleinen wirtschaftlichen Knicks 1966, sie sehen nicht die Liberalisierung, den Beginn der Reformen in Bildung, Kindererziehung, Frauenemanzipation, die alle schon vor der großen Revolte von 68 in Gang gekommen waren – sie, die noch aktiven oder ehemaligen Lehrer, Politiker, Pastoren, Juristen, Journalisten, Professoren, Kulturbeflissenen und Schriftsteller, sehen und lehren es als eine ganz und gar furchtbare Zeit.

Der Grundtenor aller 50 Jahre alten, in Echtzeit historisierenden 68er-Beschreibungen und -Bewertungen, wie auch ganz aktueller Einordnungen, lautet fast zwanghaft stereotyp, dass die Bundesrepublik in den Fünfziger- und Sechzigerjahren dumpf, schwarz, braun, restaurativ, post- und neofaschistisch, verstaubt, verklemmt, schrecklich, unmenschlich, autoritär, obrigkeitsstaatlich, pseudoidyllisch und für junge Menschen lebenszerstörend gewesen sei, also fast ein Gulag, in dem die Sonne kaum durch die noch braunen Wolken hindurchscheinen konnte.

Diese historische Bewertung ist stets der Auftakt zu den Konglomeraten aus Berichten und Analysen, die dann folgen: Die 68er-Bewegung war notwendig, sie war der große Befreiungsschlag, sie war die Neugeburt der Bundesrepublik, die eigentliche Staatsgründung, die 1949 nur abstrakt im Gesetz gestanden hätte. Die Bücher, Filme, Artikel, Broschüren, Abhandlungen, Dokumentationen, Seminararbeiten, Zusammenstellungen, Kampagnen, die sich mit dem Thema 68, RAF und Co. befassen, füllen das Volumen ganzer Abraumhalden, die in den Bergbaugebieten dazu beitragen, dass sich die Erde senkt.

Darunter gibt es auch viel Kritik an 68, die allerdings letztlich stets der Glorifizierung oder Rettung der ideologischen Irrungen und Wirrungen und Aktionen dient. Der Grund dafür ist simpel: Mit selektiver, freiwilliger Selbstkritik von 68ern an »68« wird sich auseinandergesetzt, darüber wird diskutiert. Kritik von früheren oder späteren Gegnern von 68 wird als 68er-Bashing diskreditiert, ignoriert oder mit Hass verfolgt. Unabhängig davon, ob die 68er selber zugeben, wie es Thomas Schmid, früherer Frankfurter Sponti mit Sympathie für die RAF und später Chefredakteur und Herausgeber der WELT, getan hat, dass die früheren Gegner, konkret Axel Springer, sogar am Ende der Geschichte recht gehabt hätten, während man selber als 68er, der Springer bekämpft hatte, damals falschgelegen habe. Oder ein Peter Schneider, der konzedierte, dass man mit der Glorifizierung der Kulturrevolution in China verdammt falschgelegen habe: Kritik von außen wird als geradezu persönlich und unerträglich empfunden. Oft wird auch versucht, der Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen: Ja, das wissen wir schon lange, dass wir auch Fehler gemacht haben, das ist nichts Neues.

Die Geschichtsschreibung zum Thema der 68er-Bewegung liegt seit 50 Jahren fest in der Hand der inzwischen ebenfalls 50 Jahre älter gewordenen 68er aller Couleur. Auch alle Filme, Theaterstücke, Artikel, Romane, Bilder über das Thema 68, RAF, Alternative Kultur werden von früheren 68ern gemacht. Und diese Geschichtsschreibung beginnt stets mit demselben Märchen:

Es war einmal ein schrecklich’ Land namens Bundesrepublik Deutschland. Es herrschte zwar Vollbeschäftigung, und den Menschen ging es so gut wie nie zuvor, aber das war nebensächlich, es brachte niemandem Glück. Die Menschen lebten trotzdem wie aufgezogen, wie »gleichgeschaltet« (Marcuse) in einer kalten furchtbaren Konsumwelt (»Konsumterror«), die sie vollkommen von sich selbst und allem entfremdete, und die Idee, jeden Tag arbeiten gehen zu müssen, war für sie wie Folter. Ein ganzes Leben lang nur arbeiten, womöglich eine Familie haben, kleine Kinder, dieses schreckliche spießige falsche Familienglück, das empfanden sie alles nur als verlogene Enge, als den Horror, dem sie zu entfliehen suchten. Nie wieder wollten sie in einer solchen falschen bösen Idylle leben. Stattdessen wollten sie frei sein und high sein, forever young.

Trotz der anhaltenden wirtschaftlichen Hochkonjunktur, die mit der Währungsreform begann und erst 1973 endete und die natürlich auch danach noch weiterging, gab es noch Lehrer, die ihre Schüler anbrüllten, und noch Eltern, die sich über lange Haare, Beatmusik und Miniröcke aufregten. Und es gab auch noch Nazigrößen. Allerdings verfügten die über keinerlei gesellschaftliche Relevanz. Auch nicht während der kurzen und regionalen Blüte der NPD im Jahr 1967/68. Und immer wieder muss man betonen, dass die Protestler sich damals für die Nazivergangenheit der Elterngenerationen viel weniger interessiert haben, als sie es im Nachhinein behaupten.

Letztlich, so die 68er-Geschichtsschreibung, ging es allen Menschen in der Bundesrepublik schlecht. Die meisten wüssten es nur nicht, und die 68er sahen es als ihre Aufgabe an, es allen »bewusst zu machen«. Die jungen Leute, die dieses Bewusstsein erlangten, merkten plötzlich, sie haben »einen Hass«, ein Wort, das damals Mode wurde: »Ich hab’n Hass.« Einfach so gegen alles und nichts.

Und dann kamen die Erlöser aus dem Studentenmilieu, die sagten, dass alles ganz anders werden müsse, dass alles besser, freier, heller werden müsse, dass man sich von der Familie, den Eltern, den Autoritäten, dem Chef, der Regierung, von dem Zwang zu arbeiten, von dem Zwang, kleine Kinder zu haben, und von dem Zwang der Ehe, der Zweierbeziehung, befreien müsse und dass man das ab jetzt in die Welt hinausschreien und Aktionen machen müsse, um alle Alten und Jungen und die Regierenden darauf aufmerksam zu machen, dass ab sofort ein neuer Typus Mensch komme, dass die jüngere Generation alles besser und freier und schöner machen wolle und könne, und natürlich wolle man den Rasen mit dem Betreten-verboten-Schild endlich genüsslich zertrampeln, das sei jetzt politisch. Und dann kam Licht über uns, und das Licht hieß 68.

Die Entstehung der popkulturellen Luxus-Revolution

Wann beginnt »68«? Und was war los in dieser Zeit, als sich ganze Generationen so sehr ihrer Provokationswut, ihrem Hass auf alles widmeten? Als die 68er ihre Utopie eines neuen Menschen, der sie selbst sein wollten und zu dem sie den Rest der Gesellschaft umerziehen wollten, so wichtig nahmen, dass sie dafür die Zerstörung aller Traditionen, der Kultur, der Familie, des Systems und ihrer Gesellschaften nicht nur in Kauf nahmen, sondern großartig fanden und versuchten, diese Zerstörungen durchzusetzen?

Die sogenannte 68er-Bewegung begann Anfang der Sechzigerjahre mit der Entstehung der Neuen Linken, also mit einer neuen kommunistischen Utopie, die sich an China (und Kuba) und nicht mehr an der stalinistischen Sowjetunion (alte Linke) ausrichtete und die sich im Westen mit einer Art popkulturellen Luxus-Revolution vermischte. Eine neue Pop- und Rockmusik und die Erfindung der Antibabypille trafen in der Bundesrepublik auf die erste Nachkriegsjugend, die sich in dem wachsenden Wohlstand und den damit verbundenen individuellen Freiheiten vergleichsweise autonom bewegen konnte. Diese aus dem frühen Wirtschaftswunder stammende »Taschengeld«-Generation profitierte als erste von der Liberalisierungswelle, die der wachsende Wohlstand in die westlichen Demokratien brachte. Fast alle 68er-Köpfe erzählen in ihren zahlreichen Autobiografien schwärmerisch von ihren unbeschwerten und behüteten, meist vollkommen unpolitischen Jugendjahren in den Fünfzigern und Sechzigern zwischen Schule, Kinobesuchen, Tischtennis, Skiurlauben und ersten Auslandsreisen und unendlich vielen Privilegien und Freiheiten, die sie dann plötzlich die eigenen Elternhäuser als eng und unverständlich empfinden ließen.

Während die junge Generation in einen Rausch der Möglichkeiten fiel, geprägt von Mobilität, Geld, Reisen, Stipendien und sagenhaften Karriereaussichten, aber auch von ausgeflipptem Lebensstil und einer völlig neuen Unterhaltungsindustrie, Fernsehern, Plattenspielern, Tonbandgeräten usw., fühlten sich die Eltern womöglich etwas abgehängt und waren vielleicht auch ein wenig neidisch angesichts einer Jugend, die aus ihrer Sicht selber noch gar nichts geleistet hatte. Und die Eltern, die oft Krieg, Vertreibung, Täterschaft und Opfertum erlebt und den Wiederaufbau aktiv betrieben hatten, verstanden das Lebensgefühl ihrer eigenen Kinder plötzlich nicht mehr.

Ein Song wie »House of the Rising Sun« von einer Band, die sich die »Animals« nannte und 1964 auf Platz 1 der internationalen Hitparaden stürmte, sprengte das Vorstellungsvermögen und regelrecht das Wertesystem der Eltern, und zwar aller Eltern, ob kapitalistisch, kommunistisch, evangelisch, katholisch oder einfach nur bürgerlich, ob arm oder reich. Eben hatte die ältere Generation noch Elvis Presley und Chuck Berry »überlebt«, die die Welt gerockt und die Subkultur amerikanisiert hatten, da fegte in den Sechzigerjahren ein Musik-Tsunami über das Land: die Rolling Stones, die Beatles, die Protestsongs von Bob Dylan bis Joan Baez, The Doors, Genesis, Jimi Hendrix, Pink Floyd usw. Die Namen der unzähligen Superstars und legendären Superbands, die in jener Zeit Weltruhm erlangten, sind bekannt.

Wie vermutlich immer in der Menschheitsgeschichte werden in den Subkulturen und in den Subavantgarden von den Künstlern, denen das einfache Lied nicht mehr reicht, gern auch Oppositionsgedanken oder -attitüden, auch Revolutionsgedanken und überhaupt der Aufbruch zu unbekannten Ufern in die Texte eingewoben – da ist dann auch viel politische Anmaßung und Großtuerei in diesen Songs, die man nicht mit politischer oder moralischer Substanz verwechseln darf. »Revolution«, »Legalize It«, »Lucy in the Sky With Diamonds«, »I Shot a Man in Reno Just to Watch him Die«, oder später: »We don’t Need no Education«: Weltrettungslieder, Revolutionslieder, Liebes- und Sexlieder, Rachelieder gibt es tonnenweise, man darf sie allerdings nicht allzu naiv für bare Münze nehmen.

Die Musik machte nicht nur Höllenspaß und schuf bei vielen jungen Erwachsenen eine Art spätpubertäres, sehr luxuriöses Verbundenheitsgefühl gegenüber der ältere Generation, und zwar ganz unabhängig davon, ob die eigenen Eltern verständnisvoll oder verständnislos waren. Diese neue Musik und ihre allgemeine Zugänglichkeit über eigene Schallplatten und Plattenspieler, die ansonsten aber auch in jeder Kneipe zu hören war, schufen nicht nur globalisierte Gemeinsamkeiten, sie erzeugte auch ein kollektives Lebensgefühl von recht haben, einer wilden ursprünglichen Unschuld und einer höheren Weisheit, wie das Leben funktioniert oder wie es zu funktionieren hätte. Die Musik erzeugte Euphorie, Erleuchtungsmomente, Aufbruchsenergien, Allmachtsfantasien, ein über sich Hinauswachsen, Glück, Liebesgefühle, Freude, aber auch Depression, Wut und Hass, eben alles, was Musik mit solchen gewaltigen Effekten, die mit einem Mal möglich waren, bewegen kann. Und sie erzeugte eben auch schon sehr früh überbordende Protestfantasien.

Die Musik, die wir alle lieben und die unser aller Lebensgefühl heute beeinflusst und die das Leben verstärkt, verschönert, bereichert und lebenswerter macht, war eben noch nie zuvor in einem so allgemein zugänglichen Maße in jedem Jugendzimmer, in jeder Boutique und in jeder Diskothek vorhanden gewesen, und damals war die enorme Wirkung der Musik, mit der heute alle lässiger umgehen, noch vollkommen unbekannt. Damals trafen die plötzlich überall zugängliche Musik und dann auch die Drogen unmittelbar, ungefiltert und ohne jede Erfahrung der Menschheit bis dahin auf die Sinne der Jugend. Allerdings hatte die Jugend der Sechzigerjahre in Deutschland die neue Musik nicht in England und Amerika »bestellt«, um gegen die Eltern zu protestieren, sie hatte den Sound der E-Gitarre, der die Hörgewohnheiten der älteren Generationen quälte, nicht erfunden: Der musikalische Zug der Zeit riss die Jugend mit, die sich in eine Protesthaltung hineinsingen ließ und hineinsang.

Die Jugend war vor allem Konsument und Profiteur technischer Revolutionen mit Massenverbreitungsfaktor, die die Voraussetzung für eine harmlose, aus Überschwang geborene westliche Kulturexplosion war, an der viele dann kreativ teilnahmen. Diese hatte allerdings nichts, aber auch gar nichts mit der mörderischen »Kulturrevolution« zu tun, die sich seit 1966 zeitgleich in China abspielte und die nichts anderes war als die nächste Säuberungswelle des großen Vorsitzenden Mao Zedong.6

Auch die späteren Generationen in Deutschland lebten in ihren musikalischen, filmischen und modischen Welten und bald globalen Reisen ohne Grenzen – alles wunderbar, wenn es nicht zu jener realitätsfernen politischen Selbsterhöhung gekommen wäre, wie es den 68ern, die diesen Rausch als erste Generation erlebten, passiert ist. Die 68er-Ideologie, die viele Menschen in den Jahrgängen von 1928/29 (zum Beispiel Hans Magnus Enzensberger) bis 1958, die letzten Jahrgänge hatten den 68er-Code bereits als 10-Jährige als ihr Lebensgefühl adaptiert, mitriss, hat die Selbstüberhöhung dieser Generationen, die erste und letzte wahre Jugend mit Durchblick gewesen zu sein, lebenslänglich perpetuiert, und das hängt gewiss auch damit zusammen, dass sie die ersten Generationen waren, die auf eine sehr autonome Weise ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit von den Eltern ausleben konnten.

Das politische Schwarz-Weiß-Denken in seiner primitivsten Ausprägung wurde durch dieses bunte und geile Musik-Film-Mode-Wohlstandslebensgefühl vervielfältigt, und es entstanden politische Gewissheiten weitab von jedem Wissen, das auch gar nicht mehr gefragt war.7

Nichts, aber auch gar nichts, was das Paradies, in dem sie lebten, ausmachte, hatten diejenigen, die in den Sechzigerjahren Jugendliche oder Studenten waren, selbst erschaffen. Aber sie waren die Nutznießer. Die meisten mussten die Musik nur noch hören, die Italo-Western nur noch sehen, die Mode nur noch kaufen, die einige wenige Stars machten. Sie mussten nur noch ein bisschen Geld von den Eltern kassieren oder ziemlich leicht verdienen, um in alle Welt reisen zu können oder sich viele Leben hintereinander, eins in Indien, eins im Drogenrausch, eins an irgendeiner Uni oder später in irgendeiner politischen Szene leisten zu können.

Warum wollte diese im Wohlstand aufgewachsene Generation das System, den Kapitalismus, die Bundesrepublik zerstören und den Menschen, die ihr Glück in dieser Bundesrepublik machen wollten, das Paradies rauben und einen nebulösen »Neuen Menschen« kreieren, der sie selber in keiner Weise waren?

In diese tanzende, sich popkulturell aufladende Welt der Sechzigerjahre, in der die Menschen einen außerordentlich gemütlichen und kulanten Umgang auch im Geschäftsleben miteinander pflegten, in eine Welt, die schier ausflippte vor Aufstiegschancen und Geld, platzten unter dem Schutzschild des atomaren Gleichgewichts des Schreckens im Kalten Krieg die ersten Livebilder von (damals noch als exotisch empfundenen) Revolutionsführern wie Fidel Castro und Che Guevara (beide Kuba), Lumumba (Kongo) bis hin zu Mao Zedong (China) und Ho Chi Minh (Vietnam) oder auch Nasser (Ägypten) sowie dem Schah von Persien als Gegenpol.

Die afrikanische Entkolonialisierung, die Bewegungen in Lateinamerika und eben auch der zunächst französisch-vietnamesische Krieg in Indochina, wie Vietnam damals noch hieß, oder der Nahostkonflikt, die Entwicklung in Persien (Iran), um nur einige Beispiele zu nennen, bewegten die frühen 68er, die damals noch gar nicht so hießen.

Während die Bundesrepublik ihren Weg zur Demokratie auf gesichertem wirtschaftlichem Boden beschritt, tobte nicht nur der Kalte Krieg unter dem Dach des beiderseitigen Schreckens der Atomwaffen der Sowjetunion und Amerikas, sondern die globale politische Lage änderte sich dramatisch. Die Sowjetunion, besser die Menschen, die in der Sowjetunion lebten, mussten mit dem unmenschlichen Erbe eines gewissen Josef Stalin, 1953 gestorben, fertigwerden. Das Sowjetsystem, das 1989 zusammenbrach, war ein unrechtsstaatliches, menschenverachtendes Konglomerat, ein Vielvölkerstaat mit einer kolonialen Unterdrückungspolitik aus Moskau, eben eine waschechte, menschenfeindliche Diktatur.

Im Riesenreich China hatte der große Führer Mao Zedong seine Macht mit mörderischen Methoden ausgebaut. In seinem Großen Sprung nach vorn von 1958 bis 1961 schickte er innerhalb kürzester Zeit an die 30 Millionen Menschen in den sicheren Hungertod. Und er baute mithilfe sowjetischer Experten ein eigenes Gulagsystem, die sogenannten Laogai-Lager, ein gigantisches Umerziehungs-Zwangsarbeitslager-System, in dem, über ganz China verteilt, Millionen und Abermillionen von Chinesen verschwanden, gequält und ermordet wurden und in dem seit nunmehr 60 Jahren immer noch Massen von Menschen verschwinden, wobei die Zahlen der dort Umgekommenen bis heute von der KPCh geheim gehalten werden. Haben Sie von diesen chinesischen Gulags, die alle Gulags übertreffen, schon einmal etwas gehört? Oder wirkt die 50-jährige Omertà8 der Protestbewegungen im Westen so perfekt, dass niemand das Wort »Laogai« (Reform durch Arbeit) oder auch »Laojiao« (Umerziehung durch Arbeit)9 – 2013 wurde dieser Ausdruck übrigens in China formell abgeschafft – diese Worte überhaupt kennt?

Mit Maos Kulturrevolution (1966–1976), die zu einem wesentlichen ideologischen Treibsatz für die Protestbewegungen im Westen und in der Dritten Welt wurde, kamen weitere Millionen Opfer, auf grausame Art ermordet, hinzu. Die Crux: Die mörderische chinesische Kulturrevolution wurde im Westen in einer furchtbaren Weise mit der eigenen popkulturellen Luxusrevolution gefühlsmäßig und kopfmäßig verwoben, und dies auf eine grausam artifizielle Weise. Es ist ja nicht so, dass man über China nichts wusste.10 Und seit sich der große Mordrausch des Irren Mao Zedong nicht mehr leugnen lässt, schleichen sich Maos Westjünger feige aus ihrer Verantwortung.

Und immer war sie dabei, die klare, ganz einfache Schwarz-Weiß-Sicht auf die Welt. Auch die kommunistische Unterwanderung Westdeutschlands durch die DDR11 half, den Boden für eine öffentliche Darstellung der politischen Verhältnisse in Deutschland und auf dem Globus und überhaupt zu bereiten. Die Leichtigkeit des süßen Lebens ließ bei vielen den Gedanken sprießen, warum nicht auch mal Revolution machen, um dem eigenen Leben einen Sinn einzuhauchen.

Das westliche Leben, der in den Fünfzigerjahren noch so bewunderte »American Way of Life« avancierte, mit Rockmusik untermalt, genüsslich zum Feindbild. Anti-Kapitalismus, Anti-Imperialismus, Anti-Kolonialismus, der neue linke Anti-Amerikanismus, der aus den USA selbst importiert wurde, und der Anti-Rassismus – all diese Worthülsen, die Mao Zedong jahrzehntelang im Munde führte – wurden gleichgesetzt. Die Dritte Welt wurde zum Fetisch und Mao zum Führergott der Neuen Linken.

TEIL I

Auf dem Höhepunkt von 68

März 1968: Umzug nach Berlin

Der Ausflug zu unseren Tanten Holde und Renate, die wir schon so oft in Freiburg und jetzt das erste Mal in Eppenhain im Taunus besucht hatten, ging zu Ende. Es war Mitte März 1968. Unsere Mutter stand mit ihrem neuen blauen R4 vor der Tür, um uns abzuholen. »Wir fahren jetzt nach Berlin, da wird es euch gefallen«, sagte sie zu meiner Schwester Regine und mir, während wir ins Auto stiegen. »Ab jetzt wohnen wir nicht mehr in Hamburg.« Auf der Fahrt erfuhren wir, dass sie sich von unserem Vater Klaus Rainer Röhl getrennt hatte und sich nun scheiden lassen wollte. Papi wohnte weiter in unserem Haus in Hamburg-Blankenese, und wir würden ihn erst mal nicht sehen.

Irgendwie hatten wir uns ja so was schon gedacht. Denn unsere Abreise aus Hamburg drei Wochen zuvor war ja schon einigermaßen beeindruckend gewesen: Unser Vater war morgens noch im Bademantel hinter Mamis Auto hergelaufen und hatte geschimpft, dass wir in Hamburg bleiben sollten. Ulrike Meinhof hatte uns nach Hannover gebracht, wo wir von Tante Holde in Empfang genommen wurden. Unsere Mutter war direkt nach Berlin weitergereist.

»Das Beste«, sagte sie, »ihr kriegt jetzt jede ein eigenes Zimmer.« »Und«, so erzählte sie weiter, es gebe in Berlin ganz viele »Genossen«, die sich auf uns freuten. Das Wort »Genosse«, das wir von unserer Mutter zukünftig noch sehr häufig hören sollten, war mir nicht geläufig. Ich habe aber meine Mutter erst viel später gefragt, was denn ein Genosse ist.