So macht Kommunismus Spaß - Bettina Röhl - E-Book
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So macht Kommunismus Spaß E-Book

Bettina Röhl

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Beschreibung

Was trieb Ulrike Meinhof in den Fanatismus? Die Geschichte der vielleicht bekanntesten RAF-Terroristin beginnt lange vor den Anschlägen – und ließ keineswegs ihre spätere Radikalisierung erahnen. Bettina Röhl zeichnet ein vielschichtiges Bild ihrer Mutter und erzählt mit der Doppelbiographie ihrer Eltern und deren Zeitschrift konkret die Geschichte gleich zweier Schlüsselfiguren dieser Zeit. Eine mit viel Humor aufgezeichnete Familiengeschichte und ein spannendes Gesellschaftsporträt von den frühen Jahren der Bundesrepublik bis zum Beginn der Studentenrevolte 1968.

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Authentisch und faktenreich erzählt die Journalistin Bettina Röhl die Lebensgeschichte ihrer Eltern Ulrike Marie Meinhof und Klaus Rainer Röhl und zeichnet ein kompromissloses Portrait dieser zwei sagenumwobenen Schlüsselfiguren der Jugend- und Studentenrevolte von »68«.

Die Autorin lässt Ulrike Meinhof in zahlreichen Briefen und Dokumenten als Schülerin, Studentin, Journalistin, Ehefrau und Mutter selbst zu Wort kommen und zeigt, dass Meinhofs »erstes Leben« – anders als häufig impliziert wird – kein Präludium für ihre spätere Radikalisierung war.

Bettina Röhl dokumentiert den Aufstieg der Zeitschrift KONKRET, dem Sprachrohr ihrer Eltern, von deren Start in den Fünfzigerjahren bis zu ihrem Durchbruch in den Sechzigern, als sie zur meistgelesenen Studentenzeitschrift der BRD avancierte. Zugleich beschreibt die Autorin das politisch-gesellschaftliche Umfeld, das diese Erfolgsgeschichte begünstigte.

Röhl führte zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen und Weggefährten ihrer Eltern – u. a. mit Marcel Reich-Ranicki, Fritz J. Raddatz, Johannes Rau, Bahman Nirumand – und legt eine lebendige, mit viel Humor aufgezeichnete Familiengeschichte und ein wertvolles Gesellschaftsporträt der Fünfziger- und Sechzigerjahre vor.

»Ein großer bundesdeutscher Familienroman, […] Bettina Röhl lässt ihren Eltern nichts durchgehen […].« Nils Minkmar (FAS)

Bettina Röhl

So macht Kommunismus Spaß!

Ulrike Meinhof, Klaus Rainer Röhl und die Akte KONKRET

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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© EVA – Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2006

Der Wilhelm Heyne Verlag, München, ist ein Verlag der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Beratung: Stefan Linde

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Privatarchiv Bettina Röhl

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-21806-5V003

www.heyne.de

Inhalt

Die heilige Johanna und der Schuft

Erinnerungen an die frühen Jahrevon Peter Rühmkorf

ERSTER TEIL

1. Ulrike und Klaus bekommen Zwillinge, 1962

Rosen aus Ostberlin | Tina und Gine | Die Tanten | Die Operation | Die Zwillingswaage | Keine Taufe | Die Partei

2. Die Gründung der Zeitschrift KONKRET, 1955

»Sind Sie eigentlich Kommunist?« | Danzig, die Röhls und die Neumanns | Ein Student in der Nachkriegszeit | Das bedeutende Jahr 1949 | Die FDJler | Philipp Müller | Sonst gibt’s eins auf die Schnauze! | Los, wir machen eine Studentenzeitung! | Die Akte KONKRET | Die Gründer des Studenten-Kuriers | Zusammenarbeit | Treffen im Hotel Adlon | So macht Kommunismus Spaß! | Eine wasserdichte Biografie | Richard Kumpf und der Stalinismus | Der Tucholsky-Kreis | Das KPD-Verbot 1956 | China, Moskau, Prag | Der Ungarn-Aufstand | Dr. Dr. Gustav Heinemann | Lagebericht, Zufriedenheit, Aufstieg | Zum Ritterschlag | Parteigruppe und Feuilleton: | Drei Tage Einschätzung in Ostberlin | »Die gibt es nur im winzigen Kreis des SDS« | Zu viele Anti-Ost-Artikel | Ein Leitartikel in KONKRET genügt nicht

3. Ulrike Marie Meinhof

Ulrike Marie Meinhof betritt die politische Bühne | Die Familie Meinhof | Ingeborg Guthardt und Werner Meinhof | Jena | Renate Riemeck trifft Ulrike Meinhof | Wer war Renate Riemeck? | Frauenfreundschaft | Flucht in den Westen | Der Tod von Ingeborg Meinhof | Sehnsucht nach den Lofotfischern | Ulrike Meinhof in England | Die Schülerin | Ulrike Meinhofs erste Liebe | Lothar Wallek | Renate und Holde | Der unterdrückte Jubel | Liebes Bettinchen | Wuppertaler Klüngel | Die Studentin Ulrike Meinhof

4. Kampf dem Atomtod, 1958

Akademie freier Geister | Die militärischen Potenzen | Argumente | Der Hinweis | »Also den Röhl, den finde ich fies« | Die KONKRET – Fraktion | Meinhof und Röhl ziehen an einem Strang | Meinhof macht Urlaub auf Fehmarn | »Machinationen« | Es war der Nebel | Ulrike Meinhof denkt nach | Ulrike Meinhof und Manfred Kapluck | KONKRET übernimmt den SDS | Lob, Erfolg, Einstimmung | Lenin und Rock-’n’-Roll-Riki | Die brillante Journalistin | Meinhof rettet Röhl | Der Anti-Atomwaffen-Kongress von 1959 | Das Gelage in Caputh am See | Ulrike, Chapel und Klaus | Kohlrabi und Steaks | Das junge Paar | Der Pyrrhussieg | Walter Ulbricht, Tibet, Ulrike Meinhof | Verlobung

ZWEITER TEIL

1. Die Chefredakteurin, 1961

Oberländer, die Blechtrommel und der Sieg des Sozialismus | KONKRET und das NS-Archiv in Ostberlin | Urlaub an der Riviera | Ulrike Meinhof wird Chefredakteurin | Die Notstandsexpertin | »Hitler in Euch« | Der Hamburger Genosse | Meinhof instruiert Riemeck | DFU – Die Freunde Ulbrichts | Die DFU im Wahlkampf | »Neutral zu werden wie die Schweiz« | »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten« | Die Kulakenlüge | Antiimperialistischer Schutzwall | Die Kärrnerarbeit der KPD | Eine Neue Linke | Die bulgarischen Kamele | Hochzeit | Wollte Ulrike Meinhof in der Bundesrepublik alt werden? | Unter Beobachtung | Die politische Linie | Vertrag mit Prag | »Fidel spricht heut’ nacht« | Käthe | Der Bruch mit der Partei | Alles oder nichts | Üb endlich Selbstkritik!

2. Das neue KONKRET und die Familie

Das neue KONKRET | Ausschluss aus der Partei | »Ulbricht löst die DDR auf« | Röhl und Grass in Weimar | Zu Hause | Die Meinhof-Kolumnen | Boutiqueverkäuferinnen | Holde – Kinder | Renate im Rock | Zwillingsein ist wunderfein | Sonntags | Quietschvergnügt in der Altonaer Bahnhofshalle | Der Wolff-Prozess | Ulrike Meinhof und Marcel Reich-Ranicki | Mai 1965 – Zehn Jahre KONKRET | Selbstständig | Revolution und Sex | Der feine Zwirn | Die Creme der Kritiker in KONKRET | Neue Leute und Kolumnen | Onkel Aust | Joan Baez auf dem Ostermarsch 1966 | »Sex ohne Ehe« | Bundespräsident Lübke, ein KZ-Baumeister? | »Was sagen Sie nun, Herr Lübke?« | Café Moskau | Der Grenzgänger | CIA meets KGB | Horn und Prange statt C&A | Urlaub auf Mallorca

3. Morgendämmerung von 68

Ein beeindruckender Mann | Das Paradies des Ho Tschi-minh | Große Koalition | Der Beginn der Studentenbewegung in Berlin | Mao Tse-tung: Den Palast stürmen | Die »kleine Kulturrevolution« in Deutschland | Die Subversiven in KONKRET | Rudi Dutschke und Manfred Kapluck | Die Kommune 1 und die Röhls | Enteignet Springer!

4. Das Hamburger Medienestablishment, 1967

Hochgefühle | Farah Diba | Der 2. Juni 1967 | Der Fall Kurras / Ohnesorg: Staatsmord aus Ostberlin? | Augstein und KONKRET | Der wunderschöne Sommer 1967 | Besuche | Sommerkinder | Besuch bei den Feltrinellis | Jessika feiert Geburtstag | Zwillingsgeburtstag | Die Einweihungsparty | Das Ultimatum | Peggy und Lyngi beobachten »Oldie« und Ulrike | Jürgen Bartsch | Augstein und Nirumand | 68 tanzt in KONKRET | Trennung

Wie es weiterging

Epilog | Der Untergang des Röhl-KONKRET | 50 Jahre KONKRET und keine Feier | Ulrike Meinhofs Verhaftung und ihr Tod | Ulrike Meinhof und der Schwarze September

Nachwort

Bildteil

ANHANG

Abkürzungsverzeichnis

Anmerkungen

Bildnachweis

Register

Die heilige Johanna und der Schuft

Erinnerungen an die frühen Jahrevon Peter Rühmkorf

Ich kannte Klaus von der Schule, das heißt, vom Athenaeum in Stade her, allerdings war er eine Klasse über mir, was zunächst nur zu einem lockeren Verbindungsfaden führte. Eine innigere Berührung ergab sich erst, als Klaus mit einem Freund ein Puppentheater gegründet hatte, da hab ich ihn dann, über meine Mutter, die dort Lehrerin war, an die Warstader Volksschule vermittelt. Die beiden schliefen bei uns im Haus, was dann sofort zu Gesprächen über gemeinsame Interessen führte, die im Großen und Ganzen mit der heute sogenannten klassischen Moderne zu tun hatten. Dabei neigte Klaus etwas stärker der sozialkritischen Neuen Sachlichkeit zu, also Erich Maria Remarque oder Arnold Zweig und Bertolt Brecht. Während ich gerade tief in den Sog des Expressionismus geraten war, was dann bis zu Wolfgang Borchert führte. Auch Kästner und Tucholsky waren ganz große gemeinsame Vorbilder, Leitbilder, woraus dann eine literarisch begründete Freundschaft erwuchs.

Aus der Schule entfloh er mir dann, weil er nach Hamburg an die Uni ging. Ich kam erst 1950 nach Hamburg, und da hieß es »auf Quartiersuche gehen«. Klaus wohnte direkt an der Elbchaussee in einem zerstörten Haus, von dem nur noch die Souterrainküche erhalten war. Das Haus war genau da, wo der Halbmondsweg in die Elbchaussee einmündet. Und nun kam ich im Sommer und habe dort erst mal ein Sofa in seiner Wohnküche bezogen. Der Begriff scheint mir heute fast schon luxuriös, aber immerhin gab es dort fließend Wasser und Strom für die Kochplatte. Außerdem waren wir beide große Sonnenanbeter, und weil sich etwas oberhalb der Küche noch ein Parkettfußboden von einem ehemaligen Salon erhalten hatte, hatten wir uns da zwei alte Liegestühle aufgebaut, in denen wir uns bräunten (wir sagten damals »tängten«) und gleichzeitig Gedanken über eine neue Studentenbühne machten.

Klaus hatte bereits Freunde um sich gesammelt, zum Beispiel Dick Busse, der ganz passabel Banjo spielen konnte, aber auch Peggy Parnass gehörte damals schon mit zum Ensemble. Wir zogen dann etwas später in eine Wohnbaracke in der Stresemannstraße in Lokstedt – zwei kleine Zimmerchen mit jeweils zwei Betten übereinander – eigentlich ziemlich kommissmäßig und, rückblickend, unsere Kommune 00. Weil wir alle gern sangen, war beinah jeden Abend Gemeinschaftsgesang angesagt: Chansons von Tucholsky, Kästner, Mehring, Klabund und Wedekind – und da passte irgendwie selbst Hermann Löns dazwischen.

Klaus war gewissermaßen mein Cicerone, der mich einführte in die große Stadt, er stellte mich überall als den größten zeitgenössischen Dichter vor, das fand ich sehr angenehm. Klausens Art war es, und das machte ihn so gewinnend, dass er jeden aus seinem Umfeld hochnobelte: Dick Busse zum Beispiel zum bedeutenden Gitarristen oder Peggy zur großen Diseuse. Das machte er mit einer gewissen Grandezza und Selbstverständlichkeit, und im Schmuck dieser selbst erschaffenen Edelgestalten wandelte er ganz lustig herum.

Klaus und ich zeigten uns mal unsere Gedichte und schrieben uns unsere Beurteilungen an den Rand. Ich habe heute noch Klausens Gedichte mit meinen Bemerkungen dazu in meinem Archiv und auch meine Gedichte mit Klausens Randglossen. Damals dichtete er noch so frisch, fröhlich, frei, eigentlich ganz unberührt von dem Geist der literarischen Moderne, es war mehr so die Richtung Zupfgeigenhansel, einerseits volksliedhaft schön und das auch wieder ziemlich privat. Ich habe neulich die Sachen mal wieder gelesen – neulich heißt vor drei Jahren –, und da habe ich zu Klaus gesagt, Mensch, die waren gar nicht so schlecht, warum habe ich eigentlich den Umweg über die Moderne gemacht. Andererseits war das letzten Endes mein Gewinner, dass ich wirklich durch die Moderne geprägt worden bin, rückblickend viel verkrampfter als Klaus, aber das war eben die Spannung der Moderne, ihre nervösen Irritationen, die mich gepackt hatten, während Klaus lustig wie Gründgens über alle Abgründe hinwegsprang und seine Lieder sang.

Klaus war außerordentlich geschickt darin, gute Jobs zu akquirieren. Er verstand es, irgendwie durch eine Art von Frechheit oder Aufgewirbeltheit die an Land zu ziehen, und die meisten Jobs habe ich mit ihm zusammen gemacht. Wir verteilten die erste Bild – Zeitung, trugen Postpakete aus und warben auch mal für ein Waschmittel, wobei wir weiße Kittel trugen und so Türkenfeze aufhatten. Damit gingen wir auf dem Jungfernstieg spazieren und riefen im Chor: »Valan, die Waschmaschine in der Tüte«. Wir drehten unsere Gesichter immer der Sonne zu, weil wir uns auch gleichzeitig bräunen wollten. Dann haben wir uns als neue Studentenbühne konstituiert, entwarfen eine richtige Satzung und haben uns an der Uni registrieren lassen, damit man seine Anschläge machen konnte am Schwarzen Brett. Theaterzeit, Jobberzeit. Wann wir je studiert haben?

In der Uni waren wir immer zusammen. Neben der Mensa gab’s den Kaffeegang, wir waren die Herren des Kaffeeganges, und dort warb Klaus seine neue Truppe zusammen. Übrigens gab es auch eine kommunistische Studentengruppe, die neben uns ihre Sachen ans Schwarze Brett schlug, und irgendwie, vermutlich auch durch Kaffegang-Connections, kriegten wir Kontakt zu dieser Gruppe.

Ein Teil dieser Leute, Eberhard Zamory z. B., war als jüdischer Emigrant als britischer Staff Sergant wieder nach Deutschland zurückgekommen, wo ein Teil seiner Familie im Halbdunkel überlebt hatte. Ich sag das aus bestimmtem Grunde. Was in der Restaurationszeit immer noch als Schreckgespenst galt – jüdisch-marxistische Kreise –, war für uns ein ganz besonderer Anziehungsmagnet. Literarisch durch die fortschrittlichsten Literaten der Weimarer Republik beglaubigt.

Es waren Berührungskontakte, wobei sich mir erst später offenbarte, dass die kommunistische Gruppe natürlich ein starkes Missionsbedürfnis hatte und einen großen Infiltrationstrieb. Die haben schon sehr früh die Fühler nach uns ausgestreckt. Rückblickend würde ich sagen, dass sie eine alte kommunistische Taktik schon auf der Universität angewendet haben, das heißt, in vorhandene Gruppen oder Organisationen einzusickern.

Wir waren das progressivste Theater, das sich damals überhaupt denken ließ, erst mal mit diesem knallig provozierenden Namen Pestbeule, der von mir stammte, und dann gar durch die Unterzeile, die sich Klaus ausgedacht hatte, »KZ-Anwärter des vierten Reiches«. Unser Stück hieß »Die im Dunkeln sieht man nicht«. Ich fand seine Texte kabarettistisch effektiver als meine, sie waren doch eigentlich zu ernst, waren expressionistischer und sprachlich geschärfter geprägt, während Klaus ganz leichte Chansons machte, und die Musiken kamen auch von ihm. Nur einmal war mir auch eine Melodie eingefallen, dann stellte sich aber heraus, dass das die sowjetische Nationalhymne war; ich wohnte bei Kommunisten, und mein Wirt hatte nachts immer Radio Moskau eingestellt. Da hatte sich die Nationalhymne wohl etwas zu oft in mein Ohr eingeschlichen.

Klaus konnte eines gut, das betrifft die Bühne wie die Zeitung: Regie führen. Er hatte das Talent, Leute in Verbindung zu bringen und sie einander zuzuordnen, dialogisch und choreografisch. Wer später alles für die Zeitschrift geschrieben hat, ist heute kaum noch zu fassen. Er fand auch die richtigen Worte – manchmal schmeichlerische, aber die wurden gerne geschluckt –, um sehr unterschiedliche Charaktere für eine gemeinsame Sache zu begeistern.

Unser Theaterstück, das sich im Untertitel »kabarettistisches Mysterienspiel« nannte, erlebte zunächst zwei Aufführungen in der Emilie-Wüstenfeld-Schule. Es wurde von der Presse ganz gnädig aufgenommen, aber in der Welt ganz furchtbar verrissen. Dort hieß es – ich hab das heute noch im Ohr – »Der dreckige Kitsch von vorgestern will doch hoffentlich nicht morgen Kunstersatz werden?« Das war natürlich entlarvend, und da sind wir, zusammen mit unseren KP-Freunden, bei der Welt vorstellig geworden, was die sich unter dem dreckigen Kitsch von vorgestern bitte schön vorstellten. Gestern, das war die Nazikunst, ja, alles klar. Aber vorgestern, damit könnten doch nur Brecht und Kästner und Tucholsky gemeint sein – na, die haben sich vielleicht gewunden.

Zu unseren kommunistischen Freunden noch mal. Einige hatten zu unserem Theaterpersonal gehört, andere hatten technische Arbeiten für uns erledigt, und als ich mit meinem Freund Werner Riegel eine eigene Zeitschrift aufmachte – Zwischen den Kriegen war der Titel –, hielt Klaus weiter Kontakt zu den KP-Leuten. Ja, und dann eröffnete er uns eines Tages, dass er eine Zeitschrift aufmachen wolle, den Studenten-Kurier, der uns natürlich mächtig interessierte, weil wir bisher nur hektografiert hatten, und das war nun schon richtig gedruckt. Dass das Blatt praktisch von drüben, das heißt von Ostberlin aus finanziert wurde, kam uns dabei gar nicht in den Sinn. Erstens bekamen wir kein Honorar für unsere Artikel und Gedichte, und wo so offensichtlich kein Geld floss, kam niemand auf den Gedanken an trübe Quellen. So wurde ich in trügerischer Unschuld gehalten, aber ich hatte die einmalige Gelegenheit, bereits als Student unter fünf oder sechs Pseudonymen alles schreiben zu können, was ich wollte. Ich schrieb, wie mir ums Herz war – und das saß allerdings schon ziemlich weit links –, und Klaus brachte das dann gegenüber den Hintermännern durch, egal ob sie was ärgerte.

Er muss da schon sehr geschickt herumlaviert haben, mit brechtscher List sozusagen, sonst hätte er nicht mal zu mir gesagt: »Wir müssen jetzt aber mal wieder ’n paar Hiebe gegen den Osten austeilen, sonst hält man uns noch für eine kommunistische Zeitung«, und weil ich mir damals unter dem Pseudonym Leslie Meier einen »Lyrik-Schlachthof« eingerichtet hatte, ließ ich postwendend Johannes R. Becher über meine Klinge springen, der immerhin DDR-Kulturminister war, und da werden die da drüben schon ziemlich schiefe Gesichter gezogen haben. Später stieß dann auch Ulrike mit zu dem Blatt, da wehte der Wind auch sofort ’n bisschen schärfer. Das Blatt ging irgendwie auf Linie. Auch gingen ihm sichtlich der lustige Studentenwitz und die Farbe aus, und ich wechselte zum Rowohlt Verlag über, wo man mir ein kleines Pöstchen eingeräumt hatte.

Trotzdem hielten wir, Ulrike und Klaus, Eva und ich, freundschaftlichen Kontakt, und wir haben die beiden öfter in ihrem Häuschen in Hamburg-Lurup besucht. Als die Zwillinge dann auf die Welt gekommen waren, entwickelte Ulrike auf einmal überraschend bürgerliche Züge. Sie begann, sich bürgerlich einzurichten, auf propere Weise kleinbürgerlich, würde ich sagen. Eines Tages hingen dann sogar moderne Bilder an der Wand, sozialistisch angehauchte, aber malerisch nicht gänzlich von gestern. Dann fragte sie uns, wir fielen beinahe vom Sessel, nach Antiquitätengeschäften. Hatte sie eigentlich früher Kunstgeschichte studiert? Ich kann es nicht mehr sagen. Aber dann war bei ihr zu Hause auf einmal Jugendstil und Art déco angesagt, solche Phase von leicht gehobenem »Schmücke Dein Heim«, was Eva und ich mit einem gewissen erstaunten Vergnügen zur Kenntnis nahmen. Lange her und nobody knows (außer Klaus natürlich), aber man muss das wissen, um das spätere Trennungstrauma richtig mit auf die Reihe zu kriegen.

Aber ganz so weit sind wir noch nicht. Ulrike war in unserer Hamburger Zeit außerordentlich gesellungslustig, und das in mehrerlei Hinsicht. Auf der einen Seite tanzte sie gern und genoss die Sympathie, die man ihr entgegenbrachte. Sie fühlte sich absolut wohl in ihrer linken Haut, ohne in dem ganzen pluralistischen Trubel von gewissen rigorosen Meinungen zu lassen, die sie allerdings nie wie eine missionarische Eiferin vortrug. Sie war hübsch anzusehen und vertrat selbst radikale Ansichten mit einem gewissen diplomatischen Charme, Natur- oder Agentencharme, das ist von heut aus gesehen gar nicht mehr zu trennen. Auf jeden Fall hatte sie das Gefühl, in dieser Hamburger Society liebe Freunde und Freundinnen gewonnen zu haben – schlicht gesagt, sie fühlte sich aufgehoben. Auch in dem Nest in Lurup, wo sie mit Klaus zusammenlebte und die Hausmusik bestimmte.

Bis dann eines Tages eine andere Frau in Klausens Leben auftauchte, und da fühlte sie sich aus dem Nest hinausgeworfen. Ein aus dem Nest geworfenes Vögelchen, traurig, tragisch, aber nicht der erste Trauerfall auf dieser Welt, und dann zog sie eines Tages die Konsequenz und setzte sich nach Berlin ab, um dort ein Gegennest zu gründen. Einen Adlerhorst, wie sich später zeigen sollte, aber verschmähte Liebe ist zu allem fähig, zu Mord, Selbstmord, Totschlag und Weltbrandstiftung.

Klaus hatte also lange Zeit ein linksliberales Blatt gemacht, das am wenigsten angepasste Intelligenzblatt in der gesamten Bundesrepublik. Und dann fiel die Trennung fatalerweise in eine Zeit, in der sich auch anderes trennte und auseinanderscherte. Politische Ansichten beispielsweise, ein Bruch, der durch die gesamte bundesdeutsche Intelligenz ging und viele Verlage und Presseorgane berührte. Turbulenzen insgesamt, die natürlich auch mitten durch die Zeitschrift KONKRET gingen, sie praktisch zerrieben von innen her, bis dem Verleger und Herausgeber das Blatt im Jahre 1973 von Hermann L. Gremliza, Peter Neuhauser und in letzter Instanz von Klaus Hübotter entwunden wurde.

Die Verbitterung von Klaus war einschneidend und nachhaltig. Er verlor bei den folgenden Prozessen das Haus in Blankenese, in dem auch Ulrike sich recht wohlgefühlt hatte, das nebenbei. Eine gewisse linksbürgerliche Reputation war von einem Tag auf den anderen futsch. Kreise, die sich um ihn wie um einen Magneten geschart hatten, stoben auf einmal auseinander, als ob er der Leibhaftige wäre. Ich will dabei nicht mal sagen, dass er sich gewisse massenhafte Idiosynkrasien nicht selbst zugezogen hat. Er war ein unzuverlässiger Geist, der nicht den geringsten Sinn für Pünktlichkeit hatte und bei dem pünktliche Autorenauszahlungen nicht zur Tagesordnung gehörten. Aber als sich die Welt dann so in Schwarz und Weiß bzw. Rot und Schwarz zu zerteilen begann, da verlangte es die aufgewühlte und meiner Meinung nach völlig derangierte Intelligenz nach fassbaren Gegenbildern, in unserem Fall einer heiligen Johanna und einem adäquaten Bösnikel und Konterrevolutionär, und da prasselte die gesammelte Scheiße gewissermaßen auf Klausens Haupt. So die Dramaturgie der Zeit, die, von heut aus gesehen, ein Living Theatre der besonderen Art war, aber nach fast archaischen theatralischen Regeln funktionierte. Ich habe darüber ausgiebig geschrieben und berühre lieber mal einen anderen Punkt, den nie jemand richtig im Blick gehabt hat.

Ulrike war – und ich kenn die Beziehung bis in ihre verborgensten Intimitäten – nie Klausens wirkliche Liebe gewesen. Da war viel, nach Brecht, von der »Dritten Sache« die Rede gewesen, das heißt, der gemeinsamen Bindung an die Partei. Und sie waren ja auch als Agentenpärchen von drüben angeleitet worden, wobei ich nicht sagen kann, wem von dort aus mehr Glaubwürdigkeit zugebilligt wurde. Sie waren auf seltsame Weise miteinander verklammert, von außen gesehen nicht unharmonisch, ich habe nie ein böses Wort zwischen beiden vernommen. Darf ich es mal so sagen: Sie liebte ihn, und er umwarb sie aufs Freundlichste als unverzichtbare Mitarbeiterin. Nur dass sich Klaus Ende der Sechzigerjahre (und das fiel irgendwie mit der Hamburger »Partyrepublik« zusammen, die ich schon öfter beschrieben habe) in eine andere Frau verliebte – richtig besinnungslos und als ob ihn der Blitz getroffen hätte –, und da war es zu Ende mit seinem ganzen Gauklertum und auch seiner ewigen Wankelmütigkeit. Ich sag das aus einem Grund. Er, den man immer nur als Schwankebold und Frontenwechsler und unzuverlässigen Liebhaber mehrerer Frauen abzunotieren sucht, lebt mit dieser Frau noch heute zusammen, und ich kann aus einer gewissen Entfernung nicht sagen, wer da letzten Endes die Zügel in der Hand hat. Sie haben mich vor nicht gar so langer Zeit einmal besucht, und das war nun richtig lustig, wie Danae und ich ihn gelegentlich zwiebelten und ihn gewisser neuer Rechtsschlenker wegen auf die Schippe nahmen.

Mit dem Umzug Ulrikes von Hamburg nach Berlin fand sie gewiss viele neue Freunde und Freundinnen, die sich ihrer annahmen, andererseits geriet sie unversehens in schlechte Gesellschaft. Berlin war damals so was, was man einen Braukessel aller zeitgenössischen Verrücktheiten und politischer Überkandideltheiten nennen kann, und alles zog und zerrte an ihr herum, um sie als Galionsgestalt in ihre Mitte zu manipulieren. Eine Insel der Genossinnen und Genossen, wie sie es empfunden haben mag, aber im Grunde eine ziemlich verwirbelte, paranoische Galaxis. Man fühlte sich mitten im Volke wie die Fische im Wasser – um mal ein Wort von Mao zu zitieren –, aber das war alles nur ausgedachtes Zeugs, und im Grunde bewegte man sich in einem schlecht gelüfteten Aquarium. Es war eine Zeit, von der kaum jemand, den ich kenne, vollkommen unberührt blieb. Die Welt ist ja nicht frei von solchen massenhaften Geistesverwirrungen, Geißlerbewegungen, Kinderkreuzzügen, islamistischen Selbstmordkommandos, religiös-verrückten Alleinvertretungsansprüchen und ihren mörderischen Auswüchsen, und da geriet Ulrike dann immer tiefer rein in diesen Strudel, was wir voller Betrübnis sahen, schon weil meine Frau Eva zusammen mit ihr in Marburg studiert hatte – u. a. Religion, pikanterweise. Bloß dass sich bei uns zu Haus die Weltenuhr genau in die andere Richtung bewegte. Während Ulrike die Institutionen kaputt machen wollte, ging Eva richtig konkret rein in die Institution, sie wurde Gefängnisdirektorin und mühte sich dort gegen unzählige Widerstände für allerdings längst fällige Reformprozesse ab.

Ich selbst hatte sehr früh, das heißt bevor die Mord- und Brandgeschichten richtig losgingen, mal einen Artikel in KONKRET geschrieben und alle mir bekannten Sympathisanten oder heimlichen Anhänger der sogenannten »Bewegung« bei ihrem Namen aufgerufen und sie beschworen, sich von dem unheilvollen Treiben zu distanzieren. Ohne praktisch erkennbare Folgen, wie ich heute sagen muss, und ich kenne auch die Namen zahlreicher Parteigänger – zumal – Innen, die zumindest als Quartiergeber tätig wurden, aber diese (zum Teil berühmten) Namen nenne ich nun wirklich nicht – die müssen mit ihren ehemaligen Irrungen und Verranntheiten selbst zurechtkommen, und es liegt bei ihnen, ob sie das heimlich als ihre Heldenzeit verbuchen ODER als einen total abseitigen Spuk, dem sie zeitweilig verfallen waren. Als lang ausgezogenen Gedankenstrich am Schluss, dass ich die 67er-, 68er-Anfänge des antiautoritären Aufbegehrens von Herzen begrüßt habe. Schon aus dem privaten Grund, weil ich durch zwei ultraautoritäre Naziprofessoren aus ihren Seminaren verwiesen wurde, was seinerzeit der Existenzvernichtung gleichkam. Aber das ist eine andere Geschichte, die meine eigene Biografie betrifft und die uns im Augenblick aus der gemeinsamen Spur bringen würde.

ERSTER TEIL

1. Ulrike und Klaus bekommen Zwillinge, 1962

Rosen aus Ostberlin

Am frühen Morgen des 21. September 1962 verlässt ein aufgeregter Mann sein Vorstadthäuschen, steigt in seinen beigefarbenen Opel Rekord und fährt beschwingt und etwas nervös zum Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf. Er weiß, dass er an diesem Tag Vater werden wird, und will so schnell wie möglich zu seiner Frau, um das Baby in Empfang zu nehmen.

Da die werdenden Eltern nicht wussten, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen bekommen würden, hatten sie sich kurzerhand dazu entschlossen, das Baby mit einem hellgrünen Outfit zu empfangen. Ein paar Monate vor der Geburt waren sie von ihrer Stadtwohnung in ein Häuschen im Kleine-Leute-Vorort Lurup gezogen und hatten dort ein perfektes Kinderzimmer eingerichtet. Jetzt musste bloß noch »das Kind«, wie sie es seit Monaten nannten, kommen. »Hoffentlich ist alles gut gegangen«, dachte Klaus Rainer Röhl, als er beherzt in die Entbindungsstation eilte.

Schließlich gab es da ein Problem, weshalb das Kind im achten Monat per Kaiserschnitt entbunden werden sollte: Wenige Wochen zuvor hatte sich die werdende Mutter Ulrike Marie Röhl mit unerträglichen Kopfschmerzen ins Krankenhaus begeben, wo ein Tumor in der linken Kopfhälfte festgestellt wurde. Ulrike Röhl und ihr Mann hatten sich nach dieser Diagnose gemeinsam mit den Ärzten für einen Kaiserschnitt entschieden und dafür, die Geburt vorzuverlegen, da während der Schwangerschaft keine ausreichende medikamentöse Behandlung der Kopfschmerzen möglich war. Sobald sich Ulrike Röhl von der Geburt erholt hätte, sollte der Tumor operiert werden. Keine leichte Operation. Die Ärzte schlossen nicht aus, dass es sich um ein Karzinom handeln könnte, auch wenn dies nicht wahrscheinlich war.

Der Kaiserschnitt wurde an diesem sonnigen Spätsommermorgen planmäßig um 8.30 Uhr durchgeführt. Klaus Röhl erschien nur wenige Minuten später auf der Station und wurde überrascht: »Das Kind« waren Zwillinge. Die Operation, hörte er von der Hebamme, war zunächst normal verlaufen. Das kleine Mädchen hatte sich schon in sicherer medizinischer Verwahrung befunden, die Geburt hatte als geglückt gegolten, da war das Staunen im Kreißsaal nicht schlecht, als plötzlich eine Krankenschwester rief: »Da bewegt sich noch etwas!« Bis dahin für alle unbemerkt, mühte sich offenbar noch ein zweites Menschenkind, in den Genuss des Lebens zu kommen, sodass schließlich doch ein wenig Aufregung aufkam, bis man auch das zweite Baby alles in allem glücklich entbunden hatte. Dieser Zwilling war ich.

Nach einem Blutaustausch wurde ich sofort in den Brutkasten gesteckt. Folglich konnte ich am ersten Familienkonvent, der bald darauf am Bett der jungen Mutter tagte, nicht teilnehmen. Die Eltern nahmen meine Schwester in den Arm und freuten sich erst einmal an dem einen Kind. Kurze Zeit später musste auch bei meiner Schwester ein Blutaustausch vorgenommen werden, die danach im Brutkasten meine Nachbarin wurde. Gemeinsam blieben wir einige Wochen in unseren Gewächshäuschen.

Erst als Klaus Röhl mit seiner Frau allein war, fiel ihm der große Strauß roter Rosen auf, der auf dem Tisch stand. »Der ist von den Genossen«, sagte Ulrike Röhl und lachte trotz ihrer Kopfschmerzen. »Weißt du noch, zu unserer Hochzeit haben sie uns auch einen geschickt.« Der Rosenstrauß war eine Aufmerksamkeit der Kommunistischen Partei Deutschlands, die – in der Bundesrepublik verboten – ihren Sitz in Ostberlin hatte.

Tina und Gine

Am Nachmittag besichtigte mein Vater dann auch mich in dem Vitrinchen, wo »seine Zwillinge« nebeneinanderlagen. Jetzt, als er seine Kinder zum ersten Mal in Ruhe in Augenschein nahm, war er »entsetzt«. »Winzig klein wie zwei Bierflaschen … ganz schön vermurkst … mit einem Wort: wie Pik sieben«, hätten wir ausgesehen. Besonders ich hätte ein »ramponiertes Gesichtchen«1 gehabt, erinnerte er sich noch unlängst. Typisch Klaus Röhl. Liebkosungen voller Ironie und opernhaft böse Zuneigung gab’s vom ersten Tag an gratis.

Welchen Eindruck genau das etwas schiefe Gesicht mit der großen Nase, das mich an diesem Tag von oben durch die Glasscheibe betrachtete, auf mich gemacht hat, weiß ich naturgemäß nicht mehr. Klaus Rainer Röhl, damals 33 Jahre alt und stolzer Herausgeber der linken Studentenzeitschrift KONKRET, stellte sich schon bald als hochmotivierter Vater heraus. Schnell lernte ich den permanenten Zirkus kennen, den er in seiner unmittelbaren Umgebung veranstaltet – tief- und unsinnig zugleich –, und hielt diese Art Familienoperette für das Normalste von der Welt.

Mein Vater kam von nun an häufig zu uns an den Brutkasten. Zu unserer Mutter konnten wir erst nach einer Woche, nachdem sich ihr Zustand verbessert hatte. Wegen der bevorstehenden Kopfoperation war sie auf eine andere Station verlegt worden und durfte ihr Bett nicht verlassen.

Da meine Eltern nicht mit zwei Kindern gerechnet hatten, hatten sie auch keine zwei Mädchennamen parat, weshalb wir zunächst beide nach Oma Meinhof »Ingeborg« benannt wurden. Meine Schwester bekam dann wenige Tage nach der Geburt den Mädchennamen, den Ulrike Röhl, geb. Meinhof, damals 27 Jahre alt und junge Chefredakteurin der Zeitschrift KONKRET, sich für das eine Kind als Mädchennamen ausgedacht hatte: Regine. Mir wollte sie den Märchennamen Rapunzel geben. Diese Schnapsidee hat ihr mein Vater Gott sei Dank ausgeredet. Er argumentierte, dass es doch ganz schrecklich wäre, wenn ich später einen Freund hätte und dieser seinen Freunden sagen müsste, dass seine Freundin Rapunzel hieße, und dass man, wenn schon nicht auf mich, doch auf meinen zukünftigen Freund Rücksicht nehmen müsse. Für eine derartig verdrehte Logik war Ulrike Röhl immer zu haben, und so gab sie nach.

Schließlich war es meine »Tante« Renate Riemeck, die nach dem Tod von Ulrikes Eltern deren Ziehmutter und Vormund gewesen war, die meinen Namen fand: Bettina, nach der berühmten sozial engagierten Dichterin Bettina von Arnim. Die Pädagogin und Historikerin Renate Riemeck hatte ausdrücklich nach einem intellektuellen weiblichen Vorbild gesucht. Ich sollte, wie sie selbst und wie meine Mutter, eine kluge, berufstätige und emanzipierte Frau werden und auf keinen Fall »nur« Hausfrau und Mutter. Andererseits meldet auch Klaus Röhl die Urheberschaft für meinen Namen an und betont, dass er es war, der seine Kinder nach den Romantikerinnen des 19. Jahrhunderts benennen wollte. Auch meine Schwester sollte nämlich, laut Klaus Röhl, nach der Dichterin und Schriftstellerin Karoline von Günderode, einer engen Freundin von Bettina von Arnim, ursprünglich von Regine in Karoline umbenannt werden, um nun beiden Zwillingen eine bekannte Namensvetterin zur Seite zu stellen. Aber es war zu spät. Der einmal angemeldete Name Regine konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden, und so blieb es bei Ingeborg Regine und Ingeborg Bettina Röhl, wie wir Zwillinge endgültig heißen sollten. Oder wie wir im Familienkreis genannt wurden: Tina und Gine.

Die Tanten

Während wir im Brutkasten träumten, wartete die gesamte Verwandtschaft auf den nächsten Termin, die Kopfoperation. Man bangte mit meiner Mutter um die erst danach mögliche Diagnose. Ulrike Röhl konnte nach der Entbindung die Medikamente nehmen, die ihre Schmerzen linderten. Die Angst nahmen sie ihr nicht. Fest stand, dass sie – unabhängig vom Untersuchungsergebnis – allein wegen der notwendigen Öffnung des Kopfes etwa vier Monate im Krankenhaus würde bleiben müssen. So stellte sich die Frage, wer in dieser Zeit die Babys übernehmen kann. Oma Röhl lag wegen einer Magenkrankheit selber im Hospital und kam also nicht in Betracht. Mein Vater wurde in seiner Firma und von seiner Frau gebraucht. Da erboten sich Ulrikes Ziehmutter Renate Riemeck und deren Freundin Holde Bischoff, die mit dieser zusammenlebte, uns Kinder zu sich nach Gundelfingen bei Freiburg zu nehmen. So gingen wir unmittelbar nach Verlassen des Brutkästchens auf große Fahrt.

Holde Bischoff, eine hochgewachsene, schlanke, damals 42-jährige Frau mit kurzen, schon leicht angegrauten Locken und einem langen, weiten Rock, kam Anfang November mit dem Zug nach Hamburg, wo wir ihr, in einem Kinderwagen überwarm eingemummelt, am Altonaer Bahnhof von einem fröhlich-hektischen Klaus Röhl, der heilfroh war, das »Babyproblem« gelöst zu haben, mit besten Ratschlägen und Danksagungen übergeben wurden. »Tante« Holde hat mir später noch oft von der langen Nachtfahrt mit den zwei Neugeborenen erzählt. Sie gestand mir, dass sie und Renate, beide unverheiratet und kinderlos, ziemlich aufgeregt waren. »Wie man Babys wickelt und ihnen das Fläschchen gibt, das wussten wir beide nicht, aber wir hatten uns Bücher gekauft, und ich hatte schon auf der langen Fahrt nach Hamburg ganz viel gelesen.«2

Renate Riemeck, die zum Zeitpunkt unserer Geburt ebenfalls 42 Jahre alt war und zu Recht als die wichtigste politische und geistige Mentorin Ulrike Meinhofs gilt, nahm uns freudig als ihre »Ziehenkelkinder«, wie sie uns nannte, in Empfang. In Gundelfingen war für uns ein kleines Babyparadies hergerichtet. Diejenige, die sich von morgens bis abends um uns kümmerte und die unsere eigentliche Ziehtante wurde, war Holde, die in dem Frauenhaushalt die Wirtschaft führte. Holde hatte, bevor sie mit Mitte dreißig zu Renate gezogen war, im elterlichen Sanatoriumsbetrieb in Berneck im Fichtelgebirge als Bademeisterin und Diätköchin gearbeitet und später eine Ausbildung als Masseurin gemacht. Sie war im Umgang mit Menschen geübt und stellte sich als Idealbesetzung heraus, meine Schwester und mich zu übernehmen.

Holde setzte uns in den Zwillingskinderwagen und fuhr uns durch den Ort, badete und fütterte uns, strickte uns Strampelanzüge und beobachtete aufmerksam das Zwillingsspiel. Sie machte die ersten Filmaufnahmen von uns und legte im Laufe der Jahre ein ganzes Archiv von Bildern an. Renate Riemeck saß in dieser Zeit meist in ihrem Arbeitszimmer und schrieb Artikel, Bücher und Vortragsmanuskripte. Doch mehrmals am Tag kam sie bei Holde und uns vorbei, um sich an dem unverhofften Zwillingssegen zu erfreuen.

Der deutlichste Unterschied zwischen uns Zwillingen war der, dass ich besonders gern aß und schlief und ansonsten keinerlei Probleme machte, weshalb ich von Holde das »Normalbobbele« genannt wurde, während meine Schwester immer nur das halbe Fläschchen austrank und schlechter einschlief, dementsprechend weniger wog und trotzdem immer hungrig guckte, weshalb Holde sie liebevoll das »Vögelchen« nannte.

Die Operation

Wenige Tage nach unserem Umzug nach Gundelfingen wurde Ulrike Röhl in Hamburg operiert. Es wurde ein vergleichsweise harmloser Blutschwamm gefunden, der mit einer Metallspange, die im Kopf verblieb, abgeklemmt wurde. Diese Diagnose war für alle eine große Erleichterung. Ulrike Röhl hatte danach allerdings noch länger mit den Folgen des Eingriffs zu kämpfen, denn nach der mehrstündigen Operation litt sie weiter unter heftigen Kopfschmerzen.

Erst nach langen Tagen, in denen kein Schmerzmittel zu helfen schien, begann sich ihr Zustand zu bessern. Dann aber fiel sie in einen Wochen andauernden Müdigkeitszustand – sie selber nannte diese Zeit ihre »Plem-plem-Phase«, so Klaus Röhl, in der ihre Orientierung und Koordination nicht immer reibungslos funktionierten. Sie klagte darüber, alles doppelt zu sehen, ein völlig normales Zwischenstadium auf dem Weg zur Heilung, wie ihr die Ärzte versicherten. Nach ein paar Wochen normalisierte sich ihr Zustand. Sie blieb dann aber noch länger im Krankenhaus und war natürlich erschöpft.

»Ich kann kranke Frauen auf den Dood nicht ausstehen«, scherzte Klaus Röhl – ein Spruch, den seine Frau, deren Stärke Humor ohnehin nicht war, wahrscheinlich nicht besonders komisch fand. Zumal mein Vater dies, wie alles, was er sagte, natürlich ernst meinte, wie er in solchen Fällen stets mit großem Gestus betonte. Das war seine Art von Ironie und Schicksalsbewältigung: denn tatsächlich ist Klaus Röhl immer ein ganz besonders aktiver Krankenpfleger gewesen.

Klaus Röhl besuchte seine Frau täglich, gab an ihrem Krankenbett den Spaß- und Gute-Laune-Macher und brachte Freunde wie den Lyriker Peter Rühmkorf und dessen Frau Eva zum Skatspielen mit. Bekannt ist, dass Ulrike Röhl noch als Rekonvaleszentin schon wieder zur Schreibmaschine griff und vom Krankenbett aus ihren ersten Artikel nach der Operation für KONKRET schrieb. Böse Zungen haben gern behauptet, ihr Mann habe sie gezwungen, so früh wieder zu schreiben. Andere gehen davon aus, dass sie selber nach der Schreibmaschine verlangte. Wahrscheinlich war ihr eigenes Verlangen danach sogar besonders rigoros. Weder hatte sie selber allzu viel Verständnis für Krankheit, noch hatte sie die geringste Lust, etwas anderes zu tun als zu schreiben und politisch aktiv zu sein. Mit Macht drängte es die im Krankenhaus 28 Jahre alt gewordene ehrgeizige Ulrike Röhl wieder in die Redaktion, zurück zu ihrer Arbeit.

Ulrike Röhl stand in diesen Jahren am Beginn einer steilen Karriere als Journalistin, sodass man ihre Ungeduld verstehen kann. Sie fühlte sich zu Höherem berufen und wollte zurück an die Arbeit, zumal sie sich der Machtkämpfe in der Zeitung bewusst war und verhindern wollte, dass andere Mitarbeiter die Baby- und Krankheitspause ausnutzten, um selbst an den begehrten Chefredakteursposten zu gelangen. Nicht ganz falsch ist wohl auch die Analyse von Klaus Röhl, dass sie nach der Kopfoperation sich und den anderen beweisen wollte, dass sie noch schreiben und denken konnte. So verfasste sie im Krankenhaus einen Artikel über die von der damaligen Regierung geplanten Notstandsgesetze und demonstrierte damit, dass sie wieder auf dem Posten war. Sie entschied sich damit für ein Thema, das ihr geläufig war. Das eigentliche innenpolitische Thema des Herbstes 1962, die Spiegel-Affäre, die ihr als Chefredakteurin und Zuständige für das Ressort Deutschland unter normalen Umständen ganz gewiss in den Fingern gejuckt hätte, musste sie für sich ganz ausfallen lassen. In KONKRET wurde die Spiegel-Affäre vom Redakteur Hans Stern und von dem Rechtsanwalt Heinrich Hannover sowie von Klaus Rainer Röhl selber ausführlich behandelt.

Weihnachten 1962 verbrachte Ulrike Röhl noch im Krankenhaus; nach den Feiertagen wurde sie nach Hause entlassen. Eine Woche später, an einem grauen, verregneten Januartag, brachte »Tante« Holde uns Kinder nach Hamburg zurück und sollte dort noch ein Weilchen die Kinderpflege fortsetzen. Unter ihrer anhaltenden Fürsorge waren wir Babys ein munteres Zwillingsteam geworden. Meine Mutter hatte eine starke Erkältung und trug bei der Begrüßung einen weißen Mundschutz, um ihre Kinder nicht gleich am ersten Tag anzustecken, was Holde, wie sie mir später erzählte, ganz entsetzlich fand, denn ihrer Ansicht nach wäre es in diesem Fall besser gewesen, man hätte mit der Übergabe noch ein wenig gewartet.

Vom ersten Tage an gab es Spannungen zwischen Holde und Ulrike. Ich glaube, dass eine gewisse Eifersucht im Raum stand, wer denn nun die bessere Mutter sei und den Kindern näherstünde. Für Holde war es schmerzhaft, die lieb gewonnenen Babys, die sie nun schon ganz gut kennengelernt hatte, wieder abzugeben, auch wenn ihr bewusst war, wie sie oft sagte, dass die »Kinder zur Mutter gehören«. Ulrike Röhl dagegen konnte es wohl nur schwer ertragen, dass Holde ihr in jeder Hinsicht bei der Versorgung der Babys überlegen war und ihr obendrein auch noch Ratschläge erteilen wollte.

Klaus Röhl stand bei diesem »Hennenkampf« als aufgeregter Hahn daneben und versuchte, beiden Frauen das Wickeln, Füttern und Baden, so wie er es noch von seiner Tochter aus erster Ehe kannte, vorzuführen. Das Ergebnis waren zwei schreiende Babys, die sich, gewöhnt an die Ruhe in Gundelfingen, wo alles in einem gewohnten Rhythmus ablief, in dem unorthodoxen, unordentlichen Haushalt der Röhls erst zurechtfinden mussten – meine Eltern waren und blieben zwei sich gegenseitig im Produzieren von Unordnung übertreffende »Schlunzbolde« (Ausdruck Klaus Röhl), und dementsprechend muss die Wohnung ausgesehen haben.

Nach wenigen Tagen spitzte sich die Situation so zu, dass Holde, obwohl sie zur Unterstützung vier Wochen bleiben wollte, Hamburg schon nach Ablauf einer Woche wieder verließ und Ulrike und Klaus mit dem Problem, zwei kleine Kinder zu versorgen, alleine blieben. Lange hielt das Mutterglück nicht an. Nur mit einer Gewaltanstrengung war es Ulrike Röhl möglich, den Anforderungen des Tages, die sie vor allem an sich selbst stellte – Klaus Röhl bietet ihr zwar an, ihre Arbeit in der Redaktion vorerst zu übernehmen, was sie aber ablehnt –, zu genügen. Obwohl sie nach dem langen Krankenhausaufenthalt noch immer der Ruhe und Erholung bedurfte – so sah es jedenfalls mein Vater, der seine Frau auch gerne einmal für sich gehabt hätte –, wollte sie zeigen, dass sie alles auf einmal konnte, dass sie nicht nur die beste Chefredakteurin, sondern gleichzeitig auch die beste Mutter sei. Gemäß Renate Riemecks Grundsatz, dass man in Krisenzeiten die »Zähne zusammenbeißen muss«, beißt sie sich durch – koste es, was es wolle.

Knapp zehn Jahre später, 1972, als sie als Terroristin im Gefängnis sitzt, schreibt meine Mutter über diese Zeit nach der Kopfoperation ihrem Anwalt Heinrich Hannover:

»Kurz und gut: Dass eine Gehirnkiste Folgen hätte – ist ein Vorurteil dieser Gesellschaft. Sie hat Folgen, wenn die Betroffenen das Vorurteil verinnerlicht haben und die Anstrengungen, wieder ganz hoch zu kommen, nicht unternehmen, sondern vor den Vorurteilen und Anstrengungen kapitulieren. Das habe ich nicht getan. Ich habe zwei Monate danach Zwillinge versorgt und Chefredaktion von KONKRET gemacht – nicht weil ich stark war, sondern weil ich wusste, dass ich nur so die Sache hinter mich bringe.«3

Noch vor Ablauf der geplanten vier Wochen, die Holde in Hamburg bleiben wollte, befanden meine Schwester und ich uns bereits wieder auf der Reise nach Gundelfingen, wo uns ein weiterer vierwöchiger »Kuraufenthalt« gegönnt war. Doch meine Mutter kam auch in diesen Wochen nicht dazu, sich vollständig von der Operation zu erholen. Die gewonnenen vier Wochen nutzte sie aus, um wieder voll in ihre Arbeit einzusteigen und ihren Stand als Chefredakteurin zu festigen.

Die Zwillingswaage

Im Gegensatz zu dem ewigen Spaßmacher Klaus Rainer Röhl, der je nach Lebenslage entweder als Kasperle, Märchenprinz, Bösewicht, Verführer, alte Hexe, ewiger Geliebter, größter und wichtigster Chefredakteur der Welt, zweiter Tucholsky oder als Genie durchs Leben geht und oft gar nicht so genau zu wissen scheint, was zwischenmenschliche Beziehungen überhaupt sein könnten, war Ulrike Meinhof ein ernster, ideologisch bestimmter Mensch mit einer absoluten, nicht immer allen sympathischen Überzeugung von der eigenen Besonderheit. Mit missionarischem Eifer und großem Ernst wurden Menschen, denen die Journalistin begegnete, von ihr gerne pädagogisch behandelt und belehrt. Sie hinterließ bei vielen, mit denen sie beruflich zusammenkam, einen großen Eindruck und wollte mit ihren Artikeln und Rundfunksendungen wirken. Insofern standen beide Eltern in höchst unterschiedlichen Rollen eigentlich immer innerlich auf der Bühne und fanden kaum je zu wirklichem Privatleben.

Für meine Mutter stand in Sachen der Kindererziehung die Frage im Mittelpunkt, welches Kind das sozialere, hilfebedürftigere und »unterdrückte« Kind war – ihrer Ansicht nach Regine – bzw. welches Kind das kräftigere, selbstbewusstere, stärkere, also nach ihrer Auffassung das »dominierende« Kind war – ihrer Ansicht nach Bettina. Sie war von Beginn an eine scharfe Beobachterin jedes Zwillingsstreits mit dem Ziel, das jeweils schwächere Geschwisterkind zur Erhaltung der »Zwillingswaage« – ein häufig von ihr gebrauchtes Wort – tatkräftig zu unterstützen und jede Ungleichheit im Keim zu ersticken. Dass ich kurz nach der Geburt so proper gedieh und meine Schwester auf der Körperwaage überholte, löste bei ihr erstes Misstrauen und Gegenmaßnahmen aus, als müsse nicht nur meine Schwester mehr aufgepäppelt werden, sondern ich quasi gerechtigkeitshalber etwas in meiner Entwicklung gedämpft, damit die Zwillingswaage auf Gleichstand bliebe.

Auch später hatte ich manchmal den Eindruck, dass sie die Utopie der kommunistischen Gerechtigkeit, die sie idealisierte, gern an ihren Kindern erproben und verwirklichen wollte. Dabei nahm sie offenbar modellhaft an, dass es grundsätzlich ein »stärkeres« (negativ: egoistisch; positiv: durchsetzungsstark, gut für die Revolution) und ein »schwächeres« Kind (positiv: sozial; negativ: zu angepasst, nicht gut für die Revolution) geben müsse und dass man das stärkere Kind dahingehend erziehen müsse, immer alles mit dem schwächeren zu teilen; das Schwächere sollte sich gegen das Stärkere durchsetzen und in »permanenter Revolution« immer seinen Anteil auch von dem stärkeren Kind verlangen. So erklärte sie es uns später häufig.

Klaus Röhl hatte ein anderes Steckenpferd. Bei ihm war wichtig, welches Kind das »hübschere« und welches das »intelligentere« sei. Ein Dauerbrenner, der ihn noch Jahre beschäftigte und der mit zu meinen allerersten bewussten Erinnerungen überhaupt gehört. Ich sei zwar hübscher als Regine, sagte mein Vater bald fast täglich zu mir – angeblich schon auf dem Wickeltisch –, aber dafür sei Regine die »Intelligentere«. Meine Mutter regte sich über diese Sprüche ziemlich auf. Sie hielt ihm vor, dass so ein Gerede für die Kindesentwicklung schädlich sei, und versuchte, diesem negativen Einfluss gegenzusteuern, indem sie sagte: Regine ist auch hübsch, Bettina ist auch intelligent, dann aber wieder betonte, dass es auf beides nicht ankäme.

Einig waren sich meine Eltern darüber, dass Regine die Nase von »Klaus« und überhaupt »Papis« Gesicht habe, weshalb sie eine echte »Röhlsche« sei, während Bettina »der Meinhof’schen Großmutter« und »Mami« ähnlich sähe, weshalb ich die »Meinhof’sche« genannt wurde. Eingeprägt hat sich bei mir vor allem der Ausdruck: »Regine ist röhlsch«, wobei ich nicht verstanden hatte, dass der Ausdruck »röhlsch« von Röhl kam, sondern es für irgendeine, mir unbekannte Eigenschaft hielt. Als mich einmal – wir waren noch sehr klein – auf dem Spielplatz Kinder fragten, ob wir evangelisch oder katholisch seien, sagte ich ausweichend: »Was ich bin, weiß ich nicht, aber meine Schwester ist röhlsch.«

Ulrike und Klaus Röhl, die ich nun allmählich als meine Eltern kennenlernte, waren damals leidenschaftliche Hobbypsychologen, wobei neben Freud auch Rudolf Steiner (Ulrike Meinhof) und heidnische Mythen (Klaus Röhl) eine Rolle spielten. In einem wahrhaft fürchterlichen Cocktail von Psychozutaten hatten unsere Eltern uns Zwillinge schon nach wenigen Monaten perfekt durchanalysiert, sodass meine Schwester und ich, die wir noch nichts von unseren tieferen Charaktereigenschaften, Vorzügen und Schwächen ahnten – beide jedoch mit »Ulrikes«, wie es immer hieß, großen braunen Augen –, nur staunend beobachten und lernbegierig aufnehmen konnten, was die Eltern bald zur Wahrheit reden sollten.

Klaus Rainer Röhl, der also, von meiner Mutter leicht korrigiert, bald überall davon schwärmte, dass er die »hübschesten und intelligentesten Töchter« habe, nahm uns – trotz seiner Distanz siebten Grades zu sich selber und der Welt – als Vater irgendwie selbstverständlich an, auch wenn er sich für uns, was er häufig sagte, in den ersten Lebensjahren nicht so sehr interessierte. »Mit Kindern«, so sein oft wiederholter Spruch, »kann ich erst etwas anfangen, wenn sie sprechen können und man mit ihnen Skat oder Fußball spielen kann.«

Meine Mutter dagegen schien ihre Kinder vor allem als neue Arbeit und Aufgabe, als Versorgungsfall und als Erziehungsobjekte wahrzunehmen. Die Röhl’schen Verwandten, die sie bei der »Kindererziehung« erlebten, haben ihr immer zugutegehalten, dass sie sich bemühte, eine gute Mutter zu sein. Doch dieses Bemühen wirkte oft angestrengt, da meine Mutter demonstrativ auf jedes Bedürfnis von uns einging und schon bevor die Kunde von Summerhill Deutschland erreichte, ihre Kinder antiautoritär und psychologisch richtig zu erziehen versuchte. Holzklötzchen statt Plastikspielzeug, echte Babybreie statt Alete – daran hielt sie sich in ihrem kleinen Häuschen in Lurup in der schwarz gekachelten Küche strikt, während mein Vater in seinem Arbeitszimmer, im sogenannten »Renaissance-Zimmer«, saß und Zeitung las. Ihre Maxime war es, den Kindern jeden Willen zu lassen, niemals autoritär herumzukommandieren. Wenn wir heißen Kakao wollten, machte sie Kakao. War der Kakao fertig und wir wollten lieber kalte Milch, gab’s kalte Milch. Und wenn die auch nicht recht war, dann doch lieber Kakao oder Tritop oder gar nichts, bis alles im Geheule beider Zwillinge und dem verzweifelten Geschimpfe von Ulrike Röhl unterging. Nach so einem Theater, bei dem sie sich verausgabt hatte, war ihr Versorgungsinstinkt dann auch erlahmt, und sie war froh, wenn ein Kindermädchen uns übernahm.

Keine Taufe

Getauft wurde ich nicht, obwohl Klaus Röhl, der selbst eingeschworener Atheist in dritter Generation war und ist, nur allzu gern eine Taufe für »die Babys«, wie er uns weiterhin nannte, veranstaltet hätte. Er malte sich – wie er betont: nur zum Spaß – ein regelrechtes Medienspektakel im Hamburger Michel mit »namhaften Friedenspfarrern« aus, bei dem der berühmte Dr. Martin Niemöller, der Friedenspfarrer Herbert Mochalski und der konservative Hamburger Theologe Prof. Herbert Thielicke, den er persönlich kannte, auf drei verschiedenen Kanzeln, so die Idee, für den Frieden und gleichzeitig für seine Zwillinge predigen sollten. Ulrike Röhl lachte pflichtgemäß über den Scherz, lehnte aber solche Pläne, die heute modern wären, strikt ab.

Der Widerstandskämpfer Martin Niemöller, der lange Jahre unter den Nationalsozialisten im Konzentrationslager gesessen hatte und sich seit 1950 intensiv, wie auch Pfarrer Mochalski, gegen die Wiederbewaffnung der westdeutschen Bundesrepublik einsetzte, war wie Letzterer Anhänger der Bekennenden Kirche und Urvater der sich in den Fünfzigerjahren um Gustav Heinemann gruppierenden Opposition gegen den damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer gewesen. Politisch waren sie damit den Kreisen zuzurechnen, denen sich Ulrike Meinhof und ihre geistige Ziehmutter Renate Riemeck zugehörig fühlten. Doch den abenteuerlichen Gedanken, aus einer Taufe eine politische Friedenstaufe zu machen, deren Ergebnisse man am Ende in der Zeitschrift KONKRET veröffentlichen würde, fand sie absurd. Opulente Feiern, wie sie Klaus Röhl vorschwebten, auch wenn er sie, wie gesagt, nur »zum Spaß« vorschlug, waren ihre Sache nicht. Obwohl früher Christin gewesen, war es also eher meine Mutter, die jede Taufe ablehnte. Es reichte, wenn die Kinder Namen bekamen; darüber hinaus war eine Taufe überflüssig. Die Kinder sollten nicht vom »Opium des Volkes« (Marx) vergiftet werden. So jedenfalls drückte sie sich später ihren Kindern gegenüber aus.

So unterschiedlich wie in ihren Vorstellungen über eine Taufe ihrer Kinder waren meine Eltern auch in allen anderen Lebensfragen. Die »Methode Klaus Rainer Röhl«, Wortinhalte und Ideen in der von ihm sogenannten »Ironie dritten Grades« anzuschneiden – und das mit einem unschuldig-schwärmerischen Gesichtsausdruck, bei dem stets offenbleibt, ob er selber eigentlich weiß oder gar meint, was er sagt –, ist gewiss die größte Begabung Klaus Röhls und machte und macht ihn zu einer Art Hofnarren der Kaiserklasse, von dem bis heute nicht bekannt ist, ob er auch zu einer »normalen«, unauffälligen Konversation fähig ist.

Ulrike Röhl, geb. Meinhof muss in Klaus Röhls Anwesenheit angesichts der eigenen Schwere durch sein spielerisches Wesen Entlastung gespürt haben; seine absolute Unverbesserlichkeit machte jedes Missionieren zwecklos oder aber zur Lebensaufgabe. Klaus Röhl seinerseits schätzte ihre Ernsthaftigkeit, ihre Bewunderung für ihn, ihren Fleiß, ihre Durchsetzungsfähigkeit als Chefredakteurin und ihre absolute Loyalität. In dem Maße, in dem sie mit ihrer Intensität Menschen beeindruckte, mit dieser Fähigkeit auch die Zeitung zu leiten verstand, Erfolge erzielte und nach außen hin als die starke Frau auftrat, konnte er der Spaßmacher bleiben, der nicht allzu viel Verantwortung fühlte.

Wenn es überhaupt in ihrer Ehe und im gemeinsamen Berufsleben für eine Weile funktionierte, lag dies wohl an der großen Flexibilität von Klaus Röhl, der leicht nachgeben kann, sowie an dem klaren autoritären Willen von Ulrike Röhl, mit dem sie sich fast immer durchsetzte. Es lag allerdings auch an ihrer Leidensfähigkeit, mit der sie persönliche Querschüsse vonseiten ihres Ehemannes immer wieder erduldete. Gegen Klaus Röhls Glanznummer »Dr. Jekyll und Mr. Hyde«, in welcher er seinen Charakter sekundenschnell verändern und sich vom hinreißenden, liebevollen Klausi in den eiskalten Röhl verwandeln kann, kam selbst ein Schwergewicht wie Ulrike Meinhof, die einiges einstecken konnte und die lange den »guten Kern« in ihm liebte, auf die Dauer nicht an. Oder war es umgekehrt? Kam Röhl auf die Dauer doch nicht mit dem oft schweren und kompromisslosen Wesen von Ulrike Meinhof zurecht und suchte sich deshalb andere Frauen?

Die Partei

Der Rosenstrauß, den die seit dem 17. August 1956 in der Bundesrepublik illegale Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) meinen Eltern zu unserer Geburt schickte, war nicht nur ein leeres Symbol: Beide waren zum Zeitpunkt meiner Geburt Mitglied dieser verbotenen Partei. Es versteht sich von selbst, dass niemand außer den »Genossen« davon wusste, stellte die Mitgliedschaft in der KPD für Bürger der Bundesrepublik doch einen Straftatbestand dar.

Als ich nach dem Spiegel-Titel »Unsere Mutter – Staatsfeind Nr. 1«4, den ich 1995 auf Wunsch von Stefan Aust über meine Verschleppung durch die »Rote Armee Fraktion« (RAF) nach Sizilien und über meine Mutter geschrieben hatte, von verschiedenen Seiten aufgefordert wurde, ein Buch über mein Leben und meine Erinnerungen zu schreiben, begann ich mich mit der Geschichte der Zeitschrift KONKRET zu beschäftigen. Ich wusste zum damaligen Zeitpunkt von dem kommunistischen Hintergrund meiner Eltern nur wenig. Dass sehr viele Menschen aus dem Umkreis der Zeitschrift KONKRET Kommunisten waren oder als Linke galten, war so selbstverständlich für mich, dass ich es kaum für beschreibenswert hielt. Als ich das Buch meines Vaters 1982 das erste Mal las, war ich amüsiert. Alles graue Vorzeit, so meine damalige Reaktion.

Erst der Fall der Mauer, den ich sehr intensiv miterlebte, und das damit verbundene Hervortauchen der Ex-DDR aus dem Schatten des verschlossenen Eisernen Vorhangs machten mir bewusst, dass auch mein Leben etwas mit dem Kommunismus der DDR zu tun hatte und dass meine Eltern mit ihrer Zeitschrift KONKRET eine Schlüsselrolle beim Aufbau des Kommunismus in Westdeutschland gespielt haben. Bewusst wurde mir auch, dass Ulrike Meinhof, lange bevor sie 1970 in den Untergrund ging und bis zu ihrem Tod, vor allem Kommunistin gewesen war und dies nicht nur in ihrem Parteibuch. Der Kommunismus war ihre große Leidenschaft, ohne die ihr Tun wohl kaum zu erklären ist.

Es war auch unter historischen Gesichtspunkten spannend für mich, tiefer einzusteigen und zu recherchieren. Ich stellte fest, dass die Geschichte der Zeitschrift KONKRET und die Geschichte meiner Eltern ein Stück bundesrepublikanische und DDR-deutsche Geschichte waren, die mich ganz direkt betraf.

Was bedeutete es also 1962, zwei illegale kommunistische Eltern zu haben? Es bedeutete regelmäßige harte Entbehrungen und Angst. Was bedeutete es, zwei von Ostberlin hofierte Westkommunisten als Eltern zu haben, die eine Avantgarde-Zeitschrift machten, die vom SED-Staat als wichtiges Instrument der Agitation und bundesrepublikanischen Destabilisierung angesehen wurde? Es bedeutete zum Beispiel, dass meine Eltern jeden Monat 40 000,– DM bar auf die Hand aus Ostberlin bekamen und einen Haufen Privilegien dazu. Geld spielte also in meiner Familie zur Zeit meiner Geburt keine Rolle, denn mit dem Geld aus Ostberlin finanzierten meine Eltern ihre Zeitschrift KONKRET und ihren bescheiden-flotten Lebensstil. So gesehen wurde ich geradezu als Sterntaler geboren. In Ostberlin, woher meine Eltern ihr monatliches Geld bekamen – nach damaligem Wert ein kleines Vermögen –, hatte die illegale westdeutsche KPD ihren Hauptsitz bezogen. Meine Eltern hatten dafür Sorge zu tragen, dass in KONKRET eine prosowjetische Linie mit klarer Ausrichtung gegen die Bundesrepublik Deutschland vertreten wurde. Sie fuhren häufig nach Ostberlin zur »Einschätzung«, also zur ideologischen Überprüfung durch die Partei. Natürlich wurde auch abgefragt, ob sie denn ihre »Schularbeiten« – jeweils zur Zufriedenheit der Partei – erledigt hätten.

Sicherheit konnten meine Eltern ihren gerade geborenen Kindern nicht bieten. Als Illegale mussten sie in diesen Jahren bei Entdeckung mit einer sofortigen Inhaftierung und dem Verlust ihres Einkommens rechnen. Ich wuchs also bei Eltern auf, die innerhalb der wirtschaftlich und gesellschaftlich erblühenden Bundesrepublik der Fünfziger- und Sechzigerjahre eine verheimlichte Gegenposition zu diesem Staat einnahmen, für den Umsturz dieses Systems kämpften, lebten und schrieben und sich zumindest damals in einer nach außen hin kaschierten Außenseiterposition befanden.

Später fragte ich mich, wie es eigentlich dazu kam, dass meine Eltern, die beide in bildungsbürgerlichen Familien aufgewachsen waren, sich wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches erneut für eine Ideologie und eine Diktatur – diesmal für die Diktatur des Arbeiter-, Bauern- und Soldatenstaates der Sowjetunion5 – entschieden hatten. Warum begeisterten sie sich nicht für die Demokratie und für die soziale Marktwirtschaft, die sie doch selbst nicht ungern nutzten, oder eben auch für die Bundesrepublik insgesamt mit all ihren Stärken und Schwächen? Warum halfen sie nicht mit, diesen erst wenige Jahre alten Staat gegen jede Gefahr erneuter Extremisierung zu schützen? Spätestens 1956, auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), waren, von Chruschtschow im Zuge der ersten Entstalinisierungswelle in diesem Rahmen offiziell bestätigt, die Verbrechen Stalins bekannt, die schon vorher durch die sogenannten Renegaten im Ausland und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch durch Geheimdienste an die Öffentlichkeit gedrungen waren. Wie kam es, dass meine Eltern dieses Wissen ignorierten? Weshalb und wann wurden meine Eltern zu Gegnern dieser Gesellschaft?

2. Die Gründung der Zeitschrift KONKRET, 1955

»Sind Sie eigentlich Kommunist?«

»Wie und warum bist du eigentlich Kommunist geworden?« Dies war die Frage, die ich Klaus Rainer Röhl zum ersten Mal im Dezember 1996 stellte. Klaus Röhl auf diese konkrete Frage: »Weil ich ernsthaft daran glaubte …« »Weil ich glaubte, dass Chruschtschow einen besseren Sozialismus, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz einführen würde.« »Weil die kommunistischen Genossen mich damals davon überzeugten, dass ich nur ein armer Kleinbürger war, und weil mir der Klassenstandpunkt einleuchtete.« »Weil ich als gebürtiger Danziger mich nach einer Wiedervereinigung sehnte.« Und seine Lieblingsbegründung: »Weil ich provozieren wollte. Als die Partei 1956 verboten wurde, bin ich noch am selben Tag Mitglied der KPD geworden.«1

Danzig, die Röhls und die Neumanns

Meine Großeltern Frida und Hansulrich Röhl, beide Anfang des letzten Jahrhunderts 1906 und 1903 geboren, kamen aus Danzig, heute Gdansk in Polen. Sie waren 1945 vor den Russen nach Niedersachsen geflohen und fanden schließlich in Stade bei Hamburg eine neue Heimat.

Meine Oma Frida Röhl entstammte der Korbmacherfamilie Neumann, die drei schmale Stadthäuser im Zentrum Danzigs zwischen dem alten Rathaus und dem Arthushof bewohnte und bewirtschaftete. Die Eltern meiner Oma – Helene und Walter Neumann – verkauften in ihrem Geschäft Rattanmöbel, Strandkörbe und vor allem Kinderwagen, die sie im eigenen Betrieb herstellten. Walter Neumann durfte sich »Kaiserlicher Hoflieferant« nennen; er hatte für den deutschen Kronprinzen die Korbmöbel für dessen Sommerresidenz geliefert. Mein Ururgroßvater Gustav Neumann hatte das Geschäft 1875 gegründet. Meine Oma Frida und ihre vier Geschwister Eva, Günter, Heinz (nach 1945 in Russland vermisst) und Rudi (im Zweiten Weltkrieg als Pilot abgestürzt) hatten das Lyzeum bzw. das Gymnasium besucht. Frida und ihre Schwester Eva (Fridchen und Evchen) gingen mit 14 Jahren zur Tanzstunde, wo die beiden jungen Damen nicht wenige Verehrer hatten. Nie hörte meine Oma auf, davon zu schwärmen, wie sie als »junges Mädchen« mit ihrer Schwester im Sonntagsstaat Anfang der Zwanzigerjahre auf dem »Langen Markt« in Danzig entlangflaniert war. Natürlich halfen die jungen Mädchen nachmittags im Korbgeschäft. Meine Oma hat immer ihre etwas ältere Schwester Eva bewundert und neidlos anerkannt, dass diese der Schwarm der Schule und des Langen Marktes war. Die beiden Schwestern haben ihr Leben lang ein tolles und enges Verhältnis gehabt.

Lilo, die knapp sieben Jahre jüngere Kusine von Klaus Röhl, war die Tochter von Eva, der älteren Schwester seiner Mutter Frida. Sie erinnert sich an ihre Kindheit: »Meine Mutter Eva war die älteste Neumann-Tochter und die Patentante von Klaus. Er war ihr Ein und Alles und hing sehr an ihr. Die Neumanns waren hoch angesehene Bürger von Danzig. Unser Opa Walter Neumann hatte erst drei, später zwei Häuser am Langen Markt mit historischen Giebeln. Wir Enkel, also auch Klaus, Peter und ich, schwangen uns immer kunstvoll und ungefährlich an einem Lederstrang, der von oben bis unten zum Festhalten gedacht war, um die runde Treppe. Ganz unten im Haus war die Werkstatt von Onkel Paul, der ewig bei Neumanns angestellt war und die von Opa Walter entworfenen Korbmöbel anfertigte. Zwischen dem Geschäft und der Werkstatt gab es ein Sprachrohr, durch das die Bestellungen gerufen wurden. Nach jedem Essen in dem grün getäfelten Wohnzimmer – Opa Walter thronte immer auf einem kunstvollen, grünen Korbsessel – gab es für uns Kinder Konfekt aus dem berühmten Geschäft Mix am Langen Markt. Oma Lene, Walters Frau, kam aus einer sehr guten Familie. Ihre Eltern hatten in Danzig eine Kartonagenfabrik. Sie war lebenslustig, resolut und wie geschaffen für den stillen Opa Walter. Neumanns Korbgeschäft belieferte alle Strände mit Strandkörben. Und die Kinderwagen gingen prima. Ein Werbespruch lautete: ›Das Baby lacht vor Wohlbehagen, liegt es in Neumanns Kinderwagen.‹ Die Neumanns besaßen eine Dauerloge im Danziger Theater. Opa Walter war ein Künstler. Er entwarf alle Möbel selbst. Da Cadinen bei Danzig die Sommerresidenz des Kaisers und des Kronprinzen war, erhielt Opa Walter den Auftrag, die große Veranda mit seinen Korbmöbeln auszustatten. Der Haushofmeister erschien persönlich bei ihm und holte ihn ab, damit er die besagte Veranda in Augenschein nehmen konnte. Doch seine Kaisertreue sollte ihn viel kosten. Im Ersten Weltkrieg zeichnete er als Patriot den Wert seiner Häuser – damals 300 000 Goldmark – als Kriegsanleihe, half also dem Kaiser, den Krieg zu finanzieren. Das war dann mit dem verlorenen Krieg 1918 alles weg. Die Neumanns durften jedoch die Häuser weiter nutzen, und das Korbgeschäft lief gut, das kannte jeder in Danzig.«2

In den Zwanzigerjahren veranstalteten die Neumanns Musiknachmittage, sogenannte Kränzchen, bei denen die Familie zusammensaß, spielte und sang. Zu einer der Musikrunden bei den Neumanns kam eines Tages ein junger Mann, der gerade eine Ausbildung zum Lehrer machte – ein Verehrer von Frida. Hansulrich Röhl wirkte mit seinen 24 Jahren erwachsen und gebildet, worauf die Neumanns natürlich großen Wert legten. Er verstand es, humorvoll zu erzählen und die ganze Gesellschaft mit Anekdoten zu unterhalten. Bald hielt er um Fridas Hand an. Im Dezember 1928 kam Klaus Rainer Röhl zur Welt.

Tante Lilo: »Als Oma Lene, die Hansulrich als kleinen Dorfschullehrer und armen Schlucker für ihr Fridchen nicht gerade mit Begeisterung sah, erfuhr, dass Klaus unterwegs war, ehe noch die Ehe geschlossen war, ging sie schweigend in ihr Wohnzimmer, ergriff eine kostbare chinesische Vase und zerschmetterte sie auf dem Boden.«

Hansulrich Röhl stammte aus Bütow in Hinterpommern, gar nicht weit von Danzig. Sein Vater Hugo Röhl war der erste Journalist in unserer Familie: Er war Gründer, Herausgeber und Chefredakteur des Bütower Boten. Doch verlor er in einem Rechtsstreit gegen die evangelische Kirche (den er am Ende nach langen Jahren in letzter Instanz vor einem Berliner Gericht dann doch noch gewann) während des Prozessierens alles: die Zeitung und sein Geld. Seit diesem Streit waren die Röhls eingefleischte Atheisten. Hansulrich wurde wie sein Vater Hugo Freimaurer.