Die rauen Nächte von Graz - Robert Preis - E-Book

Die rauen Nächte von Graz E-Book

Robert Preis

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Beschreibung

Düster und melancholisch, nervenzerreißend und tiefgründig. Weihnachten in Graz: Schneeflocken tanzen durch die Luft, Glühweinduft weht durch die Straßen, Sonderermittler Armin Trost ist verliebt – es könnte alles so schön sein. Wäre da nicht ein Serienmörder, der die Stadt in Angst und Schrecken versetzt. Seine Opfer sind junge Frauen, sein makabres Markenzeichen ist ein Blumenstrauß, den er an den Tatorten hinterlässt. Trost ermittelt undercover und findet sich bald auf einem Höllentrip wieder, der ihm alles abverlangt. Bis er selbst mehr tot als lebendig ist.

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Seitenzahl: 305

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Robert Preis wurde 1972 in Graz geboren. Nach dem Publizistik- und Ethnologiestudium in Wien lebt er heute mit seiner Familie wieder in der Nähe seiner Heimatstadt. Er ist Journalist, Autor zahlreicher Romane und Sachbücher und Initiator des FINE CRIME-Krimifestivals™ in Graz.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv und Karte: Niki Schreinlechner, www.nikischreinlechner.at

Lektorat: Julia Lorenzer

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-222-2

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß

§ 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Geschrieben mit Gedanken anMax, Barney und Bonnie

There’s such a lot of world to see.

Moon River

Die Raunächte, auch »Die ungezählten Tage« genannt, sind jene mystische Zeit rund um den Jahreswechsel, die auf uralten Bräuchen beruht. Es handelt sich um zwölf Tage und Nächte, in denen die Geister des alten Jahres vertrieben werden. In dieser Zeit ist nichts vorhersehbar.Die Wilde Jagd kann beginnen.

20. Juni

Der Mittsommertag ist der längste Tag des Jahres.Ein Fest des Lichts und der Flammen. Und der reinen Freude.

1

»Bitte, schau nicht hin!«

Alles begann mit einem tiefschweren Schlaf, der ihn mit klammen Klauen festhielt. Immer wieder waberten seine Gedanken zurück, sehnten sich nach der Schwerelosigkeit einer Geschichte, die just zu dem Zeitpunkt in Vergessenheit geriet, in dem sich die Nebel lichteten. Es fühlte sich an, als hinge sein Verstand an einem Seil und jemand zöge ihn aus der unendlichen Tiefe einer Schlucht hoch. Er wehrte sich. Drehte sich noch einmal um. Ein Gedanke durchdrang ihn: Alles, was ist, ist dazu geworden.

Als käme er gerade erst in diesem Moment auf die Welt, schnappte er gierig nach Luft. Die Sirene jammerte durchs offene Fenster. Ihr klagender Klang schwoll an, ebbte ab, schwoll an und ebbte wieder ab.

Plötzlich riss er die Augen auf, küsste Lore auf die Stirn und hechtete aus dem Bett. Er schlüpfte in die Schuhe und lief aus dem Haus. Der Wagen sprang sofort an. Der Motor heulte auf. Sekunden später jagte er durch die Straßen der schlaftrunkenen Siedlung.

Als er in die Feuerwehrstation kam, war die halbe Mannschaft schon in voller Montur. Er hetzte grußlos in die Garage, brauchte nur wenige Sekunden, um sich Hose und Jacke über seinen Trainingsanzug zu stülpen und in den Tanklöschwagen, einen TLF-A mit fest eingebauter Feuerlöschpumpe, zu klettern. Das Martinshorn plärrte in die Nacht.

Knackende Durchsagen im Funkgerät, Gähnen, aufgeregtes Kichern unter den Kollegen, ein Einsatzleiter, der seine Truppe argwöhnisch begutachtete.

Als sie den Wald erreichten, sah er das rauchende Autowrack sofort, Stichflammen stoben auf. Er funktionierte mechanisch, sprang mit den anderen aus dem Wagen, reagierte auf die Kommandos, beherrschte jeden Handgriff im Halbschlaf, in dem er sich ohnehin noch befand.

Dann hatte er plötzlich ein Brecheisen in der Hand und stakste über Wurzelwerk und Moos. Er hantierte an der hinteren Tür des Wagens, während es die Kollegen über die andere Seite versuchten. Da schrie ihn plötzlich jemand an. Er solle umdrehen. Er werde hier nicht mehr gebraucht. Ungläubig hielt er inne. Was sollte das heißen, er werde nicht gebraucht? Sie waren die Feuerwehr. Die Ersten am Unfallort. Natürlich wurde er gebraucht. Jede Sekunde zählte.

»Du sollst hier weg!«, brüllte einer seiner Kameraden.

Sein Herz raste.

»Bist deppert?«

Eine Hand ruhte plötzlich auf seiner Schulter. »Echt jetzt. Geh beiseite.«

Sein Gehirn spulte zurück. Er rannte zurück, der Wagen fuhr rückwärts, er war wieder im Bett, in der tiefen Traumschlucht. Stopp. Langsam wieder vorspulen. Die Sirene. Er wachte auf. Sprang aus dem Bett. Drehte sich noch einmal um. Da hatte es gar keinen Kuss gegeben. Keine Lore. Das hatte er sich nur eingebildet. Das Bett war leer gewesen. Aber sie hatte doch gesagt, dass sie heute Nacht nach Hause …

»Du sollst hier weg!«, schrie jetzt wieder jemand in seiner Nähe. Aber er rührte sich nicht. Warf einen Blick in den Wagen. Auf die schrecklich zugerichtete Gestalt am Rücksitz.

Alles, was ist, ist dazu geworden.

»Bitte, schau nicht hin!«

Aber es war schon zu spät. Er hatte alles gesehen.

November

Man sagt, in dieser Zeit schlafe die Welt ein.Nur die Schattenwesen schlafen nicht. Die erwachen.

2

Ein graugrausiger Ort

Es gibt keine Zufälle. Ein Leitsatz, dem Armin Trost seit langer Zeit folgte. Was sonst hätte jemand auch tun sollen, der seiner Intuition so bemerkenswerte Erfolge zu verdanken hatte? Seinem engeren Kreis waren seine Fähigkeiten ebenfalls längst bewusst. Seit er jedoch von General Norbert Pankraz, dem obersten Kriminalbeamten des Landes, zum Sonderermittler des Bundeskriminalamts ernannt und zum Leutnant erhoben worden war, gab es keinen engeren Kreis mehr. Er leitete eine Sondereinheit, die nur aus seiner Person bestand. Er war allein. Allein mit seinen Marotten. Allein mit seinem Hund, Zeus.

Dafür eilte ihm sein Ruf durch den gesamten Polizeikörper voraus. Trost, das war der Verrückte, den das Böse quälte. Dem es mitunter sogar Daumenschrauben ansetzte. Am Ende besiegte er es aber immer. So grausam und heimtückisch seine Gegner auch waren, Trost ging stets als Sieger hervor. Da war es besser, allein zu arbeiten. Ohne Team. Ohne privates Glück. Mit so einem Typen hält es ja keiner aus.

Die letzten Monate, genau genommen der letzte Fall, hatten Trost dann tatsächlich auch noch seine Familie gekostet. Jedenfalls hatte sich Charlotte von ihm entfernt, es gab nur sporadischen Kontakt, sogar die Kinder bekam er kaum zu Gesicht. Krisen hatte es schon öfter zwischen ihnen gegeben, doch wer wagt es schon, hervorzutreten und zu behaupten, er kenne das nicht? Als würde das Leben eines Menschen stets auf einer emotionalen Geraden verlaufen. Stets perfekt.

Aber diesmal war es anders. Diesmal gab es nicht einmal für das anstehende Weihnachtsfest eine in Aussicht gestellte Versöhnung. Diesmal hatte auch Trost kein Bedürfnis nach Nähe mehr. Er hatte abgeschlossen. Zog sich in seine Welt zurück, die sich anfühlte wie ein schwarzer Punkt, auf den sich alles reduzierte.

Manchmal konnte er tatsächlich alles rundherum ausblenden, jedes Haus, jeden Menschen, jedes Geräusch. Er konnte alles so weit ignorieren, dass er sich nicht einmal sicher war, ob er selbst überhaupt existierte. Nein, falsch, er hatte dieses Gefühl nicht. Er fühlte einfach nichts mehr. Als hätte das Unterbewusstsein vollständig das Kommando übernommen.

Und so kam es, dass er sich eines herbstfrostigen Tages plötzlich in der Schubertstraße linksseitig der Mur wiederfand, einer Gegend, die weit weg von seinem Baumhaus in Gösting war. Am anderen Ende der Stadt, im Univiertel, mitten unter den von Anwaltskanzleien und Universitätsinstituten besetzten Villen. Er hatte keine Ahnung, wie er hierhergekommen war, musste stundenlang tief in Gedanken versunken durch die Stadt gewandelt sein.

Zeus gefiel das. Er stupste mit seiner Nase angefrorene Grashalme zur Seite, wedelte mit dem Schwanz und schien vorzuhaben, jede einzelne Verkehrstafel der Stadt zu beschnüffeln. Es war bitterkalt, und ihre Atemwolken hüllten die Umgebung in rauchiges Weiß.

Ja, so seltsam es klingt, Trost schaute sich erstaunt um und schien aus einem Tagtraum aufzuwachen. Auf der Straße war kaum etwas los, und die wenigen, die an ihm vorübergingen, waren tief in ihre Mäntel geduckt. Es war Ende November, der Winter kündigte sich an und zeigte sein für Graz so typisches Gesicht. Ein Himmel, der direkt in die Schornsteine floss, konturlos und freudlos. So wie der Himmel wirkten auch die Menschen und alles rundherum: schmutzig und vernachlässigt. Ein graugrausiger Ort.

Keine fünfzig Meter von ihm entfernt bremste ein weißer Lieferwagen zwischen den Alleebäumen ab. Eine Abgaswolke wehte auf den Gehsteig zu. Die Schiebetür des Wagens polterte auf. Etwas wurde aus dem Fahrzeug geworfen, das hinter einem Baum liegen blieb. Dann ging die Tür wieder zu, Reifen quietschten, der Wagen verschwand. Die Wolke riss in Fetzen auf.

Trost brauchte einen Moment, um herauszufinden, wie er einordnen sollte, was er gesehen hatte. Dann steuerte er auf die Stelle zu, an der der Wagen stehen geblieben war. Zeus lief treu wie immer an seiner Seite, und der Hund hielt nach wenigen Metern ebenso abrupt inne wie sein Herr. Er stellte die Nackenhaare auf, knurrte, winselte. Alles zugleich. Und wahrscheinlich machte Trost ähnliche Geräusche, denn was die beiden da zu Gesicht bekamen, war einfach unaussprechlich. Graugrauslich.

3

Die Kreatur

Ihre blasse Haut hatte die gleiche Farbe wie sein Atemnebel, und fast hatte es den Anschein, als hätte sie auch die gleiche Konsistenz. Als wäre die Gestalt, die da vor ihnen zwischen den Bäumen hockte, gar nicht real. Als wäre sie nur ein sich auf zauberhafte Weise in Nebelschwaden verfestigender Gedanke.

Trost brauchte eine Weile, um sich heranzuwagen, denn die Gestalt löste einen Fluchtimpuls in ihm aus, gegen den er sich nur mühsam wehren konnte. Zeus schien es nicht anders zu gehen, denn er zeigte so gar kein Interesse, sich schnüffelnd zu nähern. Im Gegenteil, als Trost sich zögerlich auf die Gestalt zubewegte, setzte sich der Hund und beobachtete skeptisch, was vor sich ging.

Erst jetzt schien das feenartige Wesen auch auf Trost aufmerksam zu werden. Es löste seine kauernde Haltung auf, tastete sich am Baumstamm hoch und stolperte am ganzen Körper zitternd von ihm weg. Die Person war nackt. Und nicht nur das. Haarbüschel umwehten ihren Kopf wie Staubfusel, die Lippen waren weiß wie frisch gefallener Schnee. Sie war dürr. Und bleich. Fast durchsichtig bleich.

Trost schauderte, überwand schließlich seine Ängste und folgte ihr, bis er sie endlich erreicht hatte. Als er den bibbernden Körper an der Schulter berührte, stöhnte die magere Gestalt auf. Sie hatte glitschig-feuchte Haut, wie eingeölt, wie schweißnass. Er drehte sie zu sich. Erst jetzt erkannte er, dass dieses Wesen eine Frau sein musste. Gewesen sein musste. Er schüttelte den seltsamen Gedanken ab. Wieso sollte sie gewesen sein, wenn sie vor ihm stand? In ihren Augen sah er das blanke Entsetzen. Angstflattern.

Im Licht der Straßenlaternen näherten sich Minuten später die von ihm gerufenen Einsatzfahrzeuge. Eine Polizeistreife und ein Notarztwagen, der es vom Landeskrankenhaus hierher ja nicht weit hatte. Ein paar Passanten hatten sich mittlerweile auch dazugesellt. Trost hatte die Frau in seine Jacke gehüllt, weigerte sich aber angesichts ihres erbarmungswürdigen Zustands zuzugeben, dass er selbst deshalb fror.

Sie brachten sie ins Spital. Er würde ihren letzten Blick, als sie in den Krankenwagen stieg, nie vergessen. Sie schaute ihn an. Flehend. Aber auch anklagend. Als hätte er mit seiner Herumsteherei bereits zu viel Zeit vergeudet. Er hätte diese Schweine längst fassen müssen. Diesen weißen Bus. Und die Leute darin. Eine Person, die den Wagen gelenkt, eine weitere, die die Frau aus dem Fahrzeug gestoßen hatte. Mindestens zwei also.

Als der Krankenwagen mit der bleichen Dürren verschwand und Trost mit den Passanten und den Polizisten zurückblieb, war er immer noch zutiefst erschüttert. Es sind immer weiße Busse. Von denen gibt es am meisten. Als die Polizisten seine Aussage aufnehmen wollten, wandte er sich ab, tippte eine Nummer in sein Handy und wartete darauf, dass sich die Stimme am anderen Ende der Leitung meldete.

»Von eins bis zehn, wie dringend ist es?«

4

Der Todeston

»Von eins bis zehn, wie dringend ist es?« Diesen Spruch ließ General Norbert Pankraz immer los, wenn er »Trost« am Display seines Handys aufleuchten sah. Mittlerweile hätte er sich das auch sparen können, denn wenn erst einmal jemand beim General anrief, beim obersten Beamten des Bundeskriminalamts also, dann musste es zwangsläufig dringend sein.

Nachdem Trost ihm sein Erlebnis geschildert hatte, lief alles so ab, wie es normalerweise nicht ablief. Die Kollegen des Streifenwagens konzentrierten sich auf die Aussagen der Passanten, verscheuchten sie aber gleich wieder, als sie sich vergewissert hatten, dass niemand Fotos oder Ähnliches gemacht hatte, und ließen auch Trost in Ruhe. Der war mit Zeus bereits auf dem Weg ins Krankenhaus, um herauszufinden, wie es der Frau ging und ob sie diese Nacht (und weitere) überleben würde.

Als er endlich bei der Intensivstation der richtigen Abteilung des labyrinthartigen Spitalzentrums angekommen war, waren nicht nur die ersten Planquadrate eingerichtet worden, um jeden weißen Bus von der Straße zu holen, der hier vorüberfuhr, auch die ersten zivilen Beamten waren ausgeschwärmt. Agenten, die durch die Stadt schlichen, um nach etwas zu suchen, das sie auf neue Erkenntnisse stoßen lassen könnte.

Aber natürlich gab es nichts zu finden, denn Trost hatte ja kaum hilfreiche Angaben machen können. Eine seltsame nackte Frau, ein seltsamer weißer Bus. Das war schon alles.

Immerhin konnten die Tatortspezialisten die Reifenspuren des weißen Wagens, der durch sein abruptes Wegfahren Gummiabriebe am Asphalt hinterlassen hatte, untersuchen sowie sämtliche Kameraaufnahmen der Umgebung überprüfen. Und während all das geschah, saßen Zeus und Trost wie festgefroren in dem spiegelglatt polierten Gang vor einer Schwingtür mit der Aufschrift »Intensivstation«. Minutenlang. Stundenlang.

Irgendwann wurde er vorgelassen. Durfte in das Zimmer eintreten, wenngleich die Frau in künstlichem Tiefschlaf gehalten wurde.

»Sie wurde misshandelt«, erklärte eine Ärztin, die augenscheinlich schon viel in ihrem Leben gesehen hatte und nicht mehr die Jüngste war. Dennoch wirkte sie geschockt. »Man hat ihr ein Mittel verabreicht, das ihren Körper von innen auffrisst. Wir wissen noch nicht, was es ist. Sie hat mittlerweile sämtliche Körperbehaarung verloren, aber das ist nicht das Schlimmste. Es muss ungeheure Schmerzen verursachen. Und wir können nichts mehr für sie tun.«

Trost blickte starr auf das Häufchen Mensch, das er vor wenigen Stunden vor dem hilflosen Erfrieren mitten in der Stadt gerettet hatte und das jetzt im Begriff war, vor seinen Augen zu sterben. Trotz des Zimmerlichts war unter all den Schläuchen und Apparaten kaum feststellbar, wie diese Frau einmal ausgesehen haben mochte. Ohne Augenbrauen und Haare, die sie mittlerweile vollständig verloren hatte, und mit einer Haut, die wie glatt gebügelt wirkte, erinnerte ihr Gesicht an eine Gummimaske. Künstlich. Fratzenhaft.

»Wie lange hat sie noch?«

Kaum ausgesprochen, war Trost selbst schockiert über seine Frage. Sie klang so vertraut. Als bestünde da eine Beziehung zwischen ihm und der Todgeweihten.

Erst jetzt schien die Ärztin des Hundes an Trosts Seite gewahr zu werden. Ein Hund in der Intensivstation, das war bestimmt eine Premiere, und Trost rechnete es der Medizinerin hoch an, dass sie diese Sache nicht ansprach. Er hätte auch nichts dagegen unternehmen können, der Hund gehörte zu ihm wie ein Körperteil.

»Ich befürchte, es kann jeden Moment vorbei sein. Wir haben ihr – soweit es geht – die Qual genommen. Aber wer weiß …«

In diesem Moment veränderte sich die auf und ab stolpernde Linie am Monitor, und das rhythmische Piepsen aus dem Computer, das den Herzschlag simulierte, wurde zu einem lang gezogenen, gleichbleibenden Ton. Das kam Trost seltsam vor. Wenn man stirbt, dann heult ein Ton, der nicht von dir stammt, aber doch deiner ist, blechern und ohne Melodie. Er würde nie mehr aufhören, über den Tod hinaus heulen, bis in alle Ewigkeit. Und nur wenn man das verdammte Ding händisch abstellte, hörte dieser Todeston auf.

Todeston.

5

Eine Tatortüberraschung

Ein paar Tage nachdem der Todeston gepiepst und vom Lebensende einer immer noch nicht identifizierten Frau gekündet hatte, wurde klar, dass dieser Herbst des Schreckens nahtlos in einen ebenso tristen Winter hinübergleiten würde.

Ganz in der Nähe zur Schubertstraße, dort, wo Trost die Begegnung mit dem weißen Bus gehabt hatte, befand sich die kleine Wohnung einer Mitarbeiterin der Pressestelle des Dekanats der Universität. Auf dem Türschild stand »Nele Hammersdorf«. Auf den Bildern im Flur, die fast ausnahmslos Aufnahmen von ihr selbst zeigten, war unschwer zu erkennen, wie gern Nele sich hübsch machte. Meist hatte sie sich die Sonnenbrille ins blonde Haar gesteckt, sie schminkte sich mal fröhlich bunt, dann wieder vampmäßig blass, war aber stets darauf bedacht, so zu wirken, als würde sie aus einem Modekatalog lachen.

Trost hatte die Wohnung zu einem Zeitpunkt betreten, als fast alle anderen Tatortermittler schon draußen gewesen waren. Er warf einen Blick ins Wohnzimmer, dessen Glastür direkt in einen winzigen Garten führte. Ein flauschiger weißer Teppich am Boden, eine Menge Pölster auf der bequem aussehenden Couch und ein großes Porträt, das nur das Gesicht der hübschen Frau abbildete.

Ein paar Schritte weiter entdeckte er das Badezimmer, gleich daneben das Schlafzimmer. Ein Lampenschirm, der rötliches Licht über ein Doppelbett warf. Ein verspiegelter Wandschrank. Über dem Bett ein weiteres Bild. Wieder die Frau. Diesmal nackt.

Erstaunt hob Trost die Augenbrauen. Nicht etwa wegen der Aktfotografie, sondern weil er eine weitere Aufnahme bemerkt hatte, ein Bild, das Balthasar Gierack in der Hand hielt.

Der Chef des Landeskriminalamtes saß am Bettrand und starrte die Fotografie an.

»Finde sie, Trost. Steh nicht so blöd herum, finde sie.« Dann blickte er auf und sah ihn aus tränenroten Augen an. »Mach schon. Tu was.«

»Deine Tochter?«, brachte Trost hervor. Er mochte Gierack nicht, und er wusste auch, dass er dunkle Geheimnisse mit sich schleppte, die es noch aufzudecken galt. Trost spürte so etwas ganz genau, und nach seinem letzten Fall, als es zu einer regelrechten Hexenjagd in Graz gekommen war, wusste er, dass Gierack nicht sauber war. Ganz und gar nicht sauber. Aber in diesem Moment durchflutete ihn ein Anflug von Mitleid. Etwas, das er allerdings sogleich bereuen sollte.

Gierack schaute ihn zornig an: »Nein, du Depp, nicht meine Tochter.«

6

In der Höhle

Gierack wurde von dem Fall abgezogen, er wäre ohnehin nicht in der Lage gewesen, die Ermittlungen zu leiten. Immer wieder stammelte er etwas davon, dass seine Freundin bald auch als haarloses Monster herumrennen würde, sollten sie sie nicht unverzüglich finden. Er trieb alle ihn Umgebenden an, sich zu bewegen, zu suchen, zu ermitteln. Tag und Nacht. Ohne Pause. Für ihn war sofort klar gewesen, dass es einen Zusammenhang mit der toten Frau gab, die zuvor aus dem weißen Bus geworfen worden war. Trost fand das erstaunlich, doch Gierack war dermaßen überzeugt davon, dass er gar nicht umhinkonnte, seine Gedanken in diese Richtung zu lenken. Zwei Frauen, eine tot, die andere verschwunden.

Dies war der Zeitpunkt, als Reinfried Schwarz aus dem Burgenland nach Graz beordert wurde, und seine erste Handlung war ein Schreigefecht mit Gierack, das immerhin zum Ergebnis hatte, dass der Chef des steirischen Landeskriminalkommandos sich wieder im Griff hatte, wenngleich er von nun an auf dem Abstellgleis stand.

»Also«, sagte Schwarz mit immer noch vom Wortgefecht zittriger Stimme. »Trost wird Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen. Sehen Sie sich dazu in der Lage?«

Es war Gierack anzumerken, wie sehr ihn die Aussicht, ausgerechnet von Armin Trost befragt zu werden, quälte. Er hasste den Kollegen – vor allem dessen Erfolge.

Eine Minute später saß Trost vor ihm. Der Raum, in dem sie sich unterhielten, war Gieracks »Höhle«, wie dessen Büro genannt wurde. Eine finstere Kammer, deren einziges Fenster von heruntergelassenen Jalousien abgedunkelt wurde. Die Tischleuchte spendete einen effektvollen Lichtkegel, ansonsten verlor sich das Zimmer in düsteren Schatten. Die meisten Kollegen fühlten sich in diesem Raum nicht wohl, Trost dagegen hatte ihn immer schon interessant gefunden.

»Erzähl mir von ihr«, hob er ohne Umschweife an und erntete dafür einen hasserfüllten Blick aus einem versteinerten Gesicht.

»Schau.« Trost fixierte sein eigenes Knie, ließ seinen Blick dann durch die schummrige Umgebung schweifen und prüfte, ob sich im Halbdunkel nicht doch der eine oder andere Geist verbarg. »Ich halte mich nicht mit Höflichkeiten auf, das weißt du. Ich frag dich freiheraus, du antwortest, ich ziehe meine Schlüsse, und fort bin ich. Ganz einfach.«

»Soso, ganz einfach also. Ich hab gesagt, du sollst sie finden, und jetzt stehst du vor mir und befragst mich, als hätten wir alle Zeit der Welt. Und Nele muss derweil was auch immer erleiden … wer weiß, ob sie … ob sie …«

Trost zuckte mit den Schultern. »Wir können das Gespräch auch gerne in die Länge ziehen, indem ich …«

»Bitte nicht. Nicht länger als nötig«, unterbrach ihn Gierack. »Also, stell eine konkrete Frage, ich gebe dir eine konkrete Antwort.«

Trost holte einen Notizblock, ein Billigsdorfer-Modell mit karierten Blättern, und einen Bleistift aus der Jackentasche. »Nele Hammersdorf, Tochter des gleichnamigen Landesrats, siebenundzwanzig Jahre alt, Mitarbeiterin der Uni-Presseabteilung. Was ist sie für ein Mensch?«

Gierack schlug die Beine übereinander und seufzte so intensiv, dass kleine Speicheltropfen auf die Schreibtischplatte fielen. »Immer diese allgemeinen Fragen. Was ist sie für ein Mensch, was ist sie für ein Mensch? Sie hat studiert, Politikwissenschaft, Medienrecht, was weiß ich, irgend so ein Fächerbündel halt. Nebenbei hat sie fürs Dekanat die Internetseite betreut. Sie hat sich engagiert, wie das die Jungen halt so machen. Fürs Klima, für die Umwelt. Zuletzt hat sie sich für die Bäume, die beim Bau vor der Uni gefällt werden sollten, reingehaut. Hat sogar davon geredet, dass sie sich an die Platanen in der Harrachgasse hängen würde, falls die Bagger auffahren und die Vorklinik plattmachen. Hat sich mit diesen Typen, diesen Klimaklebern, getroffen, um sich Tipps zu holen. Aber ich bitte dich, das ist doch kein Mordmotiv, ich mein, die Baufirma wird ja deshalb keine Killer auf sie angesetzt haben. Außerdem sind die Bäume eh schon fort.«

Trost blickte auf. »Diesen Gedanken hatte ich gar nicht. Aber bleiben wir kurz bei dieser Baustelle. Da hat sie dagegen angekämpft?«

»Hat sie, ja …«

Der giftige Blick entging Trost nicht. Er hob die Augenbrauen. »Wie gesagt, wir haben keine Zeit für Höflichkeiten. Aber meinetwegen, sie kämpft immer noch.«

»Ja.« Gierack spreizte seine Finger und betrachtete sie, als würde er in ihnen Fenster in die Vergangenheit finden. »Es geht um diesen Neubau. Die Vorklinik wird weichen, das Center of Physics gebaut. Die errichten das neue Gebäude aber bis an die Grundstücksgrenze, was bedeutet, dass sämtliche Bäume, ich glaub, rund zwanzig Stück oder so, rundherum entfernt werden mussten. Und außerdem soll ja diese Tiefgarage kommen, deshalb wurden weitere fünfundzwanzig Bäume gefällt. Nele ist sehr emotional, was dieses Thema betrifft.«

»Du nicht?«

»Geh bitte, was soll das jetzt? Lass mich mit diesem Blödsinn in Ruh. Machen wir weiter, ja?«

Trost konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es war so einfach, seinen einstigen Boss aus der Reserve zu locken. Unglaublich einfach eigentlich, wenn man bedachte, dass es sich um eine Führungsperson handelte. Aber Gierack war eben keiner, der an der Front arbeitete, sondern ein Bürohengst, einer, der bestenfalls das Rampenlicht suchte, das zuvor von seinen Mitarbeitern aufbereitet worden war.

»Wie ist eure Beziehung sonst so?«

Gierack machte ein Geräusch, das Trost nicht zuordnen konnte. Es lag zwischen Grunzen und Knurren.

»Was soll ich da sagen? Im Grunde geht Sie das natürlich nichts an.« Die plötzliche Wende zum Sie entging Trost nicht. »Aber gut. Sie war«, Gierack fuhr sich fahrig über die Stirn, »sie ist halt eine kleine Schlampe. Wir haben uns nichts vorgemacht. Sie wollte ihren Spaß, ich wollte meinen. Es ist eine rein körperliche Beziehung. Wollen Sie weitere unsittliche Details?«

Trost achtete nicht darauf, dass Gierack beharrlich beim Sie blieb. Er hütete sich auch davor zu antworten und wartete das plötzliche Schweigen behutsam ab, bis Gierack es von selbst wieder brach.

»Wir haben uns nie sehr ernst genommen. Haben viel ausprobiert.« Er räusperte sich. »Ich fühl mich halt jung bei ihr.«

»Gab es Streit?«

»Nein.«

»Gab es einen Grund für dich, eifersüchtig zu sein? Ich meine, sie ist ein junges Ding …«

»Nein, ganz und gar nicht. Dafür haben wir uns zu flüchtig gekannt.«

»Freundschaft plus?«

»Wenn Sie das so nennen wollen, ja, so dämlich bezeichnet man das heute wohl.«

»Liebst du sie?«

»Bist deppert?«

Das kam so prompt, dass Trost an der Wahrhaftigkeit der Worte nicht zweifeln konnte und beinahe aufgelacht hätte. Dennoch sagte er laut: »Ich frage nur, weil du um sie geweint hast.«

Gierack sprang auf und richtete den Zeigefinger auf ihn wie eine Waffe. »Wenn du was wissen willst, um den Fall zu lösen, frag mich. Aber lass diesen Psychoscheiß. Hörst du? Lass das.«

Trost blickte ihn ungerührt an. »Kann es sein, dass sie abgehaut ist?«

»Glaub ich nicht. Wir haben uns verabredet. Das hätte sie sich nicht entgehen lassen.«

Trost hob die Augenbrauen, offenbar überrascht vom Selbstvertrauen eines Mannes, der fast dreißig Jahre älter als seine heimliche Geliebte war. Gierack setzte sich wieder.

»Nicht, was du denkst. Ich hab ihr versprochen, dass wir ins Tierheim gehen. Sie wollte unbedingt einen Hund. Das war ihr Herzenswunsch. Deshalb ist mir ihr Verschwinden so merkwürdig vorgekommen. Sie hat sich so darauf gefreut, da haut doch keine ab.«

»Und du? Hast du ein Alibi?«

»Oaschloch.«

»Soll ich das notieren?«

Gierack schnalzte mit der Zunge und schaute nun seinerseits in die sie umgebende Dunkelheit. »Ja, verdammt, ich hab ein gutes. Ich war an dem Wochenende, an dem sie verschwunden ist, zu Hause. Bei meiner Frau. Und den Kindern.«

Trost klopfte mit dem Bleistift auf den Notizblock, und Gieracks Stimme klang unter dem Geräusch leise, fast brüchig.

»Ich wär dir sehr verbunden, wenn du das nicht überprüfst. Oder, sagen wir, erst dann, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden lässt.«

»Wie soll ich das machen? Das ist eine Ermittlung, Balthasar.«

Gierack hatte sichtlich Mühe, die folgenden Worte über die Lippen zu bringen. »Aber du hast doch Fähigkeiten wie kein anderer, Armin. Du erspürst doch das Böse, oder?« Er rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Du müsstest dann ja auch spüren, dass ich unschuldig bin, also könntest du meine Frau da rauslassen.«

Trost nickte, aber es lag keinesfalls Genugtuung darin. Natürlich war er sich des Umstands bewusst, dass Gierack, mit dem er so unendlich viele Reibereien hatte, vor ihm auf den Knien rutschte. Doch Trost kannte so etwas wie Schadenfreude oder Zynismus nicht. Er konnte aber auch nicht über seinen Schatten springen und unsachlich sozial sein. Deshalb sagte er nur: »Wir werden sehen«, stand auf und verschwand aus dem Lichtkegel der Schreibtischlampe in den Schatten.

Gierack starrte ihm fassungslos nach. Das Gefühl der Unsicherheit schnürte ihm die Brust zu, und auch der quer durch den Raum geworfene Bleistift, den Trost zuvor liegen gelassen hatte, verschaffte ihm keine Erleichterung. Wie er diesen selbstgefälligen Typen hasste. Er brauchte ihn, aber er würde ihn zur Strecke bringen. Bei nächster Gelegenheit.

7

Die Erkenntnis

Als Schwarz wenig später seine Mannschaft zusammentrommelte und auf die kommende Fahndung einschwor, hatte Trost Mühe, sich zurückzuhalten. Nele Hammersdorf war die heimliche Affäre Gieracks und galt seit zwei Tagen als vermisst. Hätten sie so einen Aufstand gemacht, wenn es nicht um die Liebhaberin eines hochrangigen Polizisten gegangen wäre? Vielleicht war sie ja wirklich untergetaucht, weil sie den Alten nicht mehr ertrug.

Er hörte noch, wie sie die Daten bekannt gaben: Nele Hammersdorf, siebenundzwanzig Jahre alt, eins fünfundsechzig, blond, sportlich …

Natürlich spürte er die Blicke, die ihn durchbohrten. Sie erwarteten, dass er schon die Lösung des Falls parat hatte. Aber das hatte er nicht.

Er musste hier raus. Fort. In die Stadt. Dorthin, wo alles den Anfang genommen hatte. Jedenfalls für ihn. In die Schubertstraße. Mit dem weißen Bus. Und der blassen Frau.

Da sich abgezeichnet hatte, dass sich der Fall vorrangig in der Stadt abspielen würde, hatte er den Wagen in Gösting beim Baumhaus gelassen und sich wieder angewöhnt, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Das war in Graz ohnehin klüger, und mit der Zeit ärgerte man sich auch gar nicht mehr so sehr über die langen Wartezeiten und über den Umstand, dass am Abend bestimmte Linien nur noch zufällig herumzutingeln schienen.

In der Schubertstraße angekommen, verharrte er eine ganze Weile und hatte das schreckliche Gefühl, die Lösung tatsächlich bereits zu kennen. Sie wollte nur noch nicht ans Tageslicht. Hielt sich im Verborgenen seines kruden Gehirns. Immer wieder tauchten die Worte vor ihm auf: Eine Frau tot. Eine Frau vermisst. Er stoppte plötzlich und fixierte Zeus, der wie immer vollkommen lautlos an seiner Seite war, wie ein Schatten.

Trost blähte die Backen, weil er plötzlich – warum, konnte er nicht sagen – wusste, dass sie alle falschlagen. Die Gewissheit prallte auf ihn wie eine große Last. Auch Gierack lag falsch mit seinem Drang, von Nele in der Gegenwart und nicht in der Vergangenheit zu sprechen. Es hieß nicht: Eine Frau tot. Eine Frau vermisst. Es musste heißen: Zwei Frauen tot.

21. Dezember

Dieser längsten Nacht des Jahres, der Thomasnacht, folgt der kürzeste Tag. In ihm schwingt noch die Gegenwart der Geister nach, die in dieser ersten Nacht der Raunächte in unseren Träumen ihr Unwesen getrieben haben. Manchmal tun sie das auch am Tag danach. Und danach. Und danach. Und …

8

Alpträume und Engel

Geschichten, die zur Weihnachtszeit spielen, haftet meist etwas Märchenhaftes an. In ihrer trübgrauen Welt reiten die Gutherzigen auf schimmernden Pferden und tragen bunte Kleider, während finstere, von böser Magie geleitete Gestalten auf schwarzen Hengsten galoppieren und blutleerblass durch die Straßen wandeln. Umgarnt von den Raunächten, die mit der Wilden Jagd zur Thomasnacht begannen und mit der Nacht der Wunder endeten, machte die Weihnachtszeit die Menschen seit jeher sonderbar. Die guten wie die bösen.

Alles beginnt meist ganz harmlos, so auch diese Grazer Weihnacht, in der eine einzelne, wie verrückt umherwirbelnde Schneeflocke wie ein verheißungsvolles Versprechen aus einem uralten Märchen erschien. Sie wirkte, als hätte sie sich verirrt. Als hätte sich der Winter in einer archaischen Geschichte verrannt. Und so musste es auch sein. Denn weiße Weihnachten hatte es in Graz seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gegeben.

Solcherart in Gedanken verstrickt, betrachtete Armin Trost die Flocke, wie sie sich um die eigene Achse drehte. Frech sah sie dabei aus. Verspielt. In diesem Moment wusste er, dass etwas Großes passieren würde. Etwas Mächtiges.

Und dann tauchte das kalkweiße Gesicht aus dem nebelverhangenen Tag dahinter auf. Diesem Gesicht fehlte jegliche Behaarung. Der Kopf schien zu schwer für den schmalen, langen Hals, der in einen ausgemergelten, nackten Körper mündete, der die Knochen unter der Haut nur allzu deutlich erahnen ließ. Es war unmöglich zu erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Die Gestalt näherte sich, und plötzlich öffneten sich die blutunterlaufenen Augen und starrten ihn unverwandt an. Trost schnappte nach Luft, als wär’s sein letzter Atemzug.

»Alles in Ordnung?«

Die Stimme ließ ihn hochfahren. Verwirrt blickte er sich um. Trost stand vor der Eingangstür eines jener Häuser, die vor allem die noblere linke Flussseite der Stadt säumten. Ein dreistöckiger Gründerzeitbau in der Harrachgasse, dem zwar die Anmut der Fassaden an der angrenzenden Goethestraße mit deren schmalen Vorgärten fehlte, der dafür aber noch näher an dem war, was manche den »Puls der Zeit« nannten. Dieses Haus befand sich nämlich nicht nur mitten im Universitätsviertel, die Fenster seiner Wohnungen gewährten den Blick direkt aufs Hauptgebäude der Lehranstalt und auf die Vorklinik, die man dieser Tage im Begriff war abzureißen, und weiter hinten, etwas verdeckt von gewaltigen Bauzäunen, auf das Institutsgebäude für Physik.

Trost hatte sich entschlossen, dem Stillstand der aktuellen Ermittlung entgegenzutreten, und sich ausgerechnet hier, vor den Bauzäunen, hinter denen monströse Schaufelbagger den Zahn der Zeit zogen, eine Wohnung genommen. Er rieb sich die Nasenwurzel, um das Trugbild der kahlen Fratze aus seinen Gedanken zu bannen. Es war nicht das erste Mal, dass es ihn quälte und unvermittelt auftauchte. Seit Tagen schon spielte sein Verstand verrückt.

Sie hatten also wieder begonnen, diese beängstigenden Verwirrungen seines Gehirns, das ihm Trugbilder vor die Nase setzte. Als könnten die erschreckenden Erscheinungen seine Ermittlungsfortschritte vorantreiben.

Zeus, der mächtige Berner Sennenhund an seiner Seite, winselte kurz auf, und neuerlich wurde Trost sich seines Zögerns bewusst. Hinter ihm standen zwei bärenstarke Männer, die eine Couch trugen und ganz offensichtlich mit dem Gewicht zu kämpfen hatten.

Trost strich mit der Hand über die Klingelanlage, und seine Hoffnung, dass irgendjemand reagieren würde, bestätigte sich.

»Ja?«, bellte eine Frauenstimme.

Trost erklärte, er habe seinen Schlüssel in der Wohnung vergessen, sei gerade am Einziehen und die Möbelpacker hinter ihm … Ein Summton, der die Tür öffnete, unterbrach ihn.

Das Treppenhaus war breit, die Stufen hatten eine angenehme Tritthöhe, und sie mussten auch nur in den ersten Stock hinauf. Oben angekommen, wies er die beiden Kerle an, sich mit dem Möbelstück gleich weiter in die Wohnung hineinzuzwängen. Der ranzbuttrige Schweißgeruch der Männer wehte an ihm vorüber, doch er wurde prompt von einer gar nicht zu ihnen passenden süßlichen Frische überlagert. Einem Aroma, dessen Ursprung sich mit über die Treppen klackernden Schritten näherte.

Eine junge Frau lief vom oberen Stockwerk herab. Sie trug einen schwarzen Wintermantel mit Kapuze und Fellimitat, der ihre attraktive Magerkeit betonte. Ihre Hände steckten in Lederhandschuhen, das halbe Gesicht war von einer riesigen Sonnenbrille verdeckt, und die Haube auf ihrem Kopf sah auf den ersten Blick aus wie die Kopfbedeckung der Damen in alten Filmen. Etwas exaltiert. Fast zu fein für Graz. Zu …

»… Schön.«

»Wie bitte?«

»Schön, Eva. Das ist mein Name. Ich hab Ihnen die Tür geöffnet.« Sie neigte den Kopf kurz in Richtung seiner Wohnungstür. »Glückwunsch zum neuen Heim.«

»Danke …«

Da war sie auch schon an ihm vorüber. »Tut mir leid, ich hab’s eilig. Aber vielleicht geht sich einmal ein Willkommensdrink aus, Sie gefallen mir.«

»Ich komm gerne darauf zurück«, erwiderte Trost, auch wenn er nicht wusste, ob dies die Andeutung einer Einladung gewesen war oder ob er es war, der den Drink spendieren sollte. Doch da vernahm er schon, wie die Haustür krachend ins Schloss fiel.

Die beiden Möbelpacker standen jetzt neben ihm und schauten ebenfalls versonnen das Treppenhaus hinunter, so als wehte da noch der nicht minder bewundernswerte Schatten eines Engels durchs Haus.

Trost verdrehte die Augen und scheuchte die beiden zurück in die Wohnung. Zeus hob die Nase, als wollte er ein letztes Mal den Duft der Frau einfangen. Es schien, als erzählte er ihm auch etwas über die Zukunft, denn plötzlich hob er den Kopf. Neigte ihn, als käme ihm ein Gedanke. Eine dunkle Ahnung. Dann trottete auch er den Männern hinterher.

9

Schwarzes Mandl

Leutnant Armin Trost saß an einem der folgenden Tage auf einer Parkbank und betrachtete das Hauptgebäude der Karl-Franzens-Universität, die einst nach Erzherzog Karl II. von Innerösterreich und Kaiser Franz I. von Österreich benannt worden war. Der eine, Karl, hat im Jahr 1573 das Akademische Gymnasium gegründet und zwölf Jahre später eine philosophische und eine theologische Fakultät im Jesuitenkolleg aus der Taufe gehoben. Der andere, Franz, hat mehr als zweihundertfünfzig Jahre später, im Jahr 1827, die Universität wieder zu alten Ehren geführt, nachdem sie zwischendurch zum Lyzeum degradiert worden war. Eine lange, komplizierte Geschichte. Heute waren die meisten der fünfzigtausend Studierenden an der salopp »Uni Graz« genannten Bildungseinrichtung eingeschrieben, und es war ihnen schnurzegal, wer Karl oder Franz waren. Trost dagegen liebte diese historischen Gedankenausflüge, denn in einer Stadt zu leben, die schon lange existierte, gab ihm auf unerklärliche Weise das Gefühl, selbst historisch relevant zu sein.

Auf dem Campus herrschte das finale Treiben vor den sich anbahnenden letzten Prüfungen vor den Weihnachtsferien, wobei manche der ins Gebäude Huschenden die Sackerl großer Einkaufsketten mit sich schleppten, was bedeutete, dass sie die letzten Tage vor dem Heiligen Abend für Einkäufe nutzten und weniger für das Grübeln über fetten Wälzern. Trost hatte mit der Zeit den Eindruck, einige von ihnen gewissermaßen kennengelernt zu haben, denn immerhin saß er schon seit Stunden hier auf dieser Bank, sodass der eine oder andere schon mehrmals an ihm vorübergegangen war. Playstations wanderten an ihm vorbei, Berge von Textilien, Brettspiele, natürlich Unmengen an Büchern, und manche der seltsam ausgebeulten Einkaufstaschen wiesen auf Tischdekorationen oder andere Staubfänger hin. Ihn fröstelte vor Kälte. Eine unzähmbare Ungeduld lag in der kalten Luft.

Im Hauptgebäude der Universität befand sich auch die Druckerei, deren Mitarbeiter ständig ein und aus eilten, um stapelweise bedruckte Plakate in immer neue Fahrzeuge, die auf der Rampe vorfuhren, zu verladen. Er erkannte auch den Leiter des Hans Gross Kriminalmuseums wieder, der, unter einen breitkrempigen Hut geduckt, wild gestikulierend telefonierte und an ihm vorüberlief. Der Mann hatte ihn das eine oder andere Mal eingeladen, einen kriminalpolizeilichen Vortrag zu halten, Trost hatte es aber jedes Mal geschafft, unter einem Vorwand abzusagen. Er hatte sich noch nie wohl dabei gefühlt, vor einer Menschenansammlung Reden zu schwingen. Dabei hatte er, wie gesagt, selbst ein Faible für Geschichte, und Hans Gross galt als einer der wichtigsten Wegbereiter im weiten Feld der Kriminologie. Ihm verdankten die Ermittler, dass bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert an Tatorten systematisch gearbeitet wurde, mit Absperrungen, Vernehmungsprotokollen und Vermessungen.

Doch egal, wen Trost zu kennen glaubte und wer ihn möglicherweise kennen könnte, erkennen konnte ihn niemand, davon war er überzeugt, denn er trug eine jener Mützen mit Ohrenklappen, die hierzulande in derber Umgangssprache wenig schmeichelhaft als Geschlechtsteil eines Pelztiers bezeichnet wurden. Ein modisches Accessoire, das nicht nur deshalb ein völliger Fehlgriff war. Außerdem steckte sein Körper in einem derart zerschlissenen Mantel, dass ihm die Leute bestenfalls Münzen zugeworfen hätten, ohne ihm in die Augen zu blicken. Die waren aber ohnedies von einer gespiegelten rundlichen John-Lennon-Sonnenbrille verdeckt. Kurzum: Er sah zum Wegschauen aus.

Nach einer Weile stand er auf und musste ein paar Augenblicke zuwarten, bis sein Hintern wieder durchblutet wurde und er seine Beine spüren konnte. Er näherte sich langsam einem Würstelstand, der vor der umzäunten Vorklinik mit Bratwurstgeruch lockte und auf dessen Durchreiche – zwischen Ketchup-Tuben und einem Stapel Manner-Schnitten – ein weißes Stoffpferd den Kunden entgegengrinste. Zeus folgte ihm, ganz ohne Leine, auf den Fuß, wohl in der Hoffnung, das eine oder andere Stück Wurst abzubekommen.