Die Relativität der Gleichzeitigkeit - Tim Szlafmyca - E-Book

Die Relativität der Gleichzeitigkeit E-Book

Tim Szlafmyca

4,9

Beschreibung

Zu viel Nachdenken kann schädlich sein - oder warum man ab und zu den Glauben in die Unvernunft verlieren sollte: Der Protagonist hat sein Nachdenken institutionalisiert und sich an seinem Küchenfenster ein eigenes Universum errichtet. Doch bei aller Kauzigkeit, die ihn durch den Tag trägt, stellt er immer wieder fest, dass er außerhalb seiner "habitablen Zone" im Privat-Universum Dingen wie der Liebe und der Freundschaft ausgesetzt ist und nicht immer konnte er sich am Küchenfenster darauf vorbereiten.

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Für meine Familie, Sebastian und die Menschen, die „It’s Raining Men“ geschrieben haben.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

Kapitel VII.

Kapitel VIII.

Kapitel IX.

Kapitel X.

Kapitel XI.

Kapitel XII.

Kapitel XIII.

Kapitel XIV.

Kapitel XV.

Kapitel XVI.

Kapitel XVII.

Kapitel XVIII.

Kapitel XIX.

Kapitel XX.

Kapitel XXI.

Kapitel XXII.

Kapitel XXIII.

Kapitel XXIV.

Kapitel XXV.

Kapitel XXVI.

Kapitel XXVII.

Kapitel XXVIII.

Kapitel XXIX.

Kapitel XXX.

Kapitel XXXI.

Kapitel XXXII.

Kapitel XXXIII.

Kapitel XXXIV.

Kapitel XXXV.

Kapitel XXXVI.

Kapitel XXXVII.

Gratiarum

Der Autor

Prolog

Fick dich, Universum. Darf man das so eigentlich sagen, also zum Universum? Und generell in einem Buch, ist ja schließlich vulgär? Befriedige dich selbst, Universum. Vielleicht so? Jetzt ist es aber eher kumpelhaft, quasi so, wie es nicht gemeint war:

Ich: »Hey Universum!«

Universum: »Na du!«

Ich: »Pass auf, du bist ja mittlerweile ziemlich alt und hast viel gemacht, ne? Gönn dir doch mal eine Pause und lass es dir mal richtig gut gehen. Ich mein, jeder macht das doch, wenn keiner hinguckt und du bist einfach mal das Universum – du kannst jedem dabei zusehen und das ist irgendwie auch legal und du brauchst kein Internet dafür. Mann, Universum müsste man sein!«

Universum: »Ja, tolle Idee. Ich hab nicht mal Hände!«

Okay, vielleicht doch keine so gute Idee, aber ungefähr so würde ich mir eine Konversation mit dem Universum vorstellen, wenn es denn ginge, also auch mit so vielen Ausrufezeichen, was man im Gespräch vielleicht nicht gemerkt hätte, weil Satzzeichen ja nicht angezeigt werden beim Sprechen und wenn doch, dann hätte ich in Diktaten trotzdem falsche Kommata gesetzt.

Vor einiger Zeit bin ich mal mit einer Freundin spontan nachts an den See gefahren. Da sie eigentlich nicht wirklich trinkt und ich der Fahrer war, mussten wir ziemlich unspektakuläres Radler trinken und uns normal unterhalten statt angeheiterttiefgründig, wie Studenten es in Kneipen eben machen würden. Jedenfalls hat sie mir dann erklärt, dass man sich Dinge vom Universum wünschen kann und diese würden dann in Erfüllung gehen. Irgendwann. Aber man wisse nie, wann genau es passiert.

So gesehen kann da ja jeder kommen. Ich könnte auch Wünsche annehmen – irgendwann gehen die in Erfüllung. Vielleicht auch erst nach dem Tod des Antragsstellers oder für eine andere Person, aber wo beweist das denn, dass der Wunsch nicht erfüllt wurde? Wünsche und Prophezeiungen können falsch verstanden werden. Das würde zumindest so manches Weihnachtsfest erklären. Andererseits wünscht man sich da ja was von seinen Eltern oder dem Weihnachtsmann und beide sind höchstwahrscheinlich nicht das Universum.

Ich könnte mir also vom Universum wünschen, dass es sich selbst fickt und es würde mir diesen Wunsch erfüllen, irgendwann. Die Möglichkeit, dass ich damit die Menschheit in ein Armageddon stürze ist vermutlich sehr hoch und wenn ich so darüber nachdenke, glaube ich zu wissen, dass schon die Dinosaurier bei ihren Wünschen ans Universum eher unvorsichtig waren. Aber was soll sich ein T-Rex in Anbetracht seiner kurzen Arme auch groß gewünscht haben außer: Fick dich, Universum.

Über sowas mache ich mir nachts rauchend am Fenster Gedanken. Es hat so was Episches, mit leerem Blick und voller Lunge in den Hinterhof zu starren und nachzudenken. Und eigentlich rauchte ich auch nur in diesen Momenten.

Auch ein Grund, warum sich das Universum mal gehörig selbst kann: In seiner ganzen Bosheit und Niedertracht hat es deutsche Independent-Filme zugelassen, die falsche Vorstellungen von Waschsalons und Küchenfenstern vermitteln. Vor ein paar Jahren, ich hatte noch keine Waschmaschine, wollte ich inspiriert durch ebensolche Filme tiefgründig im Waschsalon waschen. Da stand ich also um sechs Uhr morgens mit dem frischen Brötchen vom Bäcker und meinem Kakao in der Glasflasche, an deren Blech-Deckel man sich immer schneidet, weil man diese Dingsis da abknibbeln möchte, die aber verdammt scharf sind (Fick dich, Universum!), starrte in die langsam erwachende Stadt und dachte mir: Im Film käme jetzt ein echt guter Song. Und während man im Kopf die innere Playlist durchstöbert, um das passende Lied für diese Situation zu finden, schleudert die Maschine zum letzten Mal die Socken durch ihre Trommel und reißt mich aus dem, was man wohl als ›einen Film schieben‹ bezeichnet.

Und wenn ich dann nachts rauchend am Küchenfenster in den Himmel starre, all diese Sterne sehe und mich selbst in diese absurde Universumsrelation setze, dann merke ich erst, wie unwichtig alles eigentlich ist. Irgendwo da draußen schieben sich Himmelskörper durch ihr System, seelenruhig, weil sie ja sonst nichts zu tun haben, und hier, unweit vom Küchenfenster, liegt dieser Brief, der mich zum dritten Mal auffordert, dass ich bitte meine Stromnachzahlung überweisen soll. Klar, es sind die kleinen Dinge, die das Leben lebenswert machen. Aber trotzdem.

Genauso unwichtig und klein ist übrigens auch die Liebe. Da stellt man sich generell dämlich an. Sei es die verstellte, hohe Stimme am Telefon während des Gesprächs mit Zuckerbärchen oder diese Wir-sind-ein-cooles-Pärchen-weil-wir-Pärchenzeugablehnen-aber-ihr-dürft-trotzdem-morgen-zum-Pärchenabend-vorbeikommen-Attitüde.

Oder wenn man in irgendwelchen Foren nach Tipps stöbert, wie man es richtig macht. Einfach mal ein paar Tage ignorieren, dann wird sie merken, was sie an dir hat und dich vermissen. Zieh das doch einfach mal drei Tage durch und sie ist dein. Ja genau. Fick dich, Universum.

Ich glaube ja, dass das genauso unrealistisch ist wie die Hoffnung darauf, dass folgendes Gespräch irgendwann im Leben einmal stattfinden könnte:

Sie: »Du, sag mal, du kennst doch meinen Freund?«

Ich: »Jau, sicher, du meinst Berti, der zwei Meter große Kampfsportler, auf den quasi jede und jeder steht, was ich nur erkläre, falls jemand dieses Gespräch mitliest oder –hört (und den Rest sage ich in Klammern – einfach, weil ich wissen will, wie es sich anfühlt, wenn man etwas in Klammern sagt). Irgendwie fühlen sich Klammern beim Sprechen nicht so an wie beim Schreiben. So ordnend und beiläufig, wie Mama früher, wenn sie mich eigentlich nur für den Schultag aus dem Bett kriegen wollte und dabei versehentlich das Zimmer aufräumt.«

Sie: »Genau der (den Rest ignoriere ich einfach mal, deswegen sage ich es in Klammern). Jedenfalls wohnt er ja 600 Kilometer von hier entfernt, und damit ich für ihn noch die nötige Leistung zeigen kann, wollte ich dich fragen: Würdest du vielleicht mit mir schlafen, damit ich in der Übung bleibe?«

Sollte dieses Gespräch irgendwo auf der Welt in dieser oder einer ähnlichen Form (ohne Klammern zum Beispiel) stattfinden – ich gebe ein Bier aus. Dem Gespräch. Oder den Sprechern. Das ist eines dieser Dinge, die ich vor meinem Tod noch gerne machen würde. Genauso wie einen zweiten Grund finden, warum man eine Katze ›Scooter‹ nennen sollte. Der erste ist: Weil das aussieht wie die Antenne bei einem Auto-Scooter, wenn die mit hochgestelltem Schwanz laufen. Da muss es aber mehr geben. Da draußen, dort, wo man hinguckt, wenn man nachts am Küchenfenster steht oder früh morgens vor dem Waschsalon sitzt. Da draußen, wo sie ist und von wo man das Rauschen hört. Da draußen, wo man gerne wäre, müsste man nicht schlafen, was man eh nicht kann, weil es viel zu unwichtig ist am Küchenfenster zu stehen und über irgendwas nachzudenken.

I.

Ist das deins oder meins?«

»Das ist Wiesbaden. Haha, verstehste?«

»Alter, ist das jetzt dein oder mein Bier?«

Wie so ziemlich jeder ignorierte auch Emmy meinen ultimativen Geographie-Witz in Anbetracht des Durstes und des eigentlich vor ihr stehenden goldenen Glücks geschickt und griff schließlich einfach nach dem volleren Glas, da ich ihrem geschulten Blick nach wiederum der vollere von uns beiden war und dementsprechend mehr getrunken haben muss. Bestechende Logik nachts um halb vier in der Stammkneipe. Dem Ort, an dem irgendwann alles logisch erschien und man so wunderbar diskutieren konnte über die Dinge, die aus irgendwelchen nicht nachvollziehbaren Gründen immer erst nach sechs Bier in der Stammkneipe wichtig wurden. Wie Dinosaurier. Eine weitere Feststellung: Die wichtigen Themen waren nahezu deckungsgleich mit denen aus den Dokumentationen, die nachts liefen und die man guckte, wenn man gerade nicht am Küchenfenster stand.

Und natürlich sollten alle meine Freunde wissen, wie gefährlich Quallen eigentlich sein könnten, sollten sie mal auf eine treffen. Man weiß ja nie, was sich die Evolution für Absurditäten ausdenkt – da steht man am Kiosk und holt sich ein Fuß-Pils und plötzlich steht da so eine Qualle neben dir, schiebt dich beiseite und du musst dich selbst anpinkeln, weil die Berührung ein unangenehmes Brennen hervorruft. Erkläre das dann mal dem Kioskbesitzer.

Bei Emmy war ich mir auch nie so sicher, ob sie meine wichtigen Themen eigentlich auch wichtig fand oder mir nur zuhörte, weil es dieses Agreement zwischen Menschen gab, die man gut leiden konnte und deswegen darauf vertraute, dass der andere gerade vielleicht einen Knall hatte, der wieder vorübergehen würde. Aber laut einer Doku, die ich letztens gesehen habe, kann man auch den Urknall irgendwie noch hören. Ich würde einfach nie anders sein als so. Trotzdem saß sie noch dort und hörte zu oder lachte, kommentierte und plante den nächsten Doku-Abend mit mir.

Sie: »Ey, nach dem Bier hier gehen wir aber nach Hause.«

Ich: »Das ist das weiteste, das eine Frau jemals mit mir für die Zukunft geplant hat. Eigentlich habe ich mir das immer anders vorgestellt und ich hätte mir auch ein gewisses Mitspracherecht eingeräumt. Das Problem ist nur, dass ich bei Nichtbefolgen deines Plans alleine hier sitzen würde. Da habe ich ja eigentlich auch keinen Bock drauf. Apropos Nichtbefolgung eines Plans, letztens hab ich da ‘ne Doku gesehen über…«

Sie: »Jetzt trink mal aus, Junge.«

Dabei fuchtelte sie mit ihrem leeren Glas vor meinem Gesicht herum und ich dachte, dass solche Situationen eigentlich eine echt miese Erfindung vom Universum sind und nahm mir vor, dass ich am Küchenfenster darüber nachdenken sollte. Darüber, dass ich eigentlich beleidigt sein konnte, weil sie mich nicht hatte ausreden lassen und darüber, dass ich andererseits glücklich sein konnte, dass sie ihren Heimweg unbedingt mit mir antreten wollte.

Wir nahmen unsere Jacken und schauten noch einmal mit diesem hoffnungsleeren Blick auf die Plätze, von denen wir gerade aufgestanden sind auf der Suche nach Dingen, die wir möglicherweise vergessen haben und den Dingen, die wir wegen zu viel Bier woanders liegen ließen. Und das trotz der Gewissheit, dass es in diesem Moment gar nicht so viel mehr gab als uns zwei, den gestillten Durst und einen viel zu langen Heimweg.

Wie jedes Mal hatte einer von uns mal wieder Hunger für zwei, so dass sich der andere ebenfalls einen Döner bestellte, nachdem wir beschlossen hatten noch eine Pizza zu essen. Ich liebte unsere Inkonsequenz, die Entscheidungen schwerer und das Leben einfacher machte. Mir war aber klar, dass einer von uns beiden am nächsten Morgen mit Blick auf die Flecken an der Jacke mindestens eine Entscheidung des Abends bereuen wird und sei es nur die Extraportion Soße auf dem nächtlichen Glücklichmacher in der Teigtasche.

Wenn wir zusammen nach Hause gingen, zumindest dieses eine Stück, dann waren unsere Gespräche vielleicht nicht gehaltvoll. Aber trotzdem Grund genug, dass man die Welt um sich herum einfach vergaß. Es konnten direkt neben uns Ninja-Armeen gegeneinander kämpfen und wir hätten sie nicht gesehen. Okay, wenn es gute Ninjas waren, würden wir sie sowieso nicht sehen. Sagen wir, es kämpfen Drachen gegeneinander. Wobei eigentlich egal war, wer da kämpfte, weil wir ja uns hatten, was uns für circa anderthalb Kilometer unsterblich machte und spätestens beim Aufwachen in einen Zustand nahe der Leichenstarre versetzte.

Wie immer verabschiedeten wir uns an der Ecke, die unsere Routen teilte und ich trat den letzten Teil meines Heimweges an. Alleine nach Hause gehen, das war im Grunde auch wie ein Küchenfenster oder ein Waschsalon. Zumindest wenn man gerade keinen Fußball-Manager am PC spielte und sich in Gedanken selbst zur nächsten Saison interviewte und fragte, warum am letzten Spieltag die sicher geglaubte Meisterschaft verspielt wurde und ob ein neuer Sechser die nötige Stabilität in die Defensive bringen würde.

Diesmal kam mir in den Sinn, dass vermutlich jede Freundschaft auf der Welt diese eine Ecke hat, an der man sich traf und trennte. Das war genauso Gesetz wie die Pflicht von Matratzenläden einen Laden an der Ecke zu beziehen. Ich wusste bis heute nicht, warum - und ich habe auch noch nie jemanden gesehen, der an so einer Ecke stand und auf eine Freundin gewartet hat, die sich aber leider verspätet, was ihn zum Spontankauf einer Federkernmatratze bewegte. Und wenn ich so darüber nachdachte, wäre genau das so eine Aktion, die man vermutlich von mir erwarten würde, und selbstverständlich würde ich den ganzen Abend eine Matratze durch die Stadt tragen – man musste schließlich zu seinen Witzen stehen.

Zu Hause angekommen, schickte ich Emmy eine SMS mit der Aufforderung gut zu schlafen, um das letzte Wort unserer Begegnung zu haben. Das war so eine Macke von mir. Das letzte Wort haben, selbst wenn es nur der nächtliche Schlaf-gut-Wunsch ist. Mit der Gewissheit, dass sie unter ihrer Decke lag und träumte (vielleicht von Ninjas, die gegen Drachen kämpfen, wobei die Drachen nicht sehen, gegen wen sie da eigentlich kämpfen, weil es gute Ninjas sind), konnte ich mich wieder ans Küchenfenster stellen.

Ich frage mich immer, wieso man selbst um fünf Uhr morgens noch so viele Lichter in den Häusern brennen sah, und durch dieses Ertappt-Gefühl schaltete ich mein eigenes lieber aus, um nicht selber Teil der Küchenfenster-Gedanken anderer zu werden. Man will ja nicht aufdringlich sein.

II.

Die Uhr auf meinem Radio ging manchmal falsch. Nicht so zwei-Minuten-mäßig, nein, ganze Stunden teilweise. Was sie auf eine absurde Art und Weise aber durchaus sympathisch werden ließ. Das funktionierte aber nur an Tagen, an denen Zeit keine Rolle spielte. Übrigens lag genau dort sehr oft das Problem: Wenn Zeit Geld ist und Zeit an manchen Tagen keine Rolle spielt, dann ist das Geld ein mieser Nachahmer. Und ohne Universum gäbe es ja auch kein Geld. Ne, Universum?

Heute stand nicht viel auf dem Plan. Das waren die schlimmsten Tage, weil man jedem erzählte, dass man nichts zu tun hatte. Das resultierte darin, dass alle einen zu ihrer Tätigkeit einluden, und man war den lieben langen Tag damit beschäftigt so zu tun, als hätte man die Nachricht versehentlich übersehen, bis man die ultimative Ausrede parat hatte. Auch so eine Sache, über die man am Küchenfenster nachdenken konnte. Warum galt das eigentlich nicht als passable Ausrede?

»Was machst’n heute, biste dabei nachher?«

»Du, sorry, eigentlich klingt das echt gut, als einziger Fremder zu der WG-Party mitzukommen. Aber muss heute leider am Küchenfenster stehen und nachdenken.«

»Hahaha, wollen wir uns halb neun an der Ecke treffen?«

»Nee, das geht echt nicht, nachdenken und so.«

»Alter. Denk halt schneller nach. Meine Fresse.«

»Halt sagt man nicht. Und das ist ja das Problem, ich kann noch nicht einschätzen, worüber ich nachdenken werde, weil sich das erst in der Situation entwickelt und die Dauer kann dementsprechend von einer Zigarette über eine Schachtel bis hin zum sicheren Tod durch Vergiftung alles betragen.«

»Du kannst ja auch erst gegen null Uhr kommen.«

»Ich wollte dann noch in den Waschsalon.«

»Hast du nicht ‘ne Waschmaschine?«

»Ja. Aber zum Nachdenken.«

»… tuuut. Tuuut. Tuuut.«

An sich wäre das bestimmt ein Weg, um einen freien Abend frei zu halten. Mit der Konsequenz, dass danach wohl alle weiteren Abende ebenfalls frei sein werden.

Laut der Uhr auf meinem Radio war es kurz vor elf am Vormittag, laut der Zeitmessung, an die die restliche Zeitzone glaubte, war es hingegen halb fünf am Nachmittag, als ich am Küchenfenster stand und nicht nachdachte. Das war so ein Gesetz, das ich für mich selber eingeführt hatte und wovon ich der Meinung war, dass es für jeden mit Küchenfenster gelten sollte: Nachdenken am Küchenfenster durfte man nur nachts beziehungsweise im Dunkeln. Gleiches galt für Heimwege und Waschsalons. Alles andere wäre ja auch Schwachsinn. Nehmen wir das Beispiel Heimweg, sagen wir um halb zwei am Nachmittag. Wie will man da tiefgründig nachdenken, wenn Schulkinder mit seltsamen, aber modernen Frisuren Erwachsenen und Nicole aus der Parallelklasse imponieren wollen? Das ist genauso unrealistisch wie Student sein und dabei dann tatsächlich zu studieren.

Mein Handy vibrierte kurz auf der Arbeitsplatte und ich schaute erschrocken rüber – wenn es ein zweites Mal vibrierte, war es ein Anruf und ich musste mich totstellen und von allen Fenstern weggehen. Wenn es aber nach dem ersten Mal nicht erneut vibrierte, dann war es nur eine Nachricht und ich konnte davon ausgehen, dass die sendende Person mich nicht sah. Ein weiteres Vibrieren blieb aus.

Emmy schrieb und ich wusste, dass sie das nur des Schreibens wegen tat. Einfach Kontakt haben, einen gewissen Geborgenheitsbedarf abdecken, den ich ihrer Meinung nach abdecken durfte. Sie wird wahrscheinlich nur aus Prinzip fragen, was ich so mache, weil sie einfach Bedarf nach Austausch hatte und nicht daran interessiert war zu erfahren, ob ich möglicherweise in den letzten Stunden, die wir uns nicht gesehen habe, am Küchenfenster stand oder eine Doku geguckt habe.

Doch diesmal kam sie zu meiner Überraschung doch direkt auf die Idee mich zu fragen, ob wir am Abend nicht zusammen weggehen wollen. Am Nachmittag sowas fragen. Das ging nicht – ich durfte doch jetzt noch gar nicht ans Küchenfenster, in den Waschsalon oder auf den Heimweg, um über den Abend nachzudenken und Gespräche vorzuplanen, die zumindest in meinem Kopf dazu führten, dass wir uns heute Abend ineinander verliebten. In solchen Momenten versuchte ich immer stark zu sein statt überfordert in der Ecke zu kauern, wimmernd, in der Hoffnung, dass mich jemand mit einem Stück Pizza aus der Apathie lockt, was funktionieren würde, jedoch noch nie passiert war.

Es gab zwei Möglichkeiten: So lange die Nachricht ignorieren, bis die gesetzliche Nachdenkzeit angebrochen war, was die Gefahr mit sich brachte, dass sie sich bis dahin schon eine andere Begleitung gesucht hätte. Oder ich könnte direkt schreiben, dass wir das gerne tun können, um dann den restlichen Nachmittag und frühen Abend ein bisschen durchzudrehen.

Außerdem war es ja immer so, dass private Nachrichten außerhalb von irgendwelchen Gruppen-Chats, die die Frage nach einer gemeinsamen Unternehmung beinhalteten, immer auch an andere gingen und man am Ende doch wieder mit einem ganzen Haufen Leuten dort saß.

Schwierig. Äußerst schwierig. Was würde Jesus tun?

Jesus: »Oh, eine Nachricht von Maria Magdalena, sie möchte wissen, was ich heute Abend mache.«

Judas: »OMG WTF – was hältst du da in der Hand? Hilfe! Eine Hexe! Verbrennt sie… äh ihn!«

Jesus: »Gibt es Hexen denn nicht erst in tausend Jahren?«

Judas: »Und Hellseherei!«

Pontifex Pilates oder wie der heißt: »Beruhigt euch, Bürger, ich werde dieser Zauberei Einhalt gebieten und alle Hinweise auf das Handy Christi vernichten, so dass man erst in zweitausend Jahren wieder auf die Idee kommt, sowas zu erfinden.«

Hm. Naja, ich war nie bibelfest und wusste nicht, ob es damals schon Handys gab, aber ich habe mal eine Doku gesehen darüber, dass es in Bagdad schon vor ein paar tausend Jahren eine Batterie gegeben haben soll. Was denen eine Batterie gebracht hat, weiß ich aber nicht. Damit kann man ja nur diese eklig tickenden Wanduhren betreiben und was Folter anging, war man damals ja dann doch noch deutlich kreativer als all die Personen, bei denen ich im Wohnzimmer unter einer solchen Uhr schlafen durfte.

Ach ja: Emmy habe ich dann natürlich zugesagt. In der Hoffnung, dass unser Gespräch auch ohne die nötige Vorplanung dazu führen würde, dass wir uns ineinander verlieben.

III.

Ich stand an der Ecke. Doch bevor ich nach Übertreten der eigentlichen Treffzeit zum Spontankauf einer Matratze übergehen konnte, fiel es mir wieder ein: Wir hatten uns diesmal eigentlich direkt in unserer Stammkneipe verabredet und nicht an der Ecke. Das konnte ja mal passieren.

Auf dem Weg zur Kneipe überprüfte ich die Straßen nach Kampfspuren aus der letzten Nacht. Scheinbar könnte ich auch heute nicht die Existenz von Drachen, die gegen Ninjas kämpfen, beweisen. Das sollte ich vielleicht meiner Liste der Dinge, die ich bis zum Tod einmal gemacht haben möchte, hinzufügen.

Da ich durch meine falsche Positionierung im Raum-Zeit-Gefüge wieder einmal zu spät zum Treffen kam, musste ich mir noch einen guten Spruch überlegen, mit dem ich locker und witzig meine Verspätung würde vergessen lassen können. Das waren gerade vier Verben in einer Reihe. Aber egal, nicht abschweifen, ich musste einen Spruch finden. Ein klassisches ›Das-Beste-kommt-zum-Schluss‹ zog spätestens seit der Geburt meiner kleinen Schwester nicht mehr, weil ich nach dieser Logik dann ja nicht mehr das Beste wäre. Auf der anderen Seite glaubte ich da ja auch gar nicht dran, aber ein bisschen augenzwinkernde Selbstbeweihräucherung wirkte manchmal auch sympathisch. Wie Gitarre spielende Großstadt-Singles, die Lieder über schlechte Partys singen.

Nicht abschweifen. Ich könnte meine Entschuldigung auch mit einem ›Du-glaubst-nicht-was-passiert-ist‹ einleiten und dann erzählen, wie Drachen gegen gute Ninjas kämpften, weswegen man die Ninjas nicht gesehen hat und es dementsprechend so aussah, als würden die Drachen eine abgefahrene Kunstperformance darbieten. Wie ich jedoch bereits selber vor wenigen Augenblicken feststellte, konnte ich die Existenz solcher Drachen noch nicht beweisen. Ich könnte natürlich auf dem Teekannengleichnis von Bertrand Russell beharren, doch dann müsste ich im Zweifel erst noch erklären, was das genau beinhaltet und ich kenne dann wieder nur die Hälfte, weil mich Halbwissen bereits ausreichend befriedigte und man selbst damit schon ewige Diskussion in Stammkneipen führen konnte. Universum, du bist einfach zu kompliziert.

Emmy: »Meinst du nicht, dass du statt minutenlang auf den Tresen zu starren auch mit mir reden kannst?«

Allem Anschein nach saß ich bereits seit einigen Minuten neben Emmy in der Kneipe und hatte statt einer Entschuldigung nur Schweigen parat.

Ich: »Oh, entschuldige bitte, ich wusste nicht, dass ich schon da bin.«

Emmy: »Alter?«

Ich: »Du weißt doch, wie alt ich bin.«

Emmy: »Ich frage mich manchmal echt, wie es das Universum geschafft hat, dass wir beide Freunde wurden.«

Ich: »Echt mal. Fick dich, Universum!«

Emmy: »Alter.«

Während sie uns zwei Bier bestellte und meine Freude über eine Verbündete in der Aufforderung zur Selbstbefriedigung des Universums schwand, stellte ich fest: Das war vermutlich nicht unbedingt der Start in die gegenseitige Liebe.

Und natürlich würden wir heute auch nicht wirklich tiefgründige Gespräche führen. Nein, jeder erzählte wieder einige lustige Geschichten, die wirklich passiert sind und das Gegenüber kannte die Geschichten schon und lachte trotzdem mit, weil wir uns nicht eingestehen wollten, dass wir eigentlich zu viel zusammen erlebten, um nur noch als Freunde hier zu sitzen, aber immer noch zu wenig, um sich 30 Quadratmeter teilen zu können.

»… und dann hörte man aus dem Kleiderhaufen nur noch lautes Fluchen.«

Sie lachte auf und ich nippte lächelnd an meinem Glas.

Ich: »Das erinnert mich an…«

Das ging jetzt Stunden so weiter und meinetwegen könnte es auch so lange weiter gehen bis nichts mehr geht und einer von uns nur noch daliegt und ein letztes Mal Revue passieren lässt, was uns gemeinsam passiert ist, ehe der andere den kurzen Rest des Lebens die Chance hat, neue Geschichten zu sammeln, falls wir uns nach dem Tod an irgendeinem Tresen wiedertreffen.

Wahrscheinlich hatten wir beide diesen Geborgenheitsbedarf. In anderer Form vielleicht, aber wir gehörten wohl irgendwie zusammen. Und ich meine, länger als bis der Thekenschluss uns scheidet. Das merkte ich daran, dass ich bereit war, mir die Geschichten auch heute noch ein weiteres Mal anzuhören. Weil ich wusste, dass ihr Teilen uns beide glücklich macht, dass das Bier uns beide glücklich macht, dass der Abschied nachher unglücklich macht. Einseitig, aber wenn sich nur einer von uns verliebte, dann war das doch die halbe Miete, oder? Aber warum musste ich der Erste sein? Universum, du weißt, was Sache ist.

IV.

Zugegeben: Küchenfenster-Ideen waren manchmal auch voll der Müll. Vielleicht war es auch die Kombination aus Verliebtsein und dem Küchenfenster, dass man spontan damit aufhörte, man selbst zu sein und einen Grund zu liefern, vielleicht doch auf irgendeine Art und Weise liebenswert zu erscheinen. Beispielsweise durch Internetforen, wo eine arme Seele vor acht Jahren das gleiche Problem hatte wie ich und man sich einredete, dass vor 8 Jahren die Liebe doch bestimmt genauso funktionierte.

Dabei mochte ich das Internet eigentlich ganz gerne. Es war schließlich unterhaltsam. Mein Lieblingssatz aus einem Internetforum lautete: Also ich für meinen Teil liebe orale Stimulation an meinem Anus.