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Ganymeds Geheimnis
Nach der Entdeckung eines mumifizierten Raumfahrers, der seit 50.000 Jahren im Mondstaub begraben lag, muss die Geschichte der Menschheit neu geschrieben werden. Wer waren die geheimnisvollen Fremden, die den Menschen so ähnlich sind? Sie verschwanden offenbar vor Millionen von Jahren, ließen jedoch Artefakte zurück, die die Wissenschaftler jetzt untersuchen wollen. Im ewigen Eis des Jupitermondes Ganymed wird eines der Raumschiffe der Fremden gefunden, das weitere Hinweise auf die Identität der fremden Spezies enthält. Doch das Wrack ist keineswegs die größte Überraschung, die der Menschheit bevorsteht …
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Seitenzahl: 426
James P. Hogan
Die Riesen von Ganymed
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Nach der Entdeckung eines mumifizierten Raumfahrers, der seit 50.000 Jahren im Mondstaub begraben lag, muss die Geschichte der Menschheit neu geschrieben werden. Wer waren die geheimnisvollen Fremden, die den Menschen so ähnlich sind? Sie verschwanden offenbar vor Millionen von Jahren, ließen jedoch Artefakte zurück, die die Wissenschaftler jetzt untersuchen wollen. Im ewigen Eis des Jupitermondes Ganymed wird eines der Raumschiffe der Fremden gefunden, das weitere Hinweise auf die Identität der fremden Spezies enthält. Doch das Wrack ist keineswegs die größte Überraschung, die der Menschheit bevorsteht …
James Patrick Hogan (* 27. Juni 1941 in London, † 12. Juli 2010 in Irland) wuchs im Londoner Westen auf. Dank eines Stipendiums konnte er ein Ingenieursstudium an der Royal Aircraft Establishment in Farnborough machen. 1977 wanderte er in die USA aus, wo er für mehrere Computerfirmen arbeitete, bis er sich 1979 hauptberuflich dem Schreiben widmete. Sein erster Roman, »Das Erbe der Sterne«, erschien 1977. Sein wissenschaftlich-technisch orientierter Schreibstil fand großen Anklang, sodass Hogan mehrere Nachfolgeromane schrieb. Wegen seiner Ansicht, dass Theorien auf Grund empirischer Daten formuliert werden sollten, wurde er oft mit seinem Landsmann Arthur C. Clarke verglichen. Bis zu seinem Tod lebte er mit seiner Frau in Florida und Irland.
Im Heyne Verlag sind von James P. Hogan lieferbar:
Das Erbe der Sterne
Die Riesen von Ganymed
Stern der Riesen
Mehr über James P. Hogan und seine Romane auf:
www.diezukunft.de
Das Buch
Der Autor
Prolog
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Epilog
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Leyel Torres, Kommandant der wissenschaftlichen Beobachtungsstation, die sich in der Nähe des Äquators auf Iscaris III befand, schloss die letzte Seite des Berichtes, den er gelesen hatte und lehnte sich mit einem erleichterten Seufzer in seinem Sessel zurück. Er saß einen Moment lang da und genoss das Gefühl der Erleichterung, während sein Sitz die Form veränderte, um sich seiner neuen Stellung anzupassen. Schließlich erhob er sich, um sich einen Drink aus einer der Flaschen zu genehmigen, die auf einem Tablett auf dem kleinen Tisch hinter seinem Schreibtisch standen. Das Getränk war kühl und erfrischend und ließ rasch die Müdigkeit verfliegen, die sich in ihm nach mehr als zwei Stunden ununterbrochener Konzentration aufzubauen begonnen hatte. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, dachte er. Noch zwei Monate, dann würden sie diesem öden, ausgedörrten Felsklumpen auf ewig Lebewohl sagen und in die reine, frische, sternenübersäte und unendliche Finsternis zurückkehren, die sich zwischen hier und der Heimat erstreckte.
Er ließ den Blick durch das Arbeitszimmer seines Apartments schweifen, das inmitten einer Ansammlung von Kuppeln, Beobachtungstürmen und Kommunikationsantennen lag; während der vergangenen beiden Jahre war dies sein Zuhause gewesen. Von der ewig gleichen, endlosen Alltagsroutine hatte er mehr als genug. Sicherlich war das Unternehmen aufregend und stimulierend, aber genug war eben genug. Und was ihn betraf – die Heimreise könnte keinen einzigen Tag zu früh beginnen.
Ein oder zwei Sekunden lang starrte er auf die kahle Wand vor ihm. Ohne seinen Kopf zu wenden, befahl er: »Sichtbereichskontrolle! Transparenzmodus!«
Die Wand wurde augenblicklich von innen her durchsichtig und bot ihm einen klaren Ausblick über die Oberfläche von Iscaris III, vom Rande des durcheinandergewürfelten Haufens der Konstrukte und Maschinen, aus denen sich die Station zusammensetzte, bis hin zum deutlich gekrümmten Horizont; dort erstreckten sich die kahlen, eintönig rötlich braunen Klippen und Felsbrocken. Von oben brannte der feurige Ball von Iscaris gnadenlos herab, die Strahlen der Sonne durchdrangen das Zimmer mit einem warmen orangefarbenen und roten Schein. Als er hinaus in die Einöde starrte, überkam ihn plötzlich ein starkes Verlangen nach dem einfachen Vergnügen eines Spaziergangs unter blauem Himmel, auf dem die vergessene Heiterkeit eines ungestüm blasenden Windes ausgekostet werden konnte. Ja, ihr Aufbruch könnte keinen Tag zu früh kommen.
Eine Stimme, die von keinem bestimmten Ort des Raumes her zu erklingen schien, unterbrach seine Nachdenklichkeit.
»Marvyl Chariso bittet um die Erlaubnis, durchgestellt zu werden, Commander. Er sagt, es sei äußerst dringlich.«
»In Ordnung«, antwortete Torres. Er wandte sich zu dem gigantischen Bildschirm um, der einen Großteil der gegenüberliegenden Wand einnahm. Sofort wurde der Schirm aktiviert und übermittelte das Bild von Chariso, einem erfahrenen Physiker, der sich aus einem Labor im Observatorium meldete.
»Leyel«, begann Chariso ohne Vorrede. »Können Sie sofort zu mir hier runterkommen? Wir haben Schwierigkeiten … ernsthafte Schwierigkeiten.« Sein Tonfall sagte alles.
Wenn sich Chariso so echauffierte, musste es wirklich schlimm um die Sache stehen.
»Ich komme«, sagte Leyel und war schon auf dem Weg zur Tür.
Fünf Minuten später war er im Labor und wurde von dem Physiker begrüßt, der mittlerweile sorgenvoller als je zuvor aussah. Chariso führte ihn zu einer Bank mit elektronischen Geräten, an dem Galdern Brenzor, ein anderer Wissenschaftler, mit grimmiger Miene auf die Kurven und Datenanalysen der Computerschirme starrte. Brenzor schaute auf, als sie näher kamen, und nickte mit großem Ernst.
»Starke Emissionslinien im Bereich der Photosphäre«, sagte er. »Die Absorptionslinien bewegen sich rapide in den Violettbereich. Es gibt gar nichts daran zu rütteln. Der Kern der Sonne wird in zunehmendem Maße instabiler; er zerfließt förmlich.«
Torres schaute zu Chariso hinüber.
»Iscaris wird zur Nova«, erklärte Chariso. »Irgendetwas ist mit dem Projekt schiefgelaufen, und die gesamte Sonne wird in Kürze hochgehen. Die Photosphäre breitet sich explosionsartig ins All aus, und vorläufigen Berechnungen zufolge werden wir in weniger als zwanzig Stunden verdampft sein. Wir müssen also evakuieren.«
Torres starrte ihn ungläubig, wie gelähmt an. »Das ist einfach unmöglich.«
Der Wissenschaftler hob beide Arme. »Kann schon sein, aber so ist es nun mal. Wir können uns später so viel Zeit nehmen, wie Sie wollen, um herauszufinden, wo uns ein Fehler unterlaufen ist. Im Augenblick müssen wir jedoch weg von hier … und das schnell!«
Torres starrte auf die beiden verbissenen Gesichter, während sein Hirn sich instinktiv gegen die Botschaft zu wehren versuchte. Dann blickte er an ihnen vorbei auf einen anderen großen Wandschirm, der ein Bild aus einer Entfernung von zehn Millionen Kilometern mitten im Raum übertrug.
Er konnte einen der drei gigantischen G-Strahl-Projektoren sehen, einen drei Kilometer langen und einen halben Kilometer breiten Zylinder, der auf einer stellaren Umlaufbahn in einer Entfernung von 45 Millionen Kilometern Iscaris umkreiste, wobei die Achse genau auf den Mittelpunkt der Sonne gerichtet war. Hinter der Silhouette des Projektors sah der glühende Ball von Iscaris immer noch normal aus, aber sogar beim bloßen Hinschauen kam es ihm vor, als könnte er wahrnehmen, wie sich die Sonnenscheibe fast unmerklich, aber bedrohlich ausweitete.
Für die Dauer eines Augenblicks wurde sein Geist von einer Flut emotionaler Regungen überschwemmt – die Ungeheuerlichkeit der Aufgabe, vor die sie plötzlich gestellt waren, die Aussichtslosigkeit rationaler Überlegungen angesichts des enormen Zeitdrucks, die Fruchtlosigkeit zweier Jahre vergeblicher Bemühungen. Dann jedoch schwanden diese Gefühle ebenso schnell, wie sie aufgetreten waren, und die Führernatur in ihm gewann die Oberhand.
»ZORAC«, rief er mit leicht erhobener Stimme.
»Commander?« Die gleiche Stimme, die in seinem Arbeitszimmer zu ihm gesprochen hatte, gab Antwort.
»Nimm bitte sofort mit Garuth auf der Shapieron Kontakt auf und teile ihm mit, schwierigste Umstände seien eingetreten, die es erforderlich machen, dass alle kommandierenden Offiziere der Expedition unverzüglich zusammentreffen. Ich ersuche ihn um Ausstrahlung eines Notrufes, der sie auffordert, in genau fünfzehn Minuten vom jetzigen Zeitpunkt an Kontakt zueinander aufzunehmen. Rufe bitte zudem in der Station die Dringlichkeitsstufe aus, damit sich alles Personal für weitere Anweisungen bereithält. Ich selbst werde mich von der Multikonsole in Raum 14 der Hauptobservatoriumskuppel aus in die Konferenz einschalten. Das wäre alles.«
Kaum eine Viertelstunde später blickten Torres und die beiden Wissenschaftler auf eine Anordnung verschiedener Bildschirme, auf denen die anderen Konferenzteilnehmer zu sehen waren. Garuth, Oberbefehlshaber der Expedition, saß im Kommandozentrum des Mutterschiffes Shapieron dreitausend Kilometer über Iscaris III. Er war flankiert von zwei Adjutanten. Ohne zu unterbrechen, lauschte er dem Situationsbericht. Der oberste Wissenschaftler, der aus einem anderen Raum des Schiffes sprach, versicherte, dass in den vergangenen Minuten die Sensoren der Shapieron Daten übertragen hätten, die denen glichen, die von der Iscaris-III-Oberfläche übermittelt worden waren, und dass die Bordcomputer zu den gleichen Ergebnissen gelangt seien. Die G-Strahl-Projektoren hatten unvorhersehbare und katastrophale Veränderungen im Gleichgewicht von Iscaris hervorgerufen, und die Sonne war im Begriff, sich zur Nova zu entwickeln. Es war an nichts anderes mehr als an Flucht zu denken.
»Wir müssen alle Leute vom Boden hochholen«, sagte Garuth. »Leyel, das Allererste, was ich brauche, ist eine Aufstellung der Schiffe, die im Augenblick zur Verfügung stehen, einschließlich ihrer Transportkapazitäten. Sobald wir wissen, was Sie noch brauchen, schicken wir Ihnen zusätzliche Fähren runter, um den Rest raufzuholen. Monchar …« Er wandte sich an seinen Stellvertreter, der auf einem anderen Schirm zu sehen war. »Sind irgendwelche Schiffe weiter von uns entfernt als fünfzehn Stunden mit maximaler Geschwindigkeit?«
»Nein, Sir. Das am weitesten entfernte ist in der Nähe von Projektor 2. Es könnte in etwas mehr als zehn Stunden hier sein.«
»Gut. Rufen Sie alle unverzüglich zurück, höchste Dringlichkeitsstufe. Wenn die Daten, die uns gerade übermittelt wurden, richtig sind, ruht unsere einzige Überlebenschance auf dem Hauptantrieb der Shapieron. Legen Sie ein Verzeichnis der vermuteten Ankunftszeiten fest und stellen Sie sicher, dass alle Aufnahmevorbereitungen getroffen werden.«
»Ja, Sir.«
»Leyel …« Garuth veränderte seine Blickrichtung, sodass er in Frontalansicht auf dem Bildschirm in Raum 14 der Observatoriumskuppel erschien. »Machen Sie alle Ihre verfügbaren Schiffe startklar, und lassen Sie die Evakuierungsvorbereitungen unverzüglich anlaufen. Erstatten Sie im Abstand jeder vollen Stunde Bericht. Pro Person lediglich eine Tasche mit persönlichen Habseligkeiten.«
»Darf ich Sie an ein Problem erinnern, Sir?«, fragte der Chefingenieur der Shapieron, Rogdar Jassilane, aus der Antriebssektion des Schiffes.
»Was gibt's Rog?« Garuths Gesicht wandte sich ab, um einen anderen Bildschirm anzupeilen.
»Wir haben immer noch den Fehler im ersten Bremssystem für die Torroiden des Hauptantriebs. Wenn wir den anwerfen, kann er sich lediglich auf natürliche Weise wieder abschalten. Das komplette Bremssystem ist ja zur Zeit demontiert. Wir könnten es niemals in weniger als zwanzig Stunden zusammensetzen, und abgesehen davon müssten wir erst mal die Fehlerquelle finden und beheben.«
Garuth dachte einen Moment lang nach. »Aber anwerfen können wir ihn doch, oder?«
»Das können wir in der Tat«, versicherte Jassilane. »Aber wenn erst einmal diese schwarzen Löcher im Innern der Torroiden herumwirbeln, wird das von ihnen aufgebaute Drehmoment einfach phänomenal. Ohne von einem Verzögerungssystem gebremst zu werden, brauchen sie Jahre, um so weit die Geschwindigkeit zu reduzieren, dass wir den Antrieb abstellen können. Wir würden die ganze Zeit mit dem Hauptantrieb fliegen müssen, ohne dass es die Möglichkeit gäbe, ihn abzuschalten.« Er machte eine hilflose Geste. »Wir könnten weiß Gott wo hinkommen.«
»Aber wir haben keine Wahl«, stellte Garuth heraus. »Entweder fliegen oder geröstet werden. Wir müssen auf Heimatkurs gehen und dann das Sonnensystem solange mit eingeschaltetem Hauptantrieb umkreisen, bis unsere Rückkehrgeschwindigkeit niedrig genug ist. Welch einen anderen Weg gibt es schon?«
»Ich weiß jetzt, worauf Rog hinauswill«, warf der ranghöchste Wissenschaftler ein. »So einfach ist es nämlich nicht. Bei der Geschwindigkeit, die wir im Verlauf von jahrelang eingeschaltetem Hauptantrieb erreichten, würden wir eine gewaltige relativistische Zeitdehnung im Vergleich zu entsprechenden Körpern erfahren, die sich mit der Geschwindigkeit von Iscaris oder Sol bewegen. Da die Shapieron über eine entsprechend höhere Beschleunigung verfügt, würde zu Hause mehr Zeit verstreichen als an Bord des Schiffes. Wir wüssten schon, wohin wir sicher gelangten … aber wären absolut nicht sicher, wann dieser Fall einträte.«
»Darüber hinaus würde jedoch noch etwas weitaus Schlimmeres eintreten«, fügte Jassilane hinzu. »Der Hauptantrieb arbeitet, indem er eine lokal begrenzte Raum-Zeit-Verzerrung schafft, in welche das Schiff unaufhörlich ›hineinfällt‹. Dieser Umstand bewirkt seinen eigenen Zeitdehnungseffekt. Von daher haben wir also ein zusätzliches Problem – dass sich nämlich beide Dehnungen addieren. Was das bedeutet, wenn der Hauptantrieb über Jahre hinweg ohne Drosselung läuft, kann ich Ihnen nicht vorhersagen. Ich glaube nicht, dass so was schon mal vorgekommen ist.«
»Ich habe natürlich noch keine genauen Werte«, sagte der ranghöchste Wissenschaftler. »Aber wenn meine Kalkulationen auch nur annähernd zutreffen, könnte man von einem kombinierten Dehnungseffekt in der Größenordnung von Jahrmillionen reden.«
»Millionen?« Garuth wirkte wie vor den Kopf geschlagen.
»In der Tat.« Der oberste Wissenschaftler blickte sie nüchtern an. »Möglich, dass für jedes Jahr, welches wir zur Verminderung der nötigen Geschwindigkeit benötigen, um der Nova zu entkommen, zu Hause eine Million Jahre vergangen sind.«
Lange Zeit herrschte eine lähmende Stille. Schließlich sprach Garuth in ernstem und feierlichem Ton. »Wie auch immer, uns bleibt keine andere Wahl, wenn wir überleben wollen. Chefingenieur Jassilane, bereiten Sie den Austritt aus dem Planetensystem vor und machen Sie den Hauptantrieb startklar.«
Zwanzig Stunden später, als die Shapieron mit vollem Schub auf interstellarem Kurs dahinschoss, versengte die erste heranbrandende Front der Nova die Hülle des Planeten und ließ als ausgebrannte Schlacke zurück, was einmal Iscaris III gewesen war.
In einer Zeitspanne, die weniger als einen einzigen Herzschlag im Leben des Universums ausmachte, war dieses unglaubliche Tier namens Mensch von den Bäumen heruntergefallen, hatte das Feuer entdeckt, das Rad erfunden, fliegen gelernt und war schließlich ausgezogen, um die Planeten zu erforschen.
Die Geschichte, die dem Aufbruch des Menschen ins All gefolgt war, stellte einen Aufruhr an Aktivitäten, Abenteuern und unaufhörlichen Entdeckungen dar. Nichts dergleichen war zuvor in den Zeitaltern ruhiger, sich langsam entfaltender Evolution spürbar gewesen.
Dieser Meinung war man jedenfalls über einen langen Zeitraum hinweg gewesen.
Aber als der Mensch schließlich Ganymed, den größten der Jupitermonde betrat, stieß er auf eine Entdeckung, welche eine der wenigen Überzeugungen, die Jahrhunderte seiner rastlosen Wissbegierde standgehalten hatte, völlig unhaltbar werden ließ: Der Mensch war eben doch kein einmaliges Wesen. Fünfundzwanzig Millionen Jahre zuvor hatte eine andere Spezies all das in den Schatten gestellt, was er bislang erreicht hatte.
Die vierte bemannte Expedition zum Jupiter, zu Beginn der dritten Dekade des einundzwanzigsten Jahrhunderts, hatte den Beginn einer intensiven Erforschung der äußeren Planeten und der Errichtung der ersten festen Stützpunkte auf den Jupitermonden eingeleitet. Aufklärungssatelliten, die sich auf einer Umlaufbahn um Ganymed befanden, hatten eine umfangreiche Konzentration metallischer Stoffe in einem gewissen Tiefenbereich unter der eisbedeckten Oberfläche des Mondes aufgespürt. Von einer Bodenstation aus, die speziell für diesen Aufgabenbereich konstruiert worden war, wurden Schächte in den Boden getrieben, um diese Anomalität zu erforschen.
Das Raumschiff, auf das man stieß, eingebettet in ein ewiges Grab aus Eis, war unermesslich groß. Aus Skelettüberresten, die man im Inneren des Schiffes fand, rekonstruierten die irdischen Wissenschaftler das Bild einer Spezies von nahezu zweieinhalb Meter hohen Riesen, die es erbaut hatten und deren technologischer Entwicklungsstand dem der Erde um schätzungsweise ein Jahrhundert oder mehr voraus war. Die Giganten wurden mit dem Namen »Ganymeder« versehen, um damit an den Fundort zu erinnern.
Die Ganymeder hatten ursprünglich den Planeten Minerva bewohnt, dessen Umlaufbahn einst zwischen Mars und Jupiter gelegen hatte, der jedoch seit Langem der Zerstörung anheimgefallen war. Der Hauptanteil der Masse Minervas war auf eine äußerst exzentrische Umlaufbahn an der Grenze des Sonnensystems geraten und hatte Pluto entstehen lassen, während die Überreste der Trümmer von den Gezeitenströmen Jupiters verstreut wurden und den Asteoridengürtel formten. Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen, einschließlich Tests, bei denen Gesteinsproben aus dem Asteroidengürtel auf kosmische Strahlung hin untersucht wurden, gaben mit sehr geringer Abweichungstoleranz den Zeitpunkt der Zerstörung Minervas als etwa fünfzigtausend Jahre zurückliegend an – lange Zeit nachdem die Ganymeder im Sonnensystem umhergestreift waren, wie man mittlerweile wusste.
Die Entdeckung einer Spezies technologisch fortgeschrittener Wesen aus einer Zeit, die fünfundzwanzig Millionen Jahre zurücklag, war aufregend genug. Fast noch aufregender, kaum jedoch sehr überraschend, war die Entdeckung, dass die Ganymeder die Erde besucht hatten. Das Ladegut des auf Ganymed entdeckten Raumschiffes enthielt unter anderem eine Sammlung pflanzlicher und tierischer Proben von Lebewesen, wie sie bislang kein menschliches Auge zu Gesicht bekommen hatte – ein repräsentativer Querschnitt irdischen Lebens zwischen den Zeitaltern des späten Oligozän und frühen Miozän. Einige der Proben befanden sich wohlerhalten in Spezialbehältern, während andere offenbar zur Zeit des Schiffbruches in Pferchen und Käfigen am Leben gewesen waren.
Die sieben Raumschiffe, aus denen die Jupiter-Fünf-Mission bestehen sollte, wurde zum Zeitpunkt dieser Entdeckung gerade im Orbit des Mondes gebaut. Als das Unternehmen startete, wurde es von einem Wissenschaftlerteam begleitet, das begierig war, die unwiderstehliche Herausforderung anzunehmen und tiefer in die Geschichte der Ganymeder einzutauchen.
In der Computersektion des Flaggschiffs des Jupiter-Fünf-Unternehmens, einem Flugkörper, dessen Länge fast zwei Kilometer betrug und der in einer Umlaufbahn von 3000 Kilometern über Ganymed kreiste, lief ein Datenmanipulationsprogramm, dessen Ergebnisse zu einem Prozessor übertragen wurden, der die Informationen zusammenstellte. Mithilfe eines Laserstrahls wurden diese zu einem Transceiver gebeamt, der sich auf der Ganymedoberfläche in der Hauptstation befand. Von hier aus wurden sie über ein System von Verstärkerstationen gen Norden gesendet. Nur wenige Millionstelsekunden später dekodierten die gut 1000 Kilometer entfernten Computer der Pithead Base das Nachrichtenziel und leiteten das Signal auf einen Empfangsschirm, der sich an der Wand eines kleinen Konferenzraumes im Bereich der biologischen Forschungslaboratorien befand. Ein ausgeklügeltes Symbolsystem konnte vom Bildschirm abgelesen werden, ein System, dessen sich die Genetiker bedienten, um die internen Strukturen von Chromosomen zu bezeichnen.
Die fünf Leute, die um einen Tisch in der beengenden Umgebung des Raumes saßen, starrten mit gebannter Aufmerksamkeit auf den Schirm.
»Wenn Sie sich so für die Einzelheiten interessieren: So sieht die Sache aus.« Der Sprecher war ein hoch gewachsener, magerer Mann mit fortgeschrittenem Haarausfall, der, mit einem weißen Laborkittel bekleidet, eine völlig unzeitgemäße goldumrandete Brille auf der Nase trug. Er stand etwas seitlich vor dem Schirm und deutete mit einer Hand darauf; die andere hatte sein Revers fest im Griff. Professor Christian Danchekker vom Westwood Institut für Biologie in Houston, einem Teil der uniformierten Abteilungen der UN-Weltraumorganisation, der sich mit der Erforschung organischen Lebens beschäftigte, war der Leiter der Biologengruppe, die an Bord der Jupiter-Fünf nach Ganymed gekommen war, um die frühzeitlichen tierischen Exemplare zu untersuchen, die an Bord des ganymedischen Raumschiffes gefunden worden waren. Die Wissenschaftler, die vor ihm saßen, waren in das Bild auf dem Schirm völlig versunken. Nach einer Weile fasste Danchekker erneut das Problem zusammen, über das sie im Verlauf der vergangenen Stunde debattiert hatten.
»Ich nehme an, die meisten von Ihnen haben erkannt, dass das abgebildete Symbol auf dem Schirm eine Molekülanordnung darstellt, wie sie für die Struktur eines Enzyms charakteristisch ist. Genau die gleiche Enzymgattung wurde in Gewebsproben entdeckt, die vielen Spezies entnommen wurden, welche bislang in den Labors der Jupiter-Vier untersucht worden sind. Ich wiederhole: vielen Spezies … vielen verschiedenen Spezies …« Danchekker umklammerte mit beiden Händen seine Revers und blickte erwartungsvoll auf seinen kleinen Zuhörerkreis. Seine Stimme ging nahezu in ein Flüstern über. »Und nichts, was dieser Gattung ähnelt oder was auch nur auf entfernte Weise mit ihr verwandt ist, wurde jemals in irgendeiner heutigen irdischen Tierrasse entdeckt. Meine Herrschaften, das Problem, das sich uns stellt, besteht darin, diesen merkwürdigen Umstand zu erklären.«
Paul Carpenter, ein rotwangiger Blondschopf, der jüngste der Anwesenden, stieß sich von seinem Tisch zurück, blickte sich forschend nach links und rechts um und hob dann beide Arme empor. »Ich sehe, ehrlich gesagt, nicht so recht das Problem«, gab er offen zu. »Dieses Enzym war in Tierarten vorhanden, die vor fünfundzwanzig Millionen Jahren lebten, nicht wahr?«
»Sie haben es erfasst«, bestätigte Sandy Holmes mit einem leichten Kopfnicken von der anderen Seite des Tisches.
»Es ist im Verlauf dieser fünfundzwanzig Millionen eben so stark mutiert, dass man seinen ursprünglichen Zustand nicht mehr wiedererkennen kann. Im Laufe der Zeit verändert sich alles, und Enzyme bilden da keine Ausnahme. Abkömmlinge dieser Art gibt es vermutlich immer noch, aber sie sehen eben anders aus …« Er nahm Danchekkers Gesichtsausdruck wahr. »Nein? … Wo liegt das Problem?«
Der Professor stieß einen Seufzer aus, der von seiner unerschöpflichen Geduld zeugte. »Das haben wir nun doch schon alles durchgehechelt, Paul«, sagte er. »Wenigstens hatte ich diesen Eindruck. Lassen Sie es mich nochmals zusammenfassen: Im Verlauf der letzten Jahrzehnte hat sich die Enzymforschung gewaltig weiterentwickelt. Jede einzelne Art ist bestimmt und katalogisiert worden, unser Vertreter hier weicht jedoch völlig von allem ab, was uns je in die Finger gekommen ist.«
»Ich will ja keinen Streit vom Zaun brechen, aber stimmt das denn auch wirklich?«, protestierte Carpenter. »Schließlich haben wir ja erlebt, dass in den letzten ein, zwei Jahren neue Arten katalogisiert wurden, oder etwa nicht? Ich denke da an Schnelder und Grossmann in Sao Paulo mit der P273B-Serie und den entsprechenden Abkömmlingen … Braddock in England mit …«
»Ach, Sie verwechseln da einfach was«, unterbrach ihn Danchekker. »Sicherlich handelt es sich um neue Arten, aber sie ordnen sich nahtlos ein in die bereits bekannten Familien. Sie wiesen Charakteristika auf, die sich unabänderlich in bestimmte, miteinander verwandte Gruppen einreihen.« Er wies erneut auf den Bildschirm. »Dieses Enzym jedoch keinesfalls. Es ist völlig neu. Für mich scheint es sich um eine völlig neue, eigene Klasse zu handeln – eine Klasse mit lediglich einem einzigen Vertreter. Mit keinem einzigen Enzym, das bislang im Metabolismus irgendeiner uns bekannten Lebensform gefunden worden ist, verhält es sich derartig.« Danchekker ließ seinen Blick über den kleinen Kreis der Gesichter schweifen.
»Jede Spezies uns bekannten tierischen Lebens gehört zu einer bekannten Familie und verfügt über Verwandtschaften, die wir identifizieren können. Auf mikroskopischer Ebene trifft das genauso zu. Alle unsere bisherigen Erfahrungen besagen: Wenn dieses Enzym tatsächlich vor fünfundzwanzig Millionen Jahren aufgetreten ist, müssten wir in der Lage sein, seine familiären Charakteristika zu erkennen und es heutigen bekannten Enzymarten zuzuordnen. Dies ist uns jedoch nicht möglich. Für mich bedeutet dieser Umstand etwas sehr Ungewöhnliches.«
Wolfgang Fichter, einer der fähigsten Biologen Danchekkers, rieb sein Kinn und starrte zweifelnd auf den Schirm. »Ich stimme zu, dass es sehr unwahrscheinlich ist, Chris«, sagte er. »Aber können Sie sich wirklich sicher sein, dass es unmöglich ist? Schließlich sind fünfundzwanzig Millionen Jahre vergangen … Die Umwelteinflüsse können sich verändert und das Enzym dazu gezwungen haben, sich in etwas zu verwandeln, das wir nicht mehr wiedererkennen können. Ich weiß ja nicht … aber vielleicht hervorgerufen durch veränderte Nahrung … etwas in der Art.«
Danchekker schüttelte auf entschiedene Weise den Kopf. »Nein. Ich behaupte, dass es unmöglich ist.« Er erhob seine beiden Hände und begann, seine Argumentation an den einzelnen Fingern seiner Rechten abzuzählen. »Erstens: Selbst wenn es mutiert ist, wären wir immer noch in der Lage, seinen Grundaufbau festzustellen, in der gleichen Weise wie wir die grundlegenden Eigenschaften eines jeden Wirbeltieres bestimmen können. Das gelingt uns aber nicht.
Zweitens: Wenn es lediglich in einer einzigen Spezies aus dem Oligozän aufträte, würde ich zugestehen, dass das Enzym, das wir hier sehen, mutiert ist und den Ursprung für viele Arten darstellt, die in der heutigen Welt auftreten. Mit anderen Worten: Dieses Enzym würde eine Urform repräsentieren, die einer modernen Familie gemeinsam ist. Wenn das der Fall wäre, dann würde ich vielleicht zustimmen, dass eine Mutation aufgetreten ist, die so stark ausgeprägte neue Charakteristika vorweist, dass die Verwandtschaftsbeziehung zwischen der Urform und den Abkömmlingen überdeckt ist. Aber das ist nicht der Fall. Das gleiche Enzym findet sich in vielen unterschiedlichen und nicht miteinander verwandten Gattungen aus dem Oligozän. Wenn wir von Ihrer Annahme ausgehen, so hätte sich der gleiche unwahrscheinliche Prozess immer wieder und unabhängig voneinander ereignen müssen – und noch dazu gleichzeitig. Das ist einfach unmöglich.«
»Aber …« hob Carpenter an. Danchekker fuhr jedoch unbeirrt fort.
»Drittens: Kein heutiges Tier verfügt über ein solches Enzym in seinem mikrochemischen Haushalt, dennoch kommen sie alle blendend ohne es zurecht. Viele unserer heutigen Tiere sind direkte Nachkommen der Oligozänarten, die wir im Schiff der Ganymeder gefunden haben. Nun finden wir in einigen dieser Abstammungslinien starke Mutationen und Anpassungen, die auf veränderte Nahrungsverhältnisse und andere Umwelteinflüsse zurückzuführen sind, während das in anderen nicht der Fall ist. Bei einigen Arten hat sich der evolutionäre Prozess, der sich vom Oligozän bis heute vollzogen hat, sehr langsam entwickelt und lediglich geringfügige Abweichungen hervorgerufen. Wir haben detaillierte Vergleiche zwischen den mikrochemischen Prozessen in den tierischen Urahnen aus dem Oligozän, die wir im Schiff gefunden haben, und bekannten Daten heutiger Tiere, die von ihnen abstammen, gezogen. Die Resultate sind so ausgefallen, wie wir es erwartet hatten: keine großen Veränderungen und klar erkennbare Beziehungen zwischen der einen Gruppe und der anderen. Jede einzelne Funktion, die sich im mikrochemischen Haushalt der Vorfahren vollzogen hat, konnte mit Leichtigkeit in der Nachkommenschaft wiedererkannt werden, bisweilen leicht modifiziert.« Danchekker starrte Fichter einen Moment lang an. »So viel bedeuten fünfundzwanzig Millionen Jahre für die Evolution nun auch wieder nicht.«
Da sich kein Widerspruch zu erheben schien, preschte Danchekker weiter vor. »Auf alle Fälle jedoch gab es eine Ausnahme, nämlich dieses Enzym hier. Alles deutet darauf hin, dass es oder zumindest etwas sehr Ähnliches ohne Schwierigkeiten in den Nachfahren aufzuspüren ist, wenn es in den Ahnen aufgetreten ist. Dennoch waren die Resultate in diesem Falle negativ. Ich behaupte, dass dies nicht vorkommen kann, und dennoch ist es eingetreten.«
Eine kurze Stille trat ein, während die Gruppe Danchekkers Worte überdachte. Schließlich wagte Sandy Holmes einen Gedanken zu äußern.
»Könnte es nicht immer noch eine Mutation sein, aber andersherum?«
Danchekker sah sie scheel an.
»Was meinen Sie denn mit ›andersherum‹?«, fragte Henri Rousson, ein weiterer Experte, der neben Carpenter saß.
»Na, alle Tiere an Bord des Schiffes waren doch auf Minerva, oder?«, erwiderte sie. »Höchstwahrscheinlich stammten sie von Vorfahren ab, die von den Ganymedern von der Erde geholt worden waren. Könnten nicht die Umweltbedingungen auf Minerva für eine Mutation verantwortlich sein, die sich in diesem Enzym niedergeschlagen hat? Wenigstens würde das erklären, warum keines der heutigen irdischen Tiere darüber verfügt. Sie waren ja niemals auf Minerva – und natürlich auch nicht ihre Vorfahren, von denen sie abstammen.«
»Das gleiche Problem«, murmelte Fichter und schüttelte den Kopf.
»Was für ein Problem?«, fragte sie.
»Der Umstand, dass das gleiche Enzym in vielen verschiedenen und nicht miteinander verwandten Oligozänarten gefunden wurde«, sagte Danchekker. »Ja, ich gestehe zu, dass Unterschiede in der Umwelt Minervas eine bestimmte Enzymart, die von der Erde eingeschleppt wurde, in so etwas wie dieser hier mutieren lassen konnten.« Er wies erneut auf den Bildschirm. »Aber viele verschiedene Gattungen wurden von der Erde nach Minerva gebracht, verschiedene Gattungen, von denen jede einzelne über einen unterschiedlichen Metabolismus und besonders geartete Enzymarten verfügte. Nehmen wir mal an, dass irgendetwas in der Umwelt Minervas diese Enzyme – verschiedene Enzyme – zur Mutation veranlasst hat. Wollen Sie ernsthaft behaupten, dass sie alle unabhängig voneinander zum gleichen Endprodukt mutiert sind?« Er wartete eine Sekunde. »Das ist nämlich genau die Situation, vor der wir stehen. Das Schiff der Ganymeder enthielt viele erhaltene Exemplare verschiedener Gattungen, aber jedes einzelne Exemplar dieser Gattungen verfügte über genau das gleiche Enzym. Wollen Sie vielleicht nicht noch mal Ihren Vorschlag überdenken?«
Die Frau starrte einen Moment lang hilflos auf den Tisch und machte dann eine resignierte Handbewegung. »Schon gut … wenn man die Dinge so sieht, hat es wohl weder Hand noch Fuß, denke ich.«
»Vielen Dank«, erwiderte Danchekker knochenhart.
Henri Rousson beugte sich vor und goss sich ein Glas Wasser aus der Karaffe ein, die auf dem Tisch stand. Er nahm einen großen Schluck, während die anderen gedankenvoll weiter Löcher in die Wände oder die Decke starrten.
»Lassen Sie uns noch mal ganz kurz die vorhandenen grundlegenden Fakten durchgehen und sehen, ob was dabei herauskommt«, sagte er. »Wir wissen, dass sich die Ganymeder auf Minerva entwickelten – korrekt?« Die Köpfe um ihn herum nickten zustimmend. »Wir wissen zudem, dass die Ganymeder der Erde einen Besuch abgestattet haben müssen, weil es keinen anderen Weg gibt, wie sie sonst mit irdischen Tieren an Bord ihres Schiffes hierhergekommen sein können – es sei denn, wir erfinden eine weitere hypothetische Fremdrasse, aber darauf lasse ich mich nicht ein, weil es einfach keinen Grund für eine solche Annahme gibt. Weiterhin wissen wir, dass das Schiff, das hier auf Ganymed gefunden wurde von Minerva gekommen ist, nicht direkt von der Erde. Wenn es von Minerva gekommen ist, dann müssen die irdischen Tiere auch von Minerva stammen. Das stützt die These, dass die Ganymeder alle möglichen Lebensformen aus irgendwelchen Gründen von der Erde nach Minerva transportierten.«
Paul Carpenter hob eine Hand. »Warten Sie mal einen Moment. Wieso wissen wir überhaupt, dass das Schiff dort drunten von Minerva hierher kam?«
»Die Pflanzen«, erinnerte ihn Fichter.
»Oh, natürlich, die Pflanzen. Die habe ich vergessen …« Carpenter versank in Schweigen.
Die Pferche und Tierkäfige im Schiff der Ganymeder hatten Pflanzenfutter und Bodenspreu enthalten, die unter dem Mantel aus Eis völlig konserviert wurden, als die Atmosphäre im Schiff gefror und die Flüssigkeit verdunstete. Danchekker hatte dem vorhandenen Pflanzenmaterial Samen entnommen, und es war ihm gelungen, daraus Pflanzen zu ziehen, die anders waren als alles, was jemals auf der Erde gewachsen war. Von daher hatte er angenommen, dass es sich um Exemplare aus der Flora Minervas handelte. Die Blätter waren ausgesprochen dunkel – fast schwarz – und absorbierten jedes verfügbare Quäntchen Sonnenlicht, über das sichtbare Spektrum hinausgehend. Dieser Umstand passte nahtlos in den auf andere Weise erbrachten Nachweis, dass Minerva sehr weit von der Sonne entfernt gewesen sein musste.
»Wie weit sind wir eigentlich mit der Beantwortung der Frage, warum die Ganymeder alle Tiere nach Minerva gebracht haben?«, fragte Rousson. Er breitete beide Arme weit aus. »Es muss dafür doch einen Grund geben. Wie weit kommen wir mit diesem Umstand? Ich weiß ja nicht, aber das Enzym könnte vielleicht etwas damit zu tun haben.«
»Na gut, lassen Sie uns doch mal kurz rekapitulieren, was wir meinen, über diese Sache zu wissen«, schlug Danchekker vor. Er entfernte sich vom Bildschirm und setzte sich auf eine Ecke des Tisches. »Paul. Würden Sie uns Ihre Antwort auf Henris Frage mitteilen?« Carpenter kratzte sich einen Augenblick lang am Hinterkopf und verzog sein Gesicht.
»Nun …« begann er. »Da wären zunächst mal die Fische. Sie sind eindeutig minervischen Ursprungs und bilden ein Bindeglied zwischen Minerva und den Ganymedern.«
»Gut«, sagte Danchekker, nickte und legte etwas von seiner bisher schnippischen Art und Weise ab. »Erzählen Sie weiter.«
Carpenter bezog sich auf eine gut erhaltene Fischkonserve, deren Inhalt eindeutig aus den Ozeanen Minervas stammte. Danchekker hatte nachgewiesen, dass das Fischskelett in seiner grundlegenden Anordnung mit den Skelettüberresten der ganymedischen Besatzung des Schiffes korrelierte, das tief unter dem Eis der Pithead Base lag; das Verhältnis konnte verglichen werden mit den herrschenden Übereinstimmungen im Knochenbau eines Menschen und dem eines Mammuts. Daraus konnte geschlossen werden, dass Fische und Ganymeder zur gleichen evolutionären Gemeinschaft gehört hatten. Wenn es sich bei den Fischen also um Bewohner Minervas handelte, verhielt es sich mit den Ganymedern ebenso.
»Ihre Computeranalyse der grundlegenden Zellchemie des Fisches«, fuhr Carpenter fort, »weist eine ihr innewohnende geringe Toleranz gegenüber einer Toxingruppe auf, die Kohlendioxid mit einschließt. Soweit ich mich erinnere, gingen Sie von der Annahme aus, dass diese zugrunde liegende Chemie sich im Stammbaum der Fische von Urzeiten her weitervererbt hat – von den Ursprüngen der Geschichte Minervas.«
»Ganz recht«, stimmte Danchekker zu. »Was weiter?«
Carpenter zögerte. »Landlebewesen auf Minerva verfügten daher ebenfalls über eine geringe CO2-Toleranz«, bot er als Antwort an.
»Nicht ganz«, erwiderte Danchekker. »Sie haben die logische Verbindung zu diesem Schluss ausgelassen. Jemand anders …?« Er blickte den Deutschen an. »Wolfgang?«
»Es ist von der Voraussetzung auszugehen, dass das Charakteristikum einer geringen CO2-Toleranz zuallererst in einem weit zurückliegenden Vorfahren auftrat, einem Ahnen, der bereits existierte, bevor irgendwelche landbewohnenden Arten auf Minerva auftraten.« Fichter hielt einen Moment inne und fuhr dann weiter fort. »Auf dieser Grundlage erst kann man postulieren, dass diese entfernte Lebensform den gemeinsamen Vorfahr aller später auftretenden Land- und Meeresbewohner, etwa den Fischen, darstellte. Auf der Grundlage dieser Voraussetzung kann man sagen, dass das erwähnte Charakteristikum von allen Landtierarten, die sich später entwickelt haben, geerbt worden sein könnte.«
»Niemals die Voraussetzungen vergessen«, betonte Danchekker nachdrücklich. »Viele Probleme in der Geschichte der Naturwissenschaften beruhen auf diesem Fehler. Beachten Sie auch eine andere Sache: Wenn die niedrige CO2-Toleranz, die wir als Charakteristikum festgestellt hatten, tatsächlich in einem sehr frühen Stadium des Evolutionsprozesses auf Minerva aufgetreten ist und sich bis zu dem Zeitpunkt erhalten hat, an dem unser Fisch lebte, dann wäre hieraus zu schließen, dass es sich um ein ausgesprochen stabiles Merkmal handelte, wenn unsere Erfahrungen mit der irdischen Evolution überhaupt einen Maßstab für diese Verhältnisse abgeben. Dies erhöht die Glaubwürdigkeit unserer Annahme, dass die geringe Toleranz zu einem allgemein verbreiteten Merkmal wurde, das sich in allen Landbewohnern erhielt, während sie sich entwickelten und teilten, und dass dieses Merkmal prinzipiell unverändert im Verlauf der Zeitalter weiter bestanden hat – ebenso wie die Grundstruktur der irdischen Wirbeltiere in vielen Hundert Millionen Jahren unverändert geblieben ist, trotz oberflächlicher Modifikation in Bezug auf Gestalt, Größe und Umfang.« Danchekker setzte seine Brille ab und fing an, die Gläser mit einem Taschentuch zu polieren.
»Gut«, sagte er. »Lassen Sie uns diese Annahme weiter verfolgen und folgern, dass zum Zeitpunkt der abgeschlossenen Entwicklung der Ganymeder vor fünfundzwanzig Millionen Jahren die Landoberfläche Minervas von einer Vielzahl eingeborener Lebensformen besiedelt war, von denen jede einzelne eine geringe Toleranz gegenüber Kohlendioxid aufwies, neben anderen Merkmalen. Über welche weiteren Schlüssel zur Bestimmung dessen, was sich auf Minerva zu dieser Zeit abgespielt hat, verfügen wir?«
»Wir wissen, dass die Ganymeder den Planeten verlassen haben und versuchten auszuwandern«, warf Sandy Holmes ein. »Vermutlich in ein anderes Planetensystem.«
»Tatsächlich?« Danchekker lächelte und zeigte dabei kurz seine Zähne, bevor er erneut seine Brillengläser anhauchte. »Wieso wissen wir das?«
»Na, zunächst mal ist hier doch das Schiff unter dem Eis«, antwortete sie. »Das in ihm enthaltene Frachtgut und die hohe Frachtmenge lassen ganz sicher den Schluss zu, dass es sich um ein Siedlerschiff handelte, das zu einem Ort unterwegs war, an dem es bleiben würde. Wieso ist es aber gerade auf Ganymed aufgetaucht und nicht woanders? Das Schiff konnte also nicht Kurs auf einen der inneren Planeten genommen haben, oder?«
»Außerhalb von Minervas Orbit gibt's aber überhaupt nichts, was sich für eine Besiedlung geeignet hätte«, warf Carpenter ein. »Es sei denn, man fasst andere Systeme ins Auge.«
»Ganz genau«, sagte Danchekker in nüchternem Ton und richtete seine Worte an die Frau. »Sie sagten: ›lassen den Schluss zu, dass es sich um ein Siedlerschiff handelte‹. Vergessen Sie nicht, dass unsere gegenwärtige Beweislage genau darauf hinausläuft – auf eine Vermutung und weiter nichts. Es beweist noch gar nichts. Eine Menge Leute im Umkreis der Station sagen, wir wüssten jetzt, dass die Ganymeder das Sonnensystem verlassen haben, um eine neue Heimat zu finden, weil die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre aus irgendwelchen Gründen angestiegen ist. Gründe, die wir noch zu bestimmen haben. Es ist wahr – wenn unsere gerade geäußerten Sätze auf Tatsachen beruhen –, dass die Ganymeder die gleiche geringe Toleranzschwelle wie alle Landlebewesen besaßen und jeder Anstieg in der atmosphärischen Zusammensetzung ihnen ernsthafte Schwierigkeiten bereitete. Aber wie wir gerade gesehen haben, wissen wir nichts dergleichen mit Bestimmtheit; wir verfolgen lediglich ein oder zwei Annahmen, die zu solch einer Erklärung führen.« Der Professor hielt inne, als er merkte, dass Carpenter etwas sagen wollte.
»Aber da ist doch noch eine Menge mehr dran, oder vielleicht nicht?«, fragte Carpenter zweifelnd. »Wir sind verdammt sicher, dass alle Arten von Landbewohnern auf Minerva irgendwann vor etwa fünfundzwanzig Millionen Jahren plötzlich ausgestorben sind … alle, vielleicht mit Ausnahme der Ganymeder selbst. Das klingt mir aber gerade nach dem, was man erwarten könnte, wenn die Konzentrationswerte angestiegen sind und die Lebewesen dort das nicht vertragen konnten. Das scheint doch unsere Hypothese verdammt gut zu stützen.«
»Meiner Meinung nach hat Paul recht«, warf Sandy Holmes ein. »Alles ergibt einen Sinn. Es passt auch zu unseren Überlegungen, wieso die Ganymeder all diese Tiere nach Minerva gebracht haben.«
Sie drehte sich zu Carpenter um, als wolle sie ihn ermuntern, die weiteren Zusammenhänge klarzustellen.
Wie üblich bedurfte es bei Carpenter keines großen Anstoßes. »Was die Ganymeder wirklich versucht haben, war eine Wiederherstellung des früheren atmosphärischen Gleichgewichts durch Anbau von kohlendioxidabsorbierenden, sauerstoffproduzierenden Grüngewächsen von der Erde. Die Tiere wurden hergebracht, um für einen ökologischen Ausgleich zu sorgen, sodass die Pflanzen überleben konnten. Wie Sandy schon sagte – es passt eins zum anderen.«
»Sie versuchen mit Ihrer Beweisführung die Antworten zu unterstützen, die Sie sich schon bereitgelegt haben«, warnte Danchekker. »Lassen Sie uns erneut die Tatsachen von den Beweisen trennen, die auf Annahmen oder gar Andeutungen beruhen.« Die Diskussion wurde damit fortgesetzt, dass Danchekker Prinzipien wissenschaftlicher Deduktion und Techniken logischer Analyse abfragte. Die ganze Zeit über zog die Gestalt, die am weitesten vom Bildschirm entfernt am Tisch saß und mit gespannter Aufmerksamkeit, aber stumm, jede Nuance der Diskussion verfolgt hatte, fortwährend in lässiger Manier an ihrer Zigarette.
Dr. Victor Hunt war ebenfalls mit dem Wissenschaftlerteam vor drei Monaten an Bord der Jupiter-Fünf gekommen, um sich mit dem Schiff der Ganymeder zu beschäftigen. Obwohl währenddessen noch nichts wirklich Spektakuläres herausgekommen war, hatten sich dennoch umfangreiche Dokumentationen mit Angaben zur Struktur, zu Bauweise und Fracht des Schiffes angesammelt. Tag für Tag wurden ihm frisch entnommene Vorrichtungen und Maschinen in den Laboratorien der Bodenstationen und an Bord der im Umlauf befindlichen J4- und J5-Schiffe, die das Unternehmen leiteten, untersucht. Die Testresultate waren zwar bislang nur fragmentarisch, aber es zeichneten sich allmählich bestimmte Anhaltspunkte ab, aus denen sich ein plausibles Bild der ganymedischen Zivilisation und der geheimnisvollen Vorfälle vor fünfundzwanzig Millionen Jahren schließlich doch zusammensetzen könnte.
Hierin bestand Hunts Aufgabe. Ursprünglich mit theoretischen Studien in Physik beschäftigt, wobei sein Spezialgebiet in mathematischer Kerntheorie bestanden hatte, war er auf Anwerbung der UN-Weltraumorganisation aus England gekommen, um eine kleine Gruppe von UNWO-Wissenschaftlern anzuleiten; die Aufgabe dieser Gruppe bestand darin, die Einzelergebnisse der Spezialisten, die an dem Unternehmen in der Umlaufbahn Ganymeds, auf der Oberfläche des Jupitermondes und auf der Erde beteiligt waren, in einen sinnvollen Zusammenhang zueinander zu bringen. Die Spezialisten lieferten die Puzzlesteinchen, und Hunts Gruppe setzte sie zusammen. Ersonnen worden war dieses Arbeitsverfahren von Hunts unmittelbarem Vorgesetzten, Gregg Caldwell, dem Leiter der Abteilung für Navigation und Kommunikation der UNWO, dessen Hauptquartier in Houston lag. Die Idee hatte sich bereits bezahlt gemacht, indem es Hunt und seinem Team gelungen war, die Existenz und das Schicksal Minervas zu entschleiern, und es gab erste Anzeichen dafür, dass neue Erfolge bevorstanden.
Hunt hörte zu, während die Debatte zwischen den Biologen genau wieder dort anlangte, wo sie ursprünglich begonnen hatte: bei dem außergewöhnlichen Enzym.
»Nein, ich fürchte, nein«, antwortete Danchekker auf eine Frage von Rousson. »Gegenwärtig haben wir keine Ahnung, welcher Effekt mit ihm verbunden war. Gewisse Funktionen seiner Reaktionsgleichung lassen die Vermutung aufkommen, dass es zur Veränderung oder zur Zerstörung eines bestimmten Proteinmoleküls beigetragen haben könnte, aber für welches Molekül nun genau oder aber warum, wissen wir einfach nicht.« Danchekker ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, als würde er weitere Beiträge erwarten, aber keiner schien mehr etwas zu sagen zu haben. Im Zimmer breitete sich Stille aus. Zum ersten Mal wurde das schwache Summen eines nahe gelegenen Generators vernehmlich. Gemächlich drückte Hunt seine Zigarette aus und lehnte sich zurück, um seine Ellenbogen auf den Armlehnen seines Stuhles zu platzieren. »Es klingt fast, als ob Sie da 'ne ganz schöne Nuss zu knacken haben«, gab er von sich. »Enzyme sind nicht mein Bier. Daher muss ich Ihnen diesen Fall ganz allein überlassen.«
»Ah, schön zu bemerken, dass Sie immer noch da sind, Vic«, sagte Danchekker und lenkte seinen Blick zum äußeren Ende des Tisches. »Sie haben noch kein Wort gesagt, seit wir mit der Diskussion begonnen haben.«
»Ich höre zu und lerne«, sagte Hunt lächelnd. »Ich hatte nicht viel beizusteuern.«
»Das klingt ja wie eine philosophische Lebensanschauung«, sagte Fichter und wühlte in den Papieren, die vor ihm lagen. »Haben Sie viele dieser Weisheiten auf Lager … vielleicht so'n kleines rotes Buch, wie damals dieser chinesische Herr im Jahre Neunzehnhundertdingsbums?«
»Kann leider nicht damit dienen. Bringt nichts, für alles und jedes Philosophien parat zu haben. Man widerspricht sich dann immer nur selbst. Man wird unglaubwürdig.«
Fichter lächelte. »Sie haben also zur Erhellung unseres verdammten Enzymproblems nichts beizutragen«, sagte er.
Hunt antwortete nicht sofort, sondern spitzte seinen Mund und neigte seinen Kopf zur Seite wie jemand, der daran zweifelt, ob es ratsam sei, mit seinem Wissen herauszurücken. »Na«, sagte er schließlich, »so wie es aussieht, haben Sie eigentlich schon genug Scherereien mit diesem Enzym.« Sein Tonfall hatte leicht spielerischen Charakter, wirkte jedoch unwiderstehlich provokativ. Alle Köpfe im Raum drehten sich jäh nach ihm um.
»Vic, Sie verheimlichen uns etwas«, erklärte Sandy. »Raus damit.«
Danchekker bedachte Hunt mit einem stummen, herausfordernden Blick. Hunt nickte und langte mit einer Hand zur ihm gegenüberliegenden Tischecke, um eine Tastatur zu bedienen, die dort eingelassen war. Auf der gegenüberliegenden Seite Ganymeds antworteten die Computer an Bord der Jupiter-Fünf auf seine Anfrage. Der Wandschirm im Konferenzraum änderte seine Darstellung, und es erschien eine eng aneinandergereihte Zahlenkolonne.
Hunt ließ den anderen einige Zeit, sich damit vertraut zu machen. »Es handelt sich um die Resultate einer Serie quantitativer Analysetests, die vor Kurzem in den Laboratorien der J5 durchgeführt wurden. Diese Tests schlossen eine Routinebestimmung der chemischen Zusammensetzung von Zellen ausgewählter Organe der Tiere ein, über die Sie sich soeben unterhalten haben – die vom Schiff.« Er hielt einen Moment inne und fuhr dann in nüchternem Ton fort: »Diese Zahlen besagen, dass gewisse Elementverbindungen immer wieder auftraten, und zwar jeweils in gleichen festen Verhältnissen zueinander. Diese Verhältnisse lassen in hohem Maße auf Zerfallprodukte schließen, wie sie uns aus radioaktiven Prozessen bekannt sind. Es ist genauso, als wären radioaktive Isotope für die Erzeugung der Enzyme ausgewählt worden.«
Nach einigen Sekunden runzelten sich ein oder zwei Stirnpartien als Antwort auf seine Worte. Danchekker fand als erster eine Antwort. »Wollen Sie uns etwa weismachen, dass das Enzym radioaktive Isotope in seine Struktur aufnimmt … selektiv?«, fragte er.
»In der Tat.«
»Das ist einfach lächerlich«, erklärte der Professor entschieden. Sein Ton ließ keinen Raum für Widerspruch. Hunt zuckte mit den Schultern.
»Es scheint den Tatsachen zu entsprechen. Schauen Sie sich doch die Zahlen an.«
»Aber es gibt keine Möglichkeit, wie sich ein solcher Prozess entwickeln konnte«, insistierte Danchekker.
»Weiß ich, aber so war's eben.«
»Rein chemische Prozesse können kein radioaktives Isotop von einem normalen Isotop unterscheiden«, hob Danchekker ungeduldig hervor. »Enzyme werden durch chemische Prozesse gebildet. Solche Prozesse sind nicht in der Lage, radioaktive Isotope zu selektieren, um sie für den Aufbau von Enzymen zu verwenden.«
Hunt hatte halbwegs erwartet, dass Danchekkers unmittelbare Reaktion auf die von ihm soeben vorgetragene Annahme kompromisslose und völlige Abwehr ausdrückte. Nachdem er mehr als zwei Jahre lang mit Danchekker eng zusammengearbeitet hatte, hatte sich Hunt an die Tendenz des Professors zu einer instinktiven Verschanzung hinter orthodoxen Lehrsätzen gewöhnt, sobald irgendein seinen Überzeugungen fremdartiger Gedanke an ihn herangetragen wurde. Hunt wusste jedoch, dass Danchekker ebenso innovativ wie jeder einzelne Wissenschaftler der jüngeren Generation sein konnte, der hier im Raum anwesend war, wenn ihm etwas Zeit zu Überlegungen gelassen wurde. Daher verhielt sich Hunt im Augenblick ruhig, pfiff unmelodisch vor sich hin und trommelte dabei abwesend mit seinen Fingern auf dem Tisch herum.
Danchekker wartete ab und wurde sichtlich irritierter, als die Sekunden dahinschlichen. »Chemische Prozesse können kein radioaktives Isotop ausmachen«, wiederholte er schließlich. »Daher kann kein Enzym so produziert werden, wie Sie es behaupten. Und selbst wenn dem so wäre, würde kein Sinn damit verfolgt. In chemischer Hinsicht verhält sich ein Enzym völlig gleich, ganz egal, ob es radioaktive Isotope in sich birgt oder nicht. Was Sie sagen, ist absurd.«
Hunt seufzte und deutete mit einer müden Handbewegung auf den Schirm.
»Ich sage es ja nicht, Chris«, erinnerte er den Professor. »Die Zahlen tun es. Hier sind die Tatsachen – überprüfen Sie sie.« Hunt beugte sich nach vorn und legte den Kopf zur Seite. Gleichzeitig verzog er sein Gesicht und setzte eine Miene auf, als wäre ihm ein plötzlicher Gedanke durch den Kopf geschossen. »Was sagten Sie doch gleich wieder vor einer Minute über Leute, die sich Beweise zusammenschustern, um die Antworten zu untermauern, von denen sie längst überzeugt sind?«, fragte er.
Im Alter von elf Jahren war Victor Hunt aus dem Tollhaus im Londoner East End, in dem seine Familie lebte, weggezogen und zu einem Onkel und einer Tante nach Worcester übergesiedelt. Sein Onkel – in der Familie Hunt aus der Art geschlagen – arbeitete als Planungsingenieur in den nahe gelegenen Laboratorien eines führenden Computerherstellers, und unter seiner geduldigen Anleitung waren dem Jungen die Aufregungen und Mysterien der Welt der Elektronik eröffnet worden.
Eine Weile später veranlasste den jungen Victor seine frisch entdeckte Faszination für die Gesetze der formalen Logik und die Techniken elektronischer Schaltplanentwürfe dazu, seinen ersten praktischen Test durchzuführen. Er entwarf und baute einen fest verdrahteten Spezialprozessor, der eine Zahl von eins bis sieben anzeigte und damit einen zugeordneten Wochentag benannte, nachdem er alle Daten seit der Einführung des Gregorianischen Kalenders im Jahre 1582 gespeichert hatte. Als er atemlos vor Erwartung zum ersten Mal die Apparatur in Gang setzte, rührte sich nichts. Es stellte sich heraus, dass er eine Kapazitätsdiode verkehrt herum angeschlossen und damit die Stromversorgung kurzgeschlossen hatte.
Diese Erfahrung lehrte ihn zwei Dinge: Die meisten Probleme haben einfache Lösungen, wenn man sie nur von der richtigen Seite betrachtet, und die Freude über den letztendlichen Erfolg rechtfertigt alle Anstrengungen. Sie diente auch der Verstärkung seines intuitiven Verständnisses von der Notwendigkeit eines Tests als dem einzig probaten Mittel zur Tauglichkeitsüberprüfung einer guten Idee. Als ihn seine weitere Ausbildung aus dem Bereich der Elektronik zur mathematischen Physik und von da zur Nukleonik führte, wurden diese Grundlagen zu Fundamenten seiner fortwährenden geistigen Höhenflüge. In fast dreißigjähriger Tätigkeit hatte er niemals seine Hingabe an die letzten Minuten wachsender Spannung verloren, die sich einstellte, wenn das entscheidende Experiment vorbereitet war und der Augenblick der Wahrheit näher rückte.
Auch jetzt durchströmte ihn erneut dieses Gefühl, als er Vincent Carizan beobachtete, der noch einige letzte Korrekturen an den Reglern der Endstufe vornahm. Die Attraktion des heutigen Morgens im elektronischen Hauptlabor in der Pithead Base stellte ein Ausrüstungsgegenstand aus dem Schiff der Ganymeder dar. Er war in etwa von zylindrischer Form, von der Größe eines Ölfasses und schien ziemlich simple Funktionen zu erfüllen, da er lediglich über wenige Ein- und Ausgangsbuchsen verfügte; offenbar handelte es sich eher um irgendein eigenständiges Gerät als um einen Baustein in einem größeren und komplexen System.
Dennoch war seine Funktion alles andere als einleuchtend. Die Ingenieure auf Pithead hatten geschlossen, dass es sich bei den Buchsen um Stromaufnahmekontakte handelte. Ausgehend von einer Analyse des verwendeten Isolierungsmaterials, der Spannungsmessung und der Schutzkontakte sowie der Schaltkreise und der Filteranordnung hatte man die Stärke der notwendigen Stromversorgung kalkuliert, welche nötig war, um das Gerät in Betrieb zu setzen. So hatte man eine passende Anzahl von Transformatoren und Frequenzkonvertern aufgebaut. Heute war der Tag gekommen, an dem das Gerät eingeschaltet werden sollte, um zu sehen, was sich ereignen würde.
Neben Hunt und Carizan waren zwei weitere Ingenieure im Labor anwesend, welche die Messinstrumente überwachen sollten, die man zur Auswertung des Experiments aufgebaut hatte. Frank Towers beobachtete Carizans befriedigtes Kopfnicken, als er von der Schaltkonsole zurücktrat und fragte: »Alles klar zur Überladungskontrolle?«
»Klaro«, antwortete Carizan. »Geben Sie ihm Saft.« Towers betätigte einen Schalter auf einer anderen Konsole. Ein scharfes »Klank« wurde unmittelbar darauf vernehmlich, als eine Sicherung irgendwo im Rack hinter der Konsole rausflog.
Sam Mullen, der an einer Messkonsole an einer Seite des Raumes stand, blickte kurz auf einen seiner Kontrollschirme. »Der Stromfluss funktioniert gut«, verkündete er.
»Sicherung raus und 'n paar Volt rein«, sagte Carizan zu Powers, der ein paar Kontrolleinstellungen änderte, erneut den Schalter umlegte und herüber zu Mullen blickte.
»Bis fünfzig gehen«, sagte Mullen. »Eingestellt?«
»Eingestellt«, gab Towers zurück.
Carizan blickte auf Hunt. »Alles fertig vorbereitet, Vic. Wir probieren jetzt mal den ersten Durchgang mit voll eingeschalteten Limitern, aber was auch immer passiert – unser Kram ist voll abgesichert. Ihre letzte Chance übrigens, Ihre Wette zu ändern – der Buchmacher macht jetzt dicht.«
»Ich sage immer noch, dass der Kasten Musik machen wird«, meinte Hunt lachend. »Es handelt sich nämlich um eine elektrische Fassorgel. Geben Sie ihr Saft.«
»Computer?« Carizan warf einen Blick hinüber zu Mullen.
»Eingeschaltet. Alle Datenkanäle auf Normalanzeige.«
»Dann ist alles okay.« Carizan rieb seine Handflächen. »Und jetzt geht's um die Wurst. Geben Sie ihm Saft, Frank – Phase eins des Programmverlaufs.«
Eine nervenzerreißende Stille trat ein, als Towers erneut seine Kontrollen justierte und wieder den Hauptschalter betätigte. Die Displays, die in seine Konsole eingebaut waren, veränderten sich sofort.
»In Betrieb«, versicherte er. »Die Kiste schluckt Saft. Die Spannung hat die Maximaleinstellung der Limiter erreicht. Sieht so aus, als ob sie mehr will.« Alle Augen blickten auf Mullen, der die Computerausgangsschirme intensiv studierte. Er schüttelte den Kopf, ohne sich umzudrehen.
»Nix. Eher snifft 'n Sonntagsschüler 'ne Prise Koks.«
Der Vibrationsmesser, der an der Außenwand des Ganymedischen Geräts in einer Stahlrahmenkonstruktion auf Gummifüßen befestigt stand, zeigte keinerlei mechanische Bewegung im Innern des Untersuchungsgegenstandes an. Die hochempfindlichen Mikrophone, die an seinem Gehäuse angebracht waren, nahmen nichts im audiblen oder ultrasonischen Bereich wahr. Die Wärmesensoren, Strahlungsdetektoren, elektromagnetischen Messgeräte, Gaussmeter, Funkenanzeiger und richtungsändernden Antennen – sie alle hatten nichts anzuzeigen.
Towers verschob die Versorgungsfrequenz nach oben und unten, aber nichts änderte sich. Hunt ging hinüber und stellte sich neben Mullen, um die Computer-Outputs zu inspizieren, sagte aber nichts.
»Sieht so aus, als müssten wir einen Zahn zulegen«, kommentierte Carizan. »Phase zwei, Frank.« Towers erhöhte die Eingangsspannung. Eine Zahlenkolonne erschien auf einem der Schirme Mullens.
»Da ist was auf Kanal sieben«, informierte er die anderen. »Akustisches Signal.« Er gab eine kurze Kommandosequenz an der Tastatur der Konsole ein und starrte auf die Wellenform, die auf einem Hilfsmonitor erschien. »Periodische Welle mit starker gleichmäßig-harmonischer Verzerrung … niedrige Amplitude … Grundfrequenz beträgt ungefähr zweiundsiebzig Hertz.«
»Das ist die Versorgungsfrequenz«, murmelte Hunt. »Vermutlich irgendwo ein Echo. Glaub' nicht, dass es viel zu bedeuten hat. Noch irgendwas?«
»Nichts.«
»Neuer Durchgang, Frank«, sagte Carizan.
Je weiter der Test voranschritt, desto vorsichtiger wurden sie und erhöhten die Anzahl der Variationen auf jeder Stufe. Schließlich zeigten ihnen die Werte der Versorgungseinheit, dass das Gerät gesättigt war und separat zu arbeiten schien. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es eine beachtliche Menge Energie konsumiert, aber abgesehen davon, dass es geringfügige akustische Resonanzen von sich gab und dass sich einige Teile des Gehäuses leicht erwärmten, blieben die Messinstrumente hartnäckig ohne jede Regung. Als eine Stunde vergangen war, entschlossen sich Hunt und die drei UNWO-Ingenieure zu einer längeren und detaillierteren Untersuchung des Objektes, was zweifellos ein Auseinandernehmen mit einschließen würde. Aber, wie schon vor ihnen Napoleon, so waren auch sie der Ansicht, dass glückliche Leute zumeist zu denjenigen gehören, die dem Glück eine Chance geben – es war eben einen Versuch wert gewesen.