Stern der Riesen - James P. Hogan - E-Book

Stern der Riesen E-Book

James P. Hogan

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Beschreibung

Aufbruch zum Planeten der Riesen

Nach der Entdeckung eines mumifizierten Astronauten auf dem Mond und eines geheimnisvollen Alien-Schiffes auf Ganymed sind die irdischen Wissenschaftler sicher: Die Vorfahren der Menschen kamen aus dem All. Das wird durch ein zurückgekehrtes Schiff der Urväter der Menschheit bestätigt. Doch auch sie sind nicht das erste Glied in der Kette: Die Urväter verdanken ihre Existenz den geheimnisvollen Riesen, einer uralten Spezies, deren Heimatwelt bereits vor Äonen zerstört wurde. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass sich zumindest ein Teil der Riesen auf einen anderen Planeten hat retten können. Die Menschen und ihre Urväter begeben sich gemeinsam auf die Suche, doch jemand – oder etwas – legt ihnen gewaltige Steine in den Weg …

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James P. Hogan

 

Stern der Riesen

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Titel der Originalausgabe
GIANT'S STAR
Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Crass
Überarbeitete Neuausgabe
Copyright © 1981 by James Patrick Hogan
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: Thomas Menne
ISBN 978-3-641-19698-1V005
www.penguinrandomhouse.de

Das Buch

Nach der Entdeckung eines mumifizierten Astronauten auf dem Mond und eines geheimnisvollen Alien-Schiffes auf Ganymed sind die irdischen Wissenschaftler sicher: Die Vorfahren der Menschen kamen aus dem All. Das wird durch ein zurückgekehrtes Schiff der Urväter der Menschheit bestätigt. Doch auch sie sind nicht das erste Glied in der Kette: Die Urväter verdanken ihre Existenz den geheimnisvollen Riesen, einer uralten Spezies, deren Heimatwelt bereits vor Äonen zerstört wurde. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass sich zumindest ein Teil der Riesen auf einen anderen Planeten hat retten können. Die Menschen und ihre Urväter begeben sich gemeinsam auf die Suche, doch jemand – oder etwas – legt ihnen gewaltige Steine in den Weg …

 

 

 

 

Der Autor

James Patrick Hogan (* 27. Juni 1941 in London, † 12. Juli 2010 in Irland) wuchs im Londoner Westen auf. Dank eines Stipendiums konnte er ein Ingenieursstudium an der Royal Aircraft Establishment in Farnborough machen. 1977 wanderte er in die USA aus, wo er für mehrere Computerfirmen arbeitete, bis er sich 1979 hauptberuflich dem Schreiben widmete. Sein erster Roman, »Das Erbe der Sterne«, erschien 1977. Sein wissenschaftlich-technisch orientierter Schreibstil fand großen Anklang, sodass Hogan mehrere Nachfolgeromane schrieb. Wegen seiner Ansicht, dass Theorien auf Grund empirischer Daten formuliert werden sollten, wurde er oft mit seinem Landsmann Arthur C. Clarke verglichen. Bis zu seinem Tod lebte er mit seiner Frau in Florida und Irland.

 

 

Im Heyne Verlag sind von James P. Hogan lieferbar:

Das Erbe der Sterne

Die Riesen von Ganymed

Stern der Riesen

 

Mehr über James P. Hogan und seine Romane auf:

www.diezukunft.de

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

Prolog

 

Zu Beginn der vierten Dekade des einundzwanzigsten Jahrhunderts hatte es den Anschein, als hätten die Menschen es endlich gelernt, miteinander auszukommen, und seien auf ihrem Weg zu den Sternen. Die Supermächte hatten sich aus dem Würgegriff des Rüstungswettlaufs befreit und den größten Teil ihrer strategischen Streitkräfte aufgelöst. Sie setzten ihre Milliarden stattdessen in einem ungeheuren Umfang für den Export von Technologie und Ausbildung in die Dritte Welt ein. Der Zuwachs an Reichtum und Lebensstandard sowie die Sicherheit und Vielfalt, die der durch die globale Industrialisierung entstandene allgemeine Reichtum mit sich brachte, hatte auch zur Folge, dass die Bevölkerung sich von selbst beschränkte. Endlich sah es so aus, als stünde der endgültige Sieg über Hunger, Armut und die anderen uralten Geißeln der Menschheit kurz bevor. Während die Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und der UdSSR sich in einen Wettstreit der Köpfe und zu diplomatischen Winkelzügen um ökonomischen und politischen Einfluss in den sich stabilisierenden Nationalstaaten wandelte, fand die Abenteuerlust des Menschen ihren Ausdruck in einem neu belebten, multinationalen Raumfahrtprogramm. Unter der Koordination einer neu gebildeten Abteilung, der Weltraumorganisation der Vereinten Nationen, kurz UNWO, startete die Menschheit zahlreiche Forschungsunternehmungen und breitete sich im gesamten Sonnensystem aus. Die Erschließung und Ausbeutung der Mondressourcen machte rapide Fortschritte, auf dem Mars und in der Umlaufbahn um die Venus wurden permanent besetzte Basen errichtet, und eine Reihe von groß angelegten bemannten Raumflügen erreichte die äußeren Planeten.

Die umfassendste Revolution dieser Zeit aber folgte auf die umwälzenden Entdeckungen der Naturwissenschaft, die sich aus einigen der Funde ergaben, welche auf dem Mond und draußen beim Jupiter im Verlauf dieser Forschungsunternehmungen gemacht wurden. In einem Zeitraum von nur wenigen Jahren erzwang eine Reihe von Entdeckungen, die zahlreiche Überzeugungen umstießen, die von Anbeginn der Naturwissenschaften an zweifelsfrei festgestanden hatten, eine vollständige Überarbeitung der Geschichte des Sonnensystems selbst und kulminierte in der ersten Begegnung des Menschen mit einer hoch entwickelten nicht menschlichen Art.

Ein bisher unbekannter Planet, dem die Forscher, die seine Geschichte rekonstruierten, den Namen Minerva verliehen hatten, hatte in dem Sonnensystem in seiner ursprünglichen Gestalt eine Position zwischen Mars und Jupiter eingenommen und war von einer hoch entwickelten Spezies zweieinhalb Meter großen fremden Lebewesen bewohnt worden. Da der erste Hinweis auf ihre Existenz auf Ganymed, dem größten der Jupiter-Monde, gefunden worden war, wurden sie unter dem Namen »Ganymeder« bekannt. Die ganymedische Kultur, die bis zu fünfundzwanzig Millionen Jahre vor unserer Zeit geblüht hatte, verschwand abrupt. Ein Teil der Wissenschaftler der Erde war der Überzeugung, dass sich verschlimmernde Umweltbedingungen auf Minerva die »Riesen« zu einer Emigration in ein anderes Sternsystem gezwungen haben könnten, aber die Frage wurde nie schlüssig geklärt. Viel später – ungefähr fünfzigtausend Jahre vor der Jetztzeit – wurde Minerva zerstört. Aus dem größten Teil ihrer Masse, die nach außen in eine exzentrische Umlaufbahn am Rand des Sonnensystems geschleudert wurde, entstand Pluto. Die restlichen Trümmer wurden durch Jupiters Tideneffekt verteilt und bildeten den Asteroidengürtel.

Während man noch damit beschäftigt war, die Stücke dieses Puzzles zusammenzufügen, kehrte ein Sternenschiff der uralten ganymedischen Kultur zurück. Da es einer relativistischen Zeitverschiebung unterlag, die sich aus einem technischen Defekt des Raum-Zeit-Verzerrungsantriebs des Schiffs ergeben hatte, entsprachen die etwas mehr als zwanzig Jahre, die für das Schiff vergangen waren, auf der Erde einem Zeitraum, der ungefähr zwanzig Millionen mal so groß war. Die Shapieron war aufgebrochen, bevor die wie auch immer gearteten Ereignisse begonnen hatten, die das Volk der Ganymeder ausgelöscht hatten. Die Mannschaft war daher nicht in der Lage, die Forschungsergebnisse und Theorien der Wissenschaftler auf der Erde zu widerlegen oder zu bestätigen. Die Riesen blieben sechs Monate lang, suchten zusammen mit den terrestrischen Forschern mit vereinten Kräften nach weiteren Spuren, die zu einer Lösung des Rätsels führen könnten, und gliederten sich harmonisch in die Gesellschaft der Erde ein. Die Menschheit hatte einen Freund gefunden, und die letzten Reste der ganymedischen Spezies, so hatte man angenommen, eine neue Heimat.

Es sollte jedoch nicht so kommen. Im Verlauf der Forschungen wurde ein Hinweis darauf gefunden, dass die Ganymeder sich in einem Sonnensystem im Bereich des Sternbilds Stier angesiedelt haben könnten – auf dem Planeten eines Sonnensystems, für den sich die Bezeichnung »Stern der Riesen« einbürgerte; es gab keine Garantie, aber es bestand Hoffnung. Kurz darauf flog die Shapieron ab und ließ eine traurige, aber in vieler Beziehung klügere Welt zurück.

Radioteleskope auf der Rückseite des Monds schickten eine Botschaft zum Stern der Riesen ab, um die Ankunft der Shapieron anzukündigen. Obwohl die Botschaft Jahre brauchen würde, um die Entfernung zu überbrücken, würde sie trotzdem noch lange vor dem Schiff dort eintreffen. Zur Überraschung der Wissenschaftler, die die Botschaft zusammengestellt hatten, wurde schon Stunden, nachdem mit ihrer Ausstrahlung begonnen worden war, eine Antwort aufgefangen, die angeblich aus dem Sonnensystem der Riesen stammte und in der es hieß, der Stern der Riesen sei tatsächlich die neue Heimat der Ganymeder. Zu dieser Zeit aber war die Shapieron bereits abgeflogen, und wegen der Raum-Zeit-Verschiebung, die der Antrieb des Schiffs erzeugte, konnte ihm diese Antwort nicht mehr übermittelt werden, da elektromagnetische Signale nicht zusammenhängend aufgenommen werden konnten. Die Wissenschaftler auf der Erde konnten nun nichts mehr tun; die Shapieron war in der Leere verschwunden, aus der sie gekommen war, und viele weitere Jahre der Unsicherheit darüber, ob die Suche der Ganymeder vergeblich bleiben sollte oder nicht, würden für sie vergehen.

Die Sender auf der Rückseite des Monds schickten in den drei Monaten, die darauf folgten, immer wieder Signale aus, aber es folgte keine weitere Reaktion darauf.

1

 

Dr. Victor Hunt kämmte sich das Haar, knöpfte sein frisches Hemd zu und musterte sein Spiegelbild, das ihn zwar etwas schläfrig, aber doch noch recht annehmbar aus dem Badezimmerspiegel ansah. Hier und da entdeckte er einige graue Haare in seinen vollen braunen Locken, aber man hätte schon nach ihnen suchen müssen, um sie zu bemerken. Seine Haut wirkte gesund; die Linien von Wangen und Kinn waren klar ausgeprägt und fest, und sein Gürtel ruhte noch immer locker auf seiner Hüfte und erfüllte seinen vorgesehenen Zweck: Er hielt seine Hose fest, zwängte ihm aber nicht den Bauch ein. Er kam zu dem Ergebnis, dass er sich für seine neununddreißig Jahre recht gut gehalten hatte. Das Gesicht in dem Spiegel runzelte plötzlich die Stirn, denn das Ritual erinnerte ihn an die typische Darstellung einer männlichen Midlife-Crisis in einem Fernsehwerbespot; jetzt fehlte nur noch die schwachsinnige Ehefrau, die mit einer Flasche in der Hand in der Badezimmertür erschien und ihm mit warmen Worten ein Mittel gegen Haarausfall, irgendwelche Deodorants, Wässerchen gegen Mundgeruch oder sonst etwas anbot. Der Gedanke brachte ihn zum Schaudern, und er warf den Kamm in den Spiegelschrank über dem Waschbecken, machte die Tür hinter sich zu und ging langsam in die Küche des Apartments.

»Bist du fertig im Bad, Vic?«, rief Lyn durch die offene Schlafzimmertür. Sie klang hell und fröhlich, was so früh am Morgen eigentlich verboten sein sollte.

»Geh nur rein.« Hunt tippte einen Code am Terminal der Küche ein, um eine Frühstücks-Speisekarte auf seinen Schirm abzurufen, und gab dann dem Robokoch die Anweisung, Rührei, Schinken (knusprig gebraten), Toast mit Marmelade und Kaffee in zwei Portionen zu servieren. Lyn erschien in dem Gang vor der Tür. Hunts Bademantel, den sie sich locker über die Schultern drapiert hatte, verbarg nicht viel von ihren langen, schlanken Beinen und ihrem goldbraun getönten Körper. Sie lächelte ihm kurz zu und verschwand in einem Wirbel von rotem Haar, das ihr bis zur Hüfte herabhing.

»Das Frühstück ist unterwegs«, rief Hunt ihr nach.

»Das Übliche«, stellte ihre Stimme aus der Tür fest.

»Das hast du wohl geraten?«

»Die Engländer sind Gewohnheitstiere.«

»Warum sollte man sich das Leben auch verkomplizieren?«

Der Schirm zeigte eine Liste von Nahrungsmitteln, die knapp wurden, und Hunt erteilte dem Computer die Genehmigung, sie bei Albertson zu bestellen, damit sie später am Tag geliefert würden. Als er aus der Küche in das Wohnzimmer kam, begrüßte ihn das Geräusch der Dusche, die gerade angedreht wurde, und er überlegte sich, wie eine Welt, die es als normal akzeptierte, dass jeden Abend Menschen vor einem Millionenpublikum ihre Verstopfung, Hämorrhoiden, Schuppen und Verdauungsprobleme diskutierten, den Anblick eines hübschen Mädchens, das sich auszieht, obszön finden konnte. »Nichts ist so komisch wie die Menschen«, hätte seine Großmutter aus Yorkshire gesagt.

Man musste kein Sherlock Holmes sein, um aus dem Anblick des Wohnzimmers, der sich ihm bot, die Geschichte des gestrigen Abends ablesen zu können. Die halbvolle Kaffeetasse, die leere Zigarettenschachtel und die Reste einer Pepperoni-Pizza, umgeben von unordentlich vor dem Schreibtischterminal verstreuten wissenschaftlichen Artikeln und Notizen, ließen auf einen Abend schließen, der mit den besten und lautersten Vorsätzen begonnen worden war, einen weiteren Lösungsansatz für das Pluto-Problem anzugehen. Lyns Schultertasche auf dem Tisch bei der Eingangstür, ihr achtlos auf die Couch geworfener Mantel, die leere Flasche Chablis und der weiße Pappkarton mit den Resten der Rindfleisch-Curry-Mahlzeit vom Straßenverkauf berichteten von einer unerwarteten, aber eigentlich nicht unwillkommenen Unterbrechung durch einen Besuch oder vielmehr eine Besucherin. Die zusammengedrückten Kissen und die beiden Paar Schuhe, die immer noch dort lagen, wo sie zwischen der Couch und dem Kaffeetisch hingefallen waren, erzählten den Rest der Geschichte. Na ja, sagte sich Hunt, es würde dem Rest der Welt wohl nicht allzu viel ausmachen, wenn man erst vierundzwanzig Stunden später erfahren würde, wie Pluto dort hingekommen war, wo er sich jetzt befand.

Er ging zu seinem Schreibtisch und befragte das Terminal, ob im Verlauf der Nacht vielleicht Post für ihn eingetroffen war. Man hatte ihm den Entwurf eines Artikels zugesandt, der von Mike Barrows Team in den Lawrence-Livermore-Labors verfasst worden war. Darin wurde die These vertreten, dass ein bestimmter Aspekt der ganymedischen Physik auf die Möglichkeit verwies, Kernfusion bei niedrigen Temperaturen herbeizuführen. Hunt überflog ihn kurz und ließ ihn zu seinem Dienstzimmer weiterleiten, wo er ihn genauer prüfen wollte. Zwei Rechnungen und Kontoauszüge … abheften und am Monatsende wieder vorlegen. Eine Videoaufzeichnung von Onkel William in Nigeria; Hunt gab die Anweisung ein, das Band noch einmal vorzuspielen, und trat zurück, um es sich anzusehen. Hinter der geschlossenen Tür verstummte das Geräusch der Dusche, und kurz darauf kam Lyn wieder in das Schlafzimmer zurück.

William und die Familie hatten sich darüber gefreut, dass Vic sie in seinem Urlaub besucht hatte, und besonders hatte ihnen sein persönlicher Bericht über seine Erfahrungen auf Jupiter und später auf der Erde mit den Ganymedern gefallen … Cousine Jenny hatte einen Job in der Verwaltung des nuklearen Stahlwerks bekommen, das gerade vor Lagos den Betrieb aufgenommen hatte … Über die Familie in London gab es weiter nichts zu berichten, als dass es ihr bis auf Vics älteren Bruder George gutging, der wegen aggressiven Verhaltens nach einer politischen Diskussion in der lokalen Kneipe vor Gericht erscheinen musste … Die graduierten Studenten der Universität von Lagos waren von Hunts Vortrag über die Shapieron fasziniert und hatten eine Liste von Fragen an ihn abgeschickt. Sie hofften, er würde die Zeit dafür finden, sie zu beantworten.

Gerade als die Aufzeichnung zu Ende ging, kam Lyn in der schokoladenbraunen Bluse und dem elfenbeinfarbenen Crêpe-Rock, die sie am Abend zuvor schon getragen hatte, aus dem Schlafzimmer und verschwand wieder in der Küche. »Wer ist das?«, rief sie zu der Begleitung von klappernden Schranktüren und klirrenden Tellern, die auf einer Arbeitsfläche abgestellt wurden.

»Onkel Billy.«

»Der aus Afrika, den du vor ein paar Wochen besucht hast?«

»Genau.«

»Und wie geht es ihnen dort?«

»Es geht ihnen gut. Jenny ist in dem neuen Komplex untergekommen, von dem ich dir erzählt habe, und Bruder George steckt wieder mal in Schwierigkeiten.«

»O weh! Was ist denn jetzt wieder los?«

»Es hört sich so an, als hätte er wieder den Kneipen-Anwalt gespielt. Irgendjemand hat seine Meinung nicht geteilt, dass die Regierung für alle Streikenden volle Lohnfortzahlung garantieren sollte.«

»Was ist mit ihm – spinnt der irgendwie?«

»Das ist eine Familienkrankheit.«

»Das hast du gesagt, nicht ich.«

Hunt grinste. »Du kannst also nie sagen, man hätte dich nicht gewarnt.«

»Ich werde daran denken … Das Frühstück ist fertig.«

Hunt schaltete das Terminal ab und kam in die Küche. Lyn saß auf einem Hocker an der Frühstücksbar, die den Raum teilte. Sie hatte schon zu essen begonnen. Hunt setzte sich ihr gegenüber hin, trank einen Schluck Kaffee und nahm seine Gabel auf. »Warum die Eile?«, fragte er. »Es ist doch noch früh, und wir haben Zeit.«

»Ich fahre nicht direkt. Ich muss zuerst noch nach Hause und mich umziehen.«

»Meiner Ansicht nach siehst du okay aus – ich würde sogar sagen, du bist ein Genuss für Männeraugen.«

»Mit Schmeicheleien erreichst du alles, was du willst. Nein … Gregg erwartet hohen Besuch aus Washington. Ich möchte nicht ›abgegriffen‹ aussehen und das Image von Navkomm ruinieren.« Sie lächelte und sagte in einem übertriebenen englischen Akzent: »Man muss die Form wahren, mein Bester.«

Hunt schnaubte verächtlich. »Du brauchst noch viel Übung. Wer kommt zu Besuch?«

»Ich weiß nur, dass sie vom Innenministerium kommen. Irgendwelcher Geheimkram, mit dem Gregg in der letzten Zeit zu tun hatte … jede Menge Anrufe über abgesicherte Leitungen, und ständig kommen Boten und bringen Geheimmaterial in versiegelten Taschen. Frag mich nicht, worum es da geht.«

»Hat er dir nichts erzählt?« Hunt klang überrascht.

Sie schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln. »Vielleicht, weil ich Umgang mit verrückten, unzuverlässigen Ausländern habe.«

»Aber du bist doch seine persönliche Assistentin«, sagte Hunt. »Ich dachte, du wüsstest über alles Bescheid, was bei Navkomm vor sich geht.«

Lyn zuckte wieder die Achseln. »Dieses Mal nicht … zumindest bis jetzt noch nicht. Ich habe allerdings das Gefühl, ich könnte es heute erfahren. Gregg hat da gewisse Andeutungen gemacht.«

»Mmm … merkwürdig …« Hunt richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Teller und dachte über die Situation nach. Gregg Caldwell, Leiter der Navigations- und Kommunikationsabteilung der UNWO, war Hunts unmittelbarer Vorgesetzter. Durch eine Verkettung von Umständen hatte Navkomm unter der Leitung von Caldwell eine führende Rolle beim Zusammensetzen der Geschichte von Minerva und der Ganymeder gespielt, und Hunt war sowohl vor als auch während des Aufenthalts der Ganymeder auf der Erde direkt an den Ereignissen beteiligt gewesen. Seit ihrer Abreise hatte Hunts Hauptaufgabe bei Navkomm darin bestanden, eine Gruppe zu leiten, die die Forschungsarbeiten über die wissenschaftlichen Informationen koordinieren sollte, welche die Ganymeder der Erde vermacht hatten. Obwohl nicht alle Ergebnisse und Spekulationen veröffentlicht worden waren, war das Arbeitsklima bei Navkomm im Allgemeinen recht freizügig. Deshalb hatte man dort von Sicherheitsmaßnahmen, die so extrem waren, wie Lyn sie geschildert hatte, praktisch noch nie etwas gehört. Da war tatsächlich irgendetwas Merkwürdiges im Gang.

Er lehnte sich an den Stuhl, um sich eine Zigarette anzuzünden, und beobachtete dabei Lyn, wie sie noch zwei Tassen Kaffee eingoss. Ihre graugrünen Augen verloren nie ganz ihr schelmisches Blitzen, und immer umspielte die leise Andeutung eines Schmollens ihren Mund. All das fand er sowohl amüsant als auch erregend – die Amerikaner hätten es wahrscheinlich »cute« genannt. Er dachte an die drei Monate zurück, die seit dem Abflug der Shapieron vergangen waren, und versuchte dahinterzukommen, was geschehen war, um eine Person, die vorher nur eine clevere, gut aussehende Frau im Büro gewesen war, in eine regelmäßige Gesellschaft beim Frühstück in dem einen oder anderen Apartment zu verwandeln. Es schien aber für diese Verwandlung keinen bestimmten Ort oder Zeitpunkt gegeben zu haben; es war einfach irgendwo und irgendwann so gekommen. Er konnte sich darüber nicht beschweren.

Sie sah auf, als sie die Kanne abstellte, und bemerkte, dass er sie ansah. »Siehst du, es ist doch ganz nett, wenn ich bei dir bin. Wären die Morgen nicht viel langweiliger, wenn du nur den Schirm anschauen könntest?« Sie fing schon wieder damit an … im Spaß, aber nur, wenn er es nicht ernst nehmen wollte. Es ist viel vernünftiger, nur eine Miete zu bezahlen statt zwei, eine Haushaltsrechnung ist billiger als zwei und so weiter und so fort.

»Ich bezahle die Rechnungen«, sagte Hunt. Er breitete flehentlich seine Hände aus. »Du hast es ja selbst gesagt – Engländer sind Gewohnheitstiere. Auf jeden Fall halte ich meinen Standard.«

»Das klingt, als wärst du Angehöriger einer gefährdeten Art«, sagte sie ihm.

»Das bin ich auch – die Art heißt Chauvinisten. Irgendjemand muss ja wohl die letzte Bastion verteidigen.«

»Und du brauchst mich nicht?«

»Natürlich nicht. Großer Gott, was für eine Vorstellung!« Er sah mit scheinbar finsterem Gesicht über die Bar, während Lyn ihm mit einem spitzbübischen Lächeln antwortete. Vielleicht konnte die Welt noch achtundvierzig Stunden warten, bis sie hinter das Geheimnis von Pluto kam. »Hast du heute Abend schon etwas vor – irgendwas Besonderes?«, fragte er.

»Ich bin drüben in Hanwell zum Abendessen eingeladen – bei diesem Marktforschungsfritzen, von dem ich dir erzählt habe, und bei seiner Frau. Sie haben eine Menge Leute eingeladen, und es hat sich angehört, als könnte es Spaß machen. Sie haben mir zwar gesagt, ich könnte einen Freund mitbringen, aber ich habe gedacht, das würde dich nicht allzu sehr interessieren.«

Hunt zog die Nase hoch und runzelte die Stirn. »Sind das nicht die Leute, die auf übersinnliche Wahrnehmung und das Geheimnis der Pyramiden abfahren?«

»Richtig. Sie sind alle ganz aufgeregt, weil sich heute Abend ein Supermedium angesagt hat. Er hat das mit Minerva und den Ganymedern vorausgesagt, und zwar schon vor Jahren. Das muss stimmen – es hat schließlich in Amazing Supernature gestanden.«

Hunt wusste zwar, dass sie ihn bloß etwas ärgern wollte, konnte aber seinen Unwillen trotzdem nicht unterdrücken. »Ach, du großer Gott … und in diesem Land soll es angeblich ein Erziehungssystem geben! Geht den Leuten eigentlich jegliche Kritikfähigkeit ab?« Er trank den letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse und knallte sie auf die Bar. »Wenn er das schon vor Jahren vorausgesagt hat, warum hat dann vor Jahren noch niemand etwas davon gehört? Warum hören wir solche Dinge immer erst dann, nachdem die Naturwissenschaft diesen Leuten gesagt hat, was sie hätten voraussagen sollen? Frag ihn, was die Shapieron finden wird, wenn sie den Stern der Riesen erreicht, und lass dir es von ihm aufschreiben. Ich wette, das wird nie in Amazing Supernature veröffentlicht.«

»Damit würde die Sache zu ernst genommen«, sagte Lyn leichthin. »Ich gehe nur hin, weil es da etwas zu lachen gibt. Es hat keinen Sinn, logische Prinzipien Leuten zu erklären, die glauben, dass UFOs Zeitschiffe aus einem anderen Jahrhundert sind. Außerdem sind sie, davon einmal abgesehen, wirklich nette Leute.«

Hunt fragte sich, wie es möglich war, dass es so etwas noch immer gab, nachdem die Ganymeder – die mit Sternenschiffen durch die Galaxis flogen, Leben im Labor entstehen ließen und Computer mit Eigenbewusstsein konstruierten – wiederholt versichert hatten, sie sähen keinen Grund dafür, die Existenz irgendwelcher Mächte anzunehmen, die im Universum außer denen existierten, die durch Wissenschaft und rationales Denken nachweisbar sind. Trotzdem verschwendeten die Menschen noch immer ihre Zeit mit Tagträumen.

Er wurde zu ernst, so stellte er bei sich fest, und beendete die Diskussion über das Thema mit einem Abwinken und einem Grinsen. »Na los, du musst dich endlich auf den Weg machen.«

Lyn ging ins Wohnzimmer, um ihre Schuhe, Handtasche und ihren Mantel zu holen, und traf ihn bei der Eingangstür des Apartments wieder. Sie umarmten und küssten sich. »Also bis später«, flüsterte sie.

»Bis später. Nimm dich vor diesen Verrückten in Acht.«

Er wartete, bis sie im Fahrstuhl verschwunden war, schloss die Tür und verbrachte die nächsten fünf Minuten damit, die Küche aufzuräumen und den Rest der Wohnung in einen einigermaßen annehmbaren Zustand zu versetzen. Schließlich zog er ein Jackett über, stopfte sich einige Dinge in die Aktentasche und fuhr mit dem Fahrstuhl zum Dach hinauf. Minuten später hatte sein Flugauto 600 Meter Höhe erreicht und stieg weiter auf, um sich in den Verkehrskorridor Richtung Osten einzuordnen. Vor ihm glänzten die Regenbogentürme von Houston am Horizont im Sonnenlicht.

2

 

Ginny, Hunts etwas füllige, mittelalterliche, akribische Sekretärin, war bereits beschäftigt, als er in den Empfangsbereich seiner Diensträume hoch oben in dem Wolkenkratzer des Navkomm-Hauptquartiers im Zentrum von Houston trat. Sie hatte drei Söhne, alle zwischen fünfzehn und zwanzig Jahre alt, und sie stürzte sich mit einer Begeisterung in die Arbeit, die Hunt manchmal als eine Art Buße dafür ansah, dass sie sich der Gesellschaft zugemutet hatte. Frauen wie Ginny machten ihre Arbeit immer gut, hatte er herausgefunden. Langbeinige Blondinen waren ja ganz nett, aber wenn es darum ging, dass etwas richtig und rechtzeitig erledigt werden sollte, waren ihm die älteren Muttis allemal lieber.

»Guten Morgen, Dr. Hunt«, begrüßte sie ihn. Von einem hatte er sie nie ganz überzeugen können, und zwar, dass Engländer es nicht erwarteten oder auch nur wirklich mochten, wenn sie immer mit ihrem Titel angesprochen wurden.

»Hallo, Ginny. Wie geht es Ihnen heute?«

»Oh, vielen Dank, mir geht es gut.«

»Irgendwelche Neuigkeiten über den Hund?«

»Gute Nachrichten. Gestern Abend war der Tierarzt da und hat gesagt, dass das Becken doch nicht gebrochen ist. Er braucht nur ein paar Wochen Ruhe, und dann dürfte es ihm wieder gutgehen.«

»Ausgezeichnet. Und was liegt heute morgen hier an? Irgendwas Brandeiliges?«

»Eigentlich nicht. Professor Speehan vom MIT hat vor ein paar Minuten angerufen. Sie sollen ihn vor der Mittagspause zurückrufen. Mit der Post werde ich gerade fertig. Es sind ein oder zwei Sachen dabei, die Sie wahrscheinlich interessieren werden. Den Entwurf des Artikels von Livermoore haben Sie schon gesehen, denke ich.«

Sie verbrachten die nächste halbe Stunde mit der Überprüfung der Post und der Organisation des Dienstplans für den Tag. Als sie das hinter sich hatten, begannen sich die Räume von Hunts Abteilung zu füllen, und er ging, um sich über den neuesten Stand einiger laufender Projekte zu informieren.

Duncan Watt, Hunts Stellvertreter, ein theoretischer Physiker, der vor anderthalb Jahren von der Material- und Konstruktionsabteilung der UNWO hierher versetzt worden war, sammelte die Resultate, die ihm eine Reihe von Gruppen, die überall im Lande an dem Pluto-Problem arbeiteten, zugeschickt hatte. Vergleiche des jetzigen Sonnensystems mit den Aufzeichnungen der Shapieron darüber, wie es vor fünfundzwanzig Millionen Jahren ausgesehen hatte, belegten mit Sicherheit, dass der größte Teil des ehemaligen Planeten Minerva Pluto gebildet hatte. Die Erde hatte ursprünglich keinen Satelliten besessen, und der Mond hatte als einziger Begleiter Minerva umkreist. Als Minerva auseinanderbrach, fiel der Mond nach innen auf die Sonne zu und wurde durch einen Zufall von der Erde eingefangen, die er in einer stabilen Umlaufbahn seitdem umkreiste. Das Problem lag darin, dass bisher noch kein mathematisches Modell die Dynamik erklären konnte, wie es Pluto möglich war, genug Energie zu entwickeln, um trotz der Gravitation der Sonne in seine jetzige Position zu driften. Astronomen und Spezialisten für die Mechanik von Himmelskörpern in der ganzen Welt hatten alle möglichen Ansätze für das Problem versucht, aber bisher ohne Erfolg. Das war allerdings nicht im Geringsten überraschend, weil es den Ganymedern selbst nicht gelungen war, eine zufriedenstellende Lösung anzubieten.

»Der einzige Weg, wie das abgelaufen sein könnte, ist eine Drei-Körper-Reaktion«, sagte Duncan und warf verzweifelt seine Hände in die Luft. »Vielleicht hatte der Krieg gar nichts damit zu tun. Vielleicht ist etwas anderes durch das Sonnensystem gezogen und hat Minerva zum Auseinanderbrechen gebracht.«

Dreißig Minuten später entdeckte Hunt Marie, Jeff und zwei der Studenten von Princeton in einem Zimmer einige Türen weiter, wie sie aufgeregt den Satz von Teildifferential-Sensorenfunktionen diskutierten, der auf einem großen Wandschirm gezeigt wurde.

»Das ist die neueste Entwicklung von Mike Barrows Team in Livermoore«, sagte ihm Marie.

»Ich habe es schon gesehen«, sagte Hunt. »Ich hatte allerdings noch nicht die Möglichkeit, es genau zu prüfen. Es geht da um kalte Fusion, nicht wahr?«

»Daraus scheint sich zu ergeben, dass die Ganymeder keine hohen thermalen Energien zu erzeugen brauchten, um die Abweisung von Protonen zu überwinden«, mischte sich Jeff ein.

»Und wie haben sie es sonst geschafft?«, fragte Hunt.

»Durch die Hintertür. Zuerst einmal haben sie mit Neutronen angefangen, sodass es zu keiner Abstoßung kam. Wenn dann die Partikel im Einflussbereich einer starken Kraft waren, vergrößerten sie den Energiegradienten auf der Partikeloberfläche, um eine Paarbildung einzuleiten. Die Neutronen absorbierten die Positronen und wurden zu Protonen, und die Elektronen wurde abgezogen. Das Ergebnis – zwei eng verbundene Protonen. Peng! Fusion!«

Hunt war beeindruckt, obwohl er in der Zwischenzeit zu viel ganymedische Physik gesehen hatte, um wirklich verblüfft zu sein. »Und sie konnten das bis auf diese Ebene kontrollieren?«, fragte er.

»Mikes Leute meinen es zumindest.«

Kurz darauf kam eine Diskussion über ein Detailproblem auf, und Hunt überließ die Gruppe sich selbst, während einer der Diskussionsteilnehmer in Livermoore anrief, um eine Erklärung zu erbitten.

Es sah so aus, als würden die Informationen, die die Ganymeder zurückgelassen hatten, alle zur gleichen Zeit Früchte zu tragen beginnen und jeden Tag eine Neuentdeckung liefern. Caldwells Idee, Hunts Abteilung als Umschlagplatz für die internationale Forschung in den ganymedischen Wissenschaften zu nutzen, lieferte bereits Resultate. Als die ersten Hinweise auf Minerva und die Ganymeder ans Licht kamen, hatte Caldwell Hunts ursprüngliche Pilot-Gruppe genau dafür eingerichtet. Die Organisation erwies sich als gut geeignet für die Bewältigung der Aufgabe, und nun bildete sie eine fertige Gruppe, die die letzten Studien in Angriff nehmen konnte.

Hunts letzter Besuch galt Paul Shelling, dessen Stab eine Reihe von Räumen und einen Computer-Raum ein Stockwerk tiefer besetzt hatte. Die »Gravitics« gehörten zu den herausforderndsten Aspekten der ganymedischen Technologie, die es ihnen erlaubte, die Raum-Zeit künstlich zu verzerren, ohne dafür große Konzentrationen von Masse zu benötigen. Das Antriebssystem der Shapieron hatte diese Fähigkeit eingesetzt, indem vor dem Schiff ein »Loch« geschaffen wurde, in das es ständig »hineinfiel« und sich so durch den Weltraum vorwärtsbewegte; die »Gravitation« in dem Schiff war von gleicher Natur und nicht simuliert. Shelling, ein Gravitationsphysiker, den das Rockwell-Institut für Forschungsarbeiten freigestellt hatte, war der Leiter einer Gruppe von Mathematikern, die sich seit sechs Monaten mit den ganymedischen Feldgleichungen und Energieumwandlungen befasste. Als Hunt zu ihm kam, starrte er gerade auf ein Display von Isochronen und verzerrten Raum-Zeit-Geodäsien und machte dabei ein sehr nachdenkliches Gesicht.

»Da steht alles«, sagte Shelling. Er hielt dabei seinen Blick fest auf die sanft leuchtenden Kurven in vielen Farben gerichtet und sprach mit einer weit entfernten Stimme. »Künstliche schwarze Löcher … man braucht sie nur nach Belieben an- oder abzuschalten.«

Die Information kam nicht als eine besondere Überraschung. Die Ganymeder hatten bestätigt, dass der Antrieb der Shapieron das tatsächlich erreicht hatte, und Hunt hatte sich schon oft mit Shelling über die theoretische Basis dafür unterhalten. »Sind Sie dahintergekommen?«, fragte Hunt und glitt in einen leeren Stuhl, um das Display zu mustern.

»Wir sind jedenfalls auf dem besten Weg.«

»Bringt uns das dem sofortigen Transport von einer Stelle zur anderen irgendwie näher?« Das war etwas, was die Ganymeder nicht geschafft hatten, obwohl die Möglichkeit in ihren theoretischen Konstrukten implizit vorhanden war. Schwarze Löcher, die im normalen Raum weit voneinander entfernt waren, schienen in einer Art Hyperraum miteinander verbunden zu sein, in dem unbekannte physikalische Gesetze Gültigkeit hatten und die gewöhnlichen Konzepte und Beschränkungen des relativistischen Raums einfach nicht galten. Wie die Ganymeder eingestanden hatten, waren die Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, atemberaubend, aber bisher wusste noch niemand, wie sie Wirklichkeit werden konnten.

»Da steht es«, antwortete Shelling. »Die Möglichkeit ist da, aber das Problem hat noch eine andere Seite, die mir Gedanken macht, und es ist unmöglich, sie abzutrennen.«

»Und zwar?«, fragte Hunt.

»Bewegung in der Zeit«, antwortete Shelling. Hunt runzelte kaum merklich die Stirn. Hätte er sich mit jemand anderem unterhalten, so hätte er seine Skepsis offen zu Tage treten lassen. Shelling breitete seine Hände aus und gestikulierte in Richtung Schirm. »Man kommt nicht daran vorbei. Wenn die Lösungen sofortigen Transport von einer Stelle zur anderen im normalen Raum zulassen, lassen sie auch eine Bewegung durch die Zeit zu. Wenn man eine Methode entwickeln könnte, die eine Möglichkeit zu nutzen, hätte man damit automatisch auch eine Methode gefunden, die andere zu nutzen. Diese Matrix-Integrale sind symmetrisch.«

Hunt wartete einen Augenblick, um nicht verächtlich zu erscheinen. »Das ist zu viel, Paul«, sagte er. »Wo bleibt dann das Kausalitätsprinzip? Das Durcheinander ließe sich nie entwirren.«

»Ich weiß … ich weiß, dass die Theorie sich verrückt anhört, aber da steht es. Entweder stecken wir in einer Sackgasse, und nichts von beidem funktioniert, oder wir stehen da mit beiden Lösungen und müssen uns mit ihnen abfinden.«

Sie verbrachten die nächste Stunde damit, noch einmal Shellings Gleichungen zu überarbeiten, aber zum Schluss waren sie auch nicht klüger. Gruppen am Cal Tech, in Cambridge, im Ministerium für Raumwissenschaften in Moskau und in der Universität von Sidney waren zu dem gleichen Ergebnis gekommen. Offensichtlich würde es Hunt und Shelling nicht gelingen, das Problem hier und jetzt zu lösen, und nach einiger Zeit verabschiedete sich Hunt in einer sehr nachdenklichen Stimmung.

Als er sein Büro wieder erreicht hatte, rief er Speehan im MIT an. Es stellte sich heraus, dass ihm ein Simulationsmodell der klimatischen Veränderungen, die sich vor fünfzigtausend Jahren aus der Ankunft des Monds in der Umlaufbahn um die Erde ergeben hatten, interessante Ergebnisse geliefert hatte. Danach erledigte Hunt einige andere dringliche Probleme, die im Verlauf des Morgens aufgetaucht waren, und machte es sich gerade bequem, um den Artikel aus Livermoore zu studieren, als Lyn aus Caldwells Suite an der Spitze des Wolkenkratzers anrief. Ihr Gesicht war ungewöhnlich ernst.

»Gregg möchte, dass du an der Konferenz hier oben teilnimmst«, sagte sie ihm ohne Einleitung. »Kannst du sofort hochkommen?«

Hunt spürte, dass sie nicht viel Zeit hatte. »Lass mir zwei Minuten.« Er unterbrach die Verbindung ohne Umschweife, vertraute Livermoore den unendlichen Tiefen der Navkomm-Datenbank an, wies Ginny an, sich an Duncan zu wenden, falls während des restlichen Tages etwas Dringendes auftauchen sollte, und verließ mit schnellen Schritten den Raum.

3

 

Von dem Netz von Kommunikationsverbindungen der miteinander verbundenen bemannten und unbemannten Raumfahrzeuge und Basen in der Umlaufbahn und auf der Erde, die zur UNWO gehörten, bis zu den Konstruktions- und Forschungslabors wie der Anlage in Houston ruhte die Verantwortung für sämtliche Aktivitäten von Navkomm letztlich bei Caldwell und seinem Büro an der Spitze des Wolkenkratzers, der das Hauptquartier beherbergte. Es war ein großer, reich möblierter Raum. Eine Wand bestand vollständig aus Glas und gab den Blick auf die niedrigeren Wolkenkratzer der Stadt und, ganz weit unten, auf die Ameisenkolonie der Fußgänger auf der Straße frei. Die Wand gegenüber von Caldwells riesigem geschwungenem Schreibtisch, der in einer Ecke beim Fenster stand, bestand fast in seiner Gesamtheit aus einer Batterie von Monitoren, die das Zimmer eher wie einen Kontrollraum als ein Büro aussehen ließen. An den übrigen Wänden hingen Bilder, die in kräftigen Farben einige der spektakulärsten UNWO-Projekte der letzten Jahre zeigten, darunter auch eine zehn Kilometer lange Weltraumsonde mit Photonenantrieb, die in Kalifornien konstruiert wurde, sowie ein elektromagnetisches Katapult von 30 Kilometer Durchmesser, das in Tranquillitatis konstruiert worden war, um auf dem Mond hergestellte Bauteile von Raumschiffen in eine Umlaufbahn zu schleudern, in der sie dann abgefangen und zusammengesetzt wurden.

Caldwell saß hinter seinem Schreibtisch, und zwei andere Personen saßen bei Lyn an einem Tisch, der mit seiner Schmalseite an die Vorderkante des Schreibtischs gerückt worden war. Eine der beiden war eine Frau in den Mitt- bis Spätvierzigern; sie trug ein hochgeschlossenes Navy-Kleid, das eine schlanke, gut erhaltene Figur vermuten ließ. Darüber trug sie ein Jackett mit einem breiten Kragen in den gleichen blau-weißen Navy-Farben. Ihr Haar war eine sorgfältig frisierte, gefrorene rotbraune Woge, die nicht ganz bis zu ihrer Schulter reichte, und die Linien ihres Gesichts, das unter ihrem spärlichen Make-up auf eine natürliche Weise nicht unattraktiv war, waren deutlich und bestimmt. Sie saß aufgerichtet da und schien ruhig und vollständig selbstbeherrscht zu sein. Hunt hatte das Gefühl, als hätte er sie schon einmal irgendwo gesehen.

Ihr Begleiter war elegant gekleidet, mit einem anthrazitfarbenen dreiteiligen Anzug, weißem Hemd und einer Krawatte in zwei Grautönen. Er machte einen sauberen, glatt rasierten Eindruck; sein tiefschwarzes Haar war kurz geschnitten und nach der Art eines College-Studenten zurückgekämmt, obwohl Hunt ihn als nicht viel jünger als sich selbst einschätzte. Seine dunklen Augen waren ständig in Bewegung und ließen einen wachen und schnellen Verstand vermuten.

Lyn, die gegenüber den beiden Besuchern auf der anderen Seite des Tischs saß, lächelte Hunt kurz zu. Sie hatte sich umgezogen und trug nun ein frisches Kostüm mit gelb-roter Umrandung. Ihr Haar hatte sie hochgesteckt. Niemand hätte sie als »abgegriffen« bezeichnen können.

»Vic«, verkündete Caldwell in seiner rauen Bassstimme, »darf ich Ihnen Karen Heller vom Innenministerium in Washington und Norman Pacey vorstellen? Er ist außenpolitischer Berater des Präsidenten.« Er machte eine Handbewegung in Hunts Richtung. »Darf ich Ihnen Dr. Victor Hunt vorstellen? Das ist der Mann, den wir zum Jupiter geschickt haben, damit er sich dort ein paar Überreste von ausgestorbenen extraterrestrischen Wesen ansieht. Und er brachte uns ein Schiff voller lebender Exemplare mit.«

Sie tauschten Begrüßungsfloskeln aus. Beide Besucher waren über Hunts Abenteuer informiert, die in der Öffentlichkeit recht großes Aufsehen erregt hatten. Karen Heller hatte Vic sogar vor ungefähr sechs Monaten bei einem Empfang für die Ganymeder in Zürich kurz persönlich kennengelernt. Natürlich! War sie damals nicht Botschafterin der USA in … Frankreich gewesen? Genau. Inzwischen aber vertrat sie die Vereinigten Staaten bei den Vereinten Nationen. Auch Norman Pacey hatte schon Ganymeder kennengelernt, wie sich herausstellte – und zwar in Washington –, aber an diesem Empfang hatte Hunt nicht teilgenommen.

Hunt setzte sich auf den Stuhl an der Schmalseite des Tischs gegenüber von Caldwells Schreibtisch und beobachtete Caldwell mit seinem grauen, drahtigen, kurz geschnittenen Haar, der mit gerunzelter Stirn einige Sekunden lang auf seine Hände hinabsah und dabei mit den Fingern auf dem Schreibtisch trommelte. Dann hob er sein kantiges Gesicht mit den buschigen Augenbrauen und sah Hunt direkt an. Der wusste es inzwischen besser und erwartete keine langen Einleitungen. »Es ist etwas passiert, was ich Ihnen schon früher erzählen wollte, aber ich konnte es nicht«, sagte Caldwell. »Seit ungefähr drei Wochen empfangen wir wieder Signale vom Stern der Riesen.«

Obwohl Hunt, wenn überhaupt jemand, über eine solche Entwicklung hätte informiert werden müssen, war er im Augenblick zu überrascht, um sich darüber Gedanken zu machen. Da nach der einzigen Antwort auf den ersten Funkspruch von Giordano Bruno kurz nach Abflug der Shapieron Monate vergangen waren, hatte sich bei ihm der Verdacht immer mehr verstärkt, dass das Ganze getürkt gewesen war – jemandem, der Zugang zum Kommunikationsnetz der UNWO hatte, war es irgendwie gelungen, eine der Anlagen in der richtigen Richtung im Raum als Relaisstation zu benutzen, um die Antwort zurückzuschicken. Bei einer hoch entwickelten fremden Zivilisation mochte grundsätzlich alles möglich sein, das gestand er gern ein, aber ein Schwindel schien ihm die wahrscheinlichste Erklärung dafür, dass es nur vierzehn Stunden gedauert hatte, bis die Antwort da war. Wenn Caldwell recht hatte, war seine Überzeugung Unsinn gewesen.

»Sind Sie sicher, dass die Signale echt sind?«, fragte er skeptisch, nachdem er sich von dem anfänglichen Schock erholt hatte. »Könnte das nicht auch ein übler Scherz sein, den sich irgendwo ein Schelm erlaubt hat?«

Caldwell schüttelte den Kopf. »Wir haben jetzt genug Daten in der Hand, um die Quelle interferometrisch aufspüren zu können. Sie liegt weit hinter Pluto, und von der UNWO gibt es dort in der Nähe nichts. Außerdem haben wir unsere Hardware genau auf den Funkverkehr hin überprüft, der über sie abgewickelt wird, aber da ist alles sauber. Die Signale sind echt.«

Hunt zog seine Augenbrauen hoch und stieß einen tiefen Seufzer aus. Okay, damit hatte er also unrecht gehabt. Er richtete seinen Blick von Caldwell auf die Notizen und Artikel, die vor ihm mitten auf dem Tisch lagen, und runzelte die Stirn, als ihm noch etwas einfiel. Wie der ursprüngliche Funkspruch von der Rückseite des Mondes war auch die Antwort vom Stern der Riesen aus der alten Ganymeder-Sprache und den Kommunikations-Codes der Shapieron zusammengesetzt gewesen. Die Antwort war nach der Abreise des Schiffs von Don Maddson, dem Leiter der Linguistikabteilung weiter unten im Gebäude, übersetzt worden, der die Sprache der Ganymeder während ihres Aufenthalts untersucht hatte. Obwohl die Antwort nur kurz gewesen war, hatte dies erhebliche Mühe gekostet, und Hunt kannte niemanden sonst, der die neuen Funksprüche, von denen Caldwell sprach, hätte übersetzen können. In der Regel war Hunt seine Zeit für Formalitäten und Protokoll zu schade, aber wenn Maddson darüber Bescheid gewusst hätte, dann hätte er es auf jeden Fall auch erfahren. »Und wer hat übersetzt?«, fragte er misstrauisch. »Die Leute von der Linguistikabteilung?«

»Das war nicht nötig«, sagte Lyn einfach. »In den Funksprüchen werden die Standard-Datakomm-Codes verwendet. Sie sind in englischer Sprache gehalten.«

Hunt sank in seinem Stuhl zurück und starrte nur vor sich hin. Ironischerweise besagte das definitiv, dass es sich nicht um einen Schwindel handelte: Wer würde schon die englische Sprache benutzen, wenn er Funksprüche von extraterrestrischen Intelligenzen fälschen wollte? Dann aber kam ihm die Erleuchtung. »Natürlich!«, rief er. »Sie müssen irgendwie die Shapieron abgefangen haben. Na, das ist ja gut zu …« Er hielt überrascht inne, als er sah, dass Caldwell den Kopf schüttelte.

»Der Inhalt des Dialogs im Verlauf der letzten Wochen macht uns eigentlich ziemlich sicher, dass das nicht der Fall ist«, sagte Caldwell. Er sah Hunt ernst an. »Wenn sie sich also nicht mit den Ganymedern unterhalten haben, die hier waren, und doch unsere Kommunikationscodes und unsere Sprache kennen – was bedeutet das Ihrer Meinung nach?«

Hunt sah sich um und bemerkte, dass alle Blicke erwartungsvoll auf ihm ruhten. Also dachte er darüber nach, und nach einigen Sekunden weiteten sich seine Augen langsam, und sein Mund öffnete sich ungläubig. »Mein Gott!«, stöhnte er leise.

»Ganz richtig«, sagte Norman Pacey. »Der gesamte Planet hier muss irgendwie überwacht werden – und das schon seit sehr langer Zeit.« Hunt war im Moment zu verblüfft, um darauf antworten zu können. Kein Wunder, dass man die ganze Sache geheim gehalten hatte.

»Diese Annahme wurde durch die ersten neuen Signale, die von Bruno empfangen wurden, noch weiter gestützt«, fuhr Caldwell fort. »Darin heißt es ganz deutlich, dass über Laser, Komsats, Datenverbindungen oder sonstige elektronische Wege nichts übermittelt werden darf, was auch nur das Geringste mit diesem Kontakt zu tun hat. Die Wissenschaftler dort oben in Bruno haben sich an diese Anweisung gehalten und mir die Nachricht durch Boten übermitteln lassen, die vom Mond runtergeschickt wurden. Ich habe die Angelegenheit auf die gleiche Art über Navkomm an die oberste Leitung der UNWO weitergegeben und die Leute in Bruno angewiesen, die Sache für sich zu behalten, bis sich jemand bei ihnen meldet.«

»Das heißt nichts anderes, als dass zumindest ein Teil der Überwachung über einen Zugang zu unserem Kommunikationsnetz erfolgt«, sagte Pacey. »Und außerdem sind es nicht die gleichen … ›Leute‹ oder was auch immer, die die Signale schicken und die uns überwachen. Diejenigen, die mit uns sprechen, möchten nicht, dass die anderen es erfahren.« Hunt nickte, denn so viel hatte er sich schon selbst zusammengereimt.

»Den Rest lassen Sie sich von Karen erzählen«, sagte Caldwell und nickte ihr zu.

Karen Heller lehnte sich nach vorne und stützte ihre Arme leicht auf die Tischkante. »Die Wissenschaftler in Bruno haben schon recht früh zweifelsfrei festgestellt, dass sie tatsächlich mit einer ganymedischen Zivilisation in Verbindung standen, die von den Auswanderern von Minerva abstammt«, sagte sie in sorgfältig moduliertem Tonfall, der sich auf natürliche Weise hob und senkte und das Zuhören leicht machte. »Sie bewohnen einen Planeten namens Thurien im Planetensystem des Sterns der Riesen oder auch Gigasterns, um die Bezeichnung zu verwenden, die sich eingebürgert zu haben scheint. Währenddessen hat die UNWO die Angelegenheit an die Vereinten Nationen weitergemeldet.« Sie legte eine Pause ein und sah Hunt an, aber er hatte bis dahin keine Fragen, also sprach sie weiter. »Eine spezielle Arbeitsgruppe wurde gebildet, die nur dem Generalsekretär verantwortlich ist. Sie sollte die Frage diskutieren, und man kam zu dem Ergebnis, dass ein Kontakt dieser Art in erster Linie eine politische und diplomatische Angelegenheit ist. Es wurde eine Entscheidung getroffen, dass weitere Kontakte geheim abgewickelt werden sollten, von einer kleinen Delegation, die aus ausgewählten Repräsentanten permanenter Mitgliedsländer des Sicherheitsrats besteht. Zunächst wurden keine Außenseiter informiert oder beteiligt, um die Geheimhaltung zu gewährleisten.«

»Nach meinen Anweisungen von oben musste ich die ganze Sache für mich behalten«, warf Caldwell ein und sah Hunt an. »Deshalb konnte ich Ihnen vorher nichts darüber erzählen.« Hunt nickte. Jetzt, nachdem man es ihm erklärt hatte, ärgerte er sich zumindest nicht mehr darüber.

Ganz zufrieden war er allerdings keineswegs. Es klang so, als hätten die Bürokraten in der für sie typischen Art auf die ganze Angelegenheit überreagiert. Sicherheitsmaßnahmen waren ja bis zu einem gewissen Punkt gut und schön, aber mit dieser Supergeheimhaltung ging man wohl doch etwas zu weit. Der Gedanke, dass die UN nur einige ausgewählte Einzelpersonen eingeweiht hatten, die wahrscheinlich bisher wenig oder gar nichts mit den Ganymedern zu tun gehabt hatten, war empörend.

»Es sollte sonst niemand beteiligt werden?«, fragte er skeptisch. »Nicht einmal ein oder zwei Wissenschaftler – irgendjemand, der die Ganymeder kennt?«

»Speziell keine Wissenschaftler«, sagte Caldwell, gab aber keine weiteren Erklärungen ab. Die ganze Angelegenheit hörte sich immer mehr wie kompletter Unsinn an.

»Die USA wurden als permanentes Mitglied des Sicherheitsrats von der Leitung der UN informiert und haben genug Druck ausgeübt, um an der Delegation beteiligt zu werden«, fuhr Heller fort. »Norman und mir wurde diese Aufgabe zugewiesen, und seitdem haben wir uns praktisch nur noch in Giordano Bruno aufgehalten und uns an der Kommunikation mit den Thuriern beteiligt.«

»Heißt das, dass alles lokal beschränkt bleibt?«, fragte Hunt.

»Ja. Wir halten uns streng an das Verbot, irgendwelche elektronischen Kommunikationsmittel zu benutzen. Die Leute dort auf dem Mond, die wissen, was los ist, haben alle eine Sicherheitsüberprüfung hinter sich und sind zuverlässig.«

»Ich verstehe.« Hunt lehnte sich zurück und stützte seine Arme auf den Tisch vor sich. Was er bisher gehört hatte, war zwar geheimnisvoll und gab damit Anlass zur Besorgnis, aber es war noch kein Wort gefallen, das eine Erklärung für Hellers und Paceys Anwesenheit in Houston geliefert hätte. »Und was ist dabei herausgekommen?«, fragte er. »Worüber haben Sie mit Thurien gesprochen?«

Heller deutete mit einer Kopfbewegung auf eine abschließbare Dokumentenmappe, die neben ihrem Ellbogen lag. »Darin ist eine vollständige Niederschrift von allem, was gesendet und empfangen worden ist«, sagte sie. »Gregg hat eine vollständige Kopie davon, und da Sie von jetzt an zweifellos an der Sache beteiligt werden, werden Sie bald alles selbst lesen können. Kurz gesagt: In den ersten Botschaften ist nach der Shapieron gefragt worden – die Thurier haben um Informationen über ihren Zustand, über das Wohlbefinden ihrer Mannschaft, ihre Erlebnisse auf der Erde und derlei mehr gebeten. Wer auch immer die Botschaft abgeschickt hat, hat einen besorgten Eindruck erweckt – als hielte man uns aus irgendeinem Grund für eine Bedrohung.« Heller machte eine Pause, als sie den Ausdruck von Verständnislosigkeit bemerkte, der sich in Hunts Gesicht ausbreitete.

»Wollen Sie damit sagen, dass sie von dem Schiff nichts wussten, bevor wir das erste Signal von der Rückseite des Monds abschickten?«, fragte er.

»Es hat zumindest den Anschein«, antwortete Heller.

Hunt dachte einen Moment nach. »Es sieht also wieder so aus, als stünden diejenigen, die uns überwachen, nicht mit denen in Verbindung, die uns diese Botschaften schicken.«

»Genau«, sagte Pacey und nickte. »Unsere Überwacher müssen auf jeden Fall gewusst haben, dass die Shapieron hier war, wenn sie Zugang zu unserem Kommunikationsnetz haben. Es hat ja schließlich oft genug Schlagzeilen darüber gegeben.«

»Und das ist nicht das Einzige, was dabei merkwürdig ist«, fuhr Heller fort. »Die Thurier, mit denen wir in Verbindung standen, scheinen ein völlig verzerrtes Bild von der jüngeren Geschichte der Erde zu haben. Sie denken, wir stehen kurz vor dem Ausbruch des dritten Weltkriegs, aber dieses Mal in interplanetarischem Umfang, mit Massen von Bomben in einer Umlaufbahn um die Erde und mit Kernwaffen und Partikelstrahlkanonen, die die Oberfläche des Monds beherrschen … was Sie wollen.«

Hunt wurde die Sache beim Zuhören immer rätselhafter. Er erkannte jetzt, warum allem Anschein nach die Shapieron nicht abgefangen worden war – zumindest nicht von den Thuriern, die mit der Erde in Verbindung standen; die Ganymeder auf dem Schiff hätten ein derartiges Missverständnis sofort aufgeklärt. Aber selbst wenn die Thurier, die mit der Erde sprachen, die Shapieron nicht abgefangen hatten, so hatten sie doch ein Bild von dem Planeten, und das bedeutete, dass dieses Bild nur von den Thuriern vermittelt sein konnte, die die Überwachung durchführten. Dieses Bild aber war falsch. Also war entweder die Überwachung nicht sehr effektiv, oder die gewonnenen Informationen wurden verzerrt. Wenn aber auf der anderen Seite die Botschaften in englischer Sprache abgeschickt wurden, so hieß das doch zweifellos, dass die Überwachung recht effektiv gewesen sein musste, und daraus wiederum folgte, dass die Thurier die gewonnenen Informationen nicht unverfälscht weitergaben.

Das war aber auch nicht sehr wahrscheinlich. Die Ganymeder spielten miteinander keine machiavellistischen Intrigenspiele oder täuschten sich bewusst. So dachten sie einfach nicht; sie waren viel zu rational … es sei denn, die Ganymeder, die jetzt auf Thurien lebten, hatten sich im Verlauf der fünfundzwanzig Millionen Jahre, die sie von ihren Vorfahren an Bord der Shapieron trennten, grundlegend verändert. Das war ein Gedanke. In einem solchen Zeitraum konnte sich eine Menge verändern. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Frage zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht schlüssig zu klären war. Deshalb wurde die Information für eine spätere Analyse im Hinterkopf abgelegt.

»Das hört sich tatsächlich merkwürdig an«, gab Hunt zu, nachdem er diese Überlegung angestellt hatte. »Sie müssen ja inzwischen total verwirrt sein.«

»Das waren sie schon vorher«, sagte Caldwell. »Sie haben den Dialog neu eröffnet, weil sie persönlich auf die Erde kommen wollen – wahrscheinlich, um die verfahrene Situation hier zu bereinigen. Ihre Nachricht sollte die Leute von den Vereinten Nationen vorbereiten.«

»Geheim«, erklärte Pacey als Antwort auf Hunts fragenden Blick. »Keine öffentlichen Spektakel oder irgendetwas in der Art. Es scheint darauf hinauszulaufen, dass sie die Lage in aller Stille überprüfen wollen, ohne dass die Überwacher etwas davon bemerken.«

Hunt nickte. Der Plan schien vernünftig zu sein. Etwas an Paceys Tonfall deutete aber darauf hin, dass nicht alles so glatt gelaufen war. »Und wo liegt das Problem?«, fragte er und sah Pacey und Heller an.

»Das Problem liegt an der Politik, die nach Anweisung von höchster Ebene in den UN verfolgt werden soll«, antwortete Heller. »Kurz gesagt, sie haben Angst vor dem, welche Folgen es haben könnte, wenn sich dieser Planet einfach einer Zivilisation öffnet, die uns Millionen von Jahren voraus ist – unsere gesamte Kultur könnte an den Wurzeln ausgerissen werden … unsere Zivilisation könnte auseinanderbrechen … wir würden von einer Technologie überrannt werden, für die wir noch nicht bereit sind … Befürchtungen dieser Art.«

»Aber das ist doch lächerlich!«, protestierte Hunt. »Sie haben schließlich nicht gesagt, sie wollten hier das Ruder übernehmen. Sie wollen herkommen, um mit uns zu sprechen.« Er gestikulierte ungeduldig mit einer Hand, als wolle er etwas wegwerfen. »Okay, ich gebe zu, dass wir behutsam und vorsichtig vorgehen sollten, aber das, was Sie da beschreiben, hört sich mehr wie eine Neurose an.«

»Das ist es auch«, sagte Heller. »Die Leute von den UN verhalten sich irrational – es gibt dafür kein anderes Wort –, und die Delegation auf der Rückseite des Monds hält sich genau an diese Politik und geht bewusst langsam vor, um alles zu verzögern.« Sue deutete auf die Mappe, die sie schon vorher erwähnt hatte. »Sie werden es ja selbst sehen. Ihre Antworten sind ausweichend und zweideutig, und sie tun nichts, um den falschen Eindruck zu korrigieren, den die Thurier von uns haben. Norman und ich haben versucht, etwas dagegen zu unternehmen, aber wir wurden überstimmt.«

Als Hunt einen verzweifelten Blick durch den Raum schweifen ließ, bemerkte er, dass Lyn ihn ansah. Sie lächelte ihm leicht zu und zuckte kaum merklich mit den Achseln, als wolle sie ihm mitteilen, sie kenne seine Gefühle. Ihm fiel ein, dass eine Fraktion innerhalb der Leitung der Vereinten Nationen aus dem gleichen Grund heftige Bemühungen angestellt hatte, eine Weiterführung des Funkverkehrs von der Rückseite des Mondes aus zu verhindern, nachdem die erste unerwartete Antwort eingetroffen war; aber nach einem empörten Aufschrei der Wissenschaftler auf der Erde war sie überstimmt worden. Diese gleiche Fraktion schien wieder aktiv zu sein.

»Wir glauben zu wissen, wer dahintersteckt, und das ist der schlimmste Teil des Ganzen«, sprach Heller weiter. »Wir haben vom Innenministerium die Anweisung, auf eine Erweiterung der Kommunikation mit Thurien hinzuarbeiten, so schnell das die Entwicklung zulässt, und zur gleichen Zeit die Interessen dieses Landes zu schützen, wo es angebracht ist. Man war im Ministerium mit der Politik, Außenseiter auszuschließen, nicht einverstanden, aber wegen der UN-Statuten musste man sich daran halten. Die Vereinigten Staaten haben versucht, mit offenen Karten zu spielen, soweit das bisher möglich war, mussten aber der offiziellen Politik folgen, allerdings nur unter Protest.«

»Ich kann mir jetzt ein Bild machen«, sagte Hunt, als sie eine Pause machte. »Aber das heißt nur, dass der langsame Fortschritt Sie mehr und mehr frustriert. Es hat aber geklungen, als würde noch mehr dahinterstecken.«

»Ganz richtig«, bestätigte Heller. »In der Delegation sitzt auch ein Vertreter der Sowjets – ein Mann namens Sobroskin. Bei der gegenwärtigen Weltlage – wir konkurrieren überall auf der Welt bei Projekten wie dem Fusionsdeal im Südatlantik, bei Industrie-Ausbildungsverträgen in Afrika, wissenschaftlichen Unterstützungsprogrammen und so weiter – würde es für jede Seite enorme Vorteile bringen, wenn sie Zugang zu der ganymedischen Technologie bekäme. Daher könnte man eigentlich erwarten, dass die Sowjets ebenso ungeduldig wie wir auf eine Gelegenheit warten, diese verdammte Delegation endlich ein wenig in Bewegung zu versetzen. Das ist aber nicht der Fall. Sobroskin hält sich an die offizielle UN-Politik und beschwert sich auch nicht darüber. Er sorgt sogar ständig für Komplikationen, die alles noch stärker verzögern. Wenn man nun diese Fakten zusammen betrachtet, was ergibt sich dann Ihrer Meinung nach als Resultat?«

Hunt dachte eine Weile über die Frage nach und hob dann unter einem Achselzucken die Hände in die Höhe. »Ich weiß es nicht«, sagte er ehrlich. »Ich bin ein unpolitischer Mensch. Sagen Sie es mir.«

»Es könnte bedeuten, dass die Sowjets vorhaben, eine eigene private Verbindung herzustellen und die Ganymeder in Sibirien oder irgendwo sonst auf ihrem Territorium landen zu lassen, um so Exklusivrechte auf die ganymedische Technologie zu bekommen«, antwortete Pacey. »Wenn das zutrifft, würde ihnen die UN-Politik ausgezeichnet in den Kram passen. Überlegen Sie einmal, wie sehr das Gleichgewicht der Kräfte verschoben würde, wenn der offizielle Kanal weiter verstopft bliebe und die Vereinigten Staaten ein ehrliches Spiel spielten und sich an die UN-Politik hielten. Sie können sich ja vorstellen, wem dann der Hauptgewinn in den Schoß fiele. Dann brauchten nur noch einige ausgewählte Regierungen zu erfahren, dass die Sowjets Zugang zu technologischen Neuerungen haben, die wir nicht besitzen. Verstehen Sie – all das passt zu Sobroskins Verhalten.«

»Und noch ernüchternder ist der Gedanke, dass die UN-Politik genau in dieses Schema passt«, fügte Heller hinzu. »Das könnte bedeuten, dass die Sowjets in der Lage sind, ohne unser Wissen die Führung der UN zu beeinflussen. Wenn das stimmt, hat es für die Vereinigten Staaten in der ganzen Welt sehr ernste Konsequenzen.«

Hunt musste insgeheim zugeben, dass die Fakten so tatsächlich zusammenpassten und einen Sinn ergaben. Die Sowjets konnten leicht in Sibirien oder in einer Umlaufbahn, vielleicht in Mondnähe, eine neue Anlage für Langstreckenkommunikationen bauen und selbst eine Verbindung zu der Empfangsstation für die Signale von jenseits des Sonnensystems herstellen. Jede Antwort, die zurückkam, würde wahrscheinlich in einem recht breiten Strahl übermittelt werden, bis sie die Erde erreichte. Das bedeutete, dass jeder sie empfangen könnte, und man wüsste dann, dass jemand, der nicht die Vereinten Nationen vertrat, Betrugsmanöver versuchte. Wenn die Signale aber in einem vorher vereinbarten Code abgefasst würden, könnte sie niemand entschlüsseln oder wissen, woher sie stammten. Die Sowjets würden beschuldigt werden, aber sie würden alles vehement abstreiten – und das wäre auch schon alles, was man unternehmen könnte.

Er glaubte zu wissen, warum er hinzugezogen worden war. Heller hatte sich vorher verraten, als sie sagte, dass die USA versucht hätten, der offiziellen Politik zu folgen, soweit das bisher möglich war. Das Innenministerium hatte beschlossen, als Rückversicherung eine eigene private Verbindung herzustellen. Sie musste unauffällig genug sein, dass man sie in einem Radius von einigen Hunderttausend Kilometern von der Erde entfernt nicht entdecken konnte. Zu wem konnte man also Heller und Pacey schicken? Für Gespräche kam nur jemand in Frage, der eine Menge über die Ganymeder und die ganymedische Technologie wusste und der außerdem noch zu dem Empfangskomitee für die Fremden auf Ganymed gehört hatte.

Und das war ein weiterer Punkt – Hunt hatte viel Zeit auf Ganymed verbracht, und er hatte unter dem UNWO-Personal der Jupiter-Vier- und Jupiter-Fünf-Missionen noch immer viele enge Freunde. Jupiter war sehr, sehr weit von der Erde entfernt. Das bedeutete, dass kein Empfangsgerät in Erdnähe jemals einen Strahl auffangen könnte, der vom Rand des Sonnensystem aus in Richtung Jupiter abgeschickt würde, ob dieser Strahl nun merklich breiter werden würde oder nicht. Außerdem standen J4 und J5 permanent über Laser-Kanäle mit der Erde in Verbindung – und die wurden von Caldwell und Navkomm kontrolliert. Er kam zu dem Ergebnis, dass das unmöglich alles Zufälle sein konnten.

Hunt sah zu Caldwell hoch, hielt einen Moment den Blick auf ihn gerichtet und drehte dann den Kopf, um die beiden Leute aus Washington anzusehen. »Sie wollen über Jupiter eine eigene Verbindung mit dem Stern der Riesen herstellen, und zwar ohne weitere Verzögerungen, bevor die Sowjets etwas auf die Beine bringen«, sagte er zu ihnen. »Und von mir möchten Sie jetzt wissen, ob ich eine Idee habe, wie man den Leuten auf Jupiter mitteilen könnte, was sie tun sollen, ohne dabei zu riskieren, dass die Thurier, die vielleicht die Laserverbindung abhören, etwas davon erfahren. Ist das richtig?« Er richtete seinen Blick wieder auf Caldwell und senkte seinen Kopf. »Wie viel Punkte bekomme ich, Gregg?«

Heller und Pacey tauschten Blicke, die verrieten, wie beeindruckt sie waren.

»Zehn von zehn möglichen«, antwortete ihm Caldwell.

»Neun«, sagte Heller. Hunt sah sie neugierig an. In ihrem Gesicht stand ein kaum merkliches Lächeln. »Wenn Ihnen etwas einfällt, brauchen wir für das, was danach kommt, jegliche Hilfe, die wir bekommen könnten«, erklärte sie. »Die UN mögen sich vielleicht dazu entschlossen haben, es allein ohne die Ganymed-Experten zu versuchen, aber die Vereinigten Staaten nicht.«

»Mit anderen Worten, willkommen im Team«, schloss Norman Pacey.

4

 

Joseph B. Shannon, Missionsleiter von Jupiter-Fünf, die in einer Umlaufbahn 3000 Kilometer über der Oberfläche von Ganymed kreiste, stand in einer Instrumentenbucht in der Nähe der Kommandozentrale des zwei Kilometer langen Schiffs. Von seiner Position hinter einer Gruppe von Schiffsoffizieren und UNWO-Wissenschaftlern aus, die in atemlosem Staunen versunken waren, beobachtete er einen großen Wandmonitor. Der Schirm zeigte eine hügelige Landschaft in Rot- und Gelbtönen, die sich unter einem tiefschwarzen Himmel duckte. Das Bild wurde durch ein stetiges leuchtendes Rieseln undeutlich, das von oben kam, während in weiterer Entfernung die Hälfte des Horizonts von einer hervorbrechenden Säule brodelnder Farben ausgefüllt wurde, die zum oberen Bildrand hin explodierte.

Vor zweiundfünfzig Jahren – in Shannons Geburtsjahr – hatten andere Wissenschaftler in dem Strahltriebwerklabor in Pasadena die ersten scharfen Bilder von Io bestaunt, die von den Voyager I- und Voyager II-Sonden zurückgefunkt worden waren, und die erstaunliche gefleckte, gelb-rote Scheibe »die große Pizza im Himmel« genannt. Shannon hatte allerdings noch nie von einer Pizza gehört, die so gebacken wurde wie die hier.

Der Satellit durchzog auf seiner Umlaufbahn einen Plasmastrom aus Energiepartikeln, der von Jupiters Magnetfeld aufrechterhalten wurde und eine Temperatur von 100 000 Grad Kelvin aufwies. Er wirkte wie ein riesiger Faraday-Generator samt internen Stromkreisen mit fünf Millionen Ampere und einer Energieabgabe von tausend Milliarden Watt. In seinem Innern wurde die gleiche Energie durch die von den Tiden erzeugte Reibungswärme abgegeben. Diese Reibung war die Folge von Unregelmäßigkeit in der Umlaufbahn, denn Europa und Ganymed hoben und senkten Io durch Jupiters Gravitation. Diese Menge von elektrisch und durch Gravitation erzeugter Wärme schuf große Reservoire von geschmolzenem Schwefel und Schwefelverbindungen unter der Oberfläche, die sich schließlich durch Verwerfungen nach oben drängten und in einer Umgebung explodierten, in der es praktisch keinen Druck gab. Das Ergebnis davon war eine Reihe von Vulkanen, die in regelmäßiger Folge ausbrachen und sich verfestigenden Schwefel- und Schwefeldioxidreif mit einer Geschwindigkeit von bis zu tausend Metern pro Sekunde in eine Höhe von 300 Kilometer oder mehr hinausschleuderten.

Shannon beobachtete im Augenblick einen dieser Vulkane, dessen Bild von einer Sonde auf Ios Oberfläche gesendet worden war. Die Ingenieure und Wissenschaftler der Mission waren gezwungen gewesen, sich wieder an das Zeichenbrett zu stellen, und hatten mehr als ein Jahr gebraucht, um eine Instrumentenlagerung und -abschirmung zu entwickeln, die unter der pausenlosen Bombardierung durch Strahlung, Elektronen und Ionen von Jupiter zuverlässig funktionierte, und Shannon hatte es als seine Pflicht betrachtet, die Resultate ihres Erfolgs, um den sie so hart und lange gerungen hatten, persönlich zu beobachten. Das hatte sich bei Weitem nicht als die mühsame Pflicht erwiesen, auf die er sich eingestellt hatte, sondern war ein begeisterndes Erlebnis gewesen, das ihm als Erinnerung daran diente, wie leicht es einem Oberbefehlshaber widerfahren konnte, sich zu isolieren und das aus dem Auge zu verlieren, was in den Schützengräben passierte. Er nahm sich vor, in Zukunft darauf zu achten, den Fortschritt der wissenschaftlichen Projekte der Mission genauer im Auge zu behalten.

Er blieb noch eine volle Stunde, nachdem seine Dienstzeit eigentlich schon zu Ende war, in der Kommandozentrale, um technische Einzelheiten der Sonde zu diskutieren, bis er sich endlich entschuldigte und sein Privatquartier aufsuchte. Nach einer Dusche zog er sich um, setzte sich an den Schreibtisch und rief auf dem Terminal die Post des Tages ab; darunter war auch ein Text von Vic Hunt aus dem Navkomm-Hauptquartier. Shannon war sowohl angenehm überrascht als auch gespannt auf den Inhalt der Botschaft. Er hatte während Hunts Aufenthalt auf Ganymed viele interessante Gespräche mit ihm geführt, und er schätzte ihn nicht als einen Mann ein, der seine Zeit mit leeren Höflichkeitsfloskeln verschwendete. Hier dürfte es sich also um etwas Interessantes handeln. Neugierig ließ er Hunts Nachricht ausdrucken. Fünf Minuten später saß er noch immer da und starrte die Botschaft verwirrt, mit gerunzelter Stirn an. Sie lautete:

 

Joe,