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Nie wieder Krieg!
Nach dem Ersten Weltkrieg ist den Nationen dieser Erde klar: so etwas darf nie wieder passieren! In der Folge verbessert sich die internationale Zusammenarbeit, die Unterschiede zwischen den Religionen, den Hautfarben, zwischen Ost und West verschwinden im folgenden Jahrhundert immer mehr. Das missfällt vor allem den reichen Industriedynastien, den modernen Aristokraten, die in einem neuen Krieg unermessliche Profite einfahren würden. In den 2020er-Jahren haben sie endgültig genug: sie bauen im Geheimen einen Zeitmaschine und reisen rund hundert Jahre in die Vergangenheit, um sich eines gewissen Adolf Hitlers anzunehmen, dessen radikale Partei nach einem gescheiterten Putschversuch in München in Vergessenheit geraten ist …
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Seitenzahl: 658
JAMES P. HOGAN
UNTERNEHMEN
PROTEUS
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Nach dem Ersten Weltkrieg ist den Nationen dieser Erde klar: so etwas darf nie wieder passieren! In der Folge verbessert sich die internationale Zusammenarbeit, die Unterschiede zwischen den Religionen, den Hautfarben, zwischen Ost und West verschwinden im folgenden Jahrhundert immer mehr. Das missfällt vor allem den reichen Industriedynastien, den modernen Aristokraten, die in einem neuen Krieg unermessliche Profite einfahren würden. In den 2020er-Jahren haben sie endgültig genug: sie bauen im Geheimen einen Zeitmaschine und reisen rund hundert Jahre in die Vergangenheit, um sich eines gewissen Adolf Hitlers anzunehmen, dessen radikale Partei nach einem gescheiterten Putschversuch in München in Vergessenheit geraten ist …
James P. Hogan (1941-2010) wuchs im Londoner Westen auf. Sein erster Roman Das Erbe der Sterne erschien 1977. Sein wissenschaftlich-technisch orientierter Schreibstil fand großen Anklang, sodass Hogan mehrere Nachfolgeromane schrieb. Er wurde oft mit seinem Landsmann Arthur C. Clarke verglichen. Bis zu seinem Tod lebte er mit seiner Frau Jackie, mit der er in dritter Ehe verheiratet war, in Florida und Irland.
www.diezukunft.de
Titel der Originalausgabe
THE PROTEUS OPERATION
Aus dem Amerikanischen von Edda Petri
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Copyright © 1985 by James P. Hogan
Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: Thomas Menne
ISBN 978-3-641-23132-3 V002
PROTEUS
Ein Meergreis in der griechischen Mythologie, dem die gesamte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bekannt war; der aber verschiedene Gestalten annahm, um nichts enthüllen zu müssen.
Erst als er gefangen und gezwungen wurde, in einer bestimmten Gestalt zu bleiben, konnte die Zukunft mit Sicherheit bestimmt werden – seltsam ähnlich dem Zusammenbruch der Wellenfunktion in der Quantenmechanik.
Düster brach der 24. November 1974, ein Sonntag, über der Küste des Staats Virginia an. Ein nasser, bewölkter Himmel spuckte Regentropfen herunter, und schlechtgelaunte Sturmböen hinterließen weiße Schaumkronen auf der aufgewühlten, stahlgrauen See. Wie ein weiß gefleckter, ausgerollter Teppichläufer kennzeichnete das schäumende Kielwasser den Kurs des Atom-U-Boot-Jägers, der USS Narwhal, die jetzt den Heimathafen Norfolk in Sicht hatte und die letzten Meilen von einer Schar faul dahinziehender Möwen begleitet wurde, die mit ihrem heiseren Geschrei die Luft füllten. Das unheimliche Schwarz des U-Boot-Rumpfes, das schmutzige Weiß der Möwen und die Gischt färbten die ganze Welt grau.
Diese Grautöne passten aber recht gut, fand Commander Gerald Bowden, als er mit seinem ersten Navigationsoffizier und einem Signalgast von der Brücke über dem sieben Meter hohen ›Segel‹ der Narwhal herabschaute. Bunte Farben kamen mit Babys, Blumen, sonnigen Morgen und Frühling: Neuer Anfang. Leichen dagegen waren blass, Kranke ›aschgrau‹, Sieche ›grau vor Erschöpfung‹. Mit verrinnender Stärke und Leben verfloss auch die Farbe aus Dingen, die sich dem Ende näherten. Es schien durchaus passend, dass eine Welt ohne Zukunft auch eine Welt ohne Farbe war.
Wenn nicht ein Wunder geschah, hatte die freie westliche Welt – das, was von ihr noch übrig war –, die er zu verteidigen hatte, keine Zukunft. Die jüngsten japanischen Provokationen waren eindeutig das lang erwartete Vorspiel zu einem Angriff auf die Inselgruppe Hawaiis und zielten ganz klar auf das strategisch isolierte Australien. Es gab nicht mehr die Möglichkeit, dass die USA eine solche Aggression stillschweigend dulden konnten, wie sie es vor fünf Jahren bei der Annexion der Philippinen durch das Japanische Kaiserreich geduldet hatten. Krieg würde automatisch bedeuten, dass dieser auch gegen das Nazi-Europa und seine Kolonien in Asien und Afrika geführt würde, wobei die südamerikanischen, faschistischen Staaten mit Sicherheit in letzter Minute auch noch mitmachen würden, um sich ihren Beuteanteil zu sichern. Bei einer solchen Verteilung der Kräfte konnte über den Ausgang kein Zweifel bestehen. Trotzdem waren die Nation und die wenigen Verbündeten wild entschlossen, wenn schon, dann kämpfend unterzugehen. Präsident John F. Kennedy hatte für sie alle gesprochen, als er Amerika zu einer Politik ›keiner weiteren Kapitulationen‹ verpflichtete.
Bowden wandte den Blick von der Hafeneinfahrt zu der vierten Gestalt auf der Brücke, die an ihrer russischen Pelzmütze die Ohrenklappen heruntergeschlagen hatte, über der Armeearbeitsuniform eine Fallschirmjägerkombination trug, was von der Marineuniform der anderen Offiziere abstach. Man hatte den Soldaten mit allen möglichen Sachen ausgestattet, als die Narwhal ihn und seine Leute aufgefischt hatte. Captain Harry Ferracini, der einer der Spezialeinheiten der Armee angehörte, befehligte den Trupp, der aus vier Mann und einigen Zivilisten bestand. Sie waren vor mehreren Tagen bei einem Rendezvous mit einem Fischkutter südwestlich vor der englischen Küste an Bord gekommen. Welche Mission sie gehabt hatten, wer die Zivilisten waren und warum sie zurück in die Vereinigten Staaten gebracht wurden – hatte Bowden lieber nicht gefragt. Es war aber klar, dass für einige Zweige der US-Streitkräfte ein nicht erklärter, verdeckter Krieg gegen das Dritte Reich und seine Dominien bereits begonnen hatte.
Ferracini hatte ein klares, noch sehr jugendlich wirkendes Gesicht, mit zarten Linien, glatter Haut und sensiblem Mund. Wie es seinem Namen entsprach, hatte er eine etwas dunklere Haut, große braune, grübelnde Augen. Falls er irgendwelche Gefühle über das Schicksal der Nation oder den Untergang der Demokratie hegte, war davon kein Anzeichen in seinem Gesicht zu entdecken, während er die schemenhafte Skyline von Norfolk betrachtete. Seinen Augen entging nichts. Sie bewegten sich mit der antrainierten Langsamkeit eines Menschen, der daran gewöhnt ist, längere Zeit unauffällig in feindlicher Umgebung zu existieren. Bowden hielt den Soldaten für Ende zwanzig; obwohl seine Abneigung zu lächeln und die ernste Miene, die er die meiste Zeit machte, eher charakteristisch für einen älteren Mann waren, der im Laufe seines Lebens zynisch geworden war.
Es stimmte, dass Ferracinis Beruf Unerforschlichkeit als Schutzschild und Schweigsamkeit als Gewohnheit hervorbrachte; aber in den wenigen, kurzen Gesprächen hatte Bowden bei der Art des jungen Soldaten eine Ferne gespürt, die über berufliche Gewohnheit hinausging und auf eine gefühlsmäßige Kluft schließen ließ, die Ferracini und andere, denen Bowden bei früheren Missionen begegnet war, zwischen sich und die Welt persönlicher Gefühle und normaler menschlicher Regungen legten. Oder distanzierten sie sich von der Welt bedeutungsvoller Dinge mit Anfängen, die jetzt nichts mehr bedeuteten und die nirgendwohin führten? War es ein Zeichen, überlegte Bowden, dass sich eine ganze Generation instinktiv vor dem Wissen, dass auch sie keine Zukunft hatte, schützte?
»Willkommen daheim, Narwhal«, las Melvin Warner, der erste Navigationsoffizier, laut die Lichtsignale vor, die aus der Baracke des Hafenmeisters am Ende der Wellenbrecher kamen. »Lotse beordert. Bedaure Sauwetter.«
»Die sind aber früh auf«, sagte Bowden. »Entweder erwarten sie VIPs heute, oder der Krieg hat bereits angefangen.« Er drehte sich um und meinte zum Signalgast: »Signalisieren Sie zurück: ›Danke. Kompliment für den Schnelldienst. Wetter besser in dreihundert Fuß Tiefe‹.«
»Barkasse nähert sich, Bug steuerbord«, meldete Warner, während die Lampe des Signalgasts anfing zu klappern. Er zeigte auf die Umrisse der schlanken, grauen Kriegsschiffe, die im Außenhafen lagen. »Da ist einer der großen Träger, Gerry. Sieht wie die Constellation aus.«
»Halbe Kraft voraus! Vorne klarmachen, den Lotsen an Bord zu nehmen!«, sagte Bowden. Dann wandte er sich Ferracini zu, während Warner die Befehle nach unten weitergab. »Wir werden Sie und Ihre Leute zuerst an Land bringen, Captain. Dann sind Sie unabhängig. Meine Männer machen so schnell wie möglich.« Ferracini nickte.
Mitten im Atlantik hatten sie eine Meldung empfangen, die von einem VFL-Sender der Marine in Connecticut auf Langwelle, die von U-Booten auch unter Wasser empfangen werden konnte, ausgestrahlt wurde. In ihr wurden Captain Ferracini und Sergeant Cassidy dringendst für andere Aufgaben angefordert. Sie würden am Dock abgeholt werden und dann ihre neuen Befehle erhalten. »Viel Ruhe gönnen die Ihnen auch nicht«, hatte Bowden bemerkt. »Tut mir leid, dass Sie uns so schnell schon wieder verlassen. Wenigstens ist es nicht immer so, oder?«
»Nicht immer jedenfalls«, hatte Ferracini geantwortet.
»Gerade, als wir angefangen hatten, uns etwas besser kennenzulernen.«
»Wie das Leben so spielt.«
Bowden blickte den Soldaten noch länger an, gab dann den Versuch, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, achselzuckend auf. »Okay, wir werden in ein paar Minuten andocken. Sie müssen zu den anderen nach unten in die Offiziersmesse.« Er streckte die Hand aus. »Es war mir ein Vergnügen, Sie an Bord gehabt zu haben, Captain. Freue mich, dass wir helfen konnten. Und viel Glück bei dem, was man sich für Sie als Nächstes hat einfallen lassen.«
»Vielen Dank, Sir«, sagte Ferracini förmlich. Er gab zuerst Bowden die Hand, dann Warner. »Die Männer haben mich gebeten, Ihnen für Ihre Gastfreundschaft zu danken. Das gilt auch für mich.« Bowden lächelte leicht und nickte. Ferracini kletterte durch die Luke auf der Brücke und dann den Niedergang herunter.
Ferracini zwängte sich durch den engen Raum unter der Brücke und ging durch ein Schott in den Druckrumpf des Schiffes. Dahinter gelangte er durch ein weiteres Schott und einen dritten Niedergang nach vorne in die Steuerzentrale mit ihren verwirrenden Maschinen, Konsolen, Schaltpulten und Apparaturen. Bei den meisten kannte er ihren Zweck nicht. Matrosen waren zu beiden Seiten hinter dem großen Sehrohr und am Kartentisch beschäftigt. Auf der Backbordseite standen zwei gepolsterte Ledersessel mit Steuerpulten und Instrumententafeln davor. Es sah eher aus wie das Cockpit eines Flugzeugs als die Stationen für Rudergänger und Tauchoffizier auf einem Schiff. Die Sessel waren mit Sicherheitsgurten ausgestattet, was deutlich auf die enorme Manövrierfähigkeit der Narwhal hinwies. Die Handhabung von schnellen U-Booten entsprach eher einem Flug durchs Wasser als dem herkömmlichen Begriff des Navigierens auf See.
Bowdens Erster Offizier und eine Abteilung Matrosen begleiteten Ferracini den Durchgang entlang, der zwischen Kommandantenkammer und Krankenstation zur Offiziersmesse führte. Dort hatte man für die Passagiere dieser Fahrt Schlafstellen geschaffen. Ferracini fand Cassidy und die beiden Gefreiten Vorkoff und Breugot. Sie packten die letzten Sachen und halfen den acht Leuten, die sie aus England herausgeschafft hatten, in Kleidung, mit denen sie sich draußen sehen lassen konnten. Einige der Zivilisten sahen noch sehr erschöpft und abgezehrt aus; obwohl sich nach den vier Tagen Rast, richtiger medizinischer Versorgung und großzügiger Verpflegung an Bord der Narwhal schon etwas Röte auf ihren Wangen zeigte.
»Sind so ziemlich fertig, Harry«, sagte Cassidy und zog lässig den Reißverschluss am letzten Seesack zu. »Wie sieht's denn draußen aus? Sind wir bald da?«
»Laufen gerade in den Hafen ein. Der Lotse kommt an Bord«, antwortete Ferracini.
»Und wie sieht's aus in der teuren Heimat?«
»Nass, kalt und windig. Hier unten alles klar?«
»Alles klar.«
Mike ›Cowboy‹ Cassidy war ein großer, schlaksiger Mann, der sich so lässig bewegte, dass mancher sich dadurch täuschen ließ. Er hatte helle blaue Augen, dichtes blondes Haar und einen ausgefransten Schnurrbart. Soldaten der Spezialeinheiten für Sonderaufgaben waren trainiert, in Paaren zu arbeiten. Er war seit mehr als drei Jahren Ferracinis Partner. Nach allen psychologischen Bestimmungen ihrer seelischen Dispositionen und Temperamente hätten sie völlig unverträglich sein müssen; aber beide hatten sich hartnäckig geweigert, mit einem anderen Partner zu arbeiten.
Während die Matrosen ihre Seesäcke hinaustrugen, musterte Ferracini die Leute in der Messe. Ohne Zweifel war jetzt das letzte Mal, dass sie als Gruppe beisammen waren. Kaum hatten sie in den vier Tagen in der drangvollen Enge des U-Boots angefangen, mehr voneinander zu erfahren, da endete die Fahrt, und sie würden alle in verschiedene Richtungen verweht werden. Es war wie das Leben selbst – nichts dauerte ewig, nichts war auf Dauer, nichts, in das man hätte Wurzeln schlagen können. Ferracini bedrückte die Sinnlosigkeit von allem.
Die beiden Wissenschaftler, Mitchell und Frazer, trugen immer noch die zusammengesuchten Kleidungsstücke ihrer selbstgemachten Uniformen der Gefängniswärter der britischen Security Police – tatsächlich ein Zweig der SS, für den Einheimische angeworben wurden. In dieser Verkleidung war es ihnen gelungen, aus dem Konzentrationslager für Politische in Dartmoor zu fliehen. In früheren Jahren hatte man Mitchell, einen Spezialisten für Korrosionschemie bei extrem hohen Temperaturen, gezwungen, an einem Programm mitzuarbeiten, mit dem die Deutschen als erste 1968 auf dem Mond landen wollten. Frazer hatte an Trägheitssteuerungscomputern gearbeitet, ehe Berlin ihn wegen ideologischer Bedenken verhaften ließ.
Smithgreen – mit Sicherheit ein falscher Name – war ein jüdischer, ungarischer Mathematiker, der es auf unglaubliche Weise geschafft hatte, seit der deutschen Invasion in England – am Neujahrstag des Jahres 1941 – nicht entdeckt zu werden. Maliknin war ein russischer Zwangsarbeiter, der im nördlichen Sibirien an deutschen ICBM-Silos gearbeitet hatte. Pearce – ebenfalls sicher ein Pseudonym – hatte Haare und Gesichtshaut gebleicht, um den Völkermord an den Afrikanern in den sechziger Jahren zu überleben.
Und dann die Frau, die ›Ada‹ genannt wurde. Sie saß in einem Sessel an einem Ende des Tisches zusammengesunken da und starrte mit leeren Augen auf das Schott, wie sie es auf der ganzen Fahrt die meiste Zeit getan hatte. England hatte sich vielleicht 1941 ergeben – aber Ada niemals. Sie kämpfte ihren Eine-Frau-Krieg gegen die Nazis dreißig Jahre weiter seit dem Tag, an dem sie als junge Lehrerin in Liverpool hatte zusehen müssen, wie man ihren Mann, ihren Vater und zwei Brüder abtransportiert hatte, die zur Zwangsarbeit auf den Kontinent deportiert wurden und von denen sie nie wieder etwas gehört hatte. Von da an lebte sie nur ihrer Rache. Mit Hilfe von gefälschten Papieren, Verkleidungen und unzähligen falschen Namen hatte sie angeblich einhundertdreiundsechzig Nazis getötet, darunter einen Reichsgouverneur, drei Gauleiter, die Gestapo-Chefs zweier britischer Städte und Dutzende von englischen Kollaborateuren in örtlichen Dienststellen. Sie war mehrmals verhaftet und verhört worden, hatte Schläge und Folter erduldet. Sechsmal war sie zum Tode verurteilt worden, viermal entflohen und zweimal als tot liegengelassen worden. Jetzt war sie Mitte fünfzig und ausgebrannt, viel zu früh gealtert durch das Leben voll Hass, Brutalität und Leiden, von denen die Narbenwülste an den Fingerspitzen der rechten Hand, wo früher Nägel gewesen waren, Zeugnis ablegten. Kämpfen konnte sie nicht mehr. Aber die Informationen in ihrem Kopf waren unbezahlbar.
Ferracinis Musterung der Offiziersmesse brachte ihn schließlich zu dem jungen Mann mit Schnurrbart und der blonden jungen Frau, die nur unter ihren Code-Namen ›Polo‹ und ›Candy‹ bekannt waren. Beide waren amerikanische Agenten und kehrten von einer Mission zurück. Ferracini hatte keine Ahnung, woran sie beteiligt gewesen waren. Es war auch besser, wenn alles so blieb.
Das Boot zitterte, und man hörte das Dröhnen der Maschinen. Es kam zu keiner sinnlosen Dramatik beim Abschied. Niemand tat so, als würde man in Verbindung bleiben. Ferracini und Vorkoff gingen nach ein paar kurzen Dankes- und Abschiedsworten als erste auf den Durchgang, dann ein Stockwerk tiefer, nach vorn in die Torpedokammer, wo eine der Ladeluken geöffnet worden war. Sie verabschiedeten sich noch von den Offizieren, die am Niedergang unterhalb der Luke standen, und kletterten dann den anderen voran. Durch einen mit Segeltuch überspannten Schutzraum gelangten sie auf den engen Arbeitsraum, der die steil abfallenden Schiffswände krönte. Ferracini ging über die Gangway zu den Matrosen hinüber, die ihre Sachen an Land geschafft hatten. Vorkoff blieb noch an der Luke stehen und half den Zivilisten über die nassen Stahlplatten hinüber. Cassidy und Breugot bildeten die Nachhut.
Als Ferracini auf die Höhe des Docks kam, sah er als erstes einen Marineleutnant, der vor dem Bus für den Transport der Zivilisten wartete. Als zweites fiel ihm die olivfarbene Fordlimousine mit Regierungsschildern ins Auge, die etwa fünfzig Yards entfernt parkte. Der Fahrer trug Uniform, und auf dem Rücksitz konnte man undeutlich eine Gestalt erkennen, die zu ihm herübersah. Obwohl die Scheiben angelaufen waren und man die Gestalt mit den Umrissen eines runden Kopfes und dem Schlapphut nur schemenhaft sah, wusste Ferracini, dass das nur Winslade sein konnte. Der Wagen trug eine Generalsstandarte, obwohl Winslade nicht in der Armee war; aber das besagte gar nichts. Im Gegenteil – es war sogar typisch. Eigentlich hätte er das erwarten sollen, sagte sich Ferracini. Er hatte noch nie gehört, dass man jemand, der aktiv im Einsatz war, auf solche Weise abzog, ehe er seine laufende Mission abgeschlossen hatte. Und wenn immer sich die Dinge völlig regelwidrig entwickelten, hatte für gewöhnlich Winslade die Finger im Spiel.
Wie sich herausstellte, war der Leutnant nicht befugt, die Übergabepapiere der Zivilisten anzunehmen. Der Bus sollte sie lediglich zu der Landebahn auf der anderen Seite des Luftwaffenstützpunkts bringen, teilte er Ferracini mit. Dort warteten Flugzeuge, die die Leute zu ihren jeweiligen Bestimmungsorten bringen würden. Die Leute, die offiziell das Kommando übernehmen sollten, waren auf dem Flughafen. »Ich werde mal sehen, was hier los ist«, sagte Ferracini zu Cassidy. »Fahr du lieber mit dem Bus mit und kümmere dich um die Formalitäten. Wir holen dich später ab.«
Cassidy nickte. »Es täte mir schrecklich leid, wenn man sie zurückschickte, bloß weil wir beim Papierkrieg Mist gebaut haben.«
»Ihr könnt auch mit Cassidy gehen«, sagte Ferracini zu Vorkoff und Breugot. »Da drüben sagt man euch schon, wie ihr wieder zurück zum Stützpunkt kommt.«
Sie verabschiedeten sich von Ferracini und stiegen hinter den Zivilisten in den Bus. Der Marineleutnant kletterte als letzter hinein. Dann fuhr der Bus ab. Ferracini schaute hinauf und sah die Gestalt mit der weißen Mütze – Kommandant Bowden – oben auf der Brücke der Narwhal. Die Gestalt hob die Hand. Auch Ferracini hob seine als Antwort. Dann warf er sich den Seesack über die Schulter und ging über das Dock auf den wartenden Ford zu.
Der Fahrer war ausgestiegen und stand vor dem Wagen. Er nahm Ferracinis Sack und verstaute ihn im Kofferraum. Winslade beugte sich herüber, um ihm die Tür aufzumachen. Ferracini stieg ein und machte die Tür zu. Mit dankbarem Aufseufzen ließ er sich auf der weichen Lederpolsterung zurücksinken und genoss ihren Geruch. Er schloss die Augen und kostete einen Augenblick lang das ungewohnte Gefühl von Luxus und Wärme aus, das ihn einhüllte.
»Ich nehme an, wir müssen Cassidy einsammeln«, sagte Winslade mit deutlich artikulierender Stimme, als der Fahrer einstieg. »Wohin? Fliegerhorst?«
Ferracini nickte, ohne die Augen zu öffnen. »Er kümmert sich um die Papiere.«
»Fliegerhorst!«, befahl Winslade laut. Weich rollte der Wagen an. »So, Harry, wie ist es denn diesmal gelaufen?«, erkundigte sich Winslade freundlich nach wenigen Minuten.
»Gut, schätze ich. Wir wurden wie geplant eingesetzt. Wir haben sie herausgeholt. Wir haben sie nach Hause gebracht.«
»Alle? Ich habe nur acht gezählt.«
»Die drei, die sich über London durchschlagen sollten, sind nie aufgetaucht. Wir haben nie erfahren, was passiert ist. Pluto meint, dass an dem Ende eine undichte Stelle ist.«
»Hmmm … das ist schade.« Winslade machte eine kurze Pause und verdaute erst einmal diese Nachricht. »Heißt das, dass Pluto sich auf Kompromisse eingelassen hat?«
»Vielleicht. Er macht die Operation dicht, als Vorsichtsmaßnahme – er geht nach Bristol und macht da einen neuen Laden auf – wahrscheinlich innerhalb eines Monats.«
»Verstehe. Und unser treuer Freund, Obergruppenführer Frichter? Wie steht es in diesen Tagen um seine Gesundheit?«
»Mies. Er wird keine Geiseln mehr aufhängen.«
»Wie tragisch.«
Ferracini öffnete die Augen und setzte sich seufzend auf. Gleichzeitig schob er sich die Mütze aus der Stirn. »Jetzt hör mal, Claud, was ist eigentlich los?«, fragte er. »Es gibt schließlich die ordnungsgemäßen Räume und Zeiten für die Abschlussbesprechung nach einer Mission. Warum machst du das? Und warum fahren wir hier in einem Auto herum?«
Winslades Stimme blieb ganz ruhig. »Nur meine persönliche Neugier. Die reguläre Abschlussbesprechung wird später von den geeigneten Leuten durchgeführt werden. Im Augenblick gibt es aber Wichtigeres. Um deine andere Frage zu beantworten – wir fahren hier nicht bloß so herum, sondern fahren wohin.«
Ferracini wartete: aber Winslade ließ ihn hängen. Wieder seufzte er. »Schon gut. Ich kaufe. Wohin?«
»Wir fahren ganz normal zum Flughafen – und fliegen nach New Mexico.«
»Wohin genau?«
»Geheim.«
Ferracini probierte es anders. »Na schön – warum?«
»Um ein paar Leute zu treffen, die du bestimmt interessant finden wirst.«
»Ach ja? Zum Beispiel?«
»Wie wär's mit JFK zum Anfang?«
Ferracini verzog das Gesicht. Er wusste, dass Winslade zwar die Leute gern aufzog, aber niemals leichtsinnig etwas behauptete. Winslade grinste. Seine blassen grauen Augen funkelten hinter den randlosen, halbrunden Brillengläsern, und sein Mund verzog sich zu einer schmalen, nach oben gebogenen Linie.
Er war Ende fünfzig, hatte ein rundes Gesicht, eine gesunde Farbe mit passender geröteter Nase, war mittelgroß, und über seinen Ohren sah man weiße Haarbüschel. Winslade wirkte wie ein jovialer Mr. Pickwick nach einer Schlankheitskur. Er trug einen schwarzen Hut mit weicher, breiter Krempe und einen schweren Wintermantel mit Pelzkragen, einen dunklen Seidenschal und braune Lederhandschuhe. Er hielt den geschnitzten Griff seines gewaltigen Spazierstocks vor sich zwischen den Knien.
Über Winslade wussten die meisten Leute nur das Allernötigste, nie sehr viel, nur, was er bereit war, preiszugeben. Jedenfalls hatte Ferracini noch nie richtig herausbekommen, wer Winslade eigentlich war oder was er wirklich machte. Er wusste nur, dass Winslade völlig ungehindert in allen Abteilungen des Pentagons ein- und ausging, regelmäßig im Weißen Haus dinierte, und mit den Direktoren fast aller bedeutenden Forschungsinstitute des Landes auf du und du stand. Aufgrund der Gespräche, die Ferracini mit Winslade geführt hatte, wenn sich ihre Wege in den letzten Jahren immer wieder gekreuzt hatten, war Ferracini zu der klaren Erkenntnis gekommen, dass Winslade keineswegs ein Mann sein konnte, der ein Neuling im Geschäft der verdeckten Operationen war, und nicht nur theoretische, sondern auch knallharte Erkenntnisse aus eigener Erfahrung besaß. Er vermutete, dass Winslade vor langer Zeit selbst aktiv an Operationen teilgenommen hatte. Das wusste er aber nicht mit Bestimmtheit, weil Winslade nur sehr selten über sich redete.
Die Limousine bremste vor dem Tor, das aus dem Hafengebiet herausführte. Die Schranke ging hoch, und ein Marinepolizist winkte sie durch, während die beiden Posten ihre Gewehre präsentierten. Hinter dem Tor wurde der Wagen schneller und fuhr in Richtung Fliegerhorst weiter.
Ferracini lehnte es ab, weitere Frage-und-Antwort-Spielchen mitzumachen. Er verkniff den Mund und schob trotzig das Kinn vor. Winslade zuckte die Achseln, musste aber lächeln und holte aus seiner Aktentasche ein niedliches kleines Radio mit schwarzem Gehäuse, silbrigen Knöpfen und Chromverzierungen heraus. Es war kleiner als jeder Apparat, den Ferracini bis dahin gesehen hatte – abgesehen von militärischen Apparaten. Man konnte die Vorderseite mit einer Klappe verschließen.
»Gebaut im Kaiserlichen Japan«, bemerkte Winslade und klappte es mit dem Daumen auf. »So was sehen Sie hier nirgends; aber dort schleppen die Kinder es auf den Straßen herum. Man kann sogar magnetische Tonbandkassetten damit abspielen. Wollen Sie mal was hören?« Er zog eine winzige Kassette heraus, steckte sie in den Schlitz hinter den Deckel und ließ ihn zuschnappen. Dann drückte er auf einen Schalter und stellte das Radio auf die Knie. Zurücksinkend beobachtete er Ferracinis Gesicht.
Mit ungläubigem Staunen starrte Ferracini auf das winzige Gerät, als aus dem Lautsprecher laute Swingmusik ertönte. Eine Klarinette führte mehrere Saxophone in flottem Rhythmus zum deutlichen Bass. So etwas hatte er noch nie gehört. Die Popmusik der siebziger Jahre war eine Mischung aus Militärmärschen, patriotischen Liedern, Wagner und dem Klagegeschrei jener Leute, die glaubten, Amerika könnte sich nur retten, wenn es ebenfalls faschistisch würde. Hinzu kam das no-future-Gejammer der Jugendlichen über Weltende und Vernichtung. Aber diese Klänge? Es war verrückt. Es entsprach weder der gegenwärtigen Zeit – noch Ferracinis augenblicklicher Stimmung.
Nach einigen völlig unverständlichen Akkorden kam der Sänger. Winslade trommelte mit den Fingern auf der Armstütze neben sich und nickte mit dem Kopf zum Takt der Musik.
Pardon me, boy
Is that the Chattanooga choo-choo?
Yeah, yeah, track twenty-nine,
Boy, you can gimme a shine.
Ferracini hielt sich die Hand an die Stirn, schüttelte den Kopf und stöhnte müde. »Claud, schonen Sie meine Nerven. Ich bin gerade erst von diesem U-Boot runter, wo wir tagelang eingesperrt waren. Wir waren sechs Wochen drüben auf der anderen Seite – so was brauche ich wie ein Loch im Kopf.«
You leave the Pennsylvania Station 'bout a quarter to four,
Read a magazine and then you're in Baltimore.
Dinner in the diner,
Nothing could be finer,
Than to have your ham'n eggs in Carolina.
Winslade drehte die Musik leiser. »Glenn Miller. Würden Sie mir abnehmen, dass ich dazu getanzt habe?«
Ferracini starrte ihn ungläubig an und überlegte zum ersten Mal ernsthaft, ob Winslade den Verstand verloren habe. »Sie? Tanzen?«
»Aber sicher!« Winslades Augen schauten in weite Fernen. »Das Glen Island Casino war am besten, an der Shore Road in New Rochelle, New York. Das war das Spitzenengagement für alle Big Bands damals. Das bedeutete Glanz und Prestige. Der Hauptsaal war im ersten Stock. Man konnte durch Terrassentüren hinausgehen und über den Long Island Sound hinwegschauen. Alle jungen Leute aus Westchester County und Connecticut gingen dahin. Ozzie Nelson spielte da, die Dorsey Brothers, Charlie Barnet und Larry Clinton … Sie können sich wirklich nicht vorstellen, wie die Welt war, ehe Europa fiel, vor dem Atombombenabwurf der Nazis auf Russland, oder Harry?«
Ferracini starrte unsicher auf die kleine Schachtel in Winslades Hand und hörte noch etwas länger zu. »Es ergibt keinen Sinn«, sagte er schließlich.
»Es muss auch keinen Sinn ergeben«, sagte Winslade. »Aber diese Musik hat einen positiven, zuversichtlichen Klang. Hebt sich dabei nicht Ihre Stimmung, Harry? Das ist glückliche, freie, lebenslustige Musik – Musik von Menschen, die ein Ziel vor Augen hatten und die auch glaubten, dass sie dorthin gelangen könnten … die alles erreichen konnten, was sie sich vornahmen. Was ist daraus geworden? – Daran denke ich oft.« Er seufzte.
Ferracini schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Und ehrlich gesagt, ist es mir auch ziemlich egal, Claud. Schauen Sie, wenn Sie auf einen Nostalgie-Trip gehen wollen, ist das okay; aber mich lassen Sie dabei bitte aus dem Spiel. Ich dachte, wir würden über den Auftrag reden, für den man Cassidy und mich per Funk herzitiert hat, der, wie Sie sagten, etwas mit dem Präsidenten zu tun hat. Könnten wir wieder auf das eigentliche Thema zu sprechen kommen, bitte?«
Winslade schaltete die Musik aus und drehte sich so, dass er Ferracini direkt ins Gesicht sah. Plötzlich war sein Ausdruck sehr ernst. »Aber ich bin nie vom Thema abgeschweift«, sagte er. »Das ist Ihre nächste Mission – oder vielleicht sollte ich sagen: unsere nächste Mission. Diesmal werde ich nämlich mitkommen – und zwar werde ich die Mannschaft führen.«
»Mannschaft?«
»O ja. Ich sagte Ihnen doch, dass wir auf dem Wege zu einigen hochinteressanten Leuten seien.«
Ferracini bemühte sich, irgendeine Verbindung zu sehen. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Wohin fliegen wir nun – Japan? An irgendeinen Ort im japanischen Kaiserreich?«
Winslades Augen strahlten. »Nicht wohin, Harry! Wir fliegen nicht an irgendeinen Ort. Wir bleiben hier, in den Vereinigten Staaten. Versuchen Sie's doch mal mit der Frage: wann?«
Ferracini schaute ihn nur verständnislos an. Winslade tat so, als wäre er enttäuscht und deutete mit dem Kopf zum Radio, als wäre das ein Hinweis. »Na zurück!«, rief er.
Ratlos schüttelte Ferracini erneut den Kopf. »Nützt nichts, Claud. Ich kapiere immer noch nicht. Wovon, zum Teufel, reden Sie eigentlich?«
»Neunzehnhundertneununddreißig, Harry! Das ist die nächste Mission. Wir gehen zurück in die Welt von 1939!«
Fünfundzwanzig Meilen südlich von London, in der Nähe der Stadt Westerham im Weald of Kent, lagen Chartwell Manor und sein Besitz in einer hügeligen Landschaft aus Wäldern, Feldern und verschlafenen Bauerndörfern kalt und feucht in der Düsternis eines Februarnachmittags in England. Obwohl die Errungenschaften moderner Zeit nicht fehlten – Hausdächer zwischen den Bäumen auf den Hügeln, Busse und Autos, die auf den schmalen Straßen zwischen den Hecken auftauchten und verschwanden, Eisenbahnbrücken, über die Züge nach Süden an die Küste fuhren –, war der Charakter der Landschaft noch so, wie er seit Jahrhunderten gewesen war.
Chartwell war ein massiver, zweistöckiger, roter Backsteinbau mit undefinierbarem Baustil – einige Teile gingen bis auf die Zeit Elizabeths I. zurück. Das Herrenhaus stand auf weiträumigem Gelände. Man erreichte es von der Hauptstraße aus über einen sich schlängelnden Kiesweg. Ein Rasen trennte nach hinten zu das Haupthaus und die Wirtschaftsgebäude von einem fröhlichen Gewirr aus eingezäuntem Küchengarten, Rosenbeeten, Gewächshäusern, Stallungen und einem Sommerpavillon. Dazwischen gab es noch mit Steinplatten ausgelegte Terrassen und zahlreiche Ziersträucher. Aus einem Wasserspeicher wurde frisches Wasser gepumpt und über ein System von Fischteichen, Ententeichen, Kaskaden und Steingärten wieder zurückgeleitet, um die Gärten zu beleben und mit dem Plätschern einen beruhigenden Hintergrund zu schaffen. Solide, unveränderbar und heiter stellten das Haus und seine Umgebung vollkommen das englische Ideal von Sicherheit, Gemütlichkeit und schläfriger Zufriedenheit dar.
Der Right Honorable Winston S. Churchill, Parlamentsabgeordneter für den Wahlkreis Epping, schaute in seinem, nach Süden gerichteten Arbeitszimmer im ersten Stock über den Schreibtisch hinweg hinaus ins Grüne. Solch ruhige Gelassenheit war nicht von selbst entstanden als Teil der natürlichen Ordnung der Dinge, überlegte er. Dafür hatte eine Nation über Generationen lang gekämpft, eine Überlebensnische zu erobern und zu erhalten, gegen die Mächte der Zerrüttung, der Zerstörung und der Brutalität, die sie nicht erfunden hatte, sondern die als Teil der dunkleren Seite der menschlichen Natur schon so lange wie die Menschheit selbst existierten. Frieden war um einen hohen Preis erworben worden, und zum Überleben musste er immer von neuem geschützt werden. So wie unten in den Gärten die Blüten und Früchte der Zivilisation, über lange Zeit sorgfältig herangezüchtet, sehr schnell vom Unkraut der Barbarei überwuchert würden, wenn die Gärtner in ihrer Wachsamkeit nachließen. Churchill notierte sich diese Analogie für zukünftige Verwendung, zündete sich dann seine Zigarre wieder an der Kerze an, die auf dem Tisch immer zu diesem Zweck brannte. Er blies eine Rauchwolke über den Schreibtisch und las weiter in der Rede, die er vor fünf Monaten, Ende August 1938, vor seinen Wählern gehalten hatte.
Es ist schwierig für uns … hier im Herzen dieses friedlichen, gesetzestreuen Englands, uns klar zu machen, welch wilde Leidenschaften in Europa grassieren, hatte er gesagt. Zweifellos haben Sie alle in diesem angsterfüllten Monat die Berichte in den Zeitungen gelesen – gut in einer Woche, schlecht in der nächsten. Besser in einer Woche, schlechter in der nächsten. Aber ich muss euch sagen, dass sich die Lage in ganz Europa und in der ganzen Welt zuspitzt und ständig auf eine Krise zusteuert, die nicht länger aufzuhalten ist.
Das war noch vor der anglo-französischen Kapitulation vor Hitler in München gewesen, noch ehe man die Tschechoslowakei den Nazi-Wölfen vorgeworfen hatte. Das Unkraut drohte, den Garten zu überwuchern; und die Gärtner schliefen immer noch.
Churchill und eine kleine Gruppe vorwiegend Konservativer, hatten versucht, sie zu wecken. Seit Jahren gab er sich größte Mühe, sie zu wecken, obwohl man ihn ständig von einem Amt im Kabinett oder den inneren Regierungsposten ausschloss. Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund und die Abrüstungskonferenz 1933, neun Monate nach Hitlers Machtübernahme, hätte eine deutliche Warnung sein müssen. Aber die Nation hatte sie nicht beachtet. Die blutigen Säuberungen der Nazis im folgenden Jahr waren der klare Beweis, dass ein mächtiger Industriestaat von Kriminellen übernommen und auf eine Moral der Gosse und Straßenbanden herabgezwungen wurde. Aber auch das hatte nicht gereicht, die Empörung hervorzurufen, die das groteske gesellschaftliche und politische Experiment dieses Gefreiten Hitler im Keim hätte ersticken können. Es war die feste Haltung Mussolinis – ehe er die Seiten wechselte – gewesen, nicht die des Westens, die einen verfrühten Staatsstreich der Nazis in Österreich vereitelte, in dem der österreichische Kanzler Dollfuß ermordet worden war.
Als 1935 Deutschland offen gegen den Versailler Vertrag verstieß, indem es die allgemeine Wehrpflicht einführte und die Existenz der Luftwaffe verkündete, hatten die Alliierten damit geantwortet, dass sie sich in Stresa zusammensetzten und feierlich eine wirkungslose Protestnote verfassten. Danach hatten die Briten sich eilig bemüht, Buße zu tun, indem sie ein Marineabkommen schlossen, das den Deutschen unbegrenzten Bau von Kriegsschiffen, auch U-Booten, gestattete – ohne ihre französischen Partner vorher auch nur zu konsultieren.
»Frieden um jeden Preis!«, hatte damals alles gerufen. Und was war das Resultat? Es bestand kein Zweifel, dass man einen Wucherpreis hatte zahlen müssen: Italien für die Sache der Alliierten verloren. Abessinien einer unverschämten, grundlosen Aggression anheimgefallen. Japan hatte ungehindert ganz China ausplündern können. Das Rheinland war wieder von Deutschen besetzt, die vor eben den Kanonen der Franzosen herumstolzierten, die nichts dagegen getan hatten. Man hatte von Nichteinmischung in Spanien gepredigt, als Franco sich mit Hilfe der deutschen Bomben und italienischer Kugeln dort etablierte. Österreich war mit brutaler Gewalt annektiert worden. Die Tschechoslowakei der Gewalt ausgeliefert. Ja, der Preis war in der Tat sehr hoch gewesen.
Und was hatte es eingebracht? Keinen Penny. Ehe die Abrechnung fertig war, würde es zum Krieg kommen. Darüber war sich Churchill absolut sicher.
Tatsächlich ergab das Resultat doch einen schweren Verlust. Wenn es sowieso zum Krieg kam, wäre es doch besser gewesen, ihn zu den Bedingungen des vorigen Septembers zu führen, anstatt derer, mit denen der Westen jetzt, 1939, konfrontiert war. Damals war die Tschechoslowakei noch ganz gewesen und hatte über eine der fähigsten und best ausgerüsteten Armeen Europas verfügt. Churchill war überzeugt, dass die Franzosen hätten kämpfen müssen. Sie hätten im September 1938 kämpfen müssen, als die Tschechen Hitlers Ultimatum an Chamberlain in Godesberg zurückwiesen und mobilisierten, als das britische Kabinett kurz vor einer Rebellion gegen weitere Nachgiebigkeit stand. Damals wäre auch Russland durch den Beistandspakt mit Frankreich dabei gewesen – die Russen hätte gerne etwas unternommen –, worauf auch England hineingezogen worden wäre, auch ohne vertragliche Verpflichtung. Dafür hätte schon die öffentliche Meinung gesorgt. Damals wären die Chancen, Hitler zu zermalmen, gut gewesen.
Stattdessen hatte sich Chamberlain den Regenschirm unter den Arm geklemmt und hatte eilig der Aufforderung aus München Folge geleistet und hatte öffentlich sein Vertrauen in den guten Willen und die Ehrlichkeit des Führers verkündet, als er sein Opfer zur Erpressung freigab.
»Wir haben eine totale und ungemilderte Niederlage erlitten«, hatte Churchill dem House hinterher verkündet, worauf er nur einem Proteststurm und Spott begegnet war. Die rasenden Massen hatten Chamberlain bei seiner Rückkehr aus München zugejubelt und wie wahnsinnig geklatscht, als er sein Stück Papier herumschwenkte und ihnen ›Frieden in unserer Zeit‹ versprach.
In Paris hatten die Franzosen vor Freude auf den Straßen geweint, als sich die Neuigkeit verbreitete, dass der Krieg abgewendet wäre. »Diese Narren!«, hatte der französische Premier Daladier gemurmelt, als er vom Flughafen Le Bourget zurückfuhr. »Wenn sie nur wüssten, was sie so bejubeln.«
Churchill seufzte, blätterte in seinen Papieren und nahm einen Schluck schottischen Whisky mit Wasser. Wenn es ihm auch widerstrebte, musste er zugeben, dass seine Karriere, die manchmal recht vielversprechend ausgesehen hatte, jetzt, wo er fünfundsechzig war, auf das Scheitern eines Ausgestoßenen hinauslief. Sein politisches Begräbnis war von den Architekten der nationalen Politik so gut wie arrangiert, die immer noch fest glaubten, dass Toleranz und Nachgiebigkeit die Gefräßigkeit der Diktatoren sättigen und sie zu Konzessionen verleiten würden. Wie viele Male war diese Wahnvorstellung schon für alle entlarvt worden, die es sehen wollten? Dennoch blieb die Blindheit bestehen.
Nun bedeutete aber das Ende eines politischen Lebens noch nicht das Ende des physischen Lebens, dachte er philosophisch. Er hatte sein Bestes versucht, das, was er für Recht hielt, hochzuhalten. Nie war er von der Richtschnur der moralischen Prinzipien, an die er glaubte, abgewichen. Das konnten nicht viele Männer von sich sagen, selbst die nicht, die am Ende ihres Lebens für sehr viel erfolgreicher gehalten wurden. Das allein war schon eine angemessene Belohnung. Er hatte ein gemütliches Heim und eine ihn liebende Familie. Es gab einige Abenteuer an der Börse, die er gern gewagt hätte. Seine History of the English Speaking Peoples, die er vor zehn Jahren begonnen hatte, wartete auf Fertigstellung. Und es blieb immer noch so viel zu malen …
Nein. Das nützte nichts.
Er schob die Unterlippe vor und schüttelte den Kopf. Die Trauer und die Bitterkeit konnte man nicht übertünchen. Es war nicht so sehr das Gefühl des persönlichen Unrechts, das ihn quälte – auf dieses Risiko musste sich schließlich jeder, der das Leben eines Politikers wählte, einlassen –, sondern die Aussicht, mitansehen zu müssen, wie die Institutionen der Freiheit und der Demokratie, für deren Verteidigung er sein ganzes Lebenswerk aufgewendet hatte, sich vor Tyrannei, Brutalität und jeder anderen Antithese von Anstand und Zivilisation erniedrigten und in den Staub warfen. Gab man der Welt einen solchen Präzedenzfall, konnte die Konsequenz nur die Katastrophe sein.
Aber warum geschah das? Niemand konnte so blind sein, wie manche Leute sich stellten. Die einzige Erklärung war, dass sie es nicht sehen wollten.
Das beunruhigte ihn auch am meisten: Seine Befürchtungen, über die Motive einiger Teile der einflussreichen, gesellschaftlichen und politischen Kreise, aus denen er ausgestoßen worden war. Der Westen hatte viel zu eifrig Darlehen in das bankrotte Deutschland gepumpt. Zu viele Gelegenheiten, in denen Festigkeit Hitler vielleicht ein Ende gesetzt hätten, hatte man unter fadenscheinigen Entschuldigungen verstreichen lassen. Zu viel Nazi-Propaganda zirkulierte zu frei in zu vielen Erzeugnissen der englischen und französischen Presse. Zu viele Verteidiger des Nazismus waren bei den westlichen Trendsettern und Meinungsmachern am Werk.
Die Reichen und Privilegierten sahen in einem wiederauferstandenen und wiederbewaffneten Deutschland – nazifiziert oder nicht – einen Schild gegen Russland. Sie glaubten, sich und ihre Nachkommen dadurch schützen zu können, dass sie eine Barriere errichteten, die den Kommunismus davon abhielt, sich weiter nach Westen auszudehnen.
Churchill würde sich nie an so etwas beteiligen. Es konnte seiner Meinung nach einfach nicht gerechtfertigt sein, einen Mörder zu dingen, um sich vor einem Dieb zu schützen. Churchill war nun bei Gott kein Freund des Bolschewismus. Er hatte auch nicht vor, jetzt Dinge zurückzunehmen, die er sein ganzes Leben lang gesagt hatte; aber man konnte doch nicht als Antwort auf eine verhasste Ideologie der Welt eine andere aufzwingen. Kein Ziel rechtfertigte das Loslassen der Gestapo, der SS und des übrigen grauenvollen Apparats des totalitären Naziregimes auf die unglücklichen, hilflosen, leidenden Völker Europas.
Das Klingeln des Telefons auf dem Schreibtisch unterbrach sein Grübeln. Er nahm die Zigarre aus dem Mund und krächzte »Ja«.
»Mrs. Sandys ruft aus London an«, teilte ihm seine Sekretärin mit, die ein Zimmer im Erdgeschoss als Büro benutzte. Sie meinte damit Churchills älteste Tochter Diana. »Sie besteht darauf, mit Ihnen zu sprechen.«
»Schon gut, Mary. Stellen Sie durch!«
»Selbstverständlich.« Es summte in der Leitung, dann klickte es.
»Ja? – Ja? – Ist da jemand? Oh, dieses verdammte Ding!«
»Sie sind durch, Mrs. Sandys.« Klick.
»Papa?«
»Ach, du bist's, Diana. Was ist los? Stimmt etwas nicht?«
»Nein, alles bestens. Duncan und ich haben nur gedacht, dass wir heute Nachmittag einen Einkaufsbummel machen wollen, wo wir schon mal in der Stadt sind, und vielleicht abends ins Theater gehen. Wir werden also wahrscheinlich nicht zum Dinner zurück sein.«
»Verstehe. Nun, ich danke dir, dass du mir Bescheid gesagt hast. Hast du's Elsie schon gesagt?«
»Mary meinte, sie tut das. Brauchst du irgendetwas, das wir dir hier besorgen könnten?«
»Hmmm … nein, ich glaube nicht … ah … War das alles? Mary hörte sich an, als würde es sich um eine Angelegenheit um Leben oder Tod handeln.«
Diana lachte. »Nein, das war noch nicht alles. Ich wollte dir auch ›Hallo‹ sagen und mich vergewissern, dass es dir gut geht. Deine Stimme hat heute morgen so geklungen, als hättest du dich erkältet. Ich hoffe, ich habe dich nicht gestört.«
»Für dich bin ich niemals zu beschäftigt, mein Liebes. Nein, ich fühle mich prima, danke. Das war wohl nur ein Anflug von Schnupfen. Ich wünsche euch noch einen wunderschönen Abend. Wir sehen uns ja dann später noch.«
»Aber natürlich. Also gut – ich lasse dich gehen. Bis heute Abend.«
»Ja, ja. Mach's gut, Diana, und grüße mir Duncan.«
»Mach ich. Auf Wiedersehen.«
Die Verbindung hörte auf, und Churchill legte den Hörer auf. Als seine Gedanken sich wieder dem grimmigen Gespenst eines Europas zuwandte, das auf die Katastrophe zusteuerte, fiel ihm ein Gedicht über ein Eisenbahnunglück ein. Er stand auf und ging zum Fenster, dabei murmelte er laut vor sich hin:
Who is in charge of the clattering train?
The axles creak and the couplings strain,
And the pace is hot, and the points are near,
And Sleep has deadened the driver's ear;
And the signals flash through the night in vain,
For Death is in charge of the clattering train.{1}
Er war in der satirischen Zeitung Punch auf diese Zeilen gestoßen, als er noch in Brighton in die Schule ging.
»Ahem.« Mary hüstelte diskret hinter ihm.
Churchill drehte sich um. Sie stand auf der Türschwelle – eine zurückhaltende Frau in mittleren Jahren, mit blassem Teint. Das braune Haar hatte sie ordentlich hinten zu einem Knoten zusammengefasst. Sie trug einen glatten, schwarzen Rock und eine weiße Bluse, die an den Schultern gekräuselt war. Mit etwas verwirrtem Ausdruck hielt sie ein verknittertes braunes Papier, das wie Paketpapier aussah, in der Hand. In der anderen hatte sie ein kleines Päckchen. »Ja, Mary?«, fragte Churchill. »Was gibt's?«
Mary kam ins Zimmer. »Das ist eben mit Einschreiben angekommen«, sagte sie. »Es ist äußerst ungewöhnlich, Sir. So etwas habe ich noch nie gesehen.«
»Was? Zeigen Sie mal! Was ist denn daran so merkwürdig?«
Churchill ging zu ihr und nahm das Päckchen. Dann untersuchte er es auf seinem Schreibtisch. Es hatte die Größe einer Zigarrenkiste und war in dickes, weißes Papier gewickelt. Versiegelt war es mit Streifen aus durchsichtigem, glänzendem Band, das offensichtlich auf einer Seite mit Klebstoff bestrichen war, wie man an einer abstehenden Ecke feststellen konnte. Auf einer Seite stand in dicken, schwarzen Großbuchstaben:
AN DEN RIGHT HONORABLE
WINSTON S. CHURCHILL, M.P.
STRENG VERTRAULICH
Churchill drehte das Päckchen um. Sonst stand nichts drauf. »Hmmm. Das ist tatsächlich sehr ungewöhnlich«, meinte er. »Sie sehen ja, was draufsteht. Da wollen wir uns mal lieber an die Spielregeln halten, was? Danke, Mary. Sie können mich jetzt damit allein lassen.« Er setzte sich und drehte das Päckchen noch mal herum. Dann merkte er, dass Mary nach ein paar Schritten unsicher stehen geblieben war. »Ja?«, fragte er etwas unwirsch. »Was ist denn noch?«
Mary schaute nervös auf das Päckchen. »Es ist bloß … naja, ich habe gedacht … es ist doch hoffentlich nichts Gefährliches, oder? So eine Anarchistenbombe oder so? Ich könnte die Polizei anrufen und bitten, dass sie sich das Päckchen ansieht.«
Churchill starrte mit finsterem Gesicht auf das Päckchen. Dann schüttelte er den Kopf und machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. »Ach was, Anarchistenbombe. Dummes Zeug! Sie lesen zu viele Schundromane, Mary. Wahrscheinlich ist es nur ein müder Scherz von Bernard Shaw oder Konsorten.« Mary zögerte noch kurz, drehte sich dann aber um und ging hinaus, immer noch besorgt dreinblickend. Churchill kramte in einer Schreibtischschublade herum, holte eine große Schere heraus und fing an, das Päckchen aufzumachen. Er ging dabei aber – wie er selbst feststellte – behutsamer vor, als es sonst seine Art war.
Unter dicken Papierlagen kam eine Schachtel mit Deckel zum Vorschein, beides aus einer ungewöhnlichen Art von Material, milchweiß, durchsichtig und leicht flexibel. Es musste einer dieser neuen Kunststoffe sein. Er hatte ähnliches Material schon bei Teilen für experimentelle, elektrische Apparate gesehen, hatte aber nicht gewusst, dass es bereits auch für die Allgemeinheit zu haben war. Das war wohl der Fortschritt, nahm er an.
Der Deckel wurde ebenfalls diesem von transparenten, klebrigen Band festgehalten. Als Füllmaterial befanden sich in dem Päckchen kleine Kügelchen, die fast nichts wogen. Auch dieses Material war für ihn neu. Dann stieß er auf Photos von nie gesehener Qualität und Farbe. Außerdem einige Stücke, die wie eine Sammlung elektrischer Komponenten aussahen. Dann auf eine flache Metallschachtel, kleiner als eine Zigarettenpackung, mit Reihen von Knöpfen vorne, auf denen Ziffern oder andere Symbole standen. Sie waren unter einem rechteckigen Fenster angeordnet. Daneben eine zweite Schachtel; sie war ohne Rückwand, um das unwahrscheinlich komplizierte Innenleben zu zeigen, und schließlich noch auf ein zusammengefaltetes Blatt Papier.
Churchill nahm neugierig ein Photo hoch. Es zeigte ein Flugzeug im Flug; aber von absolut revolutionärer Bauart. Der Vogel hatte einen langen, nadelspitzen Schnabel und nach hinten gelegte Flügel und keinen Propeller. Auf der Bildbeschreibung unten stand: Überschall-Abfangjäger/Bomber mit Düsenantrieb. Geschwindigkeit: über 2,5fache Schallgeschwindigkeit. Reichweite: 3400 Meilen ohne Auftanken in der Luft. Flughöhe: 90 000 Fuß. Bestückung: 8 funkgesteuerte, wärmeorientierte Luft-Luft-Raketen, Reichweite: 20 Meilen.
»Was um alles auf der Welt …?«, stieß Churchill verblüfft hervor. Sein Gesicht verzog sich zu ungläubigem Staunen.
Auf dem nächsten Bild sah man einen schlanken Zylinder mit Spitze, der wie ein Artilleriegeschoss aussah, aber mehrere Stockwerke hoch war, wie man an den Personen erkennen konnte, die neben ihm standen. Laut Bildunterschrift handelte es sich um eine riesige Rakete. Die anderen Photos zeigten merkwürdige Maschinen, Gebäude und nicht zu identifizierende Gegenstände. Eine Bilderklärung sagte: Kernreaktor, der die Energie des Atomkerns in industriellem Umfang nutzbar macht, indem er künstliches transuranes Element 239 als Brennstoff benutzt. Ausstoß 800 Megawatt.
Völlig verblüfft legte Churchill die Photos hin und griff nach der flachen Schachtel mit den vielen Knöpfen. Bei oberflächlicher Betrachtung fand er einen Schalter zwischen den Aufschriften ON und OFF, der zu OFF zeigte. Er stellte auf ON, und auf dem rechteckigen Fenster über den Knöpfchen erschien eine Zahlenreihe. Ein Druck auf den Knopf CLEAR löschte die Zahlen. Die Knöpfe mit Zahlen ließen die betreffenden Zahlen in dem Fensterchen erscheinen. Nach kurzem Probieren, fand er heraus, dass die Knöpfe mit den Symbolen ›+‹, ›–‹ und andere einfache Rechenaufgaben ausführten. Langsam dämmerte es ihm, dass man diesen Apparat auch für andere mathematische Aufgaben einsetzen könnte, die er längst vergessen hatte – falls er sie jemals kapiert hatte; letztere Annahme hätte er als erster für durchaus unwahrscheinlich betrachtet.
Churchill war wie vor den Kopf geschlagen, als ihm die Bedeutung dieses Kästchens aufging. Selbst die neuesten Tischrechner, die er gesehen hatte, waren im Vergleich zu diesem hier hoffnungslos primitiv – umständliche, laute, schwere, plumpe Dinger, mit so vielen Schaltern und Rädchen wie eine Schreibmaschine. Trotzdem hatte man ihm versichert, sie seien technische Wunder ihrer Zeit. Wenn das stimmte – welche Technologie hatte den Apparat hervorgebracht, den er hier in der Hand hielt? Woher konnte er kommen? Churchill nahm das Blatt und las:
Sehr geehrter Mister Churchill,
Bitte, verzeihen Sie die ziemlich unorthodoxe Art der Einführung; aber Sie werden einsehen, dass die Situation sehr ungewöhnlich ist.
Ich nehme an, dass die Bedeutung der beigefügten Artikel Ihnen voll bewusst wurde. Es gibt viel zu besprechen, was die Sicherheit und Zukunft der westlichen Demokratien betrifft, aber nur sehr wenig Zeit. Daher habe ich mir die Freiheit genommen, in einem Separatzimmer im Dorchester Hotel am nächsten Mittwoch, dem 17. Februar, ein Arbeitsessen zu arrangieren, bei dem ich Sie um die Ehre bitte, mich und meine Kollegen persönlich bei Ihnen vorstellen zu dürfen.
Sie werden herzlich gebeten, drei Begleiter Ihrer Wahl mitzubringen, wobei ich mich voll auf Ihr Urteil verlasse. Es ist wohl unnötig zu sagen, dass äußerste Diskretion erforderlich ist und daher die Zuverlässigkeit dieser Herren außer Zweifel sein muss.
Sollten Ihnen Datum und Uhrzeit genehm sein, bitte ich um Bestätigung beim zweiten Geschäftsführer des Hotels, Mr. Jeffries, erreichbar unter MAYfair 2200.
Ich verbleibe hochachtungsvoll
Ihr
(Unterschrift)
Winslade
»Das ist unglaublich!«, flüsterte Churchill. Er las den Brief noch einmal sorgfältig durch und inspizierte nochmals genau alle Gegenstände. Tief in Gedanken saß er mit gefurchter Stirn lange da. Schließlich sammelte er alles ein und verschloss es im Schreibtisch. Dann griff er zum Hörer und trommelte auf die Gabel.
»Ja, Mister Churchill«, antwortete Marys Stimme. Sie klang erleichtert.
Churchills Ton war sehr ernst. »Bitte, Mary, rufen Sie Oxford an und versuchen Sie Professor Lindemann zu erreichen. Sagen Sie ihm, ich bäte ihn, so schnell wie nur immer möglich herzukommen. Ich hätte ein paar Sachen hier, die er bestimmt faszinierend finden wird – sehr faszinierend.«
Es dämmerte schon, als der Lastwagen, ein Dreitonner-Dodge, Baujahr 1929, in die Außenbezirke von St. Louis holperte. Er gehörte zu der bunten Mischung von Gebrauchtwagen, die auf einer Versteigerung in Albuquerque erworben und bar bezahlt worden waren mit Geldern, die über illegale Transaktionen gegen Gold eingetauscht worden waren. Nachdem die Ventile nachgeschliffen, die Zündung neu eingestellt und der Vergaser gereinigt worden waren, klang der Laster viel gesünder als noch vor einigen Wochen. New Mexico lag schon mehrere Tage hinter ihnen und New York City mehrere vor ihnen. Es war das dritte Mal, dass Harry Ferracini durch die zentralen und östlichen Staaten der USA des Jahres 1939 fuhr, und es hing ihm bereits zum Hals raus.
»Eine Epoche voll Romantik und Glanz, Harry – voll Aufregungen und Freiheit«, hatte ihm Winslade in den Monaten des intensiven Trainings versprochen, die der Dematerialisierung der zwölf Mitglieder des »Unternehmens Proteus« vorangegangen waren. Nicht nur die Menschen, auch die gesamte Ausrüstung musste von einer streng geheimen Militäranlage in Tularosa, New Mexico, sechsunddreißig Jahre zeitlich zurückversetzt und wieder aufgebaut werden. Von den dafür erforderlichen Abläufen von Dimensionen, Wellen und Feldern verstand Ferracini nichts. »Gable und Garbo, Cagney und Bogart, die Walt Disney-Filme!«, hatte Winslade geschwärmt. »Die Zeit, als Babe Ruth die Brooklyn Dodgers trainierte. Orson Welles hatte gerade das Ding mit der Invasion vom Mars über Radio gesendet. Joe Louis machte alle Herausforderer nieder. Sinatra hatte gerade bei Harry James angefangen. Es gab keine Zwangsverpflichtung von Zivilisten für die Rüstung, keine staatliche Rationierung von irgendetwas. Man brauchte auch keine Erlaubnis, um den Staat zu verlassen.«
Das stimmte alles, musste Ferracini zugeben. Aber er hegte den Verdacht, dass Winslade entweder damals ein sehr behütetes Leben geführt oder ihm seine Sehnsucht nach vergangenen Zeiten etwas vorgegaukelt hatte. Ferracini konnte beim besten Willen nichts Romantisches beim Anblick einer Nation empfinden, die sich mit Illusionen und Selbsttäuschungen ins Vergessen stürzte, während auf der anderen Seite des Ozeans Pogrome angefangen hatten, Familien aus ihren Häusern gezerrt und auf den Straßen zusammengeschlagen wurden, wo die Schlägertrupps der Braunhemden jetzt das Gesetz vertraten und die Menschen nicht mehr wie jahrhundertelang ohne Angst gehen konnten.
Seit der Ankunft der Proteus-Mannschaft im Jahr 1939 war ein Monat vergangen. In dieser Zeit hatte Ferracini die Armen gesehen, die nach einem Jahrzehnt der Depression noch immer zu erschüttert, zu verzweifelt waren, um mehr Energie aufzubringen, als sie zum Überleben von einem Tag auf den nächsten brauchten. Er hatte die Mittelschicht gesehen, die sich mit ihren Zeitungen und Phantasien der Filmwelt die Welt vom Leib hielt, die ihre wiedererlangte Ehrbarkeit in isolierten Kokons mit auf Raten gekaufter Gemütlichkeit in ihrem Heim schützten. Er hatte auch die Kinder der Reichen gesehen, die in eine glitzernde Scheinwelt von berühmten Personen flohen, in Mondenschein auf Balkonen, mit Rosen, Satinroben und weißen Smokings – alle benahmen sich, als würde die Wirklichkeit, wenn sie sie nur geflissentlich ignorierten, sich erkenntlich zeigen und sie ebenfalls in Ruhe lassen.
Es gab nur ganz wenige Ausnahmen. Cassidy und er hatten einen Veteranen aus dem Großen Krieg in einer Bar in New Jersey getroffen, der den Neutralitätsakt missbilligt und Roosevelts Bemühungen, die Marine und die Armee auszubauen, begrüßt hatte. Eine Frau mit einem ›America First‹-Abzeichen hatte herumgebrüllt und den Mann als Kriegshetzer beschimpft. Als ihr Begleiter finstere Drohungen ausstieß, hatte der Barkeeper den Veteranen hinausgeworfen, nicht den anderen, der eine Schlägerei hatte anfangen wollen. Typisch für eine Welt, die Nationen beschuldigte, unvernünftig zu sein, wenn sie sich gegen die Barbarei verteidigen wollten, dachte Ferracini. Hier, überall um ihn her, lagen die Wurzeln und Ursachen der Welt, aus der er – mehr als dreißig Jahre in der Zukunft – gekommen war.
Vor ihnen tauchten Lichter auf. Eine Kette Glühbirnen erhellte eine Imbissstube und mehrere davor geparkte Laster. Cassidy, der eine marineblaue Wollmütze über die Ohren gezogen hatte und eine schwere Jacke über seinem ausgeblichenen Drillichzeug trug, stemmte seinen schlaksigen Körper auf dem Beifahrersitz hoch und deutete nach vorn. »Da! Die Bude habe ich gemeint – wo wir beim letzten Mal angehalten hatten. Und mein Magen verrät mir, dass es bald Essenszeit ist. Was meinst du, Harry – kurze Pause?«
»Ist nicht gut, wenn wir uns an denselben Orten blicken lassen«, antwortete Ferracini. »Da kommen noch mehr Kneipen auf der anderen Seite der Stadt.«
»Was? Hast du denn die Riesensteaks und die Zwiebeln vergessen? Und ist das nicht der Laden, wo diese niedliche Kleine die Tische abräumte, die diesen herrlichen Busen hatte? Mann, weißt du nicht mehr, was die uns für feurige Blicke zugeschmissen hat?«
»Genau das ist der Punkt! Ich will nicht, dass sich jemand an uns erinnert.«
Cassidy hob die Hände. »Harry, ich schwöre – du leidest an Verfolgungswahn! – Ich meine, glaubst du wirklich, dass du hier mitten in Missouri der Gestapo oder sonst wem in die Hände läufst? Wir sind doch nicht überm Teich. Hier sind wir auf heimischem Boden.«
»Nun mal halblang, Cassidy! Red keinen Scheiß!«
»Okay, Harry! Okay!« Seufzend rutschte Cassidy wieder auf seinem Sitz nach unten.
Ferracini hatte natürlich recht. In den nächsten zwei Monaten konnte noch wer weiß was passieren. Man konnte unmöglich voraussagen, was davon abhängen konnte, dass sich jemand an ein Gesicht, den Lastwagen oder ein mitgehörtes Gespräch erinnerte.
Obwohl das Trainingsprogramm auch auf die physische Theorie des technischen Verfahrens eingegangen war, hatte Ferracini nur so viel verstanden, dass die Maschine, die unterhalb der Anlage in Tularosa gebaut worden war, in der Lage sein sollte, Objekte und Menschen in die Vergangenheit zu schicken. Daran hatte Winslade mitgearbeitet; deshalb hatte er auch so oft mit Wissenschaftlern geredet.
Bisher waren noch keine Menschen tatsächlich in die Vergangenheit transferiert worden. Es hatten nur Vorversuche stattgefunden, die die Wissenschaftler als ›ermutigend‹ beschrieben hatten, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Offenbar hatte die sich rapide verschlechternde Weltlage es erfordert, dass die Mission sofort durchgeführt wurde, ohne auf alle Antworten zu warten.
Drei Monate nach den Vorversuchen war in dem großen Raum, tief unter Tularosa, eine eiförmige Kapsel von der Größe eines Zeppelins in einem bläulichen Schein verschwunden, inmitten von Halterungen und Maschinen, um sechsunddreißig Jahre früher – allerdings zur Vermeidung von Standortfehlern fünftausend Fuß höher – wieder aufgetaucht. Heliumsäcke hatten sich automatisch gefüllt, um die Kapsel auf die Erde herunterzubringen. Fünfzehn Minuten später hatte Ferracini mit den elf anderen Mitgliedern der Proteus-Mission in der Wüste von New Mexico gestanden und in den Nachthimmel vom Januar 1939 hinaufgeschaut.
Die Zeitreisenden waren nach einem der mit Sicherheit eindrucksvollsten Großtat in der Geschichte der Physik mit einem Ballon gelandet.
Die Tularosa-Maschine war eindeutig ein ›Einweg-Apparat‹, ein ›Projektor‹, und Januar '39 war die größte ›Reichweite‹ in die Vergangenheit, die sie schaffte. Um eine Zweiweg-Verbindung zu schaffen, musste am anderen Ende eine Maschine – das ›Rücksende-Tor‹ gebaut werden. Alle dafür nötigen Teile waren in der Kapsel mitgebracht worden. Aufgrund von Trockentraining waren die Planer zu dem Ergebnis gekommen, dass man vier oder fünf Monate brauchen würde, um ein funktionsfähiges ›Rücksende-Tor‹ zusammenzubauen.
Da das erste Ziel der Operation war, einen Dialog zwischen den Regierungen der Vereinigten Staaten aus den beiden Epochen herzustellen und während der Verhandlungen darüber für keine Sensationen zu sorgen, hatten die für die Richtlinien der Politik maßgeblichen Leute von 1975 entschieden, dass der Bau des Rücksende-Tors geheim stattfinden sollte. Um die zukünftige Logistik und Kommunikation zu erleichtern, hatte sie sich auf einen Ort an der Ostküste geeinigt, und zwar auf eine Metropole. Deshalb schafften nun Ferracini und der Rest der Gruppe, offiziell Sugar genannt, die Bauteile aus einem auf Zeit gemieteten Lager in New Mexico in eine Lagerhalle an den Kais von Brooklyn. Die heiklen Teile – Computer und elektronisches Zubehör, deren futuristischen Ursprung man schlecht verbergen konnte – transportierten sie selbst auf Lastwagen. Die größeren Bauteile und Stücke der Kapsel, die absichtlich aus Material angefertigt worden war, das 1939 überall erhältlich war, hatte man nach Albuquerque geschafft und dort mit der Bahn weitergeschickt.
Das zweite Ziel der Mission war, sich in die politische Situation in England einzumischen, wo das Jahr 1939–1940 in die Proteus-Welt Unheil gebracht hatte. In diesem Fall konnte die Mission nicht warten, bis das Rücksende-Tor in Brooklyn fertig war. Die Geschwindigkeit, mit der sich die drohenden Ereignisse in Europa abspielten, erforderte das sofortige Eingreifen der westlichen Führer, wenn man den Zusammenbruch dort nicht wiederholen wollte. Deshalb hatten sich Winslade und zwei weitere Mitglieder der UK-Gruppe King des Unternehmens direkt nach London begeben. Sie waren mit einer DC-3 nach New York geflogen und von dort mit dem Schiff weitergefahren. Der Fliegende Clipper-Service von PanAm nach Lissabon würde erst später in diesem Jahr verfügbar sein.
Nachdem sie den Mississippi auf der Eads-Brücke überquert hatten, hielten sie an einer 24-Stunden-Raststätte an der Ausfallstraße nach Indianapolis an. Der Parkplatz hinten war dunkel; aber innen war es hell, warm und gemütlich. Das Essen duftete, und ein Kohleofen in der Ecke strahlte Wärme aus. An den Tischen in den Nischen saßen in der Hauptsache Fernfahrer. Am anderen Ende lud ein stämmiger Koch, den man in der dunstigen Durchreiche zur Küche gut sehen konnte, Berge von Schinken und Eiern auf Teller. Vor ihm arbeitete eine Mexikanerin an der Theke. An den Wänden hingen Plakate, Zeitungsausschnitte und Photos von Baseballspielern. Neben der Kaffeemaschine stand ein riesiges hölzernes Radio auf einem Regal und spielte Musik von Duke Ellington, wie Ferracini inzwischen wusste. Während des Trainings hatte man die Mannschaft in ihrer Freiheit ständig mit Radioaufnahmen und Filmen aus dieser Epoche gefüttert.
Niemand beachtete Ferracini und Cassidy, als sie den Schnee von den Stiefeln stampften, ihre Mäntel auszogen und an der Theke zwei Steaks bestellten. Dann nahm sich jeder eine Tasse Kaffee und ging auf eine leere Nische zu, neben einer Gruppe schnatternder Jugendlicher, die sehr ordentlich gekleidet waren. Für diese Umgebung klangen ihre Gespräche ein bisschen zu intellektuell.
»Es ist warm«, sagte Cassidy, nahm die Mütze ab und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Soll ich mal eine Zeitlang übernehmen, wenn wir weiterfahren?«
Ferracini nickte. »Klar. Ich kann 'ne Pause gebrauchen. Vielleicht kann ich sogar ein paar Stunden schlafen.«
»Vier Tage für diese Fahrt! Und das bei vierundzwanzig Stunden Fahren. Die könnten wirklich ein paar Autobahnen gebrauchen.« Cassidy lümmelte sich hin, nahm einen Schluck Kaffee und schaute sich um. »Ich bin immer noch ganz platt über alles, Harry. Keine Papiere, keine Erlaubnisscheine … Claud hatte recht – alle machen hier ziemlich, was sie wollen. Und ich habe gedacht, er wollte uns bloß die Mission schmackhaft machen.«
»Hmmmmh …«, antwortete Ferracini.
Cassidy beugte sich vor und sah Ferracini so an, wie er es immer machte, wenn er etwas ausbrütete. »Weißt du, Harry, manchmal denke ich – na ja, es könnte einem Schlimmeres passieren, als hier für immer rumzuhängen, wenn du weißt, was ich meine. Wenn Claud seine Maschine hat und damit machen kann, was er will …«
»Du bist ja verrückt! Rede nicht daher wie ein Arschloch!«
»Nein, im Ernst. Was haben wir denn da zu erwarten, wo wir herkommen? Da ist doch Feierabend.«
»Deshalb sind wir ja hier – um das zu ändern. Es wird ganz anders sein, okay?«
»Du meinst alles? Wir marschieren einfach durch die Maschine und finden dann eine völlig neue Welt vor?« Cassidy sah nicht überzeugt aus. »So leicht geht das nicht, Harry. Und Claud und die ganzen Wissenschaftler haben sich solche Mühe gegeben, uns zu versichern, dass alles prima laufen würde. Aber wenn du genau hingehört hast – wissen die auch nichts Bestimmtes. Sie haben nicht einmal genau gewusst, ob diese Sache überhaupt funktioniert.«
Ferracini runzelte die Stirn. »Hör mal, Cassidy, wir sind doch jetzt lange genug hier, um zu sehen, wie's ist, wie die Leute sind. Willst du wirklich mitten unter solchen Idioten leben? Denen geht es prima, und sie schmeißen alles weg. Sie können über ihre Nasenspitze nicht hinaussehen, was wirklich in der Welt passiert. Es ist, wie wenn das ganze Land voll überbehüteter Kinder wäre. Ich meine …«
Cassidy hielt die Hand hoch. »Okay, Harry! Okay! – hör schon auf!« Er wollte nicht alles noch mal durchkauen. Ferracini zuckte die Achseln und versank in Schweigen. Cassidy lehnte sich zurück und schaute umher. Nach kurzer Zeit beugte er sich wieder vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Ich finde, dass wir uns eine kleine Ruhepause verdient haben, wenn wir in New York einlaufen – einen oder zwei Tage mindestens. Ich finde, wir sollten nicht riskieren, vor lauter Diensteifer oder Übermüdung in den Graben zu fahren und Mortimers kostbare Teile zu verbiegen. Was meinst du, Harry? Sollten wir uns mal achtundvierzig gönnen?«
Mortimer Greene, ehemaliger Direktor des Zentrums für die Entwicklung und Erprobung Verbesserter Waffensysteme der Air Force in Nevada, war der Leiter der aus drei Leuten bestehenden wissenschaftlichen und technischen Gruppe der Mission. In dieser Funktion war er für den Bau des Rücksendetors verantwortlich. Als Winslades Stellvertreter führte er auch das Kommando über Sugar, solange Winslade in London war.
Ferracini grinste etwas. »Ach, ich schätze, dass wir schon einen Grund finden werden«, sagte er. »Aber erst liefern wir die Ladung ab. Dann kann ich ja mal mit Mortimer reden, ob er uns einen Achtundvierziger gibt.«