Es war dreimal - James P. Hogan - E-Book

Es war dreimal E-Book

James P. Hogan

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Beschreibung

Botschaften aus der Zukunft

Die Entdeckung der Tau-Wellen stellt die Naturwissenschaft auf den Kopf: diese Wellen bewegen sich vorwärts und rückwärts durch die Zeit und können dabei Informationen übertragen. Noch während die Wissenschaftler diese „Zeitmaschine“ erforschen, treffen beunruhigende Nachrichten aus der Zukunft ein. Nach und nach wird klar: wenn die Forscher ein gewaltiges Unglück verhindern wollen, müssen sie Informationen in die Vergangenheit senden – obwohl sie wissen, dass das ihre eigene Zeit unwiderruflich verändern wird …

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JAMES P. HOGAN

 

 

 

ES WAR

DREIMAL

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Titel der Originalausgabe
THRICE UPON A TIME
Aus dem Amerikanischen von Leo P. Kreysfeld
Überarbeitete Neuausgabe Copyright © 1980 by James P. Hogan Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Covergestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Thomas Menne
ISBN 978-3-641-23134-7V002
www.penguinrandomhouse.de

Das Buch

Die Entdeckung der Tau-Wellen stellt die Naturwissenschaft auf den Kopf: diese Wellen bewegen sich vorwärts und rückwärts durch die Zeit und können dabei Informationen übertragen. Noch während die Wissenschaftler diese »Zeitmaschine« erforschen, treffen beunruhigende Nachrichten aus der Zukunft ein. Nach und nach wird klar: wenn die Forscher ein gewaltiges Unglück verhindern wollen, müssen sie Informationen in die Vergangenheit senden – obwohl sie wissen, dass das ihre eigene Zeit unwiderruflich verändern wird …

 

 

 

 

Der Autor

James P. Hogan (1941-2010) wuchs im Londoner Westen auf. Sein erster Roman Das Erbe der Sterne erschien 1977. Sein wissenschaftlich-technisch orientierter Schreibstil fand großen Anklang, sodass Hogan mehrere Nachfolgeromane schrieb. Er wurde oft mit seinem Landsmann Arthur C. Clarke verglichen. Bis zu seinem Tod lebte er mit seiner Frau Jackie, mit der er in dritter Ehe verheiratet war, in Florida und Irland.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

Prolog

 

Die Zahlen, die hellrot in der oberen Ecke des Computer-Monitors leuchteten, wechselten lautlos und zählten die letzten Sekunden.

00:05 … 00:04 … 00:03 … 00:02 … 00:01 … 00:00

Unter der Zeitanzeige erschien ein Symbol, um zu bestätigen, dass das Programm angelaufen war. Einen Augenblick später erwachte der Hauptbereich des Schirms mit einer Anzeige zum Leben:

 

30. Dezember 2009, 2325:00 Uhr.

TEMPORALERETROTRANSMISSIONTESTNUMMER 15

Gruppe 4, Muster 3. Transmissionsvorschub 60 Sekunden.

073681

ENDE

 

Der ältere Mann, der vor der Konsole saß, starrte den Text eine Sekunde lang ausdruckslos an und berührte dann eine Fläche der Sensortastatur unter dem Schirm. Von einem der Regale mit elektronischer Ausrüstung, die in seiner Nähe standen, drang ein leises Winseln herüber; zur gleichen Zeit glitt ein Ausdruck der auf dem Schirm befindlichen Information sanft aus dem Schlitz in den darunterliegenden Korb. Die Anzeige auf dem Schirm verschwand. Der Mann griff sich den Computerausdruck, überflog ihn beiläufig und lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück, um zu warten. In der oberen Ecke des Schirms war die Zeitanzeige auf sechzig Sekunden gesprungen und zählte jetzt wieder rückwärts.

Der Mann war hochgewachsen, die Schultern waren immer noch breit und gerade, aber das Haar, das einstmals pechschwarz geglänzt hatte, war jetzt weiß, und der Bart, der widerborstig an seinem Kinn spross, war grau geworden. Die Reste der Flammen, die einstmals hell gebrannt hatten, glommen immer noch in den Augen, die aus den rötlichen Klippen seines Gesichts blickten; aber das Feuer gab einer Müdigkeit Raum, die sich in vielen langen Lebensjahren angesammelt hatte.

Nach einer Weile wandte er seinen Blick dem flauschigen, schwarzweiß gemusterten Kater zu, der sich in der halboffenen Schublade des Schreibtischs zusammengerollt hatte, der neben dem Stuhl stand.

»Jawohl, ein seltsames Paar sind wir, Maxwell, ganz ohne Frage«, murmelte er. »Immer noch am Arbeiten, zu einer Zeit, da Leute mit einem Gran Verstand sich schon längst in ihre Betten verkrochen hätten. Genug ist genug. Das wird der letzte für heute Nacht.«

Durch die Stimme des Mannes aufgeschreckt, öffnete der Kater ein schläfriges Auge, um ihn anzusehen, und erhaschte einen flüchtigen Eindruck seines reflexhaft zuckenden Schwanzes. Er erwachte, stürzte sich in die Tiefen der Schublade und begann, begleitet vom Geräusch raschelnden Papiers, in vergeblichen Kreisen herumzuwirbeln. Eine Stoßnadel aus gelbem Kunststoff flog aus dem Durcheinander, prallte mit einem trockenen Klacken auf den Boden und rollte in einer besoffenen Kurve um die Basis von einem der Gerätetürme. Maxwells Kopf lugte mit aufgerichteten Ohren aus der Schublade, seine Augen folgten dem rollenden Knopf wie ein Zwillingsradar. Mit einem unvermittelten Satz räumte der Kater die Schublade, umkurvte – alle vier Pfoten wirkungslos gegen den schimmernden Boden gestemmt – die Ecke des Tischs in einem unkontrollierten Schleudern, gewann plötzlich wieder Vorwärtsbeschleunigung und hetzte in wilder Jagd davon.

Ein leichtes Lächeln glättete die Mundwinkel des Mannes, während er zusah. Dann blickte er wieder auf den Schirm. Der Countdown war fast bei Null angelangt.

00:01 … 00:00

Eine Anzeige, ähnlich der vorherigen, erschien. Der Mann verglich die darin enthaltene Nummer sorgfältig mit der auf dem Ausdruck, den er immer noch in der Hand hielt. Sie stimmten überein. Er nickte langsam vor sich hin. In genau dem gleichen Moment – falls diese Redewendung in der Sphäre der Drunter-und-drüber-Logik, die er aufgedeckt hatte, überhaupt etwas bedeutete – beobachtete ein Mann zum ersten Mal, wie dieselben Zeilen auf demselben Schirm erschienen … der grauhaarige Mann, der sechzig Sekunden in der Vergangenheit auf demselben Stuhl saß.

Er ließ den zweiten Text ausdrucken, heftete den Bogen an den ersten, legte die Blätter zu dem Stapel, der auf dem Tisch lag, und trug die Details in ein Notizbuch ein, das aufgeschlagen neben ihm lag. Dann schloss er das Buch und wandte sich wieder der Konsole zu, um mit der kurzen Routine zu beginnen, die das System stilllegte.

»Genug ist genug«, wiederholte er, als er fertig war und sich vom Stuhl erhob. Als er auf die Tür zuging, rollte die Stoßnadel hinter der Maschine hervor. Die Spitze einer schwarz-weißen Nase lugte um den Fuß eines Regals. Dann, langsam, glitt Maxwells Gesicht ins Blickfeld, dicht gefolgt von Maxwell selbst, den Körper dicht über den Boden gestreckt wie eine Schlange mit Beinen. Der Kater kauerte sich zu einem Sprung zusammen, hielt dann inne und blickte neugierig auf, als der Mann zum Lichtschalter griff.

»Ach, komm jetzt«, rief der Mann. »Morgen ist auch noch genug Zeit für diesen Blödsinn. Es ist ohnehin schon fast Morgen.« Zwei große Augen wandten sich bedauernd der Plastiknadel zu und blickten dann wieder nach oben, bevor der Kater sich erhob und in Richtung Tür trottete. »O ja, du bist gar nicht so dumm, trotz deiner Flausen, du kleiner Nichtsnutz«, erklärte der Mann brummig. Er löschte das Licht, wartete, bis Maxwell das Labor verlassen hatte, und schloss die Tür hinter ihm.

Der Korridor war kahl, mit glatten, weißgetünchten Wänden, die aus einem grauen Steinfußboden wuchsen. Am Ende des Korridors erreichten sie eine niedrige Holztreppe, die zu einer schweren Eichentür führte. Am oberen Ende der Treppe wartete der Mann wieder und hielt die Tür auf, während der Kater mannhaft die Stufen anging; halb kriechend, halb springend nahm er eine und kauerte sich dann für die nächste zusammen.

Durch die Tür traten sie in eine große, getäfelte Halle, düster in dem schwachen Licht einer einsamen Lampe, die auf halber Höhe in einem Gang brannte, der sich auf der anderen Seite öffnete. Der Boden war von einem tiefen, kostbaren Teppich bedeckt; undeutliche Schatten von Porträts starrten von den Wänden, und das Mobiliar, von dem das meiste aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert stammte oder noch älter war, wirkte stabil, gut erhalten und wurde durch seine Umgebung geadelt. Eine komplette mittelalterliche Rüstung stand reglos am Fuß einer breiten, geschnitzten Treppe, die oben in tieferem Dunkel verschwand, wo Lichtreflexe die geisterhaften Umrisse von schottischen Breitschwertern und Schlachtäxten aufschimmern ließen, die an den Wänden befestigt waren.

Der Mann drückte einen Schalter, um die Stufen zu beleuchten, und begann langsam nach oben zu steigen. Zwei spiegelblanke Kreise starrten ihn bereits aus der Dunkelheit über dem Treppenabsatz an. »Du wärst auch nicht mehr so gut zu Fuß, mit zweiundsiebzig Jahren auf der falschen Seite von dir, Maxwell«, erklärte der Mann. Am Ende der Treppe angekommen, wandte er sich der durch ein Geländer begrenzten Galerie zu, die auf die eine Seite der Treppe blickte, und hielt vor einer der Türen an, die von dem kurzen Durchgang dahinter wegführten. Ein breiter Lichtstrahl fiel auf den Boden, als er die Tür aufstieß.

»Wir haben's geschafft, Maxwell«, murmelte er. »Daran besteht jetzt kein Zweifel mehr. Also gut, es funktioniert. Morgen früh müssen wir Ted als erstes die guten Nachrichten erzählen.« Er hielt einen Moment inne. »Und Murdoch natürlich … Wird Zeit, dass wir Murdoch in die ganze Sache mit einbeziehen.« Er nickte vor sich hin. »Jawohl. Murdoch wird daran sehr interessiert sein, wenn ich mich nicht völlig irre.«

Die Tür schloss sich, und einmal mehr herrschte Dämmerung in der großen Halle.

1

 

Der Kennedy-Flughafen hatte den Schnee, der nach Weihnachten gefallen war, abgeschüttelt und war wieder die rührige Oase der üblichen Geschäftigkeit zwischen den weißbedeckten Vorstädten, die sich an der Südküste Long Islands entlangzogen. Ein stetiger Strom von Bodenwagen und Monotaxis bewegte sich zwischen dem Flughafenkomplex und Manhattan im Westen, während in der Luft Schwärme von Luftmobilen eintrafen und wieder abflogen, wie Bienen auf endloser Suche nach Futter. Innerhalb der Umgrenzungslinie stiegen Boeings, Lockheeds und Douglas' im ersten Stadium ihrer suborbitalen Fallkurve durch die Ionosphäre senkrecht in rascher Folge nach oben; weit darüber nahmen die aus Europa, Japan, Australien und von überall her eintreffenden Punkte langsam Gestalt an, als sie aus dem makellosen Blau tropften, das mit dem ersten Tag des neuen Jahres gekommen war.

In der Ankunftshalle der Marmorskulptur mit Glasfront, die Terminal drei bildete, stand Murdoch Ross in einer Gruppe Wartender und teilte seine Aufmerksamkeit zwischen der Beobachtung der Gesichter der von Flug 235 aus San Francisco hereinströmenden Passagiere und einem Artikel über die Wellenmechanik von Gravitonen in der neuesten Ausgabe des Scientific American. Er war Ende Zwanzig, schlanker als der Durchschnitt für seinen mittelhohen Wuchs, und sein glattrasiertes Gesicht zeigte ein frisches und gesundes Aussehen. Seine Augen hatten einen leuchtenden, aufmerksamen Blick und waren fast so dunkel wie das gewellte schwarze Haar, das den Kragen seines Wettermantels berührte.

Er sah einen Kopf mit kupferrotem Haar in genau demselben Moment aus der Menge der Neuankömmlinge aufragen, als die Augen in diesem Kopf ihn sahen. Dessen Eigentümer änderte seine Richtung und watete in spitzem Winkel durch den Menschenstrom auf Murdoch zu. Er trug ein dunkelblaues Hemd mit offenem Kragen, eine Navy-Jacke und graue Kordhosen, an einer Schulter hing eine lederne Reisetasche. Er bewegte sich gemächlich, aber mit kraftvollem, leichtfüßigem Schritt. Murdoch schob das Magazin in eine Tasche seines Mantels und grinste, als sie sich die Hände schüttelten. Ihm war, als hätte er ein übergroßes, noch lebendiges Stück Rippenspeer in der Hand.

»Lee, großartig, dass ich dich endlich mal wiedersehe! Es kommt mir viel länger vor als fünf Monate. Es tut mir leid wegen der kurzen Mitteilung, aber das ist alles, was ich selber weiß.«

Lee Walkers Mund verzog sich kaum, aber seine Augen kamen einem Lächeln so nahe wie immer. »Hi, Doc. Du hast recht – kommt einem länger vor. So ist das nun mal, denk' ich mir.« Er wuchtete seine Tasche auf die andere Schulter und holte eine Zigarettenschachtel aus der Windjacke. »Welche Uhrzeit haben wir hier? Wie lange haben wir noch, bevor wir starten?«

»Alles planmäßig – etwas über fünfzehn Minuten.«

»Ist mein Ticket okay?«

»Du bist startklar.«

»Danke.«

Flott eilten sie auf die nächste Rolltreppe zu, die zu dem automatischen Zubringer-System führte, das die Flughafen-Terminals verband.

»So«, sagte Murdoch. »Wie steht's bei euch im Westen? Mit Dynasco alles okay?«

»Nicht schlecht«, erwiderte Lee. »Die Abschlusstests sind gelaufen, und die Dokumentation ist komplett abgeschlossen. Ich glaube, sie sind ziemlich zufrieden mit der ganzen Geschichte.«

»Gut.«

»Eigentlich wäre ich sowieso in einer Woche oder so nach New York rübergekommen, wenn du nicht angerufen hättest. Wie sieht's aus?«

»Vielversprechend. Was ist mit Tracey? Hast du sie endlich aus ihren Banden lösen können?«

»Tjaah … Die Bande sind … alle gelöst.«

Ein leerer Pendelwagen wartete mit offenen Türen. Sie traten auf die Plattform am Ende der Rolltreppe und dann in den Wagen.

»Okay, und jetzt erzähl mir mehr darüber«, sagte Lee. »Du meinst, dass dein Großvater es tatsächlich geschafft hat – er kann Information in der Zeit zurücksenden?«, fuhr er stirnrunzelnd und in skeptischem Ton fort.

Murdoch nickte. »Genau das sagt er.«

»Aber das ist verrückt. Das ist im Prinzip verrückt. Was passiert mit der Kausalität?« Lee zog an seiner Zigarette und blies eine Rauchwolke gegen das Wagendach. »Was genau hat er getan? Wie weit hat er sie zurückgesandt?«

»Du weißt genauso viel wie ich«, erwiderte Murdoch. »Er war nicht gerade großzügig mit den Details, als er mich anrief. Er hat nur gesagt, dass es funktioniert und dass ich sofort rüberkommen solle. Er weiß, dass ich viel mit dir darüber gesprochen habe, und meinte, es sei Zeit, dass ihr beide euch trefft. Also habe ich dich angerufen, den Rest weißt du.«

»Aber es ist verrückt«, wiederholte Lee. »Ich war der Meinung, er würde überhaupt nichts damit erreichen. Wenn es wahr ist, geht die Physik komplett den Bach runter. Ich meine …«

»Stopp«, sagte Murdoch, »wir bekommen Gesellschaft. Lass uns im Flugzeug weiterreden.« Auf der Plattform näherte sich ein Trio von Geschäftsleuten und betrat, laut über den Marktanteil irgendeiner Gesellschaft redend, den Wagen. Einige Sekunden später folgte ihnen ein Paar, das zwei kleine Jungen mit zerzausten Haaren hütete. Die Türen piepten eine Warnung, schlossen sich, der Wagen glitt vorwärts, um sich wieder der Durchgangsspur anzuschließen, und beschleunigte dann sanft in dem Tunnel zum nächsten Terminal.

Zwanzig Minuten später befanden sie sich 100 Kilometer über dem mittleren Atlantik, am Scheitelpunkt einer flach geschwungenen Flugkurve, die Kennedy mit einer künstlichen Insel einige Kilometer vor Edinburgh im Firth of Forth verband. Die Nachbarsitze waren auf der einen Seite von zwei älteren, freundlichen, aber neugierigen englischen Ladies belegt; auf der anderen Seite saß ein Bostoner, der sich trotz ihres wiederholt gezeigten Desinteresses in einem ununterbrochenen Monolog über Football erging. Während des gesamten fünfunddreißigminütigen Flugs hatten sie kein einziges Mal Gelegenheit, weiter über Murdochs Großvater zu sprechen.

2

 

»Hast du je von Bannockburn gehört?«, fragte Murdoch über das gedämpfte Brummen des Automotors hinweg.

»Irgendein schottischer Baron?«, versuchte Lee zu raten.

»Es ist ein Ort, linker Hand und noch etwas weiter die Straße rauf. 1314 hat es dort eine Schlacht gegeben. Die Schotten hatten die Engländer aus ganz Schottland rausgeworfen, bis auf die Burg bei Stirling. Das ist die Stadt, in die wir gleich kommen. Einer der englischen Könige, Edward II., stellte eine Armee auf, um sie herauszuhauen, wurde aber von Bruce vernichtend geschlagen.«

»Schotte?«

»Ja, und vor dieser gab es noch eine andere Schlacht hier, 1297. Die hat Edward I. verloren. Die Edwards hatten nicht besonders viel Glück hier, würde ich sagen.«

»Ich wusste gar nicht, dass du dich für all das interessierst«, sagte Lee.

Murdoch zuckte die Achseln. »Vielleicht kommt mein Großvater in mir durch. Weißt du, es würde mir nichts ausmachen, hierherzuziehen und eines Tages hier zu leben. Sieh dir die Steinmetzarbeiten an einigen der Gebäude an. Ich wette, dass sie angefertigt wurden, bevor irgendjemand etwas von Kalifornien gehört hat.«

Sie hatten sich entschieden, den örtlichen Flugservice nach Inverness, der ungefähr hundertfünfzig Kilometer entfernt im Norden gelegenen Stadt, nicht zu nutzen, da es keinen großen Unterschied gemacht hätte, was ihre Gesamtreisezeit betraf. Stattdessen hatten sie am Flughafen einen Bodenwagen gemietet und waren einige Kilometer westlich von Edinburgh in Richtung des schottischen Tieflands gefahren. Dann – der Bodenwagen wurde von einer Fernsteuerung auf der kontrollierten Haupt-Autobahn geführt – hatten sie sich nach Norden gewandt, um Perth zu durchfahren, die ehemalige, häufig belagert gewesene Hauptstadt, wo sie den Tay genannten Fluss überqueren würden.

Lee drapierte seinen Arm auf dem Fensterrand und beobachtete eine Zeitlang die Gegend. »Ein nettes Land«, räumte er schließlich ein. Das kam einem Lob so nahe, wie schlechterdings zu erwarten war.

Murdoch schürzte die Lippen und nickte. »Jetzt weißt du, warum ich hierherkomme, so oft ich kann.«

»Wie kommt's, dass dein Vater so gut wie nie darüber spricht?«, fragte Lee. »Ich denke, mit einem Namen wie Malcolm und eine Generation näher sollte er voll davon sein. Schlägst du aus der Art oder so was?«

»Eher andersherum«, erwiderte Murdoch und schüttelte den Kopf. »Er schlägt aus der Art. Großvater war – und ist immer noch – theoretischer Physiker. Sein Vater war Mathematiker. Bei mir geht's auch ins Mathematische, glaube ich. Soweit ich weiß, ist Vater der einzige in einer langen Reihe, der nicht einmal ein Scheckbuch aufrechnen kann. Was ihn nicht davon abgehalten hat, Geld zu machen.«

»Vielleicht ist das der Grund«, sagte Lee. »Für sechzig kaufen, für hundert verkaufen und zehn Prozent machen. Jetzt weiß ich, warum ich keine Bilanzen lesen kann. Ach ja … ich glaube, ich werde nie reich werden.« Er schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Dein Vater ist eindeutig ein hundertprozentiger Amerikaner. Wenn dein Großvater anders ist, wie ist er dann? Trägt er Kilts und läuft mit Dolchen in den Socken herum und all das?«

»Dirks heißen die Dinger«, sagte Murdoch grinsend. »Nein … nicht oft jedenfalls. Nur bei formellen Anlässen. Aber du hast recht – er ist ziemlich traditionell. Ich glaube, das ist etwas, das auch in allen Ross' steckt. Vielleicht mag ich deshalb schottische Geschichte.«

»Und er ist immer noch so, nach …? Wie lange war dein Großvater in den Staaten, bevor er nach Schottland zurückging?«

»Ungefähr vierzig Jahre, denk' ich. Aber Menschen wie er ändern sich nicht so leicht. Du wirst verstehen, was ich meine, wenn du ihn triffst.«

Von Perth aus folgten sie dem Tay-Tal in die Hochländer von Gramp, ein achtzig Kilometer durchmessendes Meer sturmumtoster, durch den Winterschnee schockgefrorener Granitwellen. Bei Kingussie, einer Stadt im Tal von Strath, schaltete Murdoch auf Handsteuerung und fuhr von der Autobahn Perth-Inverness in die Monadhliath-Berge, die letzte Etappe der Reise nach Glenmoroch. Innerhalb weniger Minuten waren die letzten verbliebenen Zeichen des Weltraum-Zeitalters vollständig verschwunden. Die Straße wurde einspurig und wand sich sorglos zwischen den Füßen hoffnungslos aus dem Schritt gekommener, steiler, eiszeitverschobener Regimenter von Hängen und weiter, um eisige Bäche und Lochs mit gekräuselter Oberfläche, die in der Winterkälte zu zittern schienen. In Abständen tauchten Waldungen aus Lärchen und Pinien auf, deren Flecken die unteren Abschnitte der Hügel wie zerrissene Hemden bedeckten. Weiter oben dünnten sie aus oder drängten sich in niedrige, enge Schluchten, wo sie unter steilen Hängen aus Geröll oder überragenden Felsvorsprüngen kauerten. Nur hin und wieder auftauchende Bauernhäuser, Brücken oder Steinwälle erinnerten noch daran, dass die menschliche Rasse existierte.

Sie umrundeten die Windung bei einer der Farmen und fanden die Straße von einem Miniaturmeer von Schafen blockiert, die ein mürrischer Farmer, ein Helfer und drei schwanzlose Hunde durch ein Gatter auf eins der angrenzenden Felder trieben. Murdoch ließ den Wagen einige Meter vor der blökenden, hüpfenden Flut ausrollen.

Lee schüttelte ungläubig den Kopf. »Das kann nicht wahr sein«, sagte er. Murdoch grinste und setzte sich zurück, um zu warten. Er sah den Hunden zu. Während seiner früheren Reisen nach Schottland hatte er gelernt, die unglaubliche Fähigkeit der Schäferhunde zu bewundern, ihre Bewegungen untereinander zu koordinieren und jede befehlende Geste, jeden Pfiff vorauszuahnen. Trainierte Hunde fanden Freude an der Arbeit und wurden bald unruhig, wenn sie sie entbehren mussten; wie viele Menschen konnten auch Tiere von Gewohnheiten abhängig werden. Während eines seiner Besuche in Glenmoroch hatte sich ein Schäferhund Bob Fergusons, dem eine Farm am Dorfrand gehörte, ein Bein verletzt. Der Tierarzt hatte dem Tier eine Woche Ruhe verordnet, was bedeutete, dass es nicht mit in die Hügel konnte. Der Hund beschäftigte sich damit, stattdessen die Hühner zu hüten.

Murdoch hob den Blick und betrachtete den älteren der beiden Männer, der ein schweres Tweed-Jackett und Hosen aus dem gleichen Stoff trug, die in kniehohen Gummistiefeln steckten; eine flache Schirmmütze bedeckte das ergrauende Haar. Das Gesicht hatte die Farbe gekochten Hummers und zeigte tiefe, wettergegerbte Linien, unter den buschigen Augenbrauen brannten die Augen durch Schlitze, die ein ganzes Leben in Bergwinden und Regen hervorgebracht hatte. Es war ein Gesicht, dachte Murdoch, das wie die Granitklippen von den Elementen gemeißelt worden war, die das Hochland lange vor den Vorfahren der Pikten und Kelten beherrscht hatten, die von England nach Norden oder vom Rheindelta über das Meer gekommen waren. Es war ein Gesicht, das hierher gehörte.

Die letzten Streuner wurden zusammengetrieben und durch das Gatter geschickt. Der Farmer hob seinen Stock, um sich für die Geduld des Fahrers zu bedanken, und Murdoch antwortete mit einem Winken, als er den Wagen wieder in Bewegung setzte.

»Das würde ich gern mal auf der San Francisco-Los Angeles-Schnellbahn sehen«, sagte Lee.

»Hier wartet die Zeit auf die Leute«, erklärte Murdoch ihm.

Die Erwähnung der Zeit ließ Lees Gedanken zu dem zurückwandern, was sie kurz auf dem Kennedy-Flughafen diskutiert hatten. Sie hatten weitere zwei Kilometer zurückgelegt, als er schließlich sprach. »Angenommen, dein Großvater hat recht. Was geschieht dann mit dem freien Willen? Falls du Information durch die Zeit zurücksenden kannst, kannst du mir sagen, was ich getan habe, noch bevor ich überhaupt dazu gekommen bin. Angenommen, ich ziehe es vor, es nicht zu tun?« Er wandte sich halb in seinem Sitz um und sah Murdoch herausfordernd an. »Was zwingt mich dazu, es zu tun? Also tue ich es nicht, und keine Information wird je zurückgesandt, die sagt, dass ich es getan habe. Aber ich habe sie bereits erhalten.« Er zuckte mit den Achseln. »Die ganze Sache ist verrückt.«

»Serielle Universen«, schlug Murdoch vor, den Blick unablässig auf die gewundene Straße gerichtet. Offensichtlich hatte er ebenfalls nachgedacht.

»Was ist damit?«

»Angenommen, dass alle Vergangenheiten, die je existiert haben, und alle Zukünfte, die je existieren werden, genauso real sind wie die Gegenwart. Die Gegenwart vermittelt nur die Illusion, wirklicher zu sein, weil wir sie nun einmal wahrnehmen … in derselben Weise wie das Teilbild eines Films, das im gegebenen Augenblick gerade auf der Leinwand ist, wirklich erscheint, das macht aber die anderen Teilbilder auf der Spule nicht weniger real. Ergibt das einen Sinn?«

»Kommt drauf an, was du meinst«, erwiderte Lee. »Meinst du, dass alle diese Vergangenheiten genauso existieren, wie wir sie in Erinnerung haben?«

»Nein. Das ist genau der Punkt. Sie könnten anders sein. Zum Beispiel könnte das 1939, das ›jetzt‹ hinten auf der Zeitlinie existiert, überhaupt keinen Hitler enthalten. Wenn es sein eigenes 1945 erreicht, wird der Zweite Weltkrieg nicht geschehen sein, und es wird eine Geschichte entwickelt haben, die sich von unserer total unterscheidet.« Murdoch schloss bedeutungsvoll ein Auge und sah Lee mit dem anderen fragend an.

Lee lehnte sich zurück und starrte stirnrunzelnd durch die Windschutzscheibe auf die Landschaft. »Und so wird dieses Universum schließlich sein eigenes 2010 erreichen, mit einem Doc und einem Lee, die überhaupt nicht in Schottland sind … oder vielleicht ohne irgendeinen Doc oder einen Lee. Zu diesem Zeitpunkt wird dieses Universum, das, in dem wir uns befinden, sein … äh, ja 2065 erreicht haben und dabei eine Binnenhistorie mit sich führen, die im Einklang mit dem steht, woran es sich erinnert. Es würde überhaupt nichts über das wissen, was weit entfernt stromaufwärts geschieht. Wolltest du das damit sagen?«

»Mehr oder weniger. Was meinst du?«

»Mhhm …« Lee überdachte die Hypothese. »Könnte sein, denke ich. Aber wenn es so funktioniert, gebe ich der Sache keine große Zukunft.«

»Oh. Wieso?«

»Du könntest Informationen in ein Vergangenheits-Universum senden, würdest aber niemals von irgendetwas beeinflusst, das irgendjemand in diesem Universum als Konsequenz tun könnte. Es könnte ihnen helfen, nicht aber dir. Du könntest ihnen sagen, dass sie etwas nicht tun sollen, was du getan hast, du selbst jedoch bist daran gebunden. Warum also solltest du dich damit abgeben? Warum solltest du die Anstrengung auf dich nehmen, irgendjemandem bei der Lösung seiner Probleme zu helfen, selbst wenn er zufälligerweise eine frühere Version von dir ist, wenn er dir nicht dabei hilft, deine eigenen Probleme zu lösen?«

»Neugier«, schlug Murdoch schulterzuckend vor. »Oder Philanthropie vielleicht. Es gibt alle möglichen Arten von Menschen auf der Welt. Warum rettet man Seelen?«

»Weil es dafür Pluspunkte für deine eigene Wiedergeburt gibt«, sagte Lee und schüttelte dann den Kopf. »Wenn es so funktionieren sollte, wird es meines Erachtens nie mehr als eine akademische Kuriosität sein.«

»Ist doch aber ganz schön sensationell für eine Kuriosität, dass man in der Lage ist, mit ganz und gar neuen Universen zu sprechen, von denen man bisher nicht wusste, dass sie existieren. Ist das nicht aufregend genug?«

»Genau das stört mich. Es ist sensationell, aber es ist nutzlos. Angenommen, du kommst zu dem Schluss, dass es witzlos ist, mit Vergangenheitsuniversen zu reden, weil sie nichts für dich tun können, und dann stellst du fest, dass Zukunftsuniversen genauso handeln, weil sie zu demselben Schluss gekommen sind. Was machst du dann? Du sitzt auf dem größten Durchbruch in der Physik seit der Elektrizität, und er bringt dir nichts. Das ist, als würde Robinson das Telefon erfinden.«

Murdoch verfiel in nachdenkliches Schweigen, stieß einen Grunzlaut aus und schwieg wieder. Lee hatte die Angewohnheit, Murdochs Verstand plötzlich schaufelweise völlig neue Gedanken zur Sichtung zu überlassen. Manchmal wünschte Murdoch sich, er würde eine kleinere Schaufel benutzen.

Endlich führte die Straße schnurgerade über ein schneebedecktes, von Felsbrocken und Besenginstergruppen gemustertes Hochmoor. Murdoch erklärte, dass es jetzt nur noch einige Kilometer seien. Die letzten Hänge, die zu dem gewaltigen Bergrücken führten, dem sie sich immer mehr genähert hatten, begannen auf der anderen Seite des Moors. Die Straße erklomm sie in einer Serie scharfer Haarnadelkurven und verschwand in einem von Schnee eingezwängten Stück Himmel. Rechts von ihnen wuchs die Kammlinie steil an, dehnte sich aus und wurde zur wuchtigen Flanke des gut 900 Meter hohen Ben Moroch.

Die Sonne versank zwischen den Hügeln im Westen, als sie den Scheitelpunkt des Passes erreichten. Links senkten sich die südwestlichen Ausläufer des Ben Moroch immer weiter ab, bis sie wieder wuchsen, um mit einem weiter entfernten Gipfel zu verschmelzen. Rechts ragte mit düsteren Wällen aus Fels und Stein der Berg selbst auf. Vor ihnen senkte sich der Boden zu einem gewaltigen Amphitheater, das die westlichen und südwestlichen Hänge formte. Ein, zwei Minuten lang konnten sie über die Kammlinie im Westen den Blick auf das dahinter liegende weite Meer der Hochländer werfen, in deren Mitte das Wasser von Loch Ness das Licht der untergehenden Sonne reflektierte. Dann führte die Straße wieder nach unten; sanft zunächst, dann zunehmend steiler werdend, wand sie sich durch die Torfmoore und Schieferhänge des oberen Teils der Klamm.

Bald breitete sich ganz Glenmoroch als Miniatur unter ihnen aus, und Murdoch spürte dieselbe freudige Erregung, die ihn immer überkam, wenn er die vertrauten Wahrzeichen nach langer Abwesenheit zum ersten Mal wiedersah. Die Straße suchte sich ihren Weg links zwischen den Bergflanken und vereinigte sich am Talboden mit der gewundenen Linie des Bachs, der die eisigen Wasser Ben Morochs auf ihrem langen Weg nach Loch Keld und weiter ins Meer geleitete. Er konnte die Steinbrücke erkennen, wo die Straße den Bach überquerte, bevor sie in einem kleinen Gehölz verschwand, daneben die rechteckigen Linien ummauerter Felder, die zu Fergusons Farm gehörten. Auf der anderen Seite des Wäldchens führte die Straße zwischen verstreut stehenden Häusern, Büschen und Pfaden hin, die sich weiter unten zum Dorf Glenmoroch verdichteten, das unter den dünnen Rauchfahnen aus den Schornsteinen bereits schläfrig wirkte und im Schatten, der vom westlichen Gipfel her herüberwuchs, die ersten Lichter zeigte.

Hinter dem Dorf tauchte die Straße wieder zwischen Bäumen unter, die sich zu beiden Seiten in einem unregelmäßigen Halbmond ausbreiteten, der einen Teil von Loch Keld umschloss. Rechts davon stieg das Land vom Ufer des Lochs sanft an, um dann im letzten Ausläufer des westlichen Bergrückens scharf emporzuwachsen. Das Gebiet zwischen dem Loch und dem Bergrücken war dicht bewaldet, und zwischen den Bäumen ragte eine Gruppe dichtgedrängter Dächer und Türmchen hervor, die die letzten Sonnenstrahlen einfingen.

»Das ist es«, sagte Murdoch mit ausgestrecktem Arm. »Das, was da zwischen den Bäumen hervorsteht, ist der Storbannon-Besitz.«

»Ich habe eigentlich gedacht, es sei eine Burg«, sagte Lee nach einigen Sekunden.

»Na ja, so nennen's die Leute hier, aber es ist nicht wirklich eine. Was hast du erwartet – Fallgatter, Burschen in Rüstungen und Burgfräulein in Bedrängnis, die aus den Fenstern lehnen und auf ihren Erretter warten?«

»Burgfräulein hätte ich erwartet, aber solche, die in Betten warten«, erklärte Lee.

Murdoch stöhnte.

Das Dorf lag still da, als sie es auf der Hauptstraße durchquerten, die zwischen mehrstufigen Steinhäusern, einigen winzigen Läden und gemütlich wirkenden Pubs mit einladenden Lichtern hinter den uralten Friedhof mit seinem schmiedeeisernen Zaun führte. Eine Gruppe vor dem Postbüro, das auch als Lebensmittel- und Gemischtwarenladen diente, wandte sich um, um dem unbekannten Wagen nachzusehen, ansonsten aber gab es keinerlei Lebenszeichen. Es hatte sich nichts verändert.

Sie ließen das Dorf hinter sich und fuhren in den halbmondförmigen Wald, in dem sie von der Hauptstraße auf einen Weg in Richtung Storbannon abbogen. Nach einigen Minuten verließ Murdoch den Weg und fuhr zwischen zwei großen und beeindruckenden Steinpfosten auf eine Auffahrt, die sich zwischen den Bäumen öffnete. Nach einer Weile wurde Lee klar, dass die kurzen Eindrücke aus der Vogelperspektive, die er von der anderen Talseite her von dem Besitz gewonnen hatte, ihn getäuscht hatten, denn die Strecke, die sie jetzt zurücklegten, bis die ersten Lichter des Hauses auftauchten, war gut einen Kilometer lang. Und dann öffnete sich plötzlich eine große, ovale Fläche vor ihnen, um die sich die Auffahrt wand, um sich zu verbreitern und dann in sich selbst zurückzuführen: der Vorhof von »Burg Storbannon«. Der Haupteingang lag in der Mitte des Zentralflügels, der mit den beiden vorspringenden Nebenflügeln einen kleinen Hof umschloss. Murdoch steuerte den Wagen in den Hof und hielt am Fuß einer breiten, flachen Treppe, die zum Eingang führte.

»Wir sind da«, erklärte er überflüssigerweise, während Lee sich den Hals verrenkte, um in dem vom Schnee reflektierten Licht der beiden kleinen Lampen über der Tür soviel wie möglich von der Vorderfront zu erkennen.

Das Gebäude könnte die Form eines »E« ohne den Mittelteil haben, dachte Lee, oder aber er sah eine Seite von einem »H«. Die Türen, zu der die sechsstufige Treppe führte, waren schwer und massiv, hingen in verzierten Angeln und trugen Türklopfer aus Schmiedeeisen – wie alles, was er auf den ersten Blick sah, schienen sie in gutem Zustand zu sein. Der Bogen, der die Türflügel einrahmte, war eine Steinmetzarbeit runder, unterbrochener Adern, die auf beiden Seiten wie versetzte Gruppen von Orgelpfeifen nach oben strebten, um sich dann in abgeflachten Kurven im höchsten Punkt über der Tür zu vereinigen. Die Wände, die zu den schattigen Ecken der angrenzenden Flügel führten, waren mit behauenen grauen Steinen verblendet, die die Narben vieler harter schottischer Winter trugen. In der Mitte zwischen dem Eingang und den Flügeln wuchsen zwei Erker mit Doppelflügelfenstern aus den Wänden, das verzierte Mauerwerk, das sie umgab, wuchs nach oben und verband sich mit der Reihe der Pseudozinnen der Dachkante. Zumindest ist es eine Abwechslung von Glashochhäusern und Duroplastik, dachte Lee sich.

»Jetzt verstehe ich, warum sie's eine Burg nennen«, sagte er. »Die Kanten der Mauern da oben sind geformt wie eine Brustwehr.«

»Ja, neuere Ergänzungen«, informierte Murdoch ihn. »Gehören zu den Renovierungen, die einer der Rosses im neunzehnten Jahrhundert durchführen ließ. Damals wurden auch die Türmchen dazugebaut. Ich nehme an, er hat die nachgemachten Zinnen anfertigen lassen, damit die Vorderfront im Aussehen dazu passt.«

»Und das ist neu?«

»Natürlich.«

»Also, wie alt ist dann das alles hier?«, fragte Lee, als sie aus dem Wagen stiegen und nach hinten gingen, um das Gepäck aus dem Kofferraum zu holen.

Murdoch hielt kurz an und zeigte mit dem Arm auf den Südflügel. »Das ist der älteste Teil. Es war das Herrenhaus eines Edelmannes irgendwann in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts; aber es war schon davor etwas hier – von einem Teil des Fundaments schätzt man, dass er auf das zwölfte zurückgeht.« Er zuckte die Achseln. »Aber während der Jahre sind so viele Veränderungen und Umbauten vorgenommen worden, dass es schwierig ist, genau zu sagen, welcher Teil von dem, was du jetzt siehst, wann aufgetaucht ist. Allerdings wohnt in dem Flügel schon lange niemand mehr … dient hauptsächlich als Lager und so. Der Vorderteil ist die Garage, und der Teil, der sich zur anderen Seite erstreckt, ist der Stall.«

Lee schloss den Kofferraum und richtete sich auf, um die Vorderseite des Mittelteils zu begutachten. »Und was ist mit diesem Abschnitt? Kam der später?«

»Um 1650«, erwiderte Murdoch. »Er hat am meisten Charakter. Sieh dir den Tudor-Bogen und die Mittelpfosten der Fenster an.« Dann deutete er mit einem Kopfnicken auf den Nordflügel. »Der Rest kam Stück für Stück in den letzten dreihundert Jahren oder so. Ein großer Teil ist spätes achtzehntes Jahrhundert. Die Familie war damals mit der Stahlindustrie am Clyde verbunden, und es ging ihr ziemlich gut, so gut, dass sie eine Menge Geld für so was zum Fenster rauswerfen konnte.« Er schnitt ein Gesicht und fuhr fort: »Dieser Teil ist typisch für eine Menge viktorianischer, nun, nennen wir sie ›Inspirationen‹ – gotische Fenster, eine georgianische Kolonnade auf der anderen Seite, nachgeäffte dorische Säulen und barocke Ornamente. Passt zusammen wie Eiskrem und Bratensoße.«

Lee starrte die aberwitzige Mixtur einen Moment lang an und zuckte dann die Schultern. »Ich will's dir glauben, Doc«, erklärte er.

Im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür, und ein Lichtschwall ergoss sich auf die Treppe. Ein Mann mit dünn gewordenem Haar, schwarzer Jacke und Krawatte trat heraus, dicht gefolgt von einer Frau in schlichtem grauem Kleid und weißer Schürze, die ihr schwarzes Haar in einem Knoten nach hinten gebunden hatte.

»Endlich seid ihr da!«, rief die Frau mit jammernder hoher Stimme. »Wir haben uns schon gefragt, ob euch was passiert ist.«

»Morna, mein gutes Mädchen!« Murdoch packte sie an der Taille, hob sie hoch und wirbelte sie, ihren Protestschrei ignorierend, herum. »Wir sind den ganzen Weg gefahren. Ich traue diesen französischen Dingern nicht, die nach Inverness fliegen.« Er setzte die Frau ab und drehte sich um, um die ausgestreckte Hand des Mannes zu ergreifen. »Da bin ich wieder, Robert. Sie sehen großartig aus. Wie lief's denn so?«

»Großartig, dass Sie so bald wieder hier sind«, erwiderte der Mann herzlich. »Sir Charles hat den heutigen Tag sehnlichst erwartet. Und das hier muss der Lee sein, von dem wir so viel gehört haben.«

Murdoch trat zurück und schlug Lee auf die Schulter. »Das ist Lee. Lee, das ist Morna. Sie hat heimliche Verehrer in ganz Glenmoroch. Und das ist Robert. Er ist länger hier, als ich mich erinnern kann.« Lee gab beiden die Hand. »Und wie geht es Mrs. Paisley und Hamish?«, fragte Murdoch.

»Gut, beiden«, berichtete Robert ihm. »Hamish geht es gut, wenn er nicht gerade in irgendeinem Pub unten im Dorf ist. Ist das Ihre erste Reise nach Schottland, Lee?«

»Das allererste Mal«, sagte Lee. »Aber ich glaube, ich fange schon an, mich in die Gegend zu verlieben. Wenn man den Burschen hier im Wagen hat, ist es, als ob man neben einem redenden Geschichtsbuch sitzt.«

»Er hat sich immer für alles interessiert, was mit den Schotten zu tun hat«, meinte Morna. »Schon als Junge, als er in den Sommerferien hier war. Aber genug davon. Kommt jetzt rein, ihr zwei, es ist kalt draußen.«

»Sir Charles wartet in der Bibliothek auf Sie«, erklärte Robert ihnen. »Gehen Sie nur hinein. Ich kümmere mich um das Gepäck und den Wagen.« Er nahm Murdochs Schlüssel und ging die Treppe hinunter. Morna drehte sich um und ging, gefolgt von den Neuankömmlingen, zurück in die Eingangshalle.

»Soll ich Mrs. Paisley bitten, etwas zu essen für euch herzurichten?«, fragte sie. Murdoch warf Lee einen schnellen Blick zu.

Lee schüttelte den Kopf. »Später vielleicht.«

»Nur Kaffee«, erklärte Murdoch. »Wir haben New York vor weniger als anderthalb Stunden verlassen.« Er bemerkte den erstaunten Ausdruck auf ihrem Gesicht, hielt inne, um die wundervolle Wandtäfelung der Halle und die majestätische Haupttreppe anzusehen, und erklärte dann: »Es kommt mir aber schon vor wie tausend Jahre.«

3

 

»Und was ist mit dem Beratungsbüro in Kalifornien?«, erkundigte sich Charles. »Hört ihr jetzt damit auf?« Sie unterhielten sich jetzt eine gute halbe Stunde. Charles saß in einem wuchtigen, rotledernen Lehnsessel neben dem flackernden Kaminfeuer der Bibliothek. Lee hatte es sich auf dem Stuhl gegenüber bequem gemacht, und Murdoch hatte die Sitzbank zwischen ihnen belegt. Murdoch hatte Charles mit den neuesten die Familie in Chicago betreffenden Nachrichten versorgt, und jetzt wandte sich das Gespräch den unmittelbareren Problemen von Lee und Murdoch zu.

»Wir haben es eine Zeitlang wirklich ziemlich herunterkommen lassen«, erwiderte Murdoch. »Der letzte Vertrag, den wir hatten, war für einen Verein namens Dynasco. Sie wollten eine Studie über selbstaufbauende Energiewirbel in Plasmen haben. Lee hat sich einige Monate mit der Lösung beschäftigt, während ich versuchte, in New York unsere Zukunft zu regeln.«

Charles nippte an dem Kognakschwenker, den er in der Hand hielt, und leckte sich genießerisch die Lippen. »Dann hat es sich also nicht so gut angelassen?«, fragte er. »Ich hätte dir auch so sagen können, dass du nicht zum Geschäftsmann geschaffen bist wie dein Vater.«

»Ach, zum Teufel, das weiß ich. Wir hatten ja auch nicht die Absicht, einen Multi zu gründen. Es war einfach eine Möglichkeit, an interessanten Aufgaben zu arbeiten, ohne irgendjemandem zu gehören, und genug Geld für ein oder zwei Jahre zu machen. Mehr hatten wir nie vor, und genau das haben wir auch getan. Es hat sich sehr gut angelassen.«

»Und was kommt jetzt?«, fragte Charles. »Was läuft in New York?«

»Wie es aussieht, ist alles klar für einen Vertrag mit einer Beratungsgruppe namens Wymess Associates. Sie suchen Außenmitarbeiter im Bereich Plasma-Dynamismus. Ich bin seit November mit ihnen im Gespräch, und es sieht ziemlich sicher aus. Außerdem klingt es interessant – sie arbeiten mit General Atomic an Nuplex-Anlagen für Ostafrika.«

Murdoch bezog sich auf die betriebsfertigen integrierten landwirtschaftlich-industriellen Komplexe auf Nuklearbasis, die in der Lage waren, eine autonome, engverzahnte Gemeinde mit dem kompletten Lebensstandard des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu versorgen und die für den Export in die sich rasch entwickelnde Dritte Welt gebaut wurden. Die »Nuplexe« waren Teil eines Programms, das ein für allemal die grundlegenden Plagen, die die Menschheit von Beginn ihrer Geschichte an gegeißelt hatten, aus der Welt vertreiben sollte. Später, wenn die Technologien zur Entwicklung der Nuplexe perfektioniert waren, würden diese die Basis für den Entwurf selbstversorgender Kolonien im All sein.

Charles nickte langsam. »Ja, das klingt, als würde es besser zu dir passen. Ich glaube, du hast immer ein bisschen von einem Idealisten in dir gehabt, Murdoch … einen Beitrag dazu leisten, dass die Welt nicht ganz so schlimm ist, und so weiter. Du hast theoretische Begabung, aber du bist kein Theoretiker. Wahrscheinlich hast du nach dem CIT und der Fusion Electric so viel vom Universitätsbetrieb gesehen, wie dir lieb ist.« Er sah zu Lee hinüber. »Und du bist aus demselben Holz geschnitzt, wenn ich mich nicht sehr irre. Und ich könnte schwören, dass auch du dich nicht als jemanden siehst, der sich gut bei den großen Gesellschaften einfügt.«

Lee schlug die Beine übereinander, schürzte einen Moment die Lippen und schüttelte dann den Kopf. »Genauso ist es. Sie bringen etwas zustande, aber man muss sich einfügen. Wenn du nicht ins Bild passt oder das Bild dir nicht passt«, er breitete nachdrücklich die Hände aus, »warum solltest du deine Zeit damit verschwenden, etwas zu beweisen, von dem du längst weißt, dass du es nicht beweisen willst?«

»Richtig«, stimmte Charles ihm einfach bei. Er wusste bereits genug, um sie nicht weiter mit Fragen zu bedrängen, und er war niemand, der Allerweltsweisheiten von der Art großväterlicher Ratschläge verteilte, wenn man ihn nicht darum bat.

Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts wurden ein Großteil der Grundlagenforschung und viele der wesentlichen Forschungsprojekte von den größeren multinationalen Konzernen eingerichtet, gemanagt und finanziert. Dieser Trend spiegelte das Bemühen der Privatindustrie wider, sich mehr um sich selbst und ihre grundlegenden Bedürfnisse zu kümmern, da das Vertrauen in Regierungsinitiativen durch die Auswirkungen dauernder Politikumschwünge, Unentschlossenheit angesichts der Launen des Wahlglücks und erstickender Bürokratie wegschmolz. Um die Versorgung mit geschulten Talenten zu sichern, die diese expandierenden Unternehmungen benötigen würden, waren die Konzerne in den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts zu gewichtigen Investoren im Bildungsbereich geworden; einige waren noch weitergegangen und hatten ihre eigenen Lehranstalten aufgebaut, deren Diplome in bestimmten Sektoren von Forschung und Industrie bereits für wertvoller gehalten wurden als die traditionellen.

Murdoch hatte am CIT mathematische Physik studiert und war, um weitere Erfahrungen in Plasmaphysik zu sammeln, zu der Universität gewechselt, die die Fusion Electric Corporation gegründet hatte, einen in Kalifornien beheimateten Konzern, der in der Produktion und Verteilung durch Kernverschmelzung erzeugter Energie engagiert war. Dort traf er Lee, der, wie sich herausstellte, der Sohn des Vizepräsidenten der Forschungsabteilung des Konzerns war. Trotz der Möglichkeiten, die ihm die Position seines Vaters bot, lagen Lees Hauptinteressen bei den Computern, eine Neigung, die er seit seiner frühen Jugend pflegte. Er empfand die Position eines leitenden Angestellten weder als Herausforderung, noch weckte sie seine Begeisterung, und er bereitete sich wie Murdoch darauf vor, seinen eigenen Weg zu gehen – und wusste ebenso wenig wie dieser, wohin. Nachdem sie ihre Kurse an der Universität abgeschlossen hatten, waren sie noch eine Weile bei der FEC geblieben, hatten sie dann aber verlassen, um das Beratungsbüro bei Palo Alto, im Südteil der Bucht von San Francisco, aufzubauen.

»Und wo kommst du ursprünglich her, Lee?«, fragte Charles. »Hast du immer an der Westküste gelebt?«

»Geboren wurde ich in Osaka, Japan«, antwortete Lee. Charles' Augenbrauen hoben sich in leichter Überraschung. Lee erklärte: »Mein Vater war dort vor einer Reihe von Jahren Chefingenieur eines amerikanisch-japanischen Tokomak-Projekts. Er ging zurück in die Staaten, als sie ihn zum Vize machten.«

»Du warst sehr jung während eures Aufenthalts, wenn ich es richtig verstehe«, sagte Charles.

Lee schüttelte den Kopf. »Er war ziemlich lange dort. Ich war fast fünfzehn, als wir zurückkehrten. Alles, was ich vorher von den Staaten zu sehen bekam, war das, was man in die Ferien quetschen konnte.«

»Er wurde mit Karate aufgezogen«, warf Murdoch ein. »Ich habe gesehen, wie er mit der bloßen Faust Betonblöcke zerschlagen hat.«

»Ach du liebe Güte!«, rief Charles aus. »Du wirst dir bestimmt eine Menge mit Ted Cartland zu erzählen haben, wenn er zurück ist, Lee. Hat Murdoch dir von Ted erzählt?«

»Ist das der Engländer, der hier lebt?«, fragte Lee. »War in der Air Force … ist überall herumgekommen.«

»Genau, das ist er«, bestätigte Charles. »Geboren wurde er in Malakka. Sein Vater war Major in der Armee und den Australiern zugeteilt. Ted ist ein wirklich interessantes Bürschchen.«

»Wo ist er?«, fragte Murdoch.

»Er war für ein paar Tage weg, um mit einer der Firmen zu arbeiten, die uns Teile liefern. Er müsste morgen zurück sein.« Der alte Mann lehnte sich in seinem Sessel zurück und leerte sein Glas. »Ach ja, es sieht so aus, als ob ihr zwei immer noch eine Lösung seid, die drauf wartet, dass das richtige Problem auftaucht. Aber da ist keine Eile. Ihr kennt euch und euren Verstand besser als irgendjemand sonst. Es gibt mehr als einen Mann in dieser Welt, der sich kopfüber und ohne nachzudenken in die falsche Sache gestürzt hat, um anschließend sein halbes Leben damit zu verbringen, aus dem Schlamassel rauszukommen, den er angerichtet hat.« Er beugte sich vor und füllte das Glas aus einer Karaffe, die neben ihm stand. Seine beiden Gäste sahen ihm schweigend zu und fragten sich, wann er sich dem Thema ihres Besuchs und dem Grund dafür zuwenden würde.

Charles lehnte sich jetzt wieder bequemer zurück. »Also, Lee«, sagte er, als würde er ihre Gedanken lesen, »inwieweit bist du über den Hintergrund von dem, was Ted und ich hier vorhaben, informiert?«

»Doc hat mir hin und wieder ein bisschen erzählt«, erwiderte Lee, setzte sein übergeschlagenes Bein wieder auf den Boden und richtete sich in seinem Sessel auf. »Ich weiß, dass du ziemlich viel Zeit in den Staaten verbracht hast, am MIT, in Princeton und Stanford … und danach bei der NASA und im Verteidigungsministerium, bevor du hierher zurückgekehrt bist. Ich habe deine Veröffentlichungen über die Isolierung freier Quarks gelesen. Das war in Stanford, oder? Ich glaube, es muss da um die Zeit herum angefangen haben.«

»Das war in den Achtzigern«, sagte Charles nickend. »Aber ich vermute, du hast in gewisser Weise recht: Damit wurden die Fundamente gelegt. Die wirklich interessanten Dinge aber begannen vor ungefähr zehn Jahren. Ich war zu der Zeit bei der NASA, aber Stanford führte immer noch Experimente mit Quarks durch. Einige davon führten zu anomalen Resultaten, die niemand erklären konnte. Also baten sie mich wegen der Arbeiten, mit denen ich dort früher zu tun gehabt hatte, herüberzukommen und einen Blick auf die Sache zu werfen.«

»Irgendetwas analog zu nuklearen Resonanzen, nicht?«, fragte Lee.

»Richtig. Sie tauchten in Zusammenhang mit Nukleonen auf, die in drei Quarks zerfallen. Die Spezialfälle waren diejenigen, wo ein Nukleon zuerst in zwei Quarks und ein Zwischenpartikel aufbrach und wo sich dann das Zwischenpartikel in das dritte Quark umwandelte. Das ›Quason‹, das war der Name des Zwischenpartikels, das man vorläufig postuliert hatte, war als solches nie wirklich festgestellt oder beobachtet worden. Wie du schon sagtest, ähnelte es einer nuklearen Resonanz, aber seine Lebensdauer war um so viele Größenordnungen kleiner als die einer Resonanz, dass einige bezweifelten, dass es überhaupt existierte. Es war einfach bloß ein Gebilde mit bestimmten mathematischen Kennzeichen, das benötigt wurde, um die kurze Verzögerung zwischen dem Auftauchen der ersten beiden und des dritten Quarks zu erklären. Das Problem lag darin, dass es im Licht der bis dahin durchgeführten exakteren Messungen unmöglich war, dem Quason eine Gruppe von Eigenschaften zuzuordnen, die miteinander im Einklang standen. Es gab immer irgendetwas, das den experimentellen Daten widersprach.«

»Ja, ich erinnere mich, darüber in irgendeinem Papier gelesen zu haben, das Doc mir gezeigt hat«, sagte Lee. »Hast du nicht eine Interpretation angeboten, die überhaupt keine Quasonen verlangte?«

»Das ist richtig«, erwiderte Charles. »Aber die alternative Interpretation, die ich vorschlug, verlangte eine ziemlich ungewöhnliche Annahme: dass alle drei Quarks gleichzeitig geschaffen wurden, die Daten aber, die die beiden ersten definierten, sich rückwärts in der Zeit ausbreiteten. Die betroffenen Größenordnungen lagen im Bereich von zehn hoch minus dreißig Sekunden – ungefähr die Zeit, die Licht brauchen würde, um ein Quark zu durchqueren –, waren aber trotzdem real.

Die Resultate anderer Experimente an anderen Orten beinhalteten die gleiche Problemstellung«, fuhr Charles fort. »Um die Geschichte abzukürzen: Es stellte sich heraus, dass sie alle einheitlich auf der Basis von sich rückwärts oder vorwärts in der Zeit ausbreitender Information interpretiert werden konnten, ohne in irgendeiner Weise Quasonen dazu heranzuziehen. Es gab also zwei Erklärungen – eine war prüfbar, aber unbefriedigend, die andere in sich logisch, aber offensichtlich absurd. Wie ihr euch vorstellen könnt, fing damit auf allen Seiten eine heftige Debatte an.«

»Das ist etwas, wonach ich fragen wollte«, sagte Lee. »Das muss ungefähr wann gewesen sein – vor zehn Jahren?«

»Richtig. Um die Jahrhundertwende.«

»Ich habe eine Menge Papiere und Zeitschriften aus der Zeit durchgesehen, aber nicht viele Erwähnungen gefunden. Das einzige, was ich eigentlich gesehen habe, war das, was Doc mir gezeigt hat, und das, nehme ich an, hatte er von dir. Wie kommt das? Und falls du jetzt bewiesen hast, dass die Nicht-Quason-Gleichung zutreffend ist, wie kommt es dann, dass die traditionelle Version praktisch immer noch überall akzeptiert wird?«

»Tja, nun …« Charles nippte an seinem Kognak. »Es gab zwei Gründe. Zum einen das Naheliegende: Eine Menge Wissenschaftler waren aus Prinzip gegen die Theorie. Ich kann nicht sagen, dass ich ihnen wirklich einen Vorwurf daraus mache. Es stand im Gegensatz zu allen akzeptierten Vorstellungen von Kausalität, und die überwältigende Strömung unter ihnen war die, sich an die Möglichkeit zu halten, die zumindest bekannte Konzepte stützte und Sinn machte, selbst wenn sie mangelhafte Resultate ergab. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte der Wissenschaft, dass so etwas geschieht. Ich war also, wie ich annehme, Teil einer sehr kleinen Minorität – aber ich war wohl sowieso immer ein lästiger Querulant.

Zum anderen war ich auf dem Höhepunkt gerade dabei, von der NASA zum Verteidigungsministerium zu wechseln. Es gab alle möglichen Arten von Sicherheitsmaßnahmen, geheimen Informationsbeschränkungen und all das andere Zeug, mit dem man sich herumschlagen muss. Und irgendwo setzte sich so ein dummes Arschloch in den Kopf, dass dieses spezielle Thema von Verteidigungsinteresse sein könnte. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum, aber es reichte völlig aus, den größten Teil der Geschichte aus dem Rampenlicht zu halten.

Wie dem auch sei, ich war überzeugt, dass ich auf der richtigen Fährte war, ganz egal, was andere dazu sagten. Und so blieb ich durch meine Arbeit im Ministerium mit ein paar Leuten an Stätten wie Los Alamos in Kontakt, die genauso dachten. Hier und da fanden einige inoffizielle Experimente statt, wisst ihr, obwohl die Arbeit daran eigentlich eingeschränkt war. Schließlich und endlich kam alles irgendwie heraus, und die ganze Sache wurde zu einem Politikum. Ich bekam die Nase von dem elenden Geschäft endgültig voll und kam wieder hierher zurück, um meine Ruhe zu haben. Wie Murdoch dir sicher erzählt hat, habe ich seitdem hier gearbeitet. Es müssen jetzt, äh … drei Jahre oder so sein.«

»Und dieser Ted Cartland, ist der genauso lange hier?«, fragte Lee.

Charles nickte. »Ich lernte Ted kennen, während ich noch bei der NASA war. Er war am Cornell und mit der Entwicklung von Satelliten für Röntgenastronomie befasst. Schon bei der RAF hatte er mit der Entwicklung von Shuttles und Satelliten zu tun gehabt … viel Zusammenarbeit mit anderen Ländern und so. Er hatte in der Vergangenheit mit den Leuten am Cornell zusammengearbeitet, kannte sie alle und ging dorthin, als er die RAF verließ. Sie arbeiteten für die NASA, und so lernten wir uns kennen.

Als ich mich entschloss, nach Schottland zurückzukehren, hatte ich das Gefühl, dass ich nicht weit von dem Punkt der Konstruktion einer Vorrichtung zur Überprüfung meiner Theorie entfernt war. Nun bin ich nicht besonders begabt, wenn es darum geht, elektronische und andere Bauteile zusammenzubasteln, Ted aber ist es. Also habe ich ihn eingeladen mitzukommen, um sich um diese Seite des Problems zu kümmern.«

Damit lehrte Charles sein Glas zum zweiten Mal, setzte es auf der Kaminkante ab und stand auf. »Wie auch immer, genug von dem Gerede«, sagte er. »Ihr müsst euch fragen, ob ich euch jemals die Maschine selbst zeigen werde. Gehen wir nach unten ins Labor.«

4

 

Das Labor war ziemlich genauso, wie Murdoch es von seinem letzten Besuch in Erinnerung hatte, obwohl ihm einige neue Ausrüstung zugewachsen zu sein schien. Eine Seite des Raums wurde von einer großen Werkbank eingenommen, die sich fast über die gesamte Wand erstreckte, übersät von Werkzeugen und elektronischen Komponenten und Baugruppen in allen Stadien der Unordnung. An der Rückseite der Bank stand eine Reihe übereinandergestapelter Wellenformanalysatoren, Synthesizer, Netzanschlüsse und anderer Apparate, bedeckt von Knöpfen, Schaltern, Bildschirmen, Anzeigen und durch wirre Regenbogen verhedderter Drähte miteinander verbunden. Der Raum zwischen Tür und Bank wurde von deckenhohen Lagerregalen eingenommen, überladen mit Büchern, Schachteln und Bauteilen. Die Wand gegenüber trug eine große schwarze Tafel, bedeckt von Formeln und Berechnungen, darunter stand ein langer Metalltisch, der unter der Last aus Tabellen, Diagrammen und Papieren durchsackte.

Die Maschine selbst stand an der Wand gegenüber der Tür. Sie setzte sich zusammen aus einer zentralen Kontroll- und Bildschirmkonsole, einer gebrauchten DEC PDP-22/30, die einer von Charles' Freunden, der bei der britischen Admiralität in der Forschung arbeitete, einschließlich des dazugehörigen hochkompakten Datenspeichers beschafft hatte. Hinzu kamen einige Erweiterungen aus anderen Quellen: ein Hilfsterminal, das mit dem nationalen Datennetz verbunden war, ein Trio anderthalb Meter hoher, verkapselter Schaltkästen und ein Wirrwarr elektronischer Teile in offenen Regalen. Ein unaufgeräumter Tisch neben dem Stuhl vor der Hauptkonsole und ein Sortiment schwerer Kabel vervollständigten das Bild.

Kommentarlos ging Charles zu der Konsole hinüber und erweckte das System durch ein paar rasche Schaltungen zum Leben. Er sah auf den Hauptschirm, gab eine weitere Befehlskette ein und unterbrach die Verbindung zum Bildschirm. Ein paar blinkende Lichter an der Zentralkonsole waren das einzige, was zeigte, dass das System noch aktiv war. Dann glitt ein Bogen glänzenden, plastizierten Papiers aus dem Druckerschlitz in den Korb darunter. Charles griff danach, überflog, was immer auch darauf stehen mochte, faltete den Bogen mit der gedruckten Seite nach innen zusammen und blickte dann auf.

»Also, Murdoch«, sagte er. »Würdest du so freundlich sein und dich hierher an die Konsole setzen?« Murdoch folgte der Bitte, und Lee trat vor, um ihm über die Schulter zu sehen. »Da oben im Schirm ist eine Zeitanzeige, die die Sekunden runterzählt«, fuhr Charles fort. »Wenn sie bei Null angelangt ist, möchte ich, dass du eine Reihe von Ziffern und Buchstaben mit einer Höchstgrenze von sechs Positionen eintippst.«

Murdoch sah ihn stirnrunzelnd an. »Was, irgendwas?«

»Alles, was du willst.«

Murdoch zuckte die Achseln. »Okay.« Er wartete, bis die Null erschien, und ratterte eine zufällige Sequenz ein. Der Hauptschirm vor ihm zeigte:

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»War's das?«, wollte er wissen.

»Das ist in Ordnung«, erwiderte Charles. Er faltete den Ausdruck, den er in der Hand gehalten hatte, auseinander und überreichte ihn Murdoch, ohne irgendetwas zu sagen. Murdoch sah ihn an, hinter ihm stieß Lee ein hörbares Keuchen aus. Auf dem Bogen stand:

 

1. Januar 2010, 2038.00 Uhr.

TEMPORALERETROTRANSMISSIONTEST ohne Verweiszeichen.

Manuelle Eingabesequenz. Transmissionsvorschub 60 Sekunden.

2H7vi9

ENDE

 

Obwohl sie mehr oder weniger auf das vorbereitet gewesen waren, was sie erwartete, waren Lee und Murdoch für den Augenblick zu verdutzt, um irgendetwas zu sagen. Im Wagen von Edinburgh hierher über die Sache zu reden war eines, sie demonstriert zu bekommen, etwas ganz anderes.

»Es funktioniert auch mit computerübermittelten Zahlen«, kommentierte Charles prosaisch nach einigen Sekunden. Murdoch starrte weiter ungläubig auf den Papierbogen in seiner Hand.

Lee blickte mit irritiert zusammengekniffenen Brauen zu Charles auf. Einen Moment lang bewegten sich seine Lippen, ohne einen Laut von sich zu geben, dann flüsterte er: »Das … das wurde gedruckt, bevor Doc überhaupt wusste, was du ihn fragen würdest. Ist das wirklich nicht irgend so ein Zaubertrick? Du behauptest, dass diese Schriftzeichen durch die Zeit zurückgesandt wurden?«

»Genau. Sechzig Sekunden, um exakt zu sein.« Charles sah ihn ausdruckslos an.

»Sie existieren!«, stieß Murdoch aus, als er endlich seine Stimme wiedergefunden hatte. »Die Tau-Wellen, die du immer vorhergesagt hast – sie existieren wirklich!«

»So sollte es scheinen«, stimmte Charles zu.

Murdoch ließ sich in den Stuhl zurücksinken und begann über die Implikationen des Ganzen nachzudenken, und Lee betrachtete die Ansammlung von Maschinen, die ihn umgab, mit neuem Respekt. Sie sah nicht besonders spektakulär aus, tatsächlich hätte es, soweit es um das äußere Erscheinungsbild ging, eins von Hunderten zusammengeschusterter Eigenbaulaboratorien sein können, wie er sie schon überall gesehen hatte. Und doch hatte ihn das, was er gerade beobachtet hatte, mehr erschüttert als irgendetwas anderes, das er im Verlauf seiner achtundzwanzig Jahre erlebt hatte. Murdoch hatte ihm genug über Charles' Arbeit berichtet, damit er eine allgemeine Vorstellung davon hatte, wie die Maschine arbeitete, aber innerlich hatte er nie geglaubt, dass irgendetwas dabei herauskommen würde.

Die Wirkung, die sich durch die Zeit ausbreitete, entsprang der Vernichtung von Materie, das heißt der Umwandlung von Masse in Energie. Die Äquivalenz von Masse und Energie wurde bei hohen Energiedichten nichtlinear; unter extremen Bedingungen ergab sich aus einer gegebenen Masse weniger Energie, als die traditionelle Theorie behauptete. Der Hadronenzerfall in Quarks, den Charles erwähnt hatte, war der erste Fall, den man beobachtet hatte – in dem unendlichen Raum der Wechselwirkung war weniger als die vorhergesagte Gluon-Bindungsenergie gemessen worden. Wohin ging der Rest? Nach der Theorie, die Charles und seine Kollegen entwickelt hatten, breitete sie sich als Tau-Welle aus und rematerialisierte als Masse-Energie an einem anderen Augenblick in der Zeit. Durch die kleine Größenordnung der Fälle erstreckten sich die resultierenden Zeitverschiebungen in dem von Charles beschriebenen Minutenbereich. Aber bei höheren Energiedichten versprachen sie größer zu werden.

Charles' Maschine erreichte die hohen Energiedichten durch die Bündelung eines intensiven Positronenstrahls auf eine magnetisch konzentrierte Elektronenballung. Sie bediente sich einer laserartigen Pumptechnik, die vor fünfzehn Jahren in der UdSSR vervollkommnet worden war, um energiereiche Gammaquanten zu generieren, die wiederum Elektron-Positron-Paare erzeugten. Die Positronen wurden durch Tunnelfelder kanalisiert und auf eine eingegrenzte, negative Raumladung gelenkt, um den unablässigen Zerfall zu erzeugen, den der Prozess verlangte.

Anders als die gigantischen Teilchenbeschleuniger, die dazu bestimmt waren, wenige Ereignisse bei allerdings ungeheuren Energien zu produzieren, erzeugte diese Maschine innerhalb eines winzigen Raumvolumens viele Ereignisse bei vergleichsweise geringen Energien – es war die Energiedichte, die zählte. Deshalb musste die Maschine auch nicht so groß sein wie der gesamte Storbannon-Besitz.

Das Ergebnis des Zerfallsprozesses war ein Ausbruch konventioneller Energie, der von einem Kühlsystem absorbiert wurde, und ein Impuls aus Tau-Strahlung, die an einem anderen Punkt des Zeitstroms in wahrnehmbarer Form wieder auftauchen würde. Die Energie der Gammaquanten konnte variiert werden und machte es so möglich, den Punkt in der Vergangenheit oder der Zukunft, an dem der Tau-Impuls materialisierte, mit hohem Präzisionsgrad zu justieren. Daher funktionierte die Maschine mehr wie ein Telefon denn wie ein Radio, der Sender konnte den Impuls auf einen ausgewählten Augenblick, in der Vergangenheit zum Beispiel, »zielen«, aber ein Empfänger in Vergangenheit oder Zukunft hatte keinesfalls die Möglichkeit, sich darauf »abzustimmen«. Ein Empfänger konnte nichts tun, außer auf eintreffende Sendungen zu warten.

Lee war nicht in der Lage zu entscheiden, in welchem der Schaltkästen und Regale sich welche Komponenten befanden, aber er würde in den kommenden Tagen ausreichend Zeit haben, sich mit den Details vertraut zu machen. Gegenwärtig wollte er nur mehr über die Grundprinzipien wissen.

»Wie wird die Information auf den Positronenstrahl moduliert?«, fragte er Charles. »Unterbrichst du ihn irgendwie, um einen seriellen Code zu erhalten?«

»Das würde zu viele Komplikationen einbringen, wie du später erkennen wirst«, erwiderte Charles kopfschüttelnd. »Es wird ein Datenraster in parallelem Code gesendet. Der Strahl ist in achtundvierzig simultane Tau-Impulse aufgeteilt. Sechsunddreißig werden zur Codierung von Sechs-Bit-Zeichen verwendet, wodurch wir momentan auf Sechs-Zeichen-Botschaften beschränkt sind. Die anderen zwölf Bits dienen Kontroll- und Zeittaktsignalen.«

»Die Sequenz, die Doc eingegeben hat, wurde also zuerst gespeichert und dann in einem Block übermittelt.«

»Das ist korrekt«, sagte Charles.

Lee nickte langsam und rieb sich das Kinn, während er sich noch einmal die Geräte ansah. Der Schock ließ nach, und er begann zusammenhängender zu denken. »Also, wie ist dann ihre … ihre Reichweite?«, fragte er. »Wie weit zurück kann sie senden?«

»Das wird durch drei Faktoren bestimmt«, antwortete Charles, »und zwar durch die Größenordnung des ausgesandten Impulses, die Empfindlichkeit des Empfangsdetektors und die absolute Geschwindigkeit der Erde im Raum. Der Tau-Impuls taucht an demselben Punkt des Raums als wahrnehmbare Energie auf, an dem er generiert wurde. Theoretisch bildet die Kontur der wiederauftauchenden Energiewelle eine Kugeloberfläche, die sich mit zunehmendem Durchmesser und lichtschnell rückwärts entlang der Zeitlinie ausbreitet. Nach einer Sekunde Rückwärtszeit würde sie ein Volumen mit einem Radius von 300 000 Kilometern umfassen, nach zwei Sekunden eins mit doppelt so großem Radius und so weiter.«

»Das kann nicht sein«, protestierte Lee. »Die Maschine ist nicht groß genug, um so viel Energie abzusenden. Wie soll ein Impuls von ihr ein derartig großes Volumen ausfüllen?«

»Ah, ich habe nur gesagt, dass das theoretisch ist«, erinnerte Charles ihn. »Das ist die mathematische Grenze. Innerhalb dieses Raums fällt die Intensität exponentiell mit dem Abstand vom Zentralpunkt. Das Signal existiert überall innerhalb dieses sich ausdehnenden Volumens. Um es allerdings zu empfangen, darf der Empfänger nur eine bestimmte Entfernung vom Zentrum des Wellenmusters haben, die davon abhängt, wie empfindlich er ist.«

»Da kommt also die Bewegung der Erde ins Spiel«, sagte Lee. »Zwischen dem Zeitpunkt des Sendens und dem des Empfangens wird sie ihren Ort gewechselt haben. Du kannst nur so weit zurücksenden, wie der durch seine Empfindlichkeit begrenzte Standort des Empfängers es erlaubt.«

»Exakt«, stimmte Charles zu. »Nach den Zahlen, die sich aus der Rotverschiebung der Urknall-Hintergrundstrahlung ergeben, bewegt sich die Erde mit vierunddreißig Millionen Kilometer pro Tag. Die Detektoren der Maschine arbeiten zuverlässig bis zu ungefähr zweihundertdreiunddreißigtausend Kilometer vom Ausgangspunkt des Wellenmusters, das vom Tau-Impuls dieser Maschine erzeugt werden kann. Wenn du das ausrechnest, kommst du auf eine Reichweite von etwa zehn Minuten.«

Lee schüttelte verwundert den Kopf und starrte auf die Zeichen, die immer noch auf dem Schirm vor Murdoch zu sehen waren. »Und wie lange hast du sie jetzt in Betrieb?«, fragte er.