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Neun Bücher über authentische Kriminalfälle hat Bernd Kaufholz seit 1999 inzwischen verfasst, und mit jedem davon seine Leserschaft immer wieder gefesselt, zuletzt mit dem »Leichenpuzzle von Anhalt« (2018). Anlass genug, die spektakulärsten davon in einer Best-Of-Ausgabe erneut zu präsentieren. Der Autor hat dafür die spannendsten 60 Fälle herausgesucht, die sich über einen Zeitraum von 386 Jahren spannen, angefangen mit einem historischen Kriminalfall von 1602 über Delikte in der sowjetischen Besatzungszone bis hin zu Schwerverbrechen in der DDR im Jahr 1988. Alle neu aufgelegten Fälle entstammen den nicht mehr lieferbaren Kaufholz-Bänden der Reihe »Spektakuläre Kriminalfälle«.
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Seitenzahl: 150
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Alle abgedruckten Kriminalfälle dieser Ausgabe erschienen erstmals im Mitteldeutschen Verlag, Halle (Saale), in den Bänden „Tod unterm Hexentanzplatz“ (1999), „Der Ripper von Magdeburg“ (2001), „Die Arsen-Hexe von Stendal“ (2003) bzw. „Der Amokschütze aus der Börde“ (2004).
Hinweis: Mit Sternchen (*) versehene Namen in den Kriminalfällen wurden vom Autor geändert.
2019
© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
www.mitteldeutscherverlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
Inhalt
Die Todesschüsse auf den ABV
Vermisstensache „Ingo R.“
Bei Arneburg an Land gespült
Die Tote auf der Landstraße
Der Amokschütze aus der Börde
Die Frau hinter dem Grabstein
Die Tote am Süßen See
Der „Zersäger“ von Halle-West
Die Kreuzworträtsel im Pappkoffer
Der Tag, an dem Ute G. verschwand
Die Rohrleiche von Graben 13
Der Schädel unter dem Hexentanzplatz
Die Tote am Angelteich
Onkel Wolfgang
Die Pastorin unterm Fichtenreisig
Der Mann mit dem Cordhut
Der Tod der alten Frau aus Nr. 9
Das schreckliche Ende eines Festes
Die Todesschüsse auf den ABV
28. August 1973, Alfred-Kästner-Straße in Leipzig-Connewitz – Hinrichtungsgefängnis der DDR. Kurz vor Morgengrauen wird ein 24-Jähriger in den Todestrakt geführt. Dort wird ihm erklärt, dass das Urteil nun vollstreckt wird. Wenige Minuten später fassen zwei Begleiter Klaus Jemanke* links und rechts am Arm und bringen ihn in einen Nebenraum. In dem Moment, als er das leere Kellerzimmer betritt und wie alle Todeskandidaten vor ihm nicht damit rechnet, dass der Henker schon auf ihn wartet, fällt ein leiser Schuss. Der Verurteilte bricht nach dem Genickschuss tot zusammen.
Der Schütze mit der Schalldämpfer-Pistole im toten Winkel hinter dem Häftling hat den Schlussstrich gesetzt unter den Seehäuser Polizistenmord, der von Anfang an auch ein politischer Fall war.
Eineinhalb Jahre zuvor, 12. Februar 1972, gegen 23 Uhr. Klaus Jemanke hat im Seehäuser „Ratskeller“ acht Bier und drei Kaffeelikör getrunken. Mit drei Bekannten verlässt er das Lokal. Unter ihnen Rudi Galle*. Auf dem Heimweg zum Breiten Weg im Zentrum der Bördestadt kommt es wegen Nichtigkeiten zur Rangelei zwischen den Angetrunkenen. Dabei zerreißt Jemanke den Anorak von Galle.
Kurz darauf geht Jemanke die 15 Stufen zur Küche des Fachwerkhauses mit Anbau hinauf, in dem er mit seiner Mutter wohnt. Wenig später steht auch Galle in dem Raum. Er beschwert sich lautstark über die kaputte Jacke. Wieder braust Jemanke auf, nimmt zwei Messer aus dem Küchenschrank und dringt auf sein Gegenüber ein. Die Mutter des 22-Jährigen, Lucie Jemanke*, schreit laut auf. Das stoppt den Sohn. Der Hilfsarbeiter aus dem Hydraulikwerk Seehausen lässt sich die Messer entwinden.
Der Hinterhofanbau in Seehausen, in dem Klaus Jemanke mit seiner Mutter wohnte
Nachdem Galle wütend und mit der Drohung: „Dich zeig ich an!“, die Wohnung verlassen hat, nimmt Klaus Jemanke eine Flasche „Hydropur“-Fleckenwasser aus dem Regal und stürzt die scharfe Flüssigkeit in einem Zug herunter. Er greift nach einer zweiten Flasche. Im selben Augenblick krümmt er sich: „Mutti, Mutti, ich verbrenne!“
Der junge Mann will sich umbringen, weil er weiß, dass ihn eine Anzeige hinter Gitter bringen wird. Denn er gilt in der Kleinstadt als Rowdy. Acht Monate zuvor ist er gerade noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen.
Der von Jemanke in seiner Küche niedergeschossene Abschnittsbevollmächtigte Karl Laue. Der vorbestrafte Täter hatte Angst, von diesem wieder ins Gefängnis gebracht zu werden.
Lucie Jemanke gibt ihrem Sohn Kondensmilch zu trinken. Nachdem er sich übergeben hat, geht es ihm wieder etwas besser.
Jemanke hatte am 21. Februar 1971 in Seehausen zwei Rentnerinnen überfallen und misshandelt und danach in einer Gaststätte des Ortes randaliert, dabei den Leiter mit einem Messer bedroht. Als der ABV Ekkehard Hagel* eintraf, bedrohte der Schläger den Polizisten mit einer Schere und entriss ihm die Dienstwaffe. Erst als ein VP-Helfer eingriff, gelang es, den angetrunkenen Wüterich zu bändigen.
Am 30. Juni 1971 erhielt der Seehäuser wegen vorsätzlicher „Körperverletzung und Beschädigung sozialistischen Eigentums“ einen Strafbefehl über 600 Mark. Das war jedoch nicht das erste Mal, dass der Bohrmaschinist negativ aufgefallen war. Ein Ordnungsstrafverfahren, weil er mit einem Luftgewehr auf Passanten geschossen hatte, weitere wegen ruhestörenden Lärms und ein Ordnungsgeld wegen „Missachtung eines Verkehrsschildes“. Zumeist war es der Orts-ABV, Polizei-Unterleutnant Karl Laue*, der den jungen Mann am Kanthaken nahm. In Seehausen war es bald herum: Laue hat einen Rochus auf den Rowdy. Er sehe den Unruhestifter am liebsten hinter Gittern.
Und genau das befürchtet Jemanke, als der ABV am 13. Februar 1972, kurz vor 11 Uhr, in der Küche steht. Noch in der Nacht hätten seine drei Trinkkumpane bei ihm die Sache mit dem Anorak angezeigt, erfährt er von Laue.
Die Tatortskizze. Von Anfang an hatte der Fall eine politische Dimension.
Jemanke empfängt den Mann in der grünen Uniform mit den Worten: „Was willst du blödes Schwein hier?“ Das macht das Maß beim ABV voll: „Was war gestern nach der Kneipe los? So geht das mit dir nicht weiter“, schreit Laue, dreht sich um und will wieder gehen. „Die Sache habe ich sowieso schon dem Kreis gemeldet“, fügt er an, da bekommt der 59-Jährige den ersten Schlag. Er wehrt sich, wird jedoch nieder geschlagen. Jemanke reißt ihm die Makarow aus der Pistolentasche.
Der Polizist versucht sich am Arm des jungen Mannes hochzuziehen. Der schleudert ihn mit dem Rücken gegen den Küchentisch. Dann drückt er aus etwa einem Meter Entfernung ab.
Da der ABV keine Reaktion zeigt, schießt er in die Wand, um zu testen, ob Platzpatronen in der Waffe sind. Als der 22-Jährige noch interessiert das Einschussloch im Mauerwerk betrachtet, hört er Laue stöhnen: „Frau Jemanke, ich sterbe, Hilfe, Hilfe, jetzt hat er mich in den Bauch geschossen.“
Die Dienstpistole „Makarow“ des ABV Laue wurde zur Mordwaffe
Der Polizist taumelt durch die Küche, hält sich den Bauch. Da schießt der Mörder ein zweites Mal – aus eineinhalb Metern in den Rücken. Der Grauhaarige fällt auf die Türschwelle. Weil das Opfer ein Polizist ist und somit nach DDR-Rechtsprechung ein „Angriff auf den Staat“ vorliegt, übernimmt die Ermittlungsabteilung (IX) der MfS-Bezirksverwaltung sehr schnell die Untersuchungen. Wer der Täter ist, liegt auf der Hand. Zustellerin Lucie Jemanke, die dabei war, als ihr Sohn schoss, hat Alarm geschlagen.
Während die Großfahndung läuft, werden im Breiten Weg Spuren gesichert. Der Tote in Polizei-Winteruniform liegt zwischen Flur und Küche auf der rechten Seite. Die MfS-Ermittler finden auf dem Fußboden ein Pistolenmagazin ohne Patronen, eine 9-Millimeter-Hülse, zwei graue Lederhandschuhe, eine Pelzmütze.
Bei den Verletzungen handelt es sich um einen Durchund einen Steckschuss. Das erste Projektil blieb im vierten Lendenwirbel stecken, das zweite zerriss die Körperschlagader und verletzte das Rückenmark. Der Tod durch Verbluten, ergibt die Obduktion am 14. Februar, trat nach wenigen Minuten ein.
Klaus Jemanke ist auf der Flucht. Zuerst will er sich irgendwo in Magdeburg verstecken und abwarten, bis sich alles wieder beruhigt hat. Doch weil er in der Bezirksstadt keinen Unterschlupf kennt, überlegt er sich die Sache wieder. Er geht zu Fuß über die Straße „Am Grauen Tor“ zum Ortsrand Seehausens, in Richtung Dreileben, nimmt dann den Pfad über die Bahnlinie Eilsleben– Dreileben bis nach Dreileben, Kolonie. Um 11.45 Uhr steht er auf dem Grundstück von Familie Schnabs*. Otto Schnabs ist sein ehemaliger Sportlehrer und der Mörder weiß, dass der Dreileber ein Motorrad besitzt.
Vor dem letzten Haus in der Kolonie am südlichen Ortsrand trifft er auf Walter Schnabs und Ehefrau Erika. „Fahr mich zur Autobahn!“, fordert er. Inzwischen glaubt der Seehäuser, dass seine letzte Rettung die Flucht in den Westen ist. Doch Schnabs lehnt kategorisch ab. Da zieht Jemanke die Makarow, die er seinem Opfer abgenommen hat. „Ich habe jemanden erschossen, muss schnell weg“, droht er, steckt die Pistole wieder in die Tasche seiner Kutte, behält jedoch den Finger am Abzug. Erika Schnabs bestärkt ihren Mann darin, nicht nachzugeben, und versucht den 22-Jährigen hinzuhalten. Da schießt der Seehäuser aus der Tasche. Das Projektil geht zwischen Erika und Walter Schnabs, die 1,30 Meter auseinander stehen, hindurch. „Mir war es egal, ob ich einen treffe“, sagt der Täter später bei der Vernehmung.
Otto Tramm*, Nachbar von Familie Schnabs, kommt herbeigelaufen. Als er noch zehn Meter vom Schützen entfernt ist, ruft er: „Schnabs fährt dich nicht. Ich hole die Polizei.“ Jemanke brüllt: „Stehen bleiben oder ich schieße!“ Diesen kurzen Moment der Unaufmerksamkeit nutzt das Ehepaar Schnabs, um ins Haus zu fliehen.
Jemanke nimmt sich das Motorrad und rast an den acht Doppelhäusern der Kolonie vorbei, in Richtung Hauptstraße. Dort leiht er sich bei einer Bekannten einen Sturzhelm, damit er nicht von der Verkehrspolizei angehalten wird.
Die Ermittlungen hat derweil der Bezirksstaatsanwalt, Abteilung I A/B, zuständig für Straftaten mit politischem Hintergrund, übernommen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass das Verbrechen nicht allein als Mord eingestuft wird. Doch davon weiß der Flüchtende nichts.
Klaus Jemanke fährt auf der 150er ES, Kennzeichen HT 14-68, von Dreileben über Bergen nach Groß Rodensleben. Dann weiter über Klein Rodensleben, Niederndodeleben, Irxleben und Olvenstedt bis Magdeburg. Dort nimmt er den Weg über die Innenstadt, die Berliner Chaussee, Biederitz im Kreis Burg, Gerwisch und Möser bis zur Autobahnauffahrt Schermen.
Zwanzig Meter hinter der Auffahrt nach Berlin stellt er das Motorrad am Waldrand ab. Er weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll. Eine knappe halbe Stunde zermartert sich Jemanke das Gehirn, doch er ahnt, dass er keine Chance hat. Er will sich erschießen. Um zu überprüfen, ob die Waffe noch funktioniert, drückt er in Richtung Wald ab. Doch sich selbst den Lauf an die Schläfe zu setzen, fehlt ihm dann der Mut.
Der 22-Jährige fährt zurück nach Schermen. Fünfhundert Meter neben der Autobahn an einem Feldweg im sogenannten Karlshof trifft er auf Klaus Niemann*. Der ihm völlig Unbekannte wird zum „Beichtvater“ für den Mörder. Er gesteht dem Mann seine Tat und sagt zum Schluss: „Da läuft noch so ’n Schwein rum, das ich abknallen möchte, der zweite ABV in Seehausen, Hagel.“ Niemann ist geschockt, behält jedoch die Nerven. Er redet ruhig mit dem jungen Mann. Es gelingt ihm, Jemanke zu überreden, sich zu stellen. Gegen 13.50 Uhr informiert er den VP-Abschnittsbevollmächtigten von Schermen, Küster. Eine halbe Stunde später wird Jemanke festgenommen. Er hat noch neun Schuss Munition bei sich.
Der Achtklassenschüler mit der abgebrochenen Malerlehre, der seit 1966 im Hydraulikwerk Seehausen/Börde als Bohrmaschinist arbeitete, kommt in die MfS-Untersuchungshaftanstalt Magdeburg-Neustadt. Ihm wird vorgeworfen, „die Grundlagen der DDR angegriffen und in Tateinheit einen Menschen getötet zu haben“.
Um 16.30 Uhr findet die erste Vernehmung statt. Jemanke: „Es stimmt, ich habe Laue niedergeschlagen und zweimal auf ihn geschossen. Ich hatte mir schon lange vorgenommen, ihm eins auszuwischen, weil er mich schon öfter zur Ordnung gerufen hat.“
In der Nacht vom 16. zum 17. Februar 1972 wird Jemanke mit Blaulicht ins Haftkrankenhaus von Leipzig-Meusdorf eingeliefert: Die beginnende Zersetzung der Leber wird festgestellt, Spätfolge seines Selbstmordversuchs mit Fleckenwasser vier Tage zuvor. „Mit dem Ableben des Patienten ist zu rechnen“, so die Diagnose.
Der verurteilte Klaus Jemanke wurde am 28. August 1973 hingerichtet
Am 27. Februar schreibt Jemanke aus der Klinik an seine Mutter: „Entschuldige bitte, dass ich dir so viel Kummer mache, wenn ich es aber auf irgendeine Weise wiedergutmachen kann, werde ich es versuchen.“ Der Brief wird vom MfS nicht weitergeleitet.
Der Mordfall, über den sowohl der DDR-Generalstaatsanwalt als auch die Abteilung für Staats- und Rechtsfragen beim SED-Zentralkomitee in Berlin ständig informiert werden, hat Folgen. Auf Veranlassung der MfS-Bezirksverwaltung erhält der Wanzleber Kreisstaatsanwalt eine Rüge und im Volkspolizei kreisamt der Bördestadt gibt es eine „prinzipielle Auswertung und Überprüfung“. Grund dafür ist der Vorfall ein Jahr zuvor, bei dem Jemanke schon einmal einem ABV die Waffe entrissen hatte und mit einer Geldstrafe davongekommen war. „Es ist unverständlich, warum das Verhalten strafrechtlich nicht exakt beurteilt wurde“, heißt es im Bericht. „Zwei bis drei Jahre Haft wären angemessen gewesen.“
Jemanke stirbt nicht an der Selbstvergiftung. Als es ihm besser geht, wird er nach Magdeburg zurückverlegt. Im August 1972 erfolgt die Untersuchung im Psychiatrischen Haftkrankenhaus Waldheim. Die Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit, die sich im Zuge der Ermittlungen ergeben haben – der Seehäuser war Jahre zuvor zweimal nervenärztlich untersucht worden –, werden dort zerstreut. Jemanke sei zwar „unterdurchschnittlich intelligent und Trinker, leicht reizbar“ und tendiere zu „kurzschlüssigem Fehlverhalten“, doch sei er voll verantwortlich für seine Tat.
Bei seiner letzten von 32 Vernehmungen am 7. März 1973 unterschreibt Jemanke ein umfassendes Geständnis. Die politische Tragweite und die sich daraus ergebenden Konsequenzen sind ihm wohl nicht bewusst. Am 23. März 1973 spricht die Vorsitzende des I. Strafsenats des Bezirksgerichts Magdeburg das Urteil: „Wegen Mordes in Tateinheit mit Terror in besonders schwerem Fall, versuchten Mordes und Verstoßes gegen das Waffengesetz“ wird Klaus Jemanke zum Tode verurteilt.
Die Berufung des Rechtsanwalts, das Urteil in lebenslange Haft umzuändern, hat keinen Erfolg. Der IB-Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR hält am 10. Mai 1973 die Todesstrafe aufrecht. Auch das Gnadengesuch wird einen Monat später abgelehnt. In einem internen Papier an den Sekretär des Staatsrates, Eichler, schätzt die MfS-Bezirksverwaltung ein, dass der Verurteilte „keinerlei Bemühungen gezeigt hat, sich gesellschaftlich einzuordnen und jede angebotene Hilfe ausgeschlagen hat“.
Am 28. August 1973 teilt der Generalstaatsanwalt dem Bezirksstaatsanwalt in Magdeburg in einer knappen handschriftlichen Notiz mit: „Das Urteil wurde vollstreckt.“
Für zwei Seehäuser hat der Mordprozess ein Nachspiel gehabt. Bürgermeister Gerhard Schildt und der Sekretär des Rates der Stadt, Walter Brennecke, hatten das Todesurteil im Seehäuser „Ratskeller“ als ungerecht kritisiert. Man hätte berücksichtigen müssen, dass der ABV „den Jemanke bis zur Weißglut gereizt hat“. Beide meinten, „15 Jahre hätten gereicht“. Ein Kraftfahrer der SED-Kreisleitung Wanzleben denunzierte die Funktionäre am nächsten Tag. Umgehend wurden sie vor die Kreisparteikontrollkommission zitiert und ihrer Ämter enthoben. Beide durften sich „in der Produktion bewähren“ – Schildt im VEB Saat- und Pflanzgut, Brennecke im Hydraulikwerk Seehausen.
Vermisstensache „Ingo R.“
Als Frau G. am 21. September 1976 gegen 19 Uhr aus dem Fenster ihrer Wohnung in der Magdeburger Dr.-Richard-Sorge-Straße (heute Astonstraße) schaut, sieht sie einen kleinen blonden Jungen. Sie kennt den Zehnjährigen, der zwischen den Müllkübeln hindurch den Hügel in Richtung Sporthallenbaustelle hinaufläuft. Es ist der Sohn ihrer Nachbarn – Ingo R.
„Der hat es aber eilig“, denkt Frau G., als Ingo stolpert, sich aber wieder fängt. Wenig später sitzt der Blondschopf auf einem Röhrenstapel, unmittelbar neben der Baugrube. Von dort aus hat er einen guten Blick auf den Hauseingang des Plattenbaus.
Der Junge hat Sorgen. An jenem Dienstag ist alles schiefgelaufen. Erst der Tadel, den die Lehrerin ins Hausaufgabenheft geschrieben hat, dann noch die Sache in der Konsum-Kaufhalle.
Ingo R.
Hinzu kommt, dass sich Ingo in Magdeburg nicht richtig heimisch fühlt. 1974 war Familie R. vom Harzort Ballenstedt in die Bezirksstadt gezogen. „Magdeburg ist nicht schön“, hat Ingo schon des Öfteren gesagt. Auch, dass er deshalb von zu Hause weglaufen will. Einmal hat er sich auf dem Schulhof versteckt, weil er den Eltern schlechte Noten verschwiegen hatte.
Am 21. September hat Ingo wieder Angst vor Strafe. Von seinem Röhren-Sitz aus guckt er auf den Hauseingang. Er will sehen, ob vielleicht jemand von der Kaufhalle bei seinen Eltern vorbeigeht, um sie über den Vorfall in der Verkaufsstelle zu informieren. Der Junge war am späten Nachmittag erwischt worden, als er ohne zu bezahlen eine Tüte Bonbons und einen Eisbecher eingesteckt hatte – Preis 1,65 Mark.
Die Kaufhallen-Leitung setzte ein sogenanntes Verfehlungsprotokoll auf. Und dem Jungen wurde damit gedroht, dass Eltern und Schule informiert werden.
Um 18 Uhr ist der verängstigte Junge nach Hause geschlichen. Er hat sich nicht getraut, den Eltern das Geschehen zu beichten, sich eine Weile im Treppenhaus aufgehalten und im Keller versteckt. „Ich habe damals laut geschimpft, weil Ingo nicht nach Hause kommt. Er wollte doch nur ein Schulheft kaufen“, erinnert sich Ingos Mutter. „Vielleicht hat er das draußen vor der Wohnungstür gehört und sich deshalb nicht getraut, hereinzukommen?“
Eine Stunde später wird er dann von der Nachbarin gesehen. Frau G. soll die Letzte sein, die den Schüler der 5. Klasse zweifelsfrei erkannt hat.
Ingos Vater ist an jenem Abend in der Tamara-Bunke-Oberschule bei einer Sitzung der Elternvertretung. Gegen 21 Uhr steht plötzlich seine Frau in der Tür. „Ingo ist noch nicht zu Hause“, sagt sie. „Ich mache mir große Sorgen.“ Mit der Zeit war die Angst der Mutter immer größer geworden. „Ich habe die anderen beiden Kinder ins Bett gebracht und bin dann zu meinem Mann gelaufen“, sagt sie.
Die R.s beginnen, unterstützt von Freunden, das Wohngebiet abzusuchen. Als sie ihren Sohn nach einer Stunde nicht gefunden haben, melden sie ihn beim Magdeburger Volkspolizeikreisamt (VPKA) als vermisst. Es ist 22.30 Uhr.
„Wir hatten den Eindruck, dass man unsere Sorgen dort nicht ernst nimmt“, blickt Ingos Vater zurück. „Ein Polizist hat auf einen Karteikartenkasten gezeigt und gesagt: ‚Machen Sie sich keine Sorgen. Das sind alles vermisste Kinder. Die kommen alle wieder.‘“
Die sogenannte diensthabende Kripo-Gruppe des VPKA nimmt die Ermittlungen auf. Gleichzeitig beginnt die Suche nach dem Kind.
Am 22. September übernimmt die Kripo-Einsatzgruppe die Vermisstensache, eine Woche später die Morduntersuchungskommission der Bezirkspolizeibehörde (BdVP). „Da erst hatten wir den Eindruck, dass sich etwas tut“, sagt Ingos Vater.
Erster Ansatzpunkt für die Ermittler ist die Aussage der Nachbarin G. Daraus ergibt sich der Verdacht, dass Ingo verunglückt sein könnte.
Im Zusammenhang mit dem Sporthallenbau war in unmittelbarer Nähe der Wohnung der Familie R. Erde planiert worden. Die Polizei vermutet, dass sich der Zehnjährige auf dem Baustellengelände versteckt haben könnte und dabei von den Erdmassen verschüttet wurde. Das Gelände wird metertief umgegraben – von Ingo keine Spur.
Die ehemalige Konsum-Kaufhalle heute
Bereitschaftspolizei, das halbe VPKA und Bahnpolizisten sind auf der Suche. Der BdVP-Leiter macht den Fall, der sich in Magdeburg schnell herumgesprochen hat, zur Chefsache. Er weist an, alle möglichen „Unterschlupfmöglichkeiten“ zu durchsuchen und zu überwachen.
Handzettel mit dem Foto des Vermissten werden in der Stadt verteilt. Auf ihnen wird die Bevölkerung zur Hilfe aufgefordert.
Eine Spur scheint sich abzuzeichnen. Sechs Zeugen meinen, den Jungen auf dem Fahndungsblatt zu erkennen. Sie sagen unabhängig voneinander aus, Ingo am 23. September zwischen 9 und 12 Uhr im Bereich der Kleingartenanlagen „Erdenglück“, „Iris“ und „Fermersleber Weg“ gesehen zu haben. Der Blonde habe gefragt, ob sie einen Garten haben und ob er für sie arbeiten kann.
Einer der Zeugen erinnert sich daran, dass er Ingo gegen 12 Uhr in Begleitung eines älteren Mannes gesehen hat.