Die Rose des Südens - Heather Cooper - E-Book

Die Rose des Südens E-Book

Heather Cooper

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Beschreibung

Im Herbst 1862 überqueren Eveline und Thomas Armitage den Atlantik. In Amerika soll Thomas als Chefingenieur für die Eisenbahn arbeiten. Obwohl dort der Bürgerkrieg wütet, imponiert Eveline das aufregende New York. Hier kann sie unabhängig sein, und sie findet Anstellung in einem Fotostudio, dessen Besitzer Samuel und Joseph sie schnell ins Herz schließt. Doch als Thomas in den Südstaaten verschwindet, wo das Schienennetz zur Unterstützung der Unionstruppen ausgebaut wird, muss sich Eveline, als Kriegsfotograf getarnt, mit Sam und Joe auf eine abenteuerliche Reise begeben, um ihren geliebten Mann zu finden ...

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Buch

Im Herbst 1862 verlässt das frisch verlobte Paar Eveline und Thomas Armitage England und setzt über nach New York. In Amerika soll Thomas als Chefingenieur für die Eisenbahn arbeiten. Obwohl ein schrecklicher Bürgerkrieg in Amerika wütet, imponiert Eveline das aufregende New York. Unabhängig und willensstark wie eh und je findet sie schnell Anstellung in einem Fotostudio und neue Freunde in dessen Besitzern Samuel und Joseph. Auch Rose, die Tochter einer Sklavin, wächst ihr ans Herz, und Hannah, die ein uneheliches Kind von Evelines Schwager erwartet, sucht bei ihr Zuflucht. Als Thomas jedoch in den Südstaaten verschwindet, wo er das Schienennetz zur Unterstützung der Unionstruppen ausbauen sollte, muss Eveline ihr neues Zuhause hinter sich lassen. Sie ist überzeugt, dass ihr geliebter Mann noch lebt, und überredet Sam und Joe, mit ihnen gen Süden reisen zu dürfen. Die Bilder, die sie an der Front schießen, machen die Grausamkeiten des Krieges bald einem breiten Publikum zugänglich. Doch mit jedem weiteren Tag schwindet die Hoffnung, Thomas noch lebend zu finden …

Autorin

Heather Cooper wuchs im Norden Englands auf. Sie hat zwei erwachsene Kinder und lebt auf der Isle of Wight.

Heather Cooper im Goldmann Verlag:

Die Zeit der Rose. Roman ( auch als E-Book erhältlich)

Heather Cooper

Die Rose des Südens

Roman

Aus dem Englischenvon Claudia Franz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung November 2018

Copyright © der Originalausgabe

»A Shape in the Moonlight« by Heather Cooper

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: arcangel/Edward Fielding

FinePic®, München

GettyImages/Mother Daughter Press

Redaktion: Lisa Caroline Wolf

MR · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-20548-5V002

www.goldmann-verlag.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

O mein Amerika! Mein neu gewonnenes Land.

Mein Königreich, von einem Mann genug bemannt …

John Donne

Dränge mich nicht, dich zu verlassen und umzukehren. Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich.

Rut 1,16

Hastige Hufe in einer Dorfstraße,

Eine Gestalt im Mondlicht …

Henry Wadsworth Longfellow

Die Figuren

EVELINE STANHOPE (die zukünftige Eveline Armitage)

THOMAS ARMITAGE

LOUISA UND BEATRICE, Evelines Schwestern

BEVIS, Louisas Ehemann

ARTHUR, Beatrice’ Ehemann

MRS ADELAIDE WATSON, Evelines Mutter, in zweiter Ehe verheiratet mit:

MR WATSON

CAPTAIN TUTTON, Kapitän der RMS Persia

ABRAHAM CLEMENS, Direktor einer amerikanischen Eisenbahngesellschaft

ROSE CLEMENS, seine Ehefrau

SAMUEL BYRNE, Fotograf

JOSEPH ELLIS, sein Kollege

HANNAH, Louisas ehemaliges Stubenmädchen

JIM DOUGLAS, ein junger Soldat im New Yorker Regiment der Fire Zouaves

ABIGAIL MARSHALL, seine Verlobte

LORENA, eine Salondame in Louisville, Kentucky

AGNES, die Witwe eines Farmers in Tennessee

CALEB, ihr Sohn

HENRY, Bahnhofsvorsteher in Chattanooga

JACOB, FRANK und ENOCH, Thomas’ Freunde und Mitgefangene

MATHEW BRADY, Fotograf

Kapitel 1

Ein neu gewonnenes Land

Eveline kniete auf dem Boden der Kajüte und öffnete das aufwendig eingewickelte Paket. Nachdem sie die Schnur mit den komplizierten Knoten gelöst hatte, musste sie etliche Lagen dicken braunen Packpapiers entfernen, dann mehrere Schichten Wachsblätter und schließlich Massen von knisternder weißer Packseide. Sie hatte das Päckchen gar nicht weiter beachtet, als ihre Schwestern es ihr während des tränenreichen Abschieds überreicht hatten; zu sehr war sie damit beschäftigt gewesen, alle zu umarmen und zu versprechen, fleißig zu schreiben und über jedes kleinste Detail in der Neuen Welt zu berichten – über die Häuser, die Geschäfte, die Menschen, die Mode, einfach über alles! Unter letzten Küssen, Tränen und lächelnden Blicken hatte sie mit Thomas die Zugangsbrücke betreten und war an Deck des gewaltigen Schiffs gestiegen, von wo man, hoch über dem Kai stehend, die Menschen nur noch als wimmelnde Menge unter sich sah. Und da waren sie dann, ihre Schwestern mit ihren Ehemännern, ein Grüppchen, das heraufsah und winkte. Eveline winkte ungestüm zurück, während das Schiffshorn einen langen, halb klagenden, halb triumphierenden Signalton ausstieß. Die Taue wurden gelöst, das Schiff setzte sich träge in Bewegung, und die Stadt entfernte sich. Unter Evelines Füßen hob und senkte sich das flaschengrüne Wasser, und die Gestalten am Kai wurden immer kleiner, bis man sie nicht mehr voneinander unterscheiden konnte. Trotzdem winkte sie weiter, selbst als man nur noch eine unbestimmte Menschenmenge sah, dann noch Pünktchen, und schließlich konnte sie lediglich eine verschwommene Masse in der Ferne ausmachen. Die großen Gebäude lösten sich auf, ebenso das Land selbst, und schließlich waren sie ringsum von Meer umgeben.

»Das ist von uns beiden«, hatte Louisa gesagt, als sie Eveline das Päckchen in die Arme gedrückt hatte. »Ein Abschiedsgeschenk. Beatrice und ich haben uns gehörig den Kopf darüber zerbrochen, Evie.«

»Wir hoffen, es kann dir von Nutzen sein«, ergänzte Beatrice und lächelte sie durch die Tränen hindurch an. »Eigentlich gehen wir sogar davon aus, dass es unentbehrlich sein wird.«

Die beiden hatten partout nicht verraten wollen, was es war, sondern schüttelten nur den Kopf und lachten, um im nächsten Moment wieder in Tränen auszubrechen. Wenn ihre Schwestern ihr etwas Nützliches schenkten, dann handelte es sich zweifellos um einen warmen Mantel oder eine dicke Decke, denn sie behandelten sie immer noch wie das kleine Mädchen, das man bevormunden und beschützen musste. Und ihre Mutter, das war Eveline bewusst, ging sogar fest davon aus, dass ihre jüngste Tochter in ein primitives Land mit undurchdringlichen Wäldern und angsteinflößenden Wilden reiste, nicht in eine elegante und moderne Stadt wie New York.

Eveline hatte eigentlich geplant, alleine nach Liverpool aufzubrechen. Die Reise sollte länger dauern als jede Fahrt, die sie mit ihren neunzehn Jahren unternommen hatte. Erst würde sie mit dem Dampfschiff von der Insel nach Southampton übersetzen und dann mit der Eisenbahn nach London fahren. Durch die überfüllte Stadt mit der verschmutzten Luft würde sie zur Drummond Street und zur riesigen Euston Station mit dem schmiedeeisernen Dach gelangen und dort einen Zug besteigen, der sie in Gegenden brachte, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, durch die Midlands hindurch bis hoch in den Norden. Sie hatte sich darauf eingestellt, sich auf der Isle of Wight von ihrer Familie zu verabschieden, in dem kleinen Hafen, den das Dampfschiff regelmäßig anlief. Aber am Tag vor ihrer Abreise hatten ihre Schwestern (die schon ein paar Tage ziemlich geheimnisvoll getan hatten) die Absicht bekundet, sie nach Liverpool zu begleiten.

»Wir kommen so selten hier heraus«, meinte Beatrice, »daher wird es ein Abenteuer für uns sein. Nicht zu vergleichen mit deinem Abenteuer natürlich, Evie. Aber Arthur sagt, wir steigen in Liverpool in einem äußerst schicken Hotel ab. Vielleicht können wir ja vor der Rückfahrt noch die Stadt besichtigen.«

»Und Bevis ist schließlich ein Mann von Welt«, fügte Louisa hinzu. »Er wird schon wissen, wie wir das alles anstellen, mit der Eisenbahn und der Kutsche und so. Wenn wir dich begleiten, Eveline, kann dir nichts passieren.«

Eveline dachte, dass ihr auch so nichts passieren würde, aber das sagte sie lieber nicht. Tatsächlich war sie sogar gerührt, dass ihre Schwestern eine so weite Reise auf sich nehmen wollten, nur um sie zu verabschieden.

»Und du, Mama?«, fragte Eveline. »Kommst du auch mit nach Liverpool?«

»Nach Liverpool? Da bringen mich keine zehn Pferde hin. Reisen ist nichts für mich, Evie. Züge, Schiffe, ständig neue Hotels, das machen meine Nerven nicht mit.«

»Aber im Frühjahr wollt ihr doch nach Paris, behauptet Mr Watson. Da wirst du wohl oder übel ein Schiff besteigen müssen, Mama. Und ständig an neuen, unbekannten Orten übernachten.«

»Der Himmel weiß, wie ich das überstehen soll. Andererseits wird sich ja Mr Watson um mich kümmern. Ich werde mich einfach nach Kräften zusammenreißen.«

»Ich könnte dich nach Liverpool begleiten, wenn du das wünschst, meine Liebe«, sagte Mr Watson und warf ihr über den Rand seiner Zeitung einen liebevollen Blick zu.

»Wenn ich schon Abschied von meinem jüngsten Kind nehmen muss, dann lieber hier, wo ich mich ungestört der Trauer hingeben kann. Eine so endgültige Trennung möchte ich nicht auf einem öffentlichen Kai in einer fremden Umgebung vollziehen.«

»Es ist doch keine endgültige Trennung, Mama«, versicherte Eveline. »Ich verschwinde nicht für immer.«

»Aber wer weiß, was alles passiert«, sagte Mrs Watson theatralisch. »Du verlässt uns, um mit diesem großen, ernsten jungen Mann fortzugehen, mit dem du noch nicht einmal verheiratet bist …«

»Wir heiraten, sobald wir auf dem Schiff sind, Mama, das hat Thomas gesagt. Alles wird absolut anständig und respektabel vonstattengehen …«

»… und der Himmel weiß, was dich dort drüben erwartet. Du könntest entführt werden oder ertrinken oder dich im Dschungel verirren oder in der Wüste oder … O Gott, Eveline, du wirst tausend Gefahren ausgesetzt sein, und ich sterbe an einem gebrochenen Herzen.«

»Unsinn, Mama, sag nicht so etwas. Ich werde keinen Gefahren ausgesetzt sein. Natürlich nicht.«

»Ich wünschte, ich könnte das glauben«, sagte ihre Mutter mit einem klagenden Blick, der verriet, dass sie sich nicht so leicht besänftigen lassen würde.

Eveline verabschiedete sich also von ihrer Mutter und ihrem Stiefvater, außerdem von ihrer Tante, ihrer ehemaligen Gouvernante, ihren Freunden und ihren kleinen Nichten und Neffen, und versprach bei der Abreise von der Insel, Briefe zu schreiben, auf sich aufzupassen und ihre arme, verlassene Mutter nicht zu vergessen. Als sie vom Deck des Dampfschiffs, das den Hafen von Cowes verließ, all diese Personen tapfer mit ihren Taschentüchern winken und ihr Kusshände zuwerfen sah, traten ihr Tränen in die Augen, sodass der Hafen und die Häuser des vertrauten Städtchens verschwammen. Doch als sie ihr Taschentuch gefunden hatte, waren die Menschen schon zu weit entfernt, um noch jemanden erkennen zu können.

Die Aufregungen der Reise munterten Eveline jedoch schnell wieder auf. Louisa und Beatrice redeten und juchzten in einem fort, während Bevis sich weltmännisch gab, Gepäckträger hin und her dirigierte, Kutschen anhielt und seine Mitreisenden mit einer derart überheblichen Miene in die Eisenbahnabteile scheuchte, dass es Eveline schon fast auf die Nerven ging. Seine Ehefrau hingegen verkündete unablässig, wie froh sie sei, einen Mann zu haben, der alles so gut im Griff hatte. Arthur wiederum, Evelines anderer Schwager, drückte ihr liebevoll die Hand und erklärte, wie sehr er sie vermissen werde.

»Wenn euer zweites Kind erst einmal da ist, Arthur, wirst du gar keine Zeit mehr haben, mich zu vermissen«, sagte Eveline und schenkte ihm ein dankbares Lächeln.

»Zweifellos werde ich alle Hände voll zu tun haben«, erwiderte Arthur, »aber das wird mich nicht daran hindern, an dich zu denken, Evie.«

»Alle Hände voll zu tun?«, rief Beatrice. »Was für ein Unsinn, Arthur. Männer haben überhaupt keine Arbeit mit Babys. Ich werde diejenige sein, die letztlich die ganze Arbeit hat. Du wirst dem Kind das hübsche Köpfchen tätscheln und dann zu deiner Pfeife und deiner Zeitung zurückkehren, während ich ein jammervolles Bild abgeben werde.«

Für einen Moment schien Arthur gegen die Unterstellung stumpfer Gleichgültigkeit protestieren zu wollen, dann besann er sich anders und erkundigte sich, wo sich Eveline eigentlich mit Thomas treffen wolle.

»Wird Armitage in Liverpool am Bahnhof sein?«, fragte er. »Er kommt doch aus Yorkshire, oder?«

»Ja, aus Leeds. Er hat sich von seiner Familie verabschiedet, von seinen Eltern und seiner Schwester«, sagte Eveline. »Aber wir treffen uns am Büro der Schifffahrtsgesellschaft. Thomas wird dann schon die Fahrkarten besorgt und alles organisiert haben. Mir bleibt nichts mehr zu tun, als ihn zu finden.«

In der großen Halle der Schifffahrtsgesellschaft erwartete sie allerdings eine derart dichte Menschenmenge, dass es fast unmöglich schien, einen einzelnen Mann ausfindig zu machen. Eveline stand hilflos da und sah sich suchend um, während ihre Schwestern in die wogenden Massen der Passagiere starrten. Manche Menschen waren sehr elegant gekleidet, in Samt und Pelz, andere trugen schäbige, fadenscheinige Mäntel oder überhaupt keine Überbekleidung.

»Vielleicht hat er es sich anders überlegt«, sagte Louisa finster. »Wirklich, Evie, du musst schon zugeben, dass du Mr Armitage erst wenige Monate kennst. Mama denkt ohnehin, dass man ihm nicht über den Weg trauen kann. Sie habe ihn nie für einen wahren Gentleman gehalten, sagt sie.«

»Mama redet manchmal eine Menge Unsinn daher«, erwiderte Eveline. »Sie mag kein Vertrauen zu ihm haben, aber sie kennt ihn ja auch kaum. Ich weiß, dass er kommt. Ich vertraue ihm, und das ist ja wohl die Hauptsache.«

»Das höre ich gerne«, sagte eine Stimme in ihrem Rücken, und sie fuhr herum. Hinter ihr stand ein großer Mann und sah auf sie herab; die amüsierte Miene brachte sein sonst so ernstes Gesicht zum Leuchten.

»Thomas!«, rief Eveline. »O Thomas.«

Er breitete die Arme aus, und sie flog hinein.

»Aber wirklich, Evie«, sagte Beatrice kopfschüttelnd. »Das ist nicht sehr damenhaft!«

Allerdings waren weder sie noch Louisa geneigt, ihre kleine Schwester allzu streng zu maßregeln. Thomas Armitage schüttelte Bevis und Arthur die Hand und begrüßte seine zukünftigen Schwägerinnen mit einer steifen Verbeugung.

»Passen Sie auf sie auf, Mr Armitage!«, sagte Louisa unvermittelt und brach wieder in Tränen aus. »Geben Sie auf meine kleine Schwester acht.«

»Lou«, erklärte Eveline. »Das kann ich sehr gut selbst …«

Thomas nickte Louisa zu. »Wir werden gegenseitig auf uns aufpassen«, versprach er. »Und jetzt komm, mein Schatz. Zeit zum Aufbruch.«

Und so nahmen sie ein letztes Mal Abschied. Das geheimnisvolle Päckchen landete in Evelines Armen, dann drehten Thomas und sie sich um und brachen auf in ihr neues Leben.

Der erste Tag der Reise war furchtbar aufregend. Sie erkundeten das Schiff mit all seinen Salons und Speisesälen und den hübschen Kajüten, in denen sie schlafen würden. Da waren die Decks, auf denen man flanieren und die endlose Weite des Ozeans sowie das Auf und Ab der Wellen bewundern konnte, während sich das Schiff durch Wind und Gischt seinen Weg bahnte. Sie lernten Mitreisende kennen, mussten eine Seenotrettungsübung absolvieren und machten die eigentümliche Erfahrung, in einem Speisesaal zu dinieren, der sich in ständiger Bewegung befand. Erst am Abend fiel Eveline das Päckchen wieder ein, das sie unter ihr schmales Bett geschoben hatte, bevor sie ihre wenigen Kleidungsstücke einsortiert hatte.

Thomas Armitage hatte natürlich zwei getrennte Kajüten auf der RMS Persia gebucht. Ihm war sehr wohl bewusst, dass er, wenn er Eveline schon ihrer Familie entführte und sie ohne Mutter oder Anstandsdame auf eine Reise mitnahm, nicht nur sie selbst, sondern auch ihren Ruf schützen musste.

»Deine Mama wird mir vielleicht nie verzeihen, dass ich dich nach Amerika verschleppe«, sagte Thomas leicht zerknirscht. »Wenn sie auch noch zu der Meinung gelangen müsste, dass ich mich nicht um Anstandsregeln schere, würde sie mich sicher zur Hölle wünschen.« Er stand mit verschränkten Armen in der Tür der engen Kajüte und sah zu, wie Eveline mit der vielfach verknoteten Schnur kämpfte und den Inhalt des Päckchens aus den unzähligen Schichten schälte.

»Dann solltest du vielleicht nicht alleine mit mir in einer Kajüte sein«, erwiderte sie und lächelte zu ihm hoch, als könne sie sich, im Gegenteil, nichts Schöneres vorstellen.

»Ich bin nicht in deiner Kajüte, und die Tür ist geöffnet«, versicherte er streng. »Alle können sehen, dass wir Sitte und Anstand wahren.«

»Das tun wir doch auch, oder?«, fragte sie fast wehmütig. »Also, was ist es denn nun, das Louisa und Beatrice für mich ausgesucht haben? Es wirkt gar nicht wie etwas, das mich im New Yorker Winter warmhalten könnte. Den hat Mama nämlich als Ursache für meinen sicheren Tod auserkoren. Aus irgendeinem Grund ist sie fest davon überzeugt, dass durch die Straßen von Manhattan Eisbären streunen und mich unweigerlich auffressen werden … Oh!«

Aus den letzten knisternden Schichten zog sie nun ein Kleid aus feinster Seide in einem sehr blassen Elfenbeinton hervor. Es hatte eine schmale Taille und einen weiten Rock; bauschige Gaze säumte das tiefe Dekolleté. Unter dem Kleid lag noch ein Schleier aus feinster Spitze, federleicht und zart, kaum mehr als ein Hauch. Eveline hielt sich das Kleid an. Im Dämmerlicht der Kajüte glänzte es wie Perlen an ihrer Haut.

»Ein Hochzeitskleid?«, sagte Thomas lächelnd. »Vermutlich für den Fall, dass wir es vergessen sollten. Nun, mein Schatz, dann lass uns besser heiraten, was?«

Der Schiffskapitän schätzte sich überaus glücklich, eine Hochzeitszeremonie abhalten zu dürfen. Das sei mal etwas anderes, er persönlich habe so etwas noch nie getan. Aber zumindest schien er sich daran zu erinnern, dass ein Kapitän dazu befugt war. Mit dem größten Vergnügen würde er sie trauen, erklärte er, dann sei die Sache für alle Ewigkeit besiegelt. Sofort wolle er sich auf die Suche nach den nötigen Papieren machen, die vermutlich irgendwo in seiner Kajüte lägen, außerdem brauche er sicher noch ein Gebetbuch, aber dann würde er die nötigen Worte aufsagen, das junge Paar zusammenführen und alles unter Dach und Fach bringen, was? Kapitän Tutton lachte herzhaft über seinen geistreichen Kommentar, zwinkerte Eveline zu und versprach ihnen eine Flasche Champagner von seiner eigenen Tafel, für einen guten Start in ihr Eheleben.

Doch die Hochzeit ließ auf sich warten. Zunächst konnte Kapitän Tutton trotz seines ursprünglichen Optimismus die Papiere nicht finden, die unterzeichnet werden mussten, damit die Trauung rechtsgültig war. Und auch das Gebetbuch mit den einschlägigen Floskeln war nicht aufzutreiben.

»Die Papiere müssen irgendwo sein, zweifellos«, sagte er zerstreut, wann immer er Thomas oder Eveline über den Weg lief oder sie in den Liegestühlen an Deck sitzen sah, wo sie, eingewickelt in Decken, redeten, lasen oder Seevögel beobachteten. »Früher oder später tauchen sie auf, und wir bringen die Sache in trockene Tücher, was?«

»Wir freuen uns darauf«, sagte Thomas knapp, während Eveline dem Kapitän ihr strahlendstes Lächeln schenkte, um wiedergutzumachen, dass Thomas mittlerweile schon einen finsteren Blick aufsetzte, wenn er die untersetzte Gestalt mit wichtiger Miene auf sie zukommen sah.

Endlich aber, sechs Tage nach ihrer Abreise aus Liverpool, als Thomas schon einen Groll auf die gesamte Seefahrersippe hegte, kam der Kapitän begeistert auf sie zugeeilt und blieb atemlos an der Reling stehen, wo sie gerade einen spektakulären Sonnenuntergang beobachteten, mit Wolken, die sich vor einem blutroten Himmel auftürmten.

»Ich wusste, dass ich die Papiere habe«, sagte er jovial. »Sie sind aufgetaucht! Ich werde Sie bald schon verheiratet haben, verlassen Sie sich drauf.«

»Morgen?«, fragte Eveline hoffnungsvoll.

»Morgen vielleicht nicht«, sagte der Kapitän bedauernd. »Es scheint sich ein Unwetter zusammenzubrauen, von Backbord her. Aber sobald sich das wieder verflüchtigt hat, werden wir die Tat vollbringen, was?«

Die Voraussage des Kapitäns erwies sich als korrekt. Innerhalb einer halben Stunde begann die Persia auf beängstigende Weise zu rollen und zu stampfen und hörte auch während der langen schwarzen Nacht nicht mehr auf. Und auch am nächsten Tag und am übernächsten kämpfte sie gegen tosende Wellenberge an und stürzte immer wieder in furchteinflößende finstere Täler. Gewaltige Wassermassen brachen sich an Deck, und die Schiffswände erzitterten, als würden sie zerbersten. Es gab Momente, in denen Eveline fürchtete, ihr letztes Stündlein habe geschlagen. Thomas versicherte ihr aber, dass die Persia ein äußerst robustes Schiff sei.

»Es ist der erste Dampfsegler mit Eisenrumpf, Eveline. Er hat das Blaue Band bekommen, weil kein Schiff die Überfahrt in beide Richtungen schneller geschafft hat. Die Maschinen …«

Eveline unterdrückte ein Gähnen.

»Nun, die Maschinen scheinen dich nicht zu interessieren.«

»Doch, natürlich interessieren sie mich. Erzähl mir von den Maschinen.«

»Es handelt sich um Zweizylinder-Seitenhebel-Dampfmaschinen. Ich war im Maschinenraum, wie du dich vielleicht erinnerst. Absolut beeindruckend. Die Brennräume für die Kessel befinden sich vorn und achtern, und die Kohlespeicher fassen tausendvierhundert Tonnen Kohle …«

»Wahrhaftig ein beeindruckendes Schiff! Mir wäre trotzdem lieber, wenn es aufhören würde, so wild hin und her zu schwanken.«

Irgendwann wurde aus dem Sturm schließlich ein kräftiger Wind, dann eine frische Brise. Die graugrüne See mit den hoch aufgetürmten schäumenden Wellen beruhigte sich allmählich, und eines Morgens wurde Eveline beim Aufwachen von einem sanften goldenen Licht begrüßt. Blau und glänzend lag der Ozean in der Herbstsonne.

»Heute Nachmittag?«, fragte Kapitän Tutton. »Sagen wir, um zwei? Wo würden Sie denn gerne heiraten, Miss Stanhope? Im Großen Salon vielleicht?«

»Könnten wir auch an Deck heiraten?«, wollte Eveline wissen. »Nach dem grässlichen Unwetter ist der Sonnenschein einfach überwältigend.«

Der Kapitän lachte herzlich. »Grässliches Unwetter? Ach, das war doch gar nichts, nur ein leises Atlantiklüftchen. Aber Sie können gerne an Deck heiraten, Miss Stanhope, wenn Sie das wünschen. Nichts spricht dagegen, und was der Kapitän entscheidet, wird gemacht.«

An Bord eines Schiffes gab es keine Geheimnisse, daher verbreitete sich die Nachricht von der bevorstehenden Hochzeit in Windeseile. Die anderen Passagiere, von denen viele bereits überglücklich waren, dass sie das Unwetter überlebt hatten, waren entzückt; allenthalben schien man entschlossen, sich diese romantische Begebenheit nicht entgehen zu lassen. Als daher Thomas und Eveline zur verabredeten Zeit auf dem Vorderdeck erschienen, in der Erwartung, den Kapitän und den Zweiten Offizier anzutreffen – Letzterer hatte sich freundlicherweise dazu bereiterklärt, als Trauzeuge zu fungieren –, war praktisch die gesamte Schiffsmannschaft versammelt, außerdem hunderte von Passagieren, die sich gespannt die Hälse verrenkten, um einen Blick auf das junge Paar zu erhaschen.

»Da kommen sie.« Ein Raunen ging durch die Menge. »Schau doch nur, wie wunderschön, wie entzückend, wie überwältigend!« Spontan brauste Applaus auf, als Thomas Eveline die Hand reichte und sie durch die Salontür ins Freie geleitete. Der Bräutigam, groß und breitschultrig in seinem schlichten Anzug, wirkte sehr ernst. Sein aufrechter Gang und der grüblerische Blick ließen die Damen, die für männliche Reize empfänglich waren, sanft erschauern.

»Oh, und seht euch nur die Braut an, was für ein Traum!«, wurde gemurmelt, als man Eveline in ihrem elfenbeinfarbenen Kleid erblickte. Der Rock bauschte sich sanft in der Brise, und ihre dunklen Locken quollen unter dem flatternden Schleier hervor. Verunsichert blickte sie in die Menge und lächelte. Dann nahm sie Thomas’ Hand, und die Zeremonie begann. Kapitän Tutton deklamierte seine Worte mit großer Geste, die Ehegelübde wurden gesprochen, die Papiere unterzeichnet, dann küsste der Bräutigam die Braut, und die nun vollkommen verzückte Menge jubelte und klatschte, als wolle sie gar nicht mehr aufhören.

»Nun«, sagte der Kapitän höchst zufrieden, »der Champagner wartet auf Sie, und im Speisesaal gibt es ein improvisiertes Hochzeitsfrühstück. Ich sollte jetzt besser wieder auf die Brücke gehen, da ich den Ersten Offizier alleine dort zurückgelassen habe. Wenn wir in den Hafen einfahren, muss ich wieder dabei sein.«

»Sind wir denn schon in Amerika?«, fragte Eveline. Sie drehte sich um, beschirmte die Augen und sah in Richtung Horizont. Außer Meer und Himmel war nichts zu sehen.

»Ja«, antwortete Kapitän Tutton. »In wenigen Stunden gehen wir an Land. Bald können Sie es schon erkennen. Schauen Sie, dort.«

Immer noch nichts. Dann am Horizont etwas, das wie ein verschwommener Streifen aussah. Die Menschen, die immer noch seufzten, lächelten und ihnen überschwänglich alles Gute wünschten, zerstreuten sich allmählich, um sich zu dem versprochenen Festmahl zu begeben. Kapitän Tutton war auch bereits fort, und irgendwann waren Thomas und Eveline alleine an Deck. Jetzt konnte Eveline Land erkennen, ganz sicher, und sogar die Umrisse eines Städtchens – nein, einer Großstadt, denn selbst aus dieser Entfernung erblickte sie Gebäude, die größer waren als alles, was sie bisher gesehen hatte. Sonnenlicht spiegelte sich in hohen Fenstern und in einer goldenen Wetterfahne oben auf einem Kirchturm.

»Schau doch, Thomas, schau. Das muss New York sein! Einfach unfassbar, so etwas sagen zu können.«

Seite an Seite sahen sie zu, wie die riesige Stadt vor ihnen auftauchte.

»O mein Amerika, mein neu gewonnenes Land«, murmelte Thomas leise.

Eveline zog eine Augenbraue hoch und musste lächeln.

»Du bist nicht die Einzige, die Gedichte liest, mein Schatz«, sagte er.

»Du steckst voller Überraschungen, Thomas.«

»Wenn es in unserer Ehe keine Überraschungen gäbe, würde dich ein ziemlich langweiliges Leben erwarten.« Er legte ihr einen Arm um die Schulter und zog sie an sich. »Wollen wir uns auf die Suche nach dem Champagner machen, den uns dieser Grobian von einem Kapitän in Aussicht gestellt hat? Wir könnten ihn ja mit in meine Kajüte nehmen.«

Sie sah ihn an, ein fast schon schüchternes Lächeln auf den Lippen. »Wir sind ja jetzt verheiratet, da werde ich wohl mit in deine Kajüte gehen dürfen. Vielleicht könnten wir sogar die Tür schließen.«

»Unbedingt, meine liebe Eveline. Ich habe sehr geduldig gewartet. Das schien mir meine Pflicht zu sein, da dich deine Mama – wenngleich höchst widerstrebend – in meine Obhut gegeben und darauf vertraut hat, dass wir schnellstmöglich heiraten. Obwohl wir natürlich …«

»Obwohl wir natürlich, damals am Strand, das Ehegelübde vorweggenommen haben?«

»Genau. Das war ein großer Fehler von mir. Aber jetzt sind wir ja verheiratet, daher …«

»Allerdings möchte ich auf gar keinen Fall den Anblick verpassen, wie wir in den Hafen von New York einlaufen«, sagte Eveline unschuldig.

Er zog sie noch enger an sich. »New York«, sagte Thomas, »ist noch Stunden entfernt.«

Kapitel 2

Greenwich Street

Es war früher Abend, als sie von Bord gingen. Eveline hatte den Eindruck, dass die Erde unter ihren Füßen schwankte, als sie zusammen mit den über zweihundert weiteren Passagieren durch den großen Torbogen des Castle Garden Forts stakste. Die Sprachen, die sie auf dem Schiff vernommen hatte – Irisch, Deutsch, Englisch, Schottisch, Italienisch –, schwollen zu einem babylonischen Stimmengewirr an, das in der großen Empfangshalle widerhallte. Die Menschen standen Schlange, holten ihr Gepäck ab, legten Papiere vor oder erklärten, warum sie keine hatten. Eveline fragte sich, was die einzelnen Personen wohl bewogen hatte, solch eine weite Reise anzutreten. Vielleicht wollten sie, wie sie und ihr Ehemann, ein neues Leben beginnen und ein großes Abenteuer erleben. Oder sie flohen vor Hunger und Verfolgung, besuchten jemanden, packten eine Gelegenheit beim Schopfe oder erfüllten sich einen Traum.

Thomas nahm ihre Hand, steckte sie unter seinen Arm und schritt auf einen untersetzten, freundlich wirkenden Mann mit einem großen Hut zu. Der Mann winkte.

»Tom, mein werter Freund, es ist so schön, Sie wiederzusehen. Und das muss Mrs Armitage sein, nehme ich an?« Er schüttelte ihnen beiden herzlich die Hand.

»Dies ist Abraham Clemens, Eveline. Mit ihm habe ich mich in London getroffen, um über meinen Vertrag mit der Eisenbahngesellschaft zu reden«, erklärte Thomas ihr.

»Seien Sie herzlich willkommen, Ma’am«, sagte Mr Clemens. »Sie werden sicher müde sein von der langen Reise?«

»Überhaupt nicht, Mr Clemens«, erwiderte Eveline. »Die Reise war herrlich. Obwohl der Boden unter meinen Füßen immer noch zu schwanken scheint.«

Er lachte. »Mir ging es genauso, als ich letzte Woche zurückkam. Ein bisschen Ruhe, ein schönes Abendessen und eine Mütze voll Schlaf werden Ihre Lebensgeister wieder wecken. Kommen Sie, lassen Sie uns die Formalitäten erledigen, dann sitzen wir in null Komma nichts beim Dinner am Broadway. Sind das Ihre Sachen? Sie reisen ja wirklich mit leichtem Gepäck, muss ich sagen.«

»Wir haben uns Mühe gegeben«, sagte Eveline. »Allerdings steckt in dieser Kiste meine Kamera. In eine kleinere hatte sie nicht hineingepasst, tut mir leid, Mr Clemens.«

»Eine Kamera? Ihre Kamera? Nun, meine Liebe, Sie sind der Zeit voraus. Mir war gar nicht klar, dass die jungen englischen Damen so fortschrittlich sind. Aber nennen Sie mich doch bitte Abe. Alle tun das. Wir sind hier nicht so förmlich wie die Leute im Land unserer Vorväter.«

»Äußerst vernünftig«, sagte Eveline. »Ich glaube, ich werde mich in Amerika wohlfühlen.«

Thomas und Eveline würden bei Abraham Clemens und seiner Frau wohnen, bis sie eine eigene Unterkunft fanden. Das Haus der Clemens, das in einer breiten, eleganten Straße namens Greenwich Street lag, war ein großes, aus braunem Backstein errichtetes Gebäude; die hoch gelegene Eingangstür erreichte man über eine steile, imposante Treppe. Die Wohnräume waren groß, hell und geschmackvoll möbliert, mit hohen Spiegeln, riesigen gepolsterten Sofas, glänzenden Tischen und üppigen Vorhängen. Alles wirkte neu und elegant. Eveline und Thomas wurden in ein luftiges Schlafzimmer im Obergeschoss geführt.

»Die gesamte Etage steht Ihnen zur Verfügung, solange Sie sie brauchen«, sagte Abraham. »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause. Später feiern wir Ihre Ankunft mit dem versprochenen Dinner.«

Mit diesen Worten ließ er sie alleine, damit sie sich umsehen, ihr Gepäck auspacken und den Blick über die hohen Dächer auf den breiten Fluss genießen konnten.

»Das ist überwältigend!«, sagte Eveline. »Da sind wir nun, Thomas. In New York! In der Neuen Welt. Was für nette Gastgeber. So ein riesiger Raum, und alles ganz neu und frisch hergerichtet. Wir haben sogar ein eigenes Bad! Hast du je von so etwas gehört?«

»Und erst das Bett«, sagte Thomas. »Das ist vermutlich doppelt so breit wie das breiteste Bett, in dem ich je geschlafen habe.«

»Es wird erholsam sein, in einem zu schlafen, das nicht schwankt.« Eveline lachte.

»Ich hatte eher daran gedacht, dass ich meine Frau nun endlich in einem Bett lieben kann, das nicht nur einen knappen Meter breit ist, sodass man ständig herauszufallen droht. Von Stränden ganz zu schweigen.«

»Ich möchte kein schlechtes Wort über Strände hören«, neckte Eveline ihren Ehemann. »Werden wir wirklich am Broadway speisen?«

»Ich denke schon. Aber erst in ein, zwei Stunden.« Er streckte sich auf dem Bett aus. »Sehr, sehr bequem. Leinenwäsche, weiche Kissen, viel Platz. Warum kommst du nicht her und überzeugst dich selbst?«

Am Abend saßen Thomas und Eveline mit Abraham und Rose Clemens in einem Restaurant und beobachteten die Einwohner von New York durch eines der großen Fenster. Pferdebahnen klapperten über ihre Schienen; elegante Paare schlenderten vorbei; eine Menschenmenge hatte sich versammelt, um einem Redner zuzuhören; auf der gegenüberliegenden Straßenseite lockte ein Theater mit seinem Lichterglanz; eine Gruppe junger, herausgeputzter Männer stolzierte über den Broadway; Straßenverkäufer boten Orangen, Esskastanien und Bonbons feil; ein Mann spielte mit verwegener Miene Akkordeon.

Das Dinner war außerordentlich köstlich.

»Die Familie, die das Restaurant betreibt, stammt aus Italien«, berichtete Rose. »Die wissen, wie man kocht.« Sie schien eine intelligente Frau zu sein, mit dunklen Augen und einem breiten Lächeln. Eveline hatte sofort das Gefühl, willkommen zu sein. »Haben Sie die hier probiert, Eveline? Das ist irgendetwas aus Reis, gebraten und mit Käse gefüllt. Klingt komisch, aber es ist wirklich gut.«

»Es schmeckt alles ganz wundervoll«, bestätigte Eveline. »Ich muss mir unentwegt sagen, dass ich nicht träume, Rose. Außer einer Reise nach London bin ich in meinem Leben kaum je aus meinem Heimatstädtchen herausgekommen. Dies hier ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Neue Welt für mich.«

»New York ist wirklich eine Stadt, in der man wunderbar leben kann«, bestätigte Abe und schenkte ihnen allen Wein nach. »Kaum zu glauben, dass wir uns im Krieg befinden, nicht wahr?«

»Der Krieg findet im Süden statt, nicht wahr?«, fragte Eveline. »Hier im Norden sind wir doch sicher nicht davon betroffen?«

Abe und Rose wechselten einen Blick.

»Die ganze Nation ist davon betroffen«, erklärte Abe schließlich. »Wir teilen die Meinung des Präsidenten, dass die Sklaverei keinen Platz in einer modernen Gesellschaft haben sollte. Aber es gibt auch viele hier, die mit den Konföderierten sympathisieren. King Cotton, sage ich nur. Der Baumwollhandel floriert in New York. Eine Menge Leute leben davon.«

»Aber es besteht doch nicht die Gefahr, dass der Süden sich durchsetzt, oder? Der Norden hat die Industrie … und die Truppen … die Ausrüstung … das Geld.« Thomas wirkte plötzlich ernst.

»Das stimmt schon. Aber die Konföderierten haben wichtige Siege errungen, in Bull Run und Richmond zum Beispiel. Mittlerweile ist es schon ein Jahr her, dass sich der Süden von uns losgesagt hat, und es sieht so aus, als würde er weiterkämpfen. Die Generäle der Südstaaten sind tüchtig. Sie haben schon recht, Thomas, wir haben die Ausrüstung. Aber wir müssen auch einen Weg finden, sie zu unseren Soldaten zu schaffen.«

»Und da soll die Eisenbahn Abhilfe schaffen, wenn ich es richtig verstanden habe.«

»Genau. Die Konföderierten nutzen die Eisenbahn, um ihre Leute zügig von einem Ort zum nächsten zu bringen und Lebensmittel und Waffen zu ihren Truppen zu transportieren. Darin waren sie bislang geschickter als wir, muss ich zugeben. Daher sind Ihre Fähigkeiten, Thomas, für die Eisenbahngesellschaft von unschätzbarem Wert, und damit auch für die Unionsstaaten. Zu einem günstigeren Zeitpunkt hätten Sie gar nicht kommen können.«

Eveline spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. »Soll das heißen, dass du dich in Gefahr begibst, Thomas? Musst du an Orte reisen, wo gekämpft wird?«

»Das ist durchaus möglich«, antwortete Thomas. »Aber ich werde nicht in Schlachten hineingeraten. Höchstwahrscheinlich werde ich gebührenden Abstand halten können.«

»Sie müssen sich keine Sorgen machen, meine Liebe«, versuchte Rose zu besänftigen. »Hier in New York kann Ihnen nichts passieren, wenn die Männer bei der Arbeit sind. Abe ist manchmal wochen- oder sogar monatelang weg, aber wie Sie sehen, kehrt er stets wohlbehalten zurück.«

»In dem Fall werde ich ganz bestimmt nicht hierbleiben«, sagte Eveline bestimmt. »Wenn Thomas in die Südstaaten reist, begleite ich ihn.«

»Oh, Frauen haben im Krieg nichts zu suchen«, ergriff Abe das Wort. »Aber Sie werden nicht einsam sein, Eveline. Rose wird sich um Sie kümmern. Außerdem werden Sie hier in New York sicher schnell Freunde finden.«

Eveline fing Thomas’ Blick auf, sagte aber nichts mehr zu dem Krieg. Das Gespräch kam auf eine Wohnung, die in der Nähe des Hauses der Clemens lag und für das junge Paar interessant sein könnte.

»Sie liegt ein Stück die Greenwich Street hoch«, erklärte Rose. »Im Obergeschoss. Sie müssten also ein paar Treppen steigen. Dafür ist sie geräumig und die Aussicht fantastisch. Die Miete scheint auch akzeptabel zu sein.«

»Treppensteigen macht uns nichts aus«, meinte Thomas. »Wir schauen sie uns morgen an, wenn das möglich ist. Es ist wirklich nett von Ihnen, dass Sie sich so um uns bemühen.«

»Ingenieure mit einem derart guten Ruf laufen einem nicht alle Tage über den Weg, junger Mann«, sagte Abe. »Ich bin heilfroh, dass ich Sie dazu bewegen konnte, den ganzen Weg von England hierher anzutreten.«

In dieser Nacht fand Eveline nur schwer in den Schlaf, trotz des wunderbar breiten und bequemen Bettes. Tausend Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Schließlich stand sie auf und schlich auf Zehenspitzen zum Fenster. Der Mond schien auf den Hudson hinab. Große Schiffe lagen an den Kais vertäut, geisterhaft auf den Wellen schwankend. Wie breit der Fluss war, wie groß die Stadt, wie anders als ihr altes Umfeld, das Städtchen, in dem sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte, wie weit weg von den ruhigen Wassern des Solent. Sie fröstelte und fühlte sich für einen Moment einsam und verlassen, dann schlüpfte sie leise in den Nebenraum, zündete eine Kerze an und holte sich Briefpapier und einen Stift.

Meine allerliebste Mutter,

wir sind wohlbehalten in New York angekommen, und ich bin jetzt Mrs Armitage. Wie sonderbar es sich anfühlt, diesen Namen zu schreiben! Der Schiffskapitän hat die Trauung vollzogen. Du kannst also beruhigt sein, dass sich alles mit rechten Dingen zugetragen hat und ich eine verheiratete Frau bin.

New York scheint eine hochinteressante Stadt zu sein, eine absolut ungefährliche zumal. Ich bin mir sicher, dass hier keine Eisbären herumstreunen. Du musst Dir also keine Sorgen machen.

Berichte mir von den Neuigkeiten in der Heimat! Wie geht es Tante George, Miss Angell und ihren Hühnern? Was macht der liebe Mr Watson? Ich sende ihnen allen herzlichste Grüße, auch meinen Schwestern, vor allem aber natürlich Dir, meine geliebte Mama.

Deine Dich liebende Tochter,

Eveline

Sie streute Sand auf das Papier, faltete den Brief dann zusammen, steckte ihn in ein Kuvert und schrieb die Adresse darauf. Dann kehrte sie leise ins Schlafzimmer zurück und schlüpfte ins warme Bett.

»Du bist noch wach?«, fragte Thomas verschlafen. »Was ist los, mein Schatz?«

»Ich musste an den Krieg denken. Musst du wirklich in die Bundesstaaten reisen, in denen gekämpft wird?«

»Möglicherweise«, antwortete Thomas. »Vorerst aber noch nicht. Und wenn es so weit sein sollte, kann ich mir kaum vorstellen, dass ich mich in Gefahr begebe. Du wirst hier ohnehin in Sicherheit sein.«

»Ich werde dich begleiten, Thomas. Wohin du gehst, dahin gehe auch ich.«

»Ich kann dich nicht in den Krieg mitnehmen, Eveline. Und du wirst dich sicher nicht allzu einsam fühlen. Rose scheint die Liebenswürdigkeit in Person zu sein. Vielleicht findest du ja eine Freundin – oder ein Stubenmädchen, das dir Gesellschaft leistet.«

»Ich bin nicht den ganzen Weg nach Amerika gekommen, um mich einsperren und wie eine Porzellanpuppe behandeln zu lassen. Davon hatte ich vor meiner Heirat genug, wie du dich vielleicht erinnerst.«

»Lass uns nicht streiten. Schlaf jetzt, wir reden morgen darüber.«

Er gähnte, dann verlangsamte sich allmählich seine Atmung.

»Trotzdem«, flüsterte Eveline, »ich lasse mich nicht einfach abwimmeln.«

Kapitel 3

Lunch im Astor House

Die neue Wohnung war perfekt. Sie mussten zwar die lange Treppe emporsteigen, weil sie ganz oben im fünften Stock lag, aber sie war weiträumig und lichtdurchflutet, dabei schlicht und doch zweckmäßig eingerichtet. Die großen Fenster blickten auf den Hudson hinab, Richtung Hoboken und Jersey City.

»Abe und Sie haben schon so viel für uns getan!«, beteuerte Eveline. »Ich weiß gar nicht, wie wir Ihnen danken sollen.«

Rose war mit Geschenken vorbeigekommen: Vorhängen, die sie nicht mehr brauchte, zwei Töpfen, einer Kaffeekanne und einem Apfelkuchen. Nun saßen die beiden Frauen an Evelines Küchentisch und plauderten, als würden sie sich schon ewig kennen und nicht erst seit ein paar Tagen. Thomas und Abraham hatten im Büro der Eisenbahngesellschaft zu tun, und Eveline hatte den Tag genutzt, um die Wohnung, soweit das ging, in ein Zuhause zu verwandeln. Viel auszupacken hatte sie nicht, da sie nur wenig Kleidung mitgebracht hatte, außerdem ein paar Schätze, die sie an die Heimat erinnern sollten: Fotografien von ihrer Familie, ein winziges silbernes Modell von einer Kamera, das ihr verehrter Freund und Fotografielehrer Mr Fry ihr als Andenken geschenkt hatte, und die Shakespeare-Ausgabe ihres verstorbenen Vaters, aus der er ihr, als sie ein kleines Mädchen gewesen war, immer vorgelesen hatte.

»Sie müssen sich nicht bedanken«, sagte Rose. »Es ist uns eine große Freude, Sie hier zu haben. Abe ist überglücklich, dass Thomas für ihn arbeitet, und ich freue mich, eine neue Freundin gefunden zu haben.«

»Ich möchte Ihre Zeit aber nicht über Gebühr beanspruchen. Sie haben sicher noch viele andere Verpflichtungen.«

»Ich habe viel zu tun, das stimmt«, erklärte Rose. »Abe ist Mitglied der Union League – einer Organisation, die Präsident Lincoln und seine Politik unterstützt –, und ich helfe, Geld dafür einzusammeln. Daher muss ich ständig an irgendwelchen Sitzungen teilnehmen oder Veranstaltungen organisieren. Und an zwei Tagen in der Woche arbeite ich auch im MacDougall.«

»MacDougall?«

»Das ist das Militärkrankenhaus. Ich habe eine Grundausbildung als Krankenschwester.«

»Sie kümmern sich also um … Soldaten? Der Krieg scheint näher zu sein, als ich gedacht hatte.«

»Man hat sie von den Schlachtfeldern hierhergebracht – zuletzt aus Virginia.« Rose seufzte. »Es ist furchtbar traurig, wenn man die jungen Männer sieht, verwundet und verstümmelt im Kampf. Wir tun, was wir können, aber viele sterben oder leiden unter derart schlimmen Verletzungen, dass sie ein schweres Leben vor sich haben dürften … ein unerträgliches in manchen Fällen.«

»Ein Bürgerkrieg ist immer schlimm«, sagte Eveline. »Dass Männer derselben Nation sich so etwas antun können.«

»Im Moment fühlt es sich kaum an, als wären wir eine Nation. Wir sind ein gespaltenes Land. Vielleicht ist der Unterschied zwischen denen, die in der Sklaverei ein Übel sehen, und denen, die das nicht tun, einfach zu groß.« Rose wirkte gequält.

Eveline schien es, als hätte sie plötzlich eine andere Welt vor Augen, eine Welt voller Leid und Schmerz.

»Sie sehen so traurig aus«, sagte sie zaghaft.

»Natürlich. Diese Soldaten … Viele sind noch so jung, oft gerade erst den Kinderschuhen entwachsen …« Rose hielt inne und schenkte Eveline ein Lächeln. »Aber nun kommen Sie, meine Liebe. Sicher würden Sie gerne die Stadt besichtigen, oder? Warum machen wir nicht einen Spaziergang und schauen uns die Sehenswürdigkeiten und die Geschäfte an?«

»Wenn Sie die Zeit hätten, würde mich das sehr freuen«, sagte Eveline.

Es war höchst vergnüglich, Arm in Arm mit Rose durch die Straßen von New York zu schlendern. Die Geschäfte schienen die herrlichsten Dinge anzubieten: Kleidung, Schmuck, Porzellan, Silber, und alles lag hinter großen, flachen Glasscheiben. Die Menschen wirkten so lebendig, der Verkehr so rege, die Schreie der Händler so überschwänglich. Immer wieder zeigte Rose auf irgendwelche Sehenswürdigkeiten: da das berühmte Barnum’s American Museum und dort der Marble Palace, ein derart großes Geschäft – »wir nennen es einen Department Store, ein Kaufhaus«, erläuterte Rose –, dass es schon Ähnlichkeit mit einem italienischen Palazzo hatte. Als sie irgendwann erschöpft waren, nahmen sie im Hotel Astor einen Lunch ein, Schildkrötensuppe und Blackfish. Das Restaurant war geräumig, elegant und hell; die Fenster zogen sich vom gebohnerten Boden bis zu den hohen bemalten Decken. Vergoldete Spiegel reflektierten die modisch gekleideten Damen, die offenbar nichts zu tun hatten, als einzukaufen, zu tratschen, sich wechselseitig um ihre Kleider und Juwelen zu beneiden und die eigenen ins beste Licht zu rücken.

»Sie sehen heute sehr elegant aus, Eveline«, sagte Rose, die sofort in den Umgangston dieses Ambientes verfiel. »Ihr Hut mit diesen Federn ist ganz bezaubernd. Und sehr modisch, muss ich sagen.«

Eveline lachte. »Ich werde das Kompliment weitergeben, wenn ich meiner Schwester schreibe. Beatrice hat ein Stilgefühl, das mir vollkommen abgeht. Tatsächlich ist sie für meine gesamte Garderobe verantwortlich. Sicher hat sie auch mein Hochzeitskleid ausgesucht. Eine Riesenüberraschung war das, da ich nicht davon ausgegangen bin, dass ich überhaupt eins habe. Und es ist wirklich hübsch, viel hübscher als alles, was ich mir je hätte erträumen können. Viel Kleidung konnte ich ja nicht mitnehmen, weil wir nicht so viel Platz hatten. Ich fürchte, dass ich absolut hilflos bin, wenn ich ohne Beatrice einkaufen muss.«

»Sie haben nur diese eine Schwester?«

»Nein, zwei. Die ältere heißt Louisa, dann kommt Beatrice. Sie sind nicht weit auseinander. Ich bin etliche Jahre jünger als die beiden.«

»Sind sie verheiratet?«

»Ja. Beatrice’ Mann heißt Arthur, ein sehr netter und liebenswürdiger Mensch. Und Louisa ist mit Bevis verheiratet. Er ist charmant und witzig, aber auch ein kleiner … nun ja, Hallodri, in mancher Hinsicht zumindest. Aber meine Schwestern sind beide sehr glücklich, würde ich sagen. Ich habe auch einen Neffen und zwei Nichten, und Beatrice erwartet bald ihr zweites Kind.«

»Und wo sind Sie aufgewachsen, Eveline? In London?«

»O Gott, nein, im Gegenteil. In einer Kleinstadt auf einer kleinen Insel – in Cowes auf der Isle of Wight. Davon haben Sie bestimmt noch nie etwas gehört. Ruhig und nett, aber auch ziemlich verschlafen.«

»Das klingt doch herrlich.«

»In mancherlei Hinsicht ist es das auch. Mama und Beatrice haben sich allerdings immer beklagt, dass es dort keine eleganten Geschäfte gibt und so etwas. Mich hat das nie gestört. Mir ist es nicht wichtig, immer nach der neuesten Mode gekleidet zu sein.«

»Aber nun sind Sie in New York, und wie kann man in New York sein und keine Kleider kaufen wollen?« Rose lächelte. »Wenn Sie mögen, kann ich Sie gerne begleiten. Bei Ihrer Schönheit und Jugend werden Sie allerdings in allem wunderbar aussehen.«

»Sie sind sehr freundlich, Rose, aber ich bin nicht sonderlich gutaussehend, das ist mir schon klar. Die englische Mode ist für Schönheiten wie meine Schwestern geschaffen, kleine, elegante Wesen mit Porzellanhaut. Mich stört das aber nicht, wirklich. Thomas hält mich offenbar für eine Göttin, und das ist das Einzige, was zählt.«

»Aber Sie sind wirklich überwältigend, Eveline. Ihre funkelnden Augen – und dieses Haar, wundervoll!«

»Gerade mein Haar war stets Anlass für Kummer in meiner Familie«, sagte Eveline missmutig. »Dunkle, strubbelige Locken, die immer machen, was sie wollen … Oh!«, fügte sie dann schnell hinzu, »verzeihen Sie mir. Ich wollte nicht sagen, dass dunkle Locken nicht hübsch sind.«

Rose’ Haar war nämlich, genau genommen, noch dunkler als das von Eveline; unter der hübschen Strohhaube schauten krause Strähnen hervor, die ihr Gesicht einrahmten.

»Ganz meine Meinung«, sagte Rose gelassen. »Aber heutzutage müssen wir unsere Haare immer ordentlich unter die Haube stecken, was in meinem Fall vermutlich eher hilfreich ist.«

»Mama hat mir immer in den Ohren gelegen, dass ich ja nicht ohne Hut ausgehen soll«, sagte Eveline. »Aber eigentlich würde ich viel lieber ganz auf eine Kopfbedeckung verzichten. Sie nicht, Rose?«

»Sie haben mich falsch verstanden. Ich wollte sagen, dass die Leute nicht erkennen können, wer ich eigentlich bin, wenn ich meine Haare verstecke.«

»Wer sind Sie denn? Ich verstehe nicht ganz. Sie sind eine wunderbare Frau, würde ich sagen, so freundlich und heiter.«

Rose blickte sich um. Die Tische waren großzügig im Raum verteilt, sodass ihre nächsten Nachbarn ein Stück weit weg saßen; niemand hätte ihrem Gespräch bei dem allgemeinen Gemurmel und Geklapper lauschen können.

»Fällt Ihnen denn nichts auf? Schauen Sie mich an, Eveline. Sehen Sie nicht, dass meine Haut ein wenig dunkler ist als Ihre und die der Damen um uns herum? Und dass mein Haar schwarz und kraus ist? Meine Großmutter war eine Sklavin. Meine Mutter das, was die Leute eine Mulattin nennen. Wenn die vornehmen Damen, die hier speisen, von meiner Abstammung wüssten, wären sie vermutlich entsetzt. Aber wie es der Zufall will, ist meine Haut nicht so dunkel, dass ich nicht auch als Weiße durchgehen könnte.«

Eveline streckte den Arm aus und drückte ihrer Freundin die Hand.

»Oh, Rose, das ist mir wirklich nicht aufgefallen. Aber was macht das schon für einen Unterschied? Niemand würde ahnen … Ich meine …« Ihr stieg die Schamröte ins Gesicht, als Rose ihr einen trockenen Blick zuwarf.

»Ich schäme mich nicht für meine Abstammung, aber sie macht einem das Leben nicht immer ganz leicht«, erklärte Rose mit würdevoller Ruhe.

»Schämen? Nein, natürlich sollen Sie sich nicht schämen. Das war taktlos von mir, tut mir furchtbar leid. Entschuldigen Sie bitte.«

»Natürlich.« Sie erwiderte Evelines Händedruck und lächelte fast ein wenig zynisch. »Im Übrigen bin ich ja mit Abraham verheiratet, der ein wunderbarer Mann ist. Und reich, wenn ich das sagen darf. In dem Fall sind die Leute nämlich erheblich nachsichtiger gestimmt. Eine Mrs Clemens, die in einem prächtigen Haus wohnt, Pelze und Juwelen trägt und eine stilvolle Gastgeberin ist, akzeptiert man in der Gesellschaft für gewöhnlich, wo auch immer sie herkommen mag.«

»Würden Sie mir von Ihrer Großmutter erzählen? Das würde mich interessieren, sehr sogar. Ich weiß so wenig von diesen Dingen«, sagte Eveline und fügte dann besorgt hinzu: »Aber natürlich nur, wenn es Sie nicht zu sehr aufwühlt.«

»Ich erzähle es Ihnen gerne. Aber ich muss Sie bitten, es für sich zu behalten. Manchen Leuten wäre es ein Dorn im Auge. Ich fürchte, dass Abe Schwierigkeiten bekommen könnte, wenn sich meine Abstammung herumspräche. Geschäftsmänner können genauso geschwätzig und verschlagen sein wie Waschweiber.«

»Ich werde Ihr Vertrauen nicht enttäuschen, das verspreche ich Ihnen.«

Rose nippte an ihrem Weißwein. »Meine Großmutter war Sklavin auf einer Zuckerrohrplantage in Louisiana. Ihren Vater hatte man mit einem Sklavenschiff aus Afrika hierhergebracht – eine Reise, die viele nicht überlebten. Die Männer waren unter Deck angekettet wie die Tiere – schlimmer als Tiere, denn wer würde ein Lebewesen so behandeln?« Der kummervolle Blick, den Eveline schon zuvor wahrgenommen hatte, flog wieder über das Gesicht ihrer Freundin. »Er lernte eine Frau kennen, die bereits dort arbeitete, tat sich mit ihr zusammen, und meine Großmutter wurde geboren, auf der Plantage. Ihre Eltern starben früh, wie viele von ihresgleichen, vermutlich an einer Krankheit. Meine Großmutter kannte nichts anderes als dieses Leben. Sie arbeitete auf dem Feld und in der Küche und wuchs zu einem offenbar bildschönen Mädchen heran. Irgendwann wurde der Plantagenbesitzer auf sie aufmerksam. Natürlich war es sein gutes Recht, alles mit ihr zu machen, wonach ihm der Sinn stand. Meine Mutter kam zur Welt, als meine Großmutter gerade einmal fünfzehn war.«

»Wie abstoßend. Was muss dieser Mann für ein Monster gewesen sein!«, sagte Eveline.

»Es hätte viel schlimmer kommen können«, versuchte Rose sie zu besänftigen. »Mein Großvater – der Plantagenbesitzer – war kein Hinterwäldler. Er erlaubte meiner Großmutter, ihre Tochter bei sich zu behalten, und behandelte sie durchaus freundlich. Meine Mutter durfte sogar lesen und schreiben lernen und wurde eine Art gehobene Angestellte. Sie durfte bei Tisch bedienen und die Tür öffnen, solche Dinge. Mein Vater wiederum war ein Zuckerhändler aus New York. Er kam auf seinen Reisen regelmäßig in das Haus. Sein Auge fiel auf Momma, und er verliebte sich in sie. Er nahm sie mit nach New York und heiratete sie, und dann kam ich.«

»War Ihre Mutter denn glücklich in New York?«

»Sie hat den Süden vermisst. Sie hat mir immer von den langen Abenden dort erzählt, von der Wärme und den zirpenden Grillen und dem Louisiana-Moos, das wie Girlanden von den Bäumen herabhängt. Der Winter hier kann sehr kalt sein, und die Kälte setzte ihr zu. Aber meinen Vater hat sie geliebt, glaube ich. Sie waren wohl ziemlich glücklich miteinander.«

»Und Ihre Großmutter? Ist sie zusammen mit Ihrer Mutter und Ihrem Vater hierhergekommen?«

»Ja. Sie war eine wichtige Bezugsperson für mich. Mein Vater hat sie freigekauft. Ihre Lieder und ihre Geschichten werde ich nie vergessen. Aber sie ist schon lange tot.«

»Was für eine unglaubliche Geschichte, Rose. Danke, dass Sie mir davon erzählt haben.«

»Ich könnte Ihnen noch mehr – viel mehr – erzählen. Irgendwann werde ich das vielleicht tun. Es gibt Dinge, die so furchtbar sind, dass man sie kaum glauben mag, Dinge, die ich von meiner Mutter erfahren habe. Dabei hat sie, wie man wohl sagen muss, noch Glück gehabt. Den meisten war das nicht beschert. Sie werden nun begreifen, warum mir die Abschaffung der Sklaverei so am Herzen liegt – obwohl ich natürlich hoffe, dass es auch ohne meine Familiengeschichte so wäre. Es ist der Sinn für Gerechtigkeit, der mich leiten sollte, nicht Rachsucht.«

»Der Sinn für Gerechtigkeit sollte uns alle leiten. Ich wäre froh, wenn Thomas’ und Abes Arbeit dazu beitragen könnte, dem Kampf zum Erfolg zu verhelfen. Aber ich wünschte, ich selbst könnte auch etwas tun. Im Gegensatz zu Ihnen bin ich keine Krankenschwester. In einem Krankenhaus wäre ich absolut fehl am Platze.«

»Sie sind doch erst eine Woche hier, meine Liebe! Lassen Sie sich Zeit. Leben Sie sich ein. Genießen Sie das Zusammensein mit Ihrem Mann. Sie sind noch nicht lange verheiratet, nehme ich an?«

»Das stimmt, Rose. Unsere Hochzeit ist sogar erst wenige Tage her.«

»Du liebe Güte! Dann ist es ja wirklich noch ganz frisch. Die Trauung hat kurz vor Ihrer Abreise aus England stattgefunden?«

»Nein. Wir sind erst aufgebrochen – hoffentlich sind Sie jetzt nicht schockiert – und wurden dann an Bord des Schiffes getraut. Es ist alles Hals über Kopf gegangen, müssen Sie wissen. Thomas und ich … Nun ja, vermutlich waren wir schon eine Weile ineinander verliebt, ohne es richtig zu merken. Ich dachte, er sei mit einer anderen Frau verlobt, und Thomas dachte, ich sei einem anderen versprochen. Eine absurde, komplizierte Situation war das, und ich dachte schon, er habe mich längst vergessen. Ich dachte tatsächlich, er hat diese andere Frau geheiratet. Alle Hoffnung schien dahin, aber dann … Irgendwann haben wir begriffen, dass wir füreinander bestimmt sind, aber als er um meine Hand angehalten hat, blieb nur noch eine Woche, bis er das Schiff nach Amerika nehmen musste.«

»Gütiger Gott, das klingt wirklich sehr romantisch.«

»Das war es auch. O ja, das war es. Ein wahrer Glücksrausch. Andererseits musste ich nun meiner Familie offenbaren, dass ich mich verlobt hatte und innerhalb einer Woche aufbrechen würde, um auf unbestimmte Zeit nicht wiederzukehren.«

»Waren sie sehr schockiert?«

»Mama war zunächst richtiggehend wütend, als sie erfuhr, dass ich mich mit Thomas verlobt hatte. Sie mochte ihn nämlich nicht. Außerdem hatte sie immer gehofft, dass ich einen wohlhabenden Mann heiraten würde, am besten einen mit Adelstitel, ganz bestimmt aber nicht den, den sie immer nur diesen großen, finsteren Mann von der Eisenbahn nannte. Allerdings hat sie kürzlich selbst erst wieder geheiratet – mein Vater ist schon vor vielen Jahren verstorben –, und ich glaube, sie ist mit ihrem neuen, überaus reizenden Ehemann so glücklich, dass sie gar nicht lange wütend sein kann. Irgendwie hat sie sich mit der Sache wohl abgefunden. Meine Schwestern haben geweint und erklärt, sie würden mich vermissen, aber sie haben ja beide ein eigenes Zuhause und einen Mann und Kinder, um die sie sich kümmern müssen. Es dauerte also nicht lange, bis sie sich auf die Frage stürzten, was für Kleider ich mitnehmen soll, und mich ermahnten, sie über die neueste New Yorker Mode auf dem Laufenden zu halten.«

Rose lachte. »Dann müssen wir die neueste New Yorker Mode wohl auskundschaften. Ihre Schwestern sollen schließlich nicht enttäuscht werden. Haben Sie noch mehr Familie?«

»Es gibt noch eine Tante, die ich sehr gerne mag. Und ihre Freundin, meine ehemalige Gouvernante. Die beiden haben sich wahnsinnig für mich gefreut. Was sie betrifft, habe ich strenge Anweisung, über alles zu berichten, was mir an Hühnervolk unter die Augen kommt. Sie halten selbst Hühner und Enten und interessieren sich brennend für ungewöhnliche Rassen.«

»Klingt so, als seien Ihre Tante und ihre Freundin ganz wunderbare Personen.«

»Unbedingt.«

»Dann sind Thomas und Sie ja praktisch in den Flitterwochen hier, oder?«

»Irgendwie schon. Thomas und ich haben darüber gesprochen, dass wir eines Tages richtige Flitterwochen machen werden, an einem hübschen, ruhigen Ort. Im Moment bin ich allerdings derart glücklich, dass ich mir gar nichts anderes wünsche – außer, dass Thomas in Sicherheit ist.«

»Abe wird nicht zulassen, dass er in Gefahr gerät, solange es in seiner Macht steht. Und übrigens, Eveline, wenn Sie Thomas erzählen wollen, was ich Ihnen heute anvertraut habe, können Sie das gerne tun. Ich vertraue ihm. Ich vertraue Ihnen beiden.«

Als sie später am Abend an dem schlichten Kiefernholztisch in ihrem neuen Zuhause saßen, erzählte sie Thomas von Rose’ Familie.

»Unfassbar«, sagte Thomas. »Eines Tages wird diese Unterdrückung hoffentlich der Vergangenheit angehören. Allerdings bin ich nicht so naiv zu glauben, dass es bei dem Krieg nur um die Abschaffung der Sklaverei geht. Ganz offensichtlich verfolgen beide Seiten auch wirtschaftliche und politische Interessen. Aber sollte ich je eine Mahnung brauchen, warum es so wichtig ist, dass die Eisenbahn den Unionisten zum Sieg verhilft, habe ich nun eine vor Augen.«

»Aber du wirst selbst kein Risiko eingehen, Thomas, oder?«

»Nein, nein. Wie es aussieht, werde ich nicht in die Nähe eines Schlachtfeldes geraten. Wir werden uns eher der Pacific Railroad widmen – der Eisenbahnstrecke, die den Osten mit dem Westen verbinden soll. Das ist der dringlichste Wunsch des Präsidenten, wie ich gehört habe. Mach dir also keine Sorgen. Und du? Was hast du heute alles erlebt?«

»Oh, eine Menge!« Sie erzählte von ihrem Tag, den wundervollen Plätzen, der unfassbaren Größe der Stadt, ihrem Lärm und dem allgegenwärtigen Trubel.

»Und dann habe ich noch etwas absolut Großartiges gesehen, Thomas. An einer Straßenecke vom Broadway, nicht weit von unserer Wohnung entfernt. Rate mal, was?«

»Einen Hutladen?«

»Falsch. Was sollte daran auch großartig sein?«

»Ein Restaurant, in dem man den ganzen Tag über frühstücken kann?«

»Wieder falsch, obwohl das eine ausgezeichnete Idee wäre, wie ich zugeben muss. Nein, ich habe ein Fotografiestudio entdeckt.«

»Ah, verstehe. Du möchtest eine romantische Fotografie von uns anfertigen lassen – die frisch Vermählten, schick herausgeputzt und mit angespannt verzerrter Miene zwischen zwei Kübelpflanzen stehend.«

»Natürlich nicht! Sei doch nicht albern, Thomas. Nein, das Wichtigste war, dass ein Schild im Fenster hing: Assistent gesucht.«

»Du willst dich doch wohl nicht bewerben?«

»Hättest du etwas dagegen?«

»Ich weiß nur zu gut, dass es für dich nicht den geringsten Unterschied machen würde, wenn ich etwas dagegen hätte.«

»Ich dachte, dass ich gleich morgen mal vorbeigehe, um mich nach der Stelle zu erkundigen. Ein kleines Portfolio mit Abzügen, die mir besonders gelungen scheinen, habe ich ja mitgebracht. Wenn ich das vorzeige, sehen sie, dass ich schon ein bisschen Erfahrung habe.«

»Nun, warum nicht? Deine Fotografien sind bemerkenswert. Die Leute werden beeindruckt sein.«

»Danke, das will ich hoffen. Ein bisschen nervös bin ich allerdings, muss ich zugeben. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt.«

Kapitel 4

Eveline findet Arbeit

Mr Samuel Byrne, der Besitzer des Fotografiestudios an der Ecke Broadway/Twenty-first Street, ging natürlich davon aus, dass die große junge Engländerin eine Porträtfotografie von sich machen lassen wollte. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass sie wegen des Schilds im Fenster gekommen war.

»Die Sache ist die, Ma’am«, sagte er entschuldigend, »dass wir nach jemandem suchen, der uns bei den technischen Dingen hilft – Abzüge entwickeln, Platten vorbereiten und so weiter. Wenn wir eine Empfangskraft brauchen würden, jemanden, der die Kunden begrüßt und ihnen den Mantel abnimmt, könnte ich mir natürlich niemand Besseren vorstellen. Aber leider sind wir auf der Suche nach einem Mann, der sich mit Kameras auskennt.« Er zuckte mit den Achseln.

Mr Byrne war Mitte dreißig, schätzte Eveline, ein untersetzter Mann mit leuchtend blauen Augen über dem dunklen Vollbart.

»Ich kenne mich aber mit Kameras aus, Mr Byrne«, versicherte Eveline. »In England habe ich in einem Fotografiestudio gearbeitet. Nicht als bezahlte Kraft«, fügte sie hinzu, weil sie streng bei der Wahrheit bleiben wollte, »aber ich habe eine Menge gelernt. Ich habe mit verschiedenen Kameras gearbeitet und bin sehr geübt im Umgang mit Kollodium-Nassplatten.«

»Ach ja?« Er wirkte eher amüsiert als beeindruckt. »Nun, das ist ungewöhnlich. Es gibt nicht viele Damen, die sich für unsere Arbeit interessieren. Ein kleines Hobby, nehme ich an?«

»Mehr als ein Hobby. Viel mehr. Eine Leidenschaft, würde ich sagen. Mir ist bewusst, dass ich noch viel lernen muss, aber wenn Sie mich einstellen würden, wäre ich zu allem bereit.«

»Es tut mir leid. Ich bin sicher, dass Sie eine aufgeweckte junge Dame sind, aber wir suchen nun mal jemand anderen.«

Eveline biss sich enttäuscht auf die Lippe.

»Trotzdem danke, Mr Byrne«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. Dann hielt sie inne und drehte sich noch einmal um. »Ich habe ein paar Arbeitsproben mitgebracht. Ich möchte nicht Ihre kostbare Zeit in Anspruch nehmen, aber würden Sie sich vielleicht die Mühe machen, einen Blick darauf zu werfen?« Sie holte die Mappe heraus, die sie für die Reise sorgfältig in Pergamentpapier eingewickelt hatte, und packte sie aus.

»Warum nicht«, sagte Mr Byrne mit einem Achselzucken und begann, die Seiten umzublättern. Eveline hielt die Luft an.

Schweigend betrachtete er die Fotografien, jede einzelne studierte er eingehend. Ein, zwei Mal warf er Eveline einen Bick zu, um die Aufmerksamkeit dann wieder den Abzügen zuzuwenden. Schließlich richtete er sich auf.

»Die sind gut, Ma’am. Wirklich gut.« Er klang überrascht. »Die Porträts, die gefallen mir. Und dann die Bilder vom Meer bei verschiedenen Lichtverhältnissen. Wo sind die aufgenommen?«

»In England. In einer kleinen Stadt auf einer Insel vor der Südküste.«

»Und diese Fotografie hier.« Er blätterte zurück zum Porträt ihrer geliebten Tante, ein körniges, fast grobes Bild von einem starken, attraktiven Gesicht. »Das ist ungewöhnlich – sehr wahrhaftig, ohne jede Beschönigung. Wo haben Sie gelernt, solche Bilder zu machen?«

»Ich hatte einen guten Lehrer«, sagte Eveline. »Einen freundlichen Mann namens Theodore Fry, ein Professor für Fotografie. Außerdem habe ich einfach drauflos fotografiert, viel ausprobiert und herumexperimentiert. Neun Zehntel meiner Versuche musste ich allerdings verwerfen, muss ich gestehen. Was Sie hier sehen, sind nur die Abzüge, mit denen ich zufrieden war, nicht die Fehlversuche.«

»So geht es doch uns allen. Man darf keine Angst haben, etwas falsch zu machen, sonst bekommt man nie etwas Ordentliches hin.«

»Für diese Fotografie habe ich sogar einen Preis gewonnen.« Eveline besann sich darauf, dass dies nicht die Zeit für Bescheidenheit war. »Von der Photographic Society of London.«

»Ach, tatsächlich?« Mr Byrne warf ihr einen Blick zu und nickte. »Nun, Ma’am, ich muss schon sagen, Sie sind talentiert. Und Sie sagen, Sie kennen sich auch mit dem Entwickeln von Bildern und solchen Dingen aus?«

»Ich weiß, wie man eine Kollodiumlösung ansetzt«, sagte Eveline. »Und ich bin ziemlich gut darin, die Platten in Silbernitrat zu tauchen. Was das Waschen der Platten betrifft, hat man mir immer eine besonders ruhige Hand nachgesagt, außerdem …«

»Gut, das reicht, ich habe verstanden.« Er lächelte. »Sie können eine Menge, scheint mir. Ich persönlich würde Sie vom Fleck weg engagieren, aber ich muss mich vergewissern, dass mein Kompagnon einverstanden ist. Er ist gerade in der Dunkelkammer. Können Sie noch bleiben, bis ich ihn geholt habe? Wir arbeiten sehr eng zusammen. Ohne seine Zustimmung kann ich Ihnen keine Zusage machen.« Er stand auf und verschwand mit einem leichten Hinken im rückwärtigen Bereich des Studios.

Als Joseph Ellis, die andere Hälfte von Byrne and Ellis, Gesellschaftsfotografen von New York City, aus dem Hinterzimmer trat, war Evelines erster Gedanke, dass sie vielleicht noch nie einen so attraktiven Mann gesehen hatte. Seine hellbraunen Locken, die er etwas länger trug, rahmten ein Gesicht mit schön geschwungenen Augenbrauen ein; graue Augen mit langen dunklen Wimpern; elegante, gerade gewachsene Figur. Als Eveline ihm vorgestellt wurde und die Hand ausstreckte, schenkte er ihr ein unwiderstehliches Lächeln. Es war unmöglich, nicht genauso herzlich zurückzulächeln.