Die Zeit der Rose - Heather Cooper - E-Book

Die Zeit der Rose E-Book

Heather Cooper

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Beschreibung

Als 1862 die Eisenbahn Einzug auf der verschlafenen Isle of Wight hält, verspricht das moderne Transportmittel Abenteuer und neue Möglichkeiten. Aber die Inselbewohner halten an alten Werten fest – so auch die Familie Stanhope. Es ist höchste Zeit, eine gute Partie für die jüngste Tochter Eveline zu finden. Denn sie hat ihre eigenen Vorstellungen vom Leben, lernt lieber fotografieren und schwimmen, als die vornehme Dame zu spielen. Auch das Elend der Arbeiterschicht, das sie durch den Bau der Schienen kennenlernt, lässt sie nicht los. Doch der smarte und attraktive Chefingenieur Thomas Armitage will nichts von ihren Beschwerden wissen …

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Buch

1862, Isle of Wight: Als die Eisenbahn Einzug in das verschlafene Küstenstädtchen hält, das die neunzehnjährige Eveline Stanhope ihr Zuhause nennt, soll sich nicht nur ihr Leben verändern. Das moderne Transportmittel verspricht Abenteuer und neue Möglichkeiten, bringt aber auch Konflikte mit sich. Denn die traditionsliebenden Inselbewohner halten an alten Werten und Regeln fest – so auch die Familie Stanhope. Evelines ältere Schwestern haben bereits hervorragende Partien gemacht, und nun ist es an der Zeit, einen geeigneten Ehemann für die jüngste Tochter zu finden. Doch Eveline hat ihre ganz eigenen Vorstellungen vom Leben, lernt lieber heimlich Fotografieren und Schwimmen, statt bei Dinnerpartys die vornehme junge Dame zu spielen. Auch das Elend der Arbeiterschicht, das sie durch den Bau der Schienen kennenlernt, lässt sie nicht los – doch der Vorstand der Eisenbahn will nichts von ihren Beschwerden wissen, auch nicht der smarte und attraktive Chefingenieur Thomas Armitage …

Autorin

Heather Cooper wuchs im Norden Englands auf. Sie hat zwei erwachsene Kinder und lebt auf der Isle of Wight. »Die Zeit der Rose« ist ihr erster Roman. Band 2 ist bei Goldmann bereits in Arbeit.

Heather Cooper

Die Zeit der Rose

Roman

Aus dem Englischenvon Claudia Franz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © der Originalausgabe »Stealing Roses« by Heather CooperCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: FinePic®, MünchenRedaktion: Lisa Caroline WolfMR · Herstellung: kwSatz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad AiblingISBN: 978-3-641-20542-3V002www.goldmann-verlag.de
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Für Terence

Cowes, Isle of Wight1862

Kapitel 1

Eveline kommt zu spät zum Lunch

Eveline unternahm nun schon den dritten Versuch, die Szene vor ihren Augen zu skizzieren: die große Zeder, die grauen Mauern, die den Garten umschlossen, das Dächergewirr, das sich zum Strand hinabzog, das Meer dahinter. Die beiden Zeichnungen, die sie bereits angefertigt hatte – und die es nicht vermochten, die majestätische Pracht des Baums und die glitzernde Wasseroberfläche einzufangen –, hatte sie achtlos aus dem Schoß fallen lassen; die dritte wanderte nun hinterher. Irgendwie gelang es ihr nicht, ihren Skizzen Leben einzuhauchen. Sie wandte sich wieder ihrem Buch zu und rief sich in Erinnerung, dass sie jeden Tag ein paar Gedichtzeilen auswendig lernen wollte. Sie murmelte jene, die sie sich für heute vorgenommen hatte.

Zu beiden Seiten des Flusses wiegen sich

Gerste und Roggen, schier unermesslich.

Die Wärme dieses Frühlingstags, der ferne Rhythmus der Meereswellen und die einschläfernde Wirkung der Worte führten allerdings dazu, dass ihr die Augen zufielen. Das Buch glitt aus ihrem Schoß, um sie bei der Landung neben den zerknüllten Skizzen unten im Gras wieder hochschrecken zu lassen. Da sie etwa vier Meter über dem Boden auf dem dicken Ast einer Buche hockte, blieb ihr nichts anderes übrig, als auf dem üblichen Weg hinabzuklettern, um sich das Buch und ihre dilettantischen Skizzen wiederzuholen. Dazu musste sie sich auf die Mauer hinablassen, die den Rosengarten umschloss, dann auf den alten Schuppen – ganz vorsichtig, um nicht auf die Glasscheibe im Dach zu treten – und schließlich auf eine umgedrehte Schubkarre. Als sie unten war, hatte sie mit einem Mal das Gefühl, dass man im Haus vielleicht auf sie wartete. Kaum hatte sich ihr Gewissen geregt, hörte sie auch schon den vertrauten Klang des Glöckchens, das zum Lunch rief. Mit einem Seufzer der Verzweiflung, die eher mit diesem unbefriedigenden Morgen als mit der Unterbrechung zu tun hatte, schlüpfte sie durch die niedrige Tür in der Mauer, stieg die Treppe zum Rasen hinauf und ging über die Terrasse zum Haus.

Im Innern herrschte rege Betriebsamkeit. Eveline vernahm die Stimmen ihrer Mutter und ihrer Schwestern, als sie das Speisezimmer betrat. Es war eine lebhafte Diskussion darüber entbrannt, ob zum morgigen Dinner eine kalte Suppe gereicht werden solle und ob man so kurzfristig noch Ananas bekomme könne und falls ja, wie sie zuzubereiten sei. Ihre beiden Schwäger debattierten hitzig über die Vorzüge und Schwächen zweier Kutschpferde, die Arthur kürzlich erworben hatte, weil sie seiner Frau sofort ans Herz gewachsen waren, während Bevis den Verdacht hegte, dass der Kauf keineswegs ein so gutes Geschäft war, wie Arthur es darstellte. Daisy und Kitty hatten etwas zu tuscheln, und Miss Angell versuchte, den sechsjährigen Henry dazu zu bewegen, erst ein Butterbrot und ein bisschen kaltes Huhn zu essen, bevor er sich Hoffnungen auf eine Portion von dem Trifle machen durfte, der bereits in all seiner verführerischen Pracht aus Englischer Creme, Biskuit, Kirschen, Sahne und Engelwurz auf der Anrichte stand.

»Eveline, endlich!« Ihre Mutter entdeckte ihre jüngste Tochter, als sie sich möglichst unauffällig neben Tante George niederlassen wollte. »Wo warst du nur?«

Da Eveline wusste, dass die Frage eher rhetorisch gemeint war, schwieg sie.

»Nun, heute gibt es kaltes Mittagessen, daher ist es nicht so schlimm. Aber dein Haar, Eveline, wirklich!«

Evelines Haare waren für ihre Mutter Anlass zu stetem Kummer. Mrs Stanhope war in ihrer Jugend berühmt gewesen für ihre blonden Löckchen, die ihr herzförmiges Gesicht so anmutig einrahmten. Mittlerweile war die Farbe ein wenig verblasst, und in das Gold, das unter ihrer Haube hervorlugte, hatten sich silberne Fäden geschlichen. Aber selbst in der Mitte ihres Lebens war sie noch eine bemerkenswert schöne Frau. Die beiden älteren Töchter hatten ihr Aussehen im Wesentlichen geerbt. Besonders Louisa war so hübsch wie ihre Mutter einst, während Beatrice keine Schönheit im eigentlichen Sinne war, aber sich durch schmale weiße Schultern und einen Rosenmund auszeichnete. Eveline hingegen kam ganz nach ihrem Vater. Einen Kopf größer als ihre Mutter und ihre Schwestern hatte sie dunkle widerspenstige Locken, die sich jedem Bändigungsversuch entzogen, und markante Gesichtszüge: einen breiten Mund, eine gerade Nase und dichte Augenbrauen. Seit ihrem zwölften Lebensjahr war ihr leidvoll bewusst, eine Enttäuschung für ihre Mutter zu sein, und gelegentlich fühlte sie sich immer noch unangenehm plump neben ihren Schwestern. Andererseits war sie seit Jahren fest gewillt, sich nicht mehr daran zu stören, und empfand es sogar fast als Erleichterung, keine Schönheit zu sein. Sie erwartete erst gar keine Komplimente, musste nicht stundenlang mit schmerzhaft über Stofflappen festgezurrten Haaren herumlaufen und hatte auch keine Bedenken, ohne Sonnenschutz hinauszugehen. Das verschaffte ihr eine Freiheit, die sie niemals gegen die Angst ihrer Schwestern um ihre Porzellanhaut und ihr weiches, glänzendes Haar hätte eintauschen mögen.

»Deine Mutter ist ein wenig besorgt wegen des morgigen Dinners, mein Schatz«, sagte ihre Tante leise.

»Natürlich. Kein Problem, Tante George. Obwohl ich gar nicht weiß, wieso Mama sich so aufregt. Normalerweise liebt sie es doch, zum Dinner zu laden.«

»Vermutlich macht sie sich Gedanken wegen der Zusammensetzung der Gäste«, sagte ihre Tante zögernd. »Sie hat auch Mr Watson eingeladen und den jungen Mann, der für ihn arbeitet. Jetzt hat sie Bedenken, dass es den Sandhams nicht passen könnte, mit den beiden an einem Tisch zu sitzen.«

»Wir leben in einer kleinen Stadt, Tante George, da laufen sich ohnehin alle über den Weg! Und so wichtig sind die Sandhams nun auch wieder nicht.«

»Sie sind große Fische in unserem kleinen Teich, mein Schatz, und das wissen sie auch. Ich persönlich fühle mich in Gesellschaft von Mr Watson wohler. Er ist ein feinfühliger Mann und hat viel von der Welt gesehen, was man von Augusta Sandham nicht gerade behaupten kann. Ihr Horizont wird von den dicken Mauern um ihr Anwesen begrenzt.«

Eveline seufzte. »Da geht es mir nicht anders, Tante George.«

Ihre Tante warf ihr einen ernsten Blick zu. »Jeder, der viel liest, ist ein Bürger der Welt, mein Schatz. Und das tust du doch.«

»Ich lese furchtbar gerne, das stimmt. Aber das reicht mir nicht. Das kann nicht alles sein. Ich habe so wenig von der Welt gesehen und komme kaum aus unserem Städtchen heraus. Und wenn, geht es immer nur darum, Leute zu besuchen, die ich schon längst kenne. Sie wohnen in ähnlichen Häusern wie wir und essen das Gleiche, und nach dem Essen hören sie dieselbe Musik, und … Ach, das ist alles so einengend!«

»Dann musst du halt auf eigene Faust Abenteuer unternehmen, meine Liebe«, sagte ihre Tante ruhig und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Miss Angell, Henry und dem Trifle zu.

Evelines Plan, sich für den Rest des Tages ihren Büchern zu widmen, wurde von ihrer Mutter vereitelt. Für das morgige Dinner war noch viel zu erledigen, und ihre Mutter bat sie, mit ihr die Liste der Speisen durchzugehen, die bestellt und vorbereitet werden mussten. Außerdem sollte sie die Blumen auswählen.

»Die Rosen blühen noch kaum, aber der weiße Flieder wäre perfekt. Und vielleicht Primeln für den Tisch?«

»Soll ich schnell in den Garten gehen und sie pflücken?«, fragte Eveline, die schon die Gelegenheit witterte, sich zurückzuziehen.

»Nein, morgen früh wäre besser. Außerdem brauche ich dich jetzt, um die Sitzordnung zu besprechen. Können wir es wagen, Mr Watson neben Lady Sandham zu setzen? Oder wäre das ein Affront?«

»Ich sehe nicht, wie es ein Affront sein könnte, neben einem so klugen und interessanten Mann zu sitzen.«

Ihre Mutter sah sie unwillig an. »Das weißt du ganz genau, Evie. Mr Watson ist Direktor der Eisenbahngesellschaft und hat sein Geld im Schiffsbau gemacht. Augusta Sandham hält es für entschieden unter ihrer Würde, sich mit Geschäftsleuten abzugeben. Nur sein Vermögen lässt es für sie akzeptabel erscheinen, sich überhaupt mit ihm an einen Tisch zu setzen. Außerdem hat er mich derart eindringlich darum gebeten, seinen jungen Freund mit einzuladen, dass ich ihm die Bitte nicht abschlagen mochte. Offenbar übt der Mann ebenfalls eine wichtige Tätigkeit bei der Eisenbahn aus.«

»Hat die Eisenbahn etwas mit Geschäften zu tun?«

»Schlimmer als das«, sagte ihre Mutter entschieden. »Außerdem soll die Eisenbahnstrecke am Park der Sandhams vorbeiführen. Das ist Ruhestörung und verschandelt ihre Aussicht.«

»Viele Menschen sind von der Strecke betroffen. Im Übrigen verdankt Arthur sein Vermögen ebenfalls Geschäften, und gegen den haben sie doch auch nichts einzuwenden, oder?«

»Das ist aber schon zwei Generationen her, und Arthur ist ein Gentleman, wie er im Buche steht. Mr Watsons jungen Freund habe ich zudem eingeladen, ohne ihn zu kennen, Evie. Wenn ich recht verstanden habe, kommt er aus dem Norden, aus Yorkshire oder irgendeinem anderen eiskalten, finsteren Ort. Der Himmel weiß, was Augusta über ihn denken wird. Sie wird sich aufs hohe Ross setzen, da kannst du dir sicher sein.«

»Dann platziere Lady Sandham doch neben Bevis, der wird sie schon bezirzen. Und wenn du Mr Watson neben Tante George setzt, wird der Abend sicher vergnüglicher für ihn.«

»Möchtest du die beiden verkuppeln, Evie? Mr Watson und deine Tante?«

»Natürlich nicht, Mama! Tante George würde niemals heiraten.«

»So alt ist sie doch noch gar nicht – nur ein paar Jahre älter als ich. Und Mr Watson ist ein angenehmer Zeitgenosse, ein wohlhabender zumal. Fändest du das so schockierend?«

»Nein, schockierend nicht, aber …« Sie hielt inne und dachte darüber nach, warum ihr die Idee nicht gefiel. »Tante George gehört einfach zu uns.«

»Nun, wenn sie nur wegen uns hierbleiben soll, wäre das ziemlich selbstsüchtig. Ich sehe keinen Grund, warum sie nicht ein eigenes Zuhause haben sollte. Und einen Ehemann, wenn sie möchte.«

»Mir scheint, du möchtest sie verkuppeln, Mama.«

»Unsinn, Evie. Mr Watson ist einfach ein lieber Freund. Und es ist schon viel zu lange her, dass seine arme Frau verstorben ist. Mir tut es leid, dass er so allein ist.«

Tante George, eigentlich Georgina, war Mr Stanhopes einzige Schwester gewesen. Sie war zwei Jahre älter als er und zog ein paar Jahre nach der Hochzeit ihres Bruders zu seiner Familie. Louisa und Beatrice waren damals noch klein, und eine unverheiratete Tante war natürlich eine große Hilfe für die Familie, die sich um zwei fast gleichaltrige Mädchen zu kümmern hatte. Da der Name Georgina für die Kinder schwer auszusprechen war, wurde sie schnell zu Tante George. Als die Mädchen dann alt genug waren, um eine Gouvernante zu brauchen, kam Miss Angell ins Haus. Tante George blieb trotzdem und konnte zur Erziehung beitragen, indem sie Latein und Mathematik unterrichtete, während Miss Angell für Geschichte, Französisch und Aquarellmalerei zuständig war. Zwischen den beiden Frauen schien es keinerlei Rivalitäten um die Lehrpläne zu geben, und als dann Eveline kam – vielleicht ein wenig unerwartet, da sie über zehn Jahre nach Louisa und neun nach Beatrice geboren wurde –, erhielt auch sie Unterricht von beiden Frauen. Die Mädchen liebten Miss Angell, und Tante George, die ziemlich scharfzüngig sein konnte, war ebenfalls eine kluge, heitere Gesellschafterin. Als Louisa mit neunzehn heiratete und Beatrice im darauffolgenden Jahr ebenfalls, wirkte das Haus zunächst still, fast melancholisch. Beatrice lebte aber nur ein paar Straßen weiter, und auch Louisa, die weiter weg wohnte, kam häufig in ihr Elternhaus zurück, sodass Eveline die Erlösung von diesem ewigen Gerede über Hochzeitskleider und Spitze, das sämtliche Gedanken ihrer Mutter und ihrer Schwestern okkupiert hatte, schließlich doch als Segen empfand. Sie las, lernte und ging mit ihrem Vater am Fluss spazieren, wo sie die Namen sämtlicher Blumen und Vögel lernte, denen sie begegneten, und gelegentlich schaffte sie es, unbemerkt von ihrer Mutter auf Bäume zu klettern.

Am Tag vor Evelines dreizehntem Geburtstag änderte sich ihr Leben allerdings mit einem Schlag. Mr Stanhope hatte, wie so oft, mit seiner jüngsten Tochter einen Spaziergang am Fluss unternommen, hinaus aus dem Städtchen. Bei ihrer Rückkehr fühlte er sich müde und ging nach oben, um sich bis zum Dinner hinzulegen. Um sechs Uhr kam Mrs Stanhope zu ihm, um ihn zu wecken, damit er sich fürs Essen ankleiden konnte – denn oft war er etwas zerstreut und vernachlässigte die Etikette, auf die seine Frau so großen Wert legte –, doch er wollte einfach nicht wach werden. Als Dr. Pearson eintraf, konnte er nur noch traurig den Kopf schütteln und seine Überzeugung kundtun, Mr Stanhopes Herz habe ihm den Dienst versagt, ganz unvermittelt und höchstwahrscheinlich ohne große Schmerzen.

Die Erinnerungen an die Jahre nach dem Tod ihres Vaters verschwammen wie ein Traum, von dem Eveline nur noch Bruchstücke wusste: das Rascheln des schwarzen Seidenkleids ihrer Mutter; das Dämmerlicht im Haus, in dem alle Läden geschlossen waren; die Verwahrlosung des Haushalts, in dem Mahlzeiten ausgelassen und der Unterricht vernachlässigt wurde. Irgendwann aber trug ihre Mutter plötzlich violette Bänder, im Wohnzimmer hingen neue Vorhänge und die alte Ordnung kehrte zurück. Eveline verbrachte die Vormittage damit, alles zu lernen, was ihre Gouvernante und Tante George ihr beizubringen beschlossen hatten; nur die Tanz- und Musiklehrer, die man zu Louisas und Beatrice’ Zeiten beschäftigt hatte, waren vergessen.

Am meisten vermisste Eveline die Spaziergänge mit ihrem Vater, den Uferweg am Fluss, die Sandbänke an der Flussmündung, die Küste. Stattdessen rollte sie sich nun ganze Nachmittage lang in dem Sessel ihres Vaters ein, in dem er in seinem Arbeitszimmer immer gesessen hatte. Niemand schenkte ihr groß Beachtung, was ihr sehr entgegenkam, da sie sich wahllos durch sämtliche Bücher seiner Bibliothek hindurchlesen konnte: Shakespeare und Milton und Shelley und Byron; Atlanten und Kräuterbücher; medizinische Fachbücher; Land- und Seekarten; dicke Wälzer mit Radierungen von Szenen aus Italien, Ägypten und dem Lake Country; Abhandlungen über die Fruchtfolge und über Viehkrankheiten; Bücher mit kolorierten Bildern von Vögeln und Tieren; und dann noch ein Buch, das in den obersten Regalreihen steckte und nur mithilfe der Bibliotheksleiter zu erreichen war, ein wunderschöner Band mit Bildern von Männern und Frauen des Orients, nackt oder in herrlichen Gewändern, in Gärten voller Blumen und seidener Kissen, mit goldenen Glöckchen an den Knöcheln und Juwelen um den Hals, anmutig ineinander verschlungen, auf wahrhaft interessante und erstaunliche Weise.

An diesem Nachmittag sollte sie nicht die Möglichkeit bekommen, sich in das Heiligtum des Arbeitszimmers zurückzuziehen. Sobald die Sitzordnung Mrs Stanhopes strengen Maßstäben Genüge tat, musste sich Eveline um Daisy, Kitty und Henry kümmern. Ihre Schwestern gingen derweil in die Stadt, um Rosetten für ihre Schuhe und Parfum zu kaufen – Louisa ein wenig herablassend angesichts der Läden, die sie einst hinreißend gefunden hatte, nun aber im Vergleich mit denen in Newport, der Stadt in der Nähe ihres neuen Domizils, nicht mehr gelten lassen mochte, und Beatrice begierig darauf, von ihrer Schwester zu erfahren, was in der großen Welt derzeit à la mode war. Eveline mochte ihre Nichten und ihren Neffen, aber nach zwei Stunden in ihrer Gesellschaft war sie durchaus froh, als ihre Schwestern zurückkehrten und von ihren Einkäufen schwärmten.

»Neue Spitzenhandschuhe, Eveline, schau mal, wie wunderbar! Für dich sind sie vielleicht etwas zu zart, aber wir haben rote Seidenrosen mitgebracht, die dir ganz gut stehen dürften«, sagte Beatrice.

»Was ziehst du denn morgen zum Dinner an?«, fragte Louisa, während sie die Spitze an ihrem Handgelenk bewunderte.

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, antwortete Eveline.

Louisa stieß einen spitzen Schrei aus. »Komm mit hoch. Miss Angell übernimmt jetzt die Kinder, dann können wir nach etwas Passendem Ausschau halten. Das grüne Ding, das du da anhast, kleidet dich nicht sehr vorteilhaft. Morgen musst du dich wirklich ins Zeug legen. Schließlich kommt auch Charles Sandham, und er ist ein Mann von Geschmack, wie ich weiß.«

Eveline betrachtete ihre Schwester misstrauisch.

»Kennst du ihn denn?«

»Wir sind ihm mal in der Stadt begegnet, mit seinem Onkel, und wurden ihm vorgestellt. Da war er soeben von seiner grand tour zurückgekehrt: Italien, Griechenland, Wien. Was für herrliche Orte! Er kennt Tausende interessanter Geschichten.«

»Außerdem sieht er gut aus«, fügte Beatrice hinzu.

Eveline nahm die Sitzordnung für das morgige Dinner und dachte an die Beharrlichkeit, mit der ihre Mutter darauf bestanden hatte, sie neben Charles Sandham zu platzieren.

»Wollt ihr und Mama mich mit Charles Sandham verkuppeln?«

»Du könntest dich äußerst glücklich schätzen, wenn Charles sich um dich bemühen würde, Evie«, erklärte Louisa munter. »Aber wenn du dir ein wenig Mühe gibst … Komm, setz dich, lass mich versuchen, etwas aus deinem Haar zu machen. Man weiß ja nie.«

Eveline seufzte und überließ sich den Bemühungen ihrer Schwester.

Kapitel 2

Das Dinner

Die Gäste hatten ihren Platz eingenommen. Lady Sandham war, wie von Eveline vorausgesagt, ganz entzückt von Bevis, der ihren endlosen Auslassungen, wie man ein neues Stubenmädchen anleitete, mit offenkundiger Faszination lauschte. Und selbst wenn sie die amüsanteste und schönste Frau der Welt gewesen wäre, hätte er ihr nicht mit größerer Begeisterung begegnen können. Das war das Geheimnis der Ausstrahlung von Louisas Ehemann, dachte Eveline bewundernd: Es lag nicht unbedingt daran, dass er selbst besonders klug oder amüsant war, sondern dass er jedem Gesprächspartner das Gefühl gab, klug und amüsant zu sein, so aufmerksam lauschte er, so anerkennend antwortete er, so großzügig verschenkte er sein Lächeln. Mr Watson und Tante George waren in eine angeregte Diskussion über Mr Dickens’ letzten Roman vertieft, und Arthur, der neben Eveline saß, zu deren anderer Seite man Charles Sandham platziert hatte, verwickelte diesen gerade in eine Diskussion um seine Kutschpferde. Louisa und Beatrice saßen zu beiden Seiten von Sir William, der außerordentlich erfreut über das Arrangement schien. Ihr letzter Gast, Mr Armitage, Mr Watsons junger Mitarbeiter, wirkte auf den ersten Blick zwar etwas abweisend, lauschte aber ohne sichtliche Ungeduld Miss Angells Ausführungen zur Anlage eines neuen Kräutergartens. Mrs Stanhope hatte das Gefühl, dass ihr Dinner ein Erfolg werden könnte.

Arthur, der mit dem Pferdethema an ein Ende gelangt war, verstummte, und nun wandte Charles Sandham seine Aufmerksamkeit Eveline zu. Als Neffe und einziger Erbe von Sir William war Charles, seit Eveline sich erinnern konnte, stets Anlass zu Gerede gewesen. Es hieß, er sei ein hübscher Junge gewesen und dann ein gutaussehender junger Mann; ein bisschen wild vielleicht, was man ihm aufgrund seiner Jugend aber nachsah, zumal es allseits hieß, er sei kultiviert, klug und interessant. Trotz dieser verheißungsvollen Spekulationen hatte er seinen Onkel und seine Tante seit geraumer Zeit schon nicht mehr besucht, bis er dann in diesem Frühjahr sein Studium und die anschließenden Auslandsreisen hinter sich gebracht hatte. Mit Erreichen der Volljährigkeit hatte er ein eigenes bescheidenes Vermögen erhalten und führte in London ein durchaus standesgemäßes Leben, hieß es. Und von seinem Onkel würde er irgendwann beträchtliche Reichtümer erben. Tatsächlich wurde das heutige Dinner ihm zu Ehren ausgerichtet, da ihm die Stanhopes, wenn man von Louisas zufälligem Zusammentreffen mal absah, noch nie begegnet waren. Die Sandhams gehörten nun einmal zu ihren engsten Nachbarn und waren in Mrs Stanhopes Augen sicher die wichtigsten. Ihr Anwesen grenzte an das ihre, obwohl der Park der Sandhams viel weitläufiger und ihr Haus viel größer war. Da sich die Zufahrtsstraße so lang hinzog, besuchten sich die Familien stets nur mit der Kutsche, obwohl Eveline oft dachte, dass man, wenn sich in der hohen Mauer zwischen ihren Anwesen ein Tor befände, zu Fuß bedeutend schneller wäre.

»Die Aussicht aus diesem Raum ist wirklich wunderbar, Miss Stanhope«, begann Charles. Er schenkte ihr ein Lächeln, das zum Ausdruck brachte, dass er sich seines guten Aussehens sehr wohl bewusst war, diese Segnung aber nur mit einem leicht schlechten Gewissen genießen konnte. »Wie ich sehe, können Sie bis zum Meer hinabsehen, und Ihre Gärten sind absolut hinreißend. Der Anblick erinnert mich fast an Italien. Dort war ich nämlich, müssen Sie wissen. Ein paar Wochen im letzten Sommer.«

»Ich würde so gerne einmal nach Italien fahren, Mr Sandham! Es scheint mir kaum vorstellbar, dass der Ausblick aus unserem Fenster irgendeine Ähnlichkeit mit den Orten haben sollte, die Sie bereist haben.«

»Natürlich kann er mit dem Blick über die Bucht von La Spezia nicht mithalten. Und so wahrhaft dramatisch wie die Aussicht von Ravello ist er auch nicht.«

Eveline war sich der Unzulänglichkeit der Aussicht, die sie gestern zu zeichnen versucht hatte, nur zu bewusst. Wie dürftig musste sie gegenüber den herrlichen Landschaften, die er gesehen hatte, doch wirken.

»Ich würde sehr gerne etwas über Ihre Reisen erfahren«, sagte sie. »Wenn ich es recht verstehe, haben Sie viel von Europa gesehen?«

»In der Tat.« Er gestikulierte schwungvoll mit Messer und Gabel. »Wo soll ich beginnen? Nun, Miss Stanhope, zunächst einmal sind wir bei rauer See nach Frankreich übergesetzt. Ein gefährlicher Start! Paris war unsere erste Station, natürlich. Dort habe ich einen ganzen Monat verbracht. Unsere Unterkunft befand sich in der Nähe der Opéra …«

Eveline war wie verzaubert von seinen Reisegeschichten. Charles Sandham war wortgewandt und beschrieb die Szenerie, die prächtigen Gebäude, die Gemälde und Skulpturen, die Galerien und Gärten sehr detailliert. Zusammen mit seinen Reisebegleitern hatte er Versailles gesehen, einen hohen Alpenpass überquert, sich in die Katakomben von Rom hinabgewagt und die italienische Küste besegelt. Während er sprach, betrachtete sie sein Profil, die feinen Gesichtszüge, die hellen Locken, die braunen Augen. Er war zweifellos ein attraktiver Mann. Der Abend verstrich weitaus angenehmer, als sie es für möglich gehalten hätte.

Hinterher im Salon, als man die Gentlemen ihrem Port und ihrem Brandy überlassen hatte, gestaltete sich die Konversation schon bedeutend schwieriger. Lady Sandham, die leicht schwerhörig war und lauter sprach, als ihr bewusst war, wurde neben Eveline auf ein kleines Sofa gesetzt, wo sie erheblich mehr Platz als die ihr zustehende Hälfte einnahm.

»Eine eher bescheidene Gesellschaft, Miss Stanhope. Einige der respektabelsten Familien sind ja auch nicht in der Stadt. Die Debournes sind, wie ich vermute, nach London gefahren und standen daher nicht zur Verfügung.«

»Mama bevorzugt einen kleinen Rahmen, Lady Sandham«, erwiderte Eveline.

»Wenige erlesene Gäste sind natürlich immer vorzuziehen. Aber wie eigentümlich, mit diesen Männern von der grauenvollen Eisenbahngesellschaft an einem Tisch sitzen zu müssen. Mr Watson kennen wir natürlich schon eine Weile. Er war vor Jahren mal Bürgermeister, wenn ich mich recht entsinne, daher kann man ihm kaum aus dem Weg gehen. Aber er ist nicht wirklich …« Sie ließ den Satz verklingen, als fehlten ihr die Worte, um näher zu bestimmen, was Mr Watson nicht wirklich war. »Und dieser junge Mann in seiner Begleitung … Ihre liebe Frau Mama ist so überaus großzügig mit ihren Einladungen, nicht wahr? Aber ist er wirklich, was meinen Sie …«, Lady Sandham senkte die Stimme, die dadurch allerdings nichts an Schrillheit einbüßte, »… ein Gentleman? Die Art und Weise, wie er redet … Das ist doch befremdlich und wirklich weit entfernt von dem, was wir hier zu hören gewöhnt sind …«

»Mama ist in der Tat eine gastfreundliche Frau, Lady Sandham«, sagt Eveline vorsichtig. »Und ein Freund von Mr Watson wird hier immer willkommen sein. Er war ein lieber Freund meines Vaters, wie Sie wissen, und zwar lange bevor er der Direktor der Eisenbahngesellschaft wurde. Er schwärmt in den höchsten Tönen von Mr Armitage, der leitender Ingenieur ist, wenn ich mich recht entsinne.«

»Ingenieur? Tatsächlich?« Lady Sandham zog die Augenbrauen hoch. »Wie überaus originell. Ich bin mir sicher, dass ich nie zuvor einem solchen Menschen begegnet bin.«

»Nun«, sagte Eveline bestimmt, »ich denke, dass wir mit allen unseren Gästen Glück haben.« Sie fing Tante Georges Blick auf, die interessiert zuhörte und sich offenbar amüsierte.

Lady Sandham war allerdings noch nicht fertig.

»Und wie überaus merkwürdig, dass Sie die alte Gouvernante mit zu Tisch bitten! Zu meiner Zeit hätte so jemand mit den anderen Bediensteten gegessen.«

Eveline wurde rot vor Zorn und hoffte inständig, dass Miss Angell nichts mitbekommen hatte.

»Miss Angell ist nicht mehr unsere Gouvernante. Sie ist eine liebe Freundin, und wir fühlen uns geehrt, dass sie mit uns zusammen isst.«

»Sie sind ein sehr modernes Mädchen, Miss.«

»Das will ich hoffen. Es wäre mir unangenehm, ein altmodisches zu sein.« Eveline stand auf. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee holen?«

Eveline durchquerte den Raum und bemerkte, dass Tante George plötzlich nicht mehr sehr amüsiert wirkte. Stattdessen war sie blass vor Wut.

Als sich die Männer zu ihnen gesellten, atmete Eveline erleichtert auf. Sie hoffte, eine weitere Gelegenheit zu bekommen, Charles über Florenz und Venedig reden zu hören, aber sein Onkel hatte ihn in ein Gespräch über eine Jacht verwickelt, die er zu kaufen gedachte. Segeln schien Sir Williams jüngste Leidenschaft zu sein – zumal er gerüchteweise gehört hatte, dass der Prince of Wales dem Jachtklub beitreten wollte. Sie trat ans Fenster. Das Tageslicht war fast erloschen, und die Bäume nur noch schwarze Silhouetten vor dem tiefblauen Himmel. Die Gäste würden sich bald verabschieden; vielleicht könnte sie diesen Anblick aus dem Fenster ihres Zimmers skizzieren. Plötzlich hatte sie es eilig, von den Gesprächen und den Teetassen und dieser schrecklichen Augusta Sandham fortzukommen. Sie könnte Müdigkeit vortäuschen, dachte sie und trat einen Schritt auf die Tür zu, in der Hoffnung, sich unauffällig zurückziehen zu können.

»Sie haben den Nachthimmel bewundert, Miss Stanhope?«

Sie drehte sich um. Zu ihrem Missfallen sah sie Mr Armitage neben sich stehen, einen aufmerksamen Blick auf sie gerichtet. Er hatte ein ausdrucksstarkes, kantiges Gesicht; sein Mund wirkte eher hart als streng. Mühsam unterdrückte sie ihre Ungeduld.

»In der Tat, das habe ich. Und ich frage mich, ob er nicht ein schönes Motiv für eine Zeichnung abgeben würde.«

»Sind Sie Künstlerin?«

»Ich gebe mir Mühe, Mr Armitage, aber leider entspricht mein Talent nicht meinen Ansprüchen. Wenn ich etwas sehe, möchte ich es unbedingt festhalten: Anblicke wie die Dämmerung dort draußen, mit dem schwindenden Licht und den Bäumen, die so finster und dramatisch aufragen. Leider gelingt es mir nicht, das Wesen der Dinge zu Papier zu bringen.«

Er schien eine Weile darüber nachzudenken, dann sagte er: »Ich habe kein Talent für so etwas, aber ich bewundere Menschen, die damit gesegnet sind.«

»Dafür haben Sie offenbar andere Talente, Mr Armitage. Mr Watson lobt Sie in den höchsten Tönen. Wenn man ihm glauben darf, sind Sie ein überaus begabter Ingenieur.«

Mr Armitage nickte nur kurz, sagte aber nichts.

Eveline seufzte. Offensichtlich hatte sie es mit einem Mann zu tun, der Smalltalk noch weniger zu schätzen wusste als sie selbst. Sie suchte krampfhaft nach einem Gesprächsthema.

»Ich hoffe, Sie genießen den heutigen Abend«, sagte sie.

»Ja, sehr«, sagte er knapp und fügte dann hinzu: »Vielleicht im Gegensatz zu Ihnen, Miss Stanhope? Ich hatte das deutliche Gefühl, dass Sie uns verlassen wollen.«

»Nein, natürlich nicht. Ich habe allerdings leichte Kopfschmerzen.«

»Dann möchte ich Sie nicht aufhalten.« Er verbeugte sich leicht.

Sie wurde aus seiner Miene nicht schlau. Das Gesicht ihrer Mutter hingegen, die sie aus geringer Entfernung beobachtete, sprach Bände. Mrs Stanhope war nur zu bewusst, dass ihre jüngste Tochter gerne unter fadenscheinigen Vorwänden vor solchen geselligen Ereignissen floh, und so war ihr Evelines entschiedener Rückzug Richtung Tür nicht entgangen.

»Oh, es ist nicht wirklich schlimm«, lenkte Eveline ein. Wieder suchte sie nach einem Gesprächsthema, da er keine Anstalten machte, etwas zu sagen. »Kommen Sie mit der Eisenbahnstrecke zu Ihrer Zufriedenheit voran, Mr Armitage? Werden all dieser Lärm und diese Grabungsarbeiten bald ein Ende haben?«

»Wenn alles gut geht, wird der neue Bahnhof in zwei Monaten eröffnet. Dann können Sie in einer Fahrt von zehn Minuten in Newport sein. Ich hoffe, Sie werden zu den ersten Passagieren gehören, die wir begrüßen dürfen?«

»In zehn Minuten?« Sie dachte an die Strapazen, die man jetzt auf sich nehmen musste, dieses Rumpeln und Knarren der alten Kutsche, die von den Pferden nur mühsam den langen Hügel hinaufgezogen wurde, dann die Kälte im Winter. Für die fünf, sechs Meilen nach Newport, das bedeutend größer war als ihr Küstenstädtchen und schönere Geschäfte, ein Konzerthaus und alle Arten von Amüsement bot, brauchte man an einem guten Tag eine Stunde, bei Regen und matschigem Untergrund bedeutend länger. Und wenn ein Pferd lahmte oder ein Rad sich löste, konnte es auch schon mal einen ganzen Tag dauern.

»Ja. Außerdem werden zehn Züge am Tag verkehren. Sie können nach einer halben Stunde wieder zurückfahren oder auch den ganzen Tag bleiben, um einzukaufen oder zu tratschen.«

»Einkaufen und tratschen, Mr Armitage? Ist das Ihre Vorstellung von der Beschäftigung einer Frau?«

»Sie können natürlich auch alles andere unternehmen, wonach Ihnen der Sinn steht.«

»All die Verwüstungen scheinen mir ein hoher Preis für solch banale Verrichtungen zu sein.«

»Verwüstungen?«

»Ja. Die Zerstörung unserer Wege, Wälder und Wiesen! Der Uferweg am Fluss, der so friedlich und schön war, ist nun unwiederbringlich verschwunden. Explosionen, gewaltige Narben in den Wiesen, gefällte Bäume, ein Tunnel, der in den Berg gesprengt wurde. Die Landschaft ist ziemlich verschandelt.«

Das schien ihn nicht weiter zu bekümmern. »Sie wollen eine Eisenbahn. Das ist der Preis. Und die Landschaft wird sich erholen.«

»Ich bin mir alles andere als sicher, ob ich eine Eisenbahn will! Tatsächlich weiß ich sehr genau, dass viele Leute hier keine wollen.«

»Sie sehen das also eher wie Lady Sandham, scheint mir.«

Eveline, die sich nur ungern unterstellen ließ, sie habe in irgendeiner Sache dieselbe Meinung wie Augusta Sandham, verlor prompt die Beherrschung.

»Sie können überhaupt nicht wissen, Mr Armitage, was für eine Wirkung Ihre Eisenbahn auf die Menschen dieser Gegend haben wird. Für Männer und Geschäfte bringt sie vielleicht Vorteile – obwohl die armen Fischer am Fluss sicher vor dem Ruin stehen werden, wage ich zu behaupten, da ihre Hütten durch die Schienen nun von der Welt abgeschnitten sind. Und den Frauen wird Ihre Eisenbahn, wie Sie selbst sagten, wohl kaum zu etwas anderem nützen als dazu, ihre sinnlosen und albernen Tätigkeiten in einem größeren Umkreis auszuüben. Die Landschaft hingegen wird unwiederbringlich zerstört sein. Sie schneien aus dem Norden herein, und wenn Sie wieder gehen, werden Sie sich nicht mehr damit herumschlagen müssen, was Sie den Menschen hier angetan haben.«

»Es tut mir leid, dass Sie das so sehen, Miss Stanhope, obwohl es natürlich nicht meine Eisenbahn ist. Ich bin Ingenieur und nicht Besitzer der Eisenbahngesellschaft. Dennoch glaube ich, dass Sie sich irren. Männer und Frauen werden gleichermaßen davon profitieren. Reisen und Handel werden den Menschen in einer Weise offenstehen, von der wir bislang nicht zu träumen gewagt haben, und zwar nicht nur den Reichen, sondern allen Menschen. Die Eisenbahn wird für die arbeitende Klasse dieses Landes einen großen Unterschied machen, und zwar einen positiven. In anderen Landesteilen ist das bereits geschehen, wie ich bezeugen kann, da ich es mit eigenen Augen sehen durfte.« Er hielt inne und setzte eine süffisante Miene auf. »Obwohl Sie in einer Sache natürlich recht haben. Ich stamme tatsächlich aus dem Norden, und wenn meine Arbeit hier getan ist, werde ich wieder fort sein.«

Er nickte ihr zu, drehte sich um und gesellte sich zu Arthur und Bevis, die ihn und Charles freundlich zu einer Partie Billard aufforderten.

Als die Gäste fort waren und Eveline endlich Zuflucht in ihrem Zimmer suchen konnte, war es bereits nach Mitternacht. Jennie, das neue Stubenmädchen, das schon fast eingeschlafen war, sprang mit schuldbewusster Miene von ihrem Stuhl am verglimmenden Kaminfeuer auf.

»Lass nur, Jennie, ich komm gut allein zurecht«, sagte sie. »Geh ins Bett. Es tut mir leid, dass du wegen mir so lange aufbleiben musstest.«

Sie zog sich aus und machte sich bettfertig, dann wickelte sie sich in eine Decke und setzte sich in die Fensternische, um in die Dunkelheit hinauszusehen und ihre Wut in den Griff zu bekommen. Augusta Sandhams Affront gegen die liebe Miss Angell war empörend gewesen, und dann dieser große Mann mit dem kalten Blick und dem mangelnden Verständnis dafür, was die Eisenbahn für sie, ihre Familie und die Stadt bedeutete.

Sie musste an die Spaziergänge am Fluss denken, zu denen ihr Vater sie so oft mitgenommen hatte. Ihre frühesten Erinnerungen galten dem Sonnenlicht, das auf dem Wasser tanzte, dem kühlen Schatten unter den Uferbäumen und den wilden Rosen, die weit über ihren Kinderkopf emporrankten. Im Herbst hatten sie Brombeeren gepflückt, und um diese Jahreszeit breiteten sich unter dem Weißdorn die großen, blassen Teppiche der Primeln aus. Sie hätte ihrem Vater ein Sträußchen gepflückt und die Nase in den Duft der Blütenblätter getaucht. Bald war die Zeit der Maiblüte; der Schaum der Wilden Möhre würde den Weg säumen und die Glockenblumen ihren betörenden Duft verströmen. Doch hier war das alles fortgerissen; ganze Arbeitertrupps hatten gegraben und geschuftet und geschrien, hatten den Fels gesprengt, was in der gesamten Stadt widergehallt hat, und Bäume gefällt. Der gesamte herrliche Landstrich lag verwüstet da.

Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Wand, um sich in Erinnerungen zu flüchten. In diesem Dämmerzustand war sie plötzlich wieder bei ihrem Vater und lauschte seiner Stimme: »Und das hier, Eveline, sind Weidenröschen – Zottige Weidenröschen sogar, wenn ich mich nicht irre, nicht die gewöhnlichen Schmalblättrigen. Und die Hagebutten sind ganz prächtig dieses Jahr, wie ich sehe«, womit er stehen blieb und etwas in sein Notizbuch schrieb, das er immer bei sich trug, während Eveline vorauslief, weil sie auf dem Ast einer Eiche ein rotes Eichhörnchen entdeckt hatte. War sie sechs gewesen oder sieben? Es war Hochsommer und so heiß, dass Petticoat, Strümpfe, Stiefel, Kleid und Haube nur eine Last waren; die Röcke wickelten sich beim Rennen um ihre Knöchel. Unter den Bäumen, an einer Stelle, wo ein kleiner Holzsteg aufs Wasser hinausführte, hielt sie an. Eine Gruppe Jungen – etwa ein Dutzend, zum Teil nicht älter als sie selbst, zum Teil schon zehn, zwölf Jahre alt – schwamm im Wasser, plantschte im flachen Bereich, sprang vom Steg hinab, wo das Wasser tief und grün war, rannte über das grasbewachsene Ufer unterhalb des Wegs, um sich in das wunderbar kühle Element zu stürzen. Und alle waren sie vollkommen nackt.

Eveline blieb stehen und beobachtete die Jungen. So etwas wie diese dünnen, blassen Körper hatte sie noch nie gesehen. Ihre Schreie drangen an ihr Ohr. Schließlich gesellte sich ihr Vater zu ihr, und sie blieben zusammen dort stehen, stumm und unbemerkt, und schauten zu. Aus ganzem Herzen wünschte sie sich, sie könnte ihre Kleider ausziehen und das Wasser an ihrer heißen Haut spüren, könnte ihre nackten Zehen in den weichen Uferschlamm graben, könnte in den Fluss springen und das Wasser über ihrem Kopf zusammenschlagen lassen, um dann lachend, prustend und vor Kälte keuchend wieder aufzutauchen. Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da war ihr schon klar, dass man ihr das nie erlauben würde. Mama, ihre großen Schwestern, Miss Angell und sogar Tante George würden es schockierend finden, gänzlich ausgeschlossen, streng verboten, auch wenn sie sich kaum vorstellen konnte, warum. Sie sah zu ihrem Vater hoch und wusste, dass er sich in diesem Moment ebenfalls wünschte, an einem Sommertag nackt ins Wasser gehen zu dürfen – obwohl er natürlich akzeptierte, dass es für seine Tochter unmöglich wäre. Irgendwann drehten sie sich um und gingen Hand in Hand zurück, schweigend.

Eveline hatte die Szene schnell vergessen; das hatte sie jedenfalls gedacht. In ihrem Dämmerzustand jetzt sah sie allerdings wieder das aufgewühlte Wasser vor sich und hörte die Jungen im Fluss schreien. Mittlerweile waren sie bereits erwachsen, junge Männer. Vielleicht arbeiteten sie an der Eisenbahnstrecke mit. Vor ein paar Monaten hatte es einen Unfall gegeben, als ein Teil des Tunnels, den man durch den Felsen trieb, eingestürzt war und einen jungen Mann unter sich begraben hatte. Seinen Namen hatte sie in der Zeitung gelesen, mittlerweile allerdings schon wieder vergessen, aber er hatte hier im Städtchen gewohnt. Vielleicht war er an jenem längst vergangenen Sommertag auch im Fluss geschwommen. Ihr wurde bewusst, dass sie fröstelte, und so kletterte sie in ihr hohes Bett. Den Vorhang davor zog sie nicht zu, sondern lag noch lange wach und beobachtete den zunehmenden Mond, der scharf, klar und fern über den Himmel zog.

Kapitel 3

Der Professor für Fotografie

»Louisa und Bevis gehen heute Morgen in die Stadt«, verkündete Mrs Stanhope. »Sie möchten ein Porträt von sich anfertigen lassen, und Beatrice und Arthur haben beschlossen, sich ihnen anzuschließen. Es wäre wunderbar, ein Bild von ihnen zu haben, und du darfst natürlich nicht fehlen, mein Schatz. Vielleicht könntest du ein anderes Kleid anziehen, Evie. Ich denke, das blaue Tageskleid würde sehr gut aussehen.«

»Ein Porträt? Das bedeutet doch sicher, dass man dem Maler in stundenlangen Sitzungen als Modell zur Verfügung stehen muss. Wollten sie nicht morgen zurückfahren?«

Mrs Stanhope lachte. »Sie lassen sich doch nicht malen, du Dummerchen! Hast du nicht diesen neuen Laden in der High Street gesehen – von dem Professor für Fotografie? Es geht um ein Porträtfoto. Und ich hätte gerne alle meine Töchter zusammen auf einem Bild. Das wäre eine reizende Schar.«

»O Gott, nein, Mama. Ich kann unmöglich mitgehen. Ich habe Tante George versprochen, ihr heute Morgen zu helfen. Bei … bei der Sache mit dem Garten. Louisa und Beatrice werden ohne mich reizend genug aussehen.«

»Unsinn, Eveline.« Ihre Mutter konnte hartnäckig sein. »Ich möchte ein Foto von allen meinen Töchtern. Lauf also schnell hoch und zieh etwas Eleganteres an als dieses grüne Ding da.«

Das Haus von Arthur und Beatrice war eine hübsche Villa, die seit ihrer Hochzeit erhebliche Verschönerungen erfahren hatte, mit Stucksäulen, einer Terrasse und einer Veranda. Es lag nicht so hoch wie das Haus der Stanfords, dafür aber näher an der High Street. Louisa, Bevis und Eveline kamen auf dem Weg zum Fotografen dort vorbei, um sie abzuholen, worauf sich sofort ein lebhaftes Gespräch über den vergangenen Abend entspann.

»Charles Sandham hat einen ganz wunderbaren Eindruck auf mich gemacht«, sagte Beatrice. »So ein Auftreten, solche Manieren! Evie, er hat sich wirklich lange mit dir unterhalten.«

Louisa und Beatrice wechselten einen vielsagenden Blick.

»Ja, er schien dich zu mögen, Evie«, bestätigte Louisa. »Nach dem Essen hat er dann auch ziemlich lange mit mir geredet. Er hat von Venedig erzählt, den Palästen und Kirchen, die man praktisch ins Wasser gebaut hat, genau wie man sich das vorstellt. Er ist zweifellos ein sehr kurzweiliger Unterhalter.«

»Mir gefiel er auch sehr gut«, fügte Bevis hinzu. »Ich habe ihn eingeladen, uns zu besuchen, wann auch immer ihm der Sinn danach steht.«

Louisa wirkte erfreut, obwohl sie ihren Ehemann schalt, weil er sich nicht mit ihr abgesprochen hatte.

»Wirklich, Bevis. Wir waren doch übereingekommen, dass wir erst neue Möbel für den Salon brauchen, bevor wir Gäste empfangen!«

»Vielleicht kann er uns ja ein paar Ratschläge geben. Er scheint ein gutes Auge für solche Dinge zu haben, da er ja unentwegt über Kunst und so etwas redet. Andererseits behauptet er, dass Karten und Pferderennen eher nach seinem Geschmack seien und dass er sich freuen würde, wenn wir bei Gelegenheit mal miteinander spielen würden.«

»Du wirst ihn uns aber nicht abspenstig machen, nicht wahr, Louisa?« Beatrice schien etwas verärgert zu sein. »Wir sind hier erheblich stärker auf Unterhaltung angewiesen als ihr.«

»Mr Watson ist immer ein angenehmer Gast, finde ich«, sagte Eveline. »Er scheint fast zur Familie zu gehören, wo er schon so lange unser Freund ist. Vermutlich ist er froh, dass die Eisenbahnstrecke bald fertig ist, da er als Direktor alle Hände voll zu tun hat. Nach Abschluss der Arbeiten möchte er sich nur noch dem Lesen und Angeln widmen.«

»Oh, er ist ein reizender Mann«, stimmte Louisa zu. »Aber dieser junge Mann in seinem Schlepptau – was hat sich Mama nur dabei gedacht, den einzuladen? Er war todernst und hat kaum ein Wort herausgebracht. Und wenn er den Mund aufgemacht hat, was für eine Stimme! Ich habe ihn kaum verstanden, muss ich sagen. Keinerlei Galanterien, keine Komplimente. Der gute Charles hat sich so überschwänglich zu meinem violetten Satinkleid geäußert und erklärt, einen ähnlichen Schnitt habe er auch in Paris gesehen – obgleich nicht an einer so anmutigen Gestalt! Ich bin förmlich rot geworden.«

»Aber er war durchaus attraktiv«, sagte Beatrice. »Mr Armitage, meine ich. Nicht wirklich hübsch, aber doch groß und irgendwie auffallend. Wie bedauerlich, dass er eine so armselige Sprache hat.«

»Er kommt aus Yorkshire«, sagte Eveline. »Wie soll er da schon reden? Vermutlich denkt er über uns dasselbe.«

»Immerhin hat er sich beim Billard wacker geschlagen«, meinte Arthur.

Sie waren am Studio des Professors für Fotografie angekommen, eines Gentlemans aus London, der seinen Laden vor ein paar Monaten eröffnet hatte. Die Leute im Städtchen waren ganz verrückt nach seinen Diensten. Louisa und Bevis ließen sich zuerst fotografieren. Louisa saß auf einem weißen Korbstuhl, während sich Bevis an eine gemalte Säule hinter ihr lehnte; eine große Palme sorgte für den exotischen Anstrich.

»Und jetzt bitte absolut stillhalten!«

Minuten vergingen, in denen der Professor unter dem schwarzen Zelt hinter dem Kamerastativ verschwunden blieb. Louisas und Bevis’ Gesichter verkrampften sich zu einem verzweifelten Grinsen, um ja keinen Muskel zu regen. Im Anschluss wurden Beatrice und Arthur zu derselben Pose arrangiert. Dann waren beide Paare zusammen an der Reihe, die Damen sitzend, die Herren hinter ihren Ehefrauen stehend, vor dem gemalten Hintergrund einer unnatürlich dramatischen Berglandschaft und einer Balustrade; und schließlich bildeten Louisa, Beatrice und Eveline eine Gruppe. Für dieses Motiv setzte der Professor, der vermutlich gar kein Professor war – ein stattlicher Mann mit einem feinen Schnurrbart –, Louisa und Beatrice auf eine Bank mit Blumenkörben zu beiden Seiten, während Eveline hinter ihnen stand und einen Strauß Maiglöckchen in der Hand hielt. (»Muss das sein?«, hatte Eveline gesagt, als die Blumen ins Spiel kamen, aber ihre Schwestern hatten dem Professor zugestimmt, dass sie eine mädchenhafte Note ins Bild brachten und die Szenerie perfekt abrundeten, und Eveline war überstimmt worden.) Als sich die Minuten hinzogen, hatte Eveline erst das Gefühl, schreien zu müssen, dann das Gefühl, in Ohnmacht zu fallen. Ihre Augen schmerzten von dem Versuch, sie offen zu halten, während sich in ihrem Nacken ein grässlicher Schmerz breitmachte und in ihre Schultern abstrahlte. Als sie sich schließlich wieder bewegen durfte, war die Erleichterung gewaltig.

»Wunderbar, meine Damen, meine Herren, vielen Dank! Perfekte Motive, Jugend und Schönheit in einem Bild vereint!«

Eveline, die dem Professor nach dieser Folter keine sonderlich herzlichen Gefühle entgegenbrachte, hätte dennoch gerne gewusst, wie der Prozess nun weiterging. Obwohl der Professor ein großer, etwas nachlässig gekleideter Mann mit tintenverschmierten Händen war, nahm er die Glasplatten unendlich behutsam aus der Kamera, um sie in einen anderen Raum zu tragen, aus dem ein strenger, metallisch herber Gestank drang.

»Wie entsteht denn nun das Bild?«, fragte sie ihn, als ihre Begleiter schon wieder ihre Umhänge, Mäntel und Hüte anzogen.

Er lächelte; sein runzeliges Gesicht wirkte freundlich. »Als Nächstes gieße ich Entwickler über die Platten. Dabei muss man sehr vorsichtig zu Werke gehen. Wenn man es übertreibt, verschwimmt das Bild. Und danach …«, aber Louisa und Beatrice hatten es eilig, den dunklen, stickigen Raum zu verlassen, und so erfuhr Eveline nicht mehr, was danach passierte.

Man einigte sich darauf, dass er die fertigen Abzüge Mrs Stanhope schicken sollte, was der Professor innerhalb der nächsten Tage zu tun versprach. Als sie das Studio verließen, fast schwindelig vor Erleichterung, beschlossen sie, zum Meer zu gehen, wo es immer etwas zu sehen gab. Sie wurden nicht enttäuscht. Eine kleine Menschenmenge hatte sich versammelt, um zu beobachten, wie ein halbes Dutzend Pferde Karren mit kleinen, bunt angemalten Holzhütten zum Wasser zog. Schnell stellte sich heraus, dass es sich um Badekarren handelte, und zwar um ziemlich fortschrittliche Modelle.

»Ich glaube, dass die Königin auch so ein Badehäuschen benutzt«, sagte Louisa. »Ich persönlich kann mir allerdings kaum vorstellen, dass ich Verwendung dafür hätte. Diese Kälte! Und dann die Vorstellung, in einer so engen Kabine die Kleider an- und ausziehen zu müssen. Das wäre mir alles viel zu mühsam.«

Beatrice stimmte ihr zu, aber Arthur und Bevis verteidigten die Neuerung.

»Schwimmen ist ein großartiger Sport«, schwärmte Arthur. »In Cambridge galt ich als eine Art Meister darin.«

»Ich würde gerne schwimmen lernen, Arthur«, sagte Eveline. »Kannst du es mir nicht beibringen? Ist es schwer?«

»Nein, nach einer Weile ist es ganz einfach«, versicherte Arthur. »Das Wasser trägt dich nämlich, und wenn man ein bisschen Übung hat, kann man sich darauf treiben lassen oder …«

»Arthur!« Seine Frau ging dazwischen. »Du weißt genau, dass du ihr nicht das Schwimmen beibringen kannst. Und, Eveline, wirklich, wie kannst du so etwas nur fragen! Herren und Damen können nicht zusammen baden. Was für eine Idee. Wie … unschicklich!«

»Und wie soll ich es dann lernen, Beatrice?«, fragte Eveline ungeduldig.

»Ich bin nicht der Meinung, dass du es überhaupt lernen solltest.«

»Die Königin darf schwimmen und ich nicht?«

»Oh, na schön. Mama wird schon etwas dazu zu sagen haben. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie einverstanden ist.«

Zur großen Überraschung ihrer Töchter schloss Mrs Stanhope die Idee, dass Eveline schwimmen lernen könnte, nicht rundweg aus. Eveline brachte das Thema zur Sprache, sobald sie zu Hause angekommen waren. Ihre Mutter sagte nur, dass sie keine Einwände habe, wenn man eine respektable Frau für den Schwimmunterricht fände.

»Obwohl du natürlich ein ordentliches Badekleid benötigen würdest, Evie. Und da du normalerweise nicht geneigt bist, zur Schneiderin zu gehen, weiß ich nicht, wie du dir das vorstellst.«

»Für ein Badekleid würde ich natürlich auch zur Schneiderin gehen, Mama. Es ist nur dieses stundenlange Herumstehen, wenn die Kleider festgesteckt werden und man über so törichte Dinge wie Stoffe und Bänder entscheiden muss, was das Ganze so langweilig macht.«

Louisa verdrehte die Augen.

»Wirklich, Eveline, du bist ein sonderbares Mädchen! Wie willst du je einen Ehemann finden, wenn du dich für solche Dinge nicht interessierst?«

»Bitte fühl dich nicht verpflichtet, mir einen Ehemann zu besorgen, Louisa. Ich bin sehr glücklich ohne, und ganz bestimmt möchte ich keinen, den mir meine Schwester aussucht.«

»Eveline, für diese Bemerkung wirst du dich bei Louisa entschuldigen.« Mrs Stanhopes Stimme war scharf. »Sie versucht nur, dir zu helfen. Außerdem hat sie vollkommen recht mit dem, was sie sagt. Es hat etwas Provozierendes, wie du deine Abneigung gegen hübsche Sachen zur Schau stellst.«

Eveline biss sich auf die Lippe.

»In Ordnung, es tut mir leid. Aber ich sehe wirklich nicht ein, warum …«

»Das reicht jetzt«, sagte ihre Mutter. »Und in der Tat ist es so, dass du bald schon ein neues Kleid brauchen wirst, etwas sehr Hübsches, da wir eine Einladung zur feierlichen Eröffnung der Eisenbahn erhalten haben. Die ganze Stadt wird dort sein. Die Sandhams werden ein Band durchschneiden und eine Rede halten, und hinterher wird es ein Essen geben, mit allem, was Rang und Namen hat. Im Juni wird das stattfinden, in kaum zwei Monaten!«

»Ich dachte, die Sandhams hätten etwas gegen die Eisenbahn, da sie nur Lärm bringt und ihre Aussicht verschandelt«, sagte Eveline. »Wieso schneiden sie jetzt bereitwillig Bänder durch und halten Reden?«

»Oh, Augusta würde niemals auf ihren Prinzipien beharren, wenn sie sich dadurch die Gelegenheit entgehen lassen könnte, die grande dame zu spielen«, antwortete ihre Mutter. »Und Sir William macht alles, was seine Frau will. Er ist zu vernünftig, um zu widersprechen.«

»Sind Bevis und ich auch eingeladen, Mama?«, erkundigte sich Louisa. »Für uns wäre es kein Problem, im Juni noch einmal vorbeizukommen. Wir müssten auch die Kinder nicht mitbringen.«

»Ja, die Einladung gilt auch für euch, mein Liebling. Für uns alle, selbst für George und Miss Angell, worüber ich mich sehr freue. Und natürlich müsst ihr die Kinder mitbringen. Eveline freut sich doch, wenn sie sich um sie kümmern darf.«

»Oh, wie wunderbar! Da brauche ich aber sicher ein neues Kleid«, sagte Louisa. »Ich habe schon etwas gesehen, glaube ich, bei meiner Schneiderin: mit einem sehr üppigen Reifrock, pfauenblau, und Trichterärmeln.«

»Das klingt ganz bezaubernd«, stimmte ihre Mutter ihr zu. »Und was ist mit dir, Eveline? Es ist nie zu früh, sich Gedanken darüber zu machen. Vielleicht etwas hübsches Aprikosenfarbenes. Oder etwas in einem zarten Cremeweiß?«

»Ich möchte gar nicht an der Eröffnung der Eisenbahn teilnehmen«, sagte Eveline. »Wie könnte ich, Mama, wo sie doch all die Plätze verschandelt, die Papa so geliebt hat. Und auch sonst hat sie so viel Zerstörung angerichtet.«

»Wenn dein Vater hier wäre«, erwiderte Mrs Stanhope, »würde er sich bestimmt für die Eisenbahn interessieren. Er wäre fasziniert von den Lokomotiven – und von der Vorstellung, zehn Minuten für eine Strecke zu brauchen, die uns jetzt Ewigkeiten kostet!«

»Diese ganze Hässlichkeit wäre ihm zuwider. Seine stillen Spaziergänge, alles nicht mehr möglich. Und schau dir doch die entsetzlichen Backsteinhäuser an, die überall aus dem Boden sprießen.«

»Du wirst mir gestatten, anderer Meinung zu sein«, sagte ihre Mutter. »Wir alle vermissen Papa, Eveline, aber wir müssen unser Leben jetzt ohne ihn leben. Dieses Ereignis ist wichtig für uns und unsere Stadt. Papa hat Mr Watson, der die Einladung ausgesprochen hat, sehr gemocht. Er würde vermutlich wollen, dass wir alle hingehen.«

Eveline kämpfte einen Moment mit sich selbst. An dem, was ihre Mutter sagte, war viel Wahres. Ihr Vater würde sich tatsächlich für die Eisenbahn interessieren, das wusste sie. Trotzdem hätte er sich sicher auch gewünscht, dass sie ihren Überzeugungen treu blieb, oder?

»Hat Mr Watson die Einladung persönlich überbracht?«, fragte sie zögerlich.

»Nein, Mr Armitage hat sie überreicht. Er ist aber nicht geblieben. Er hat mir nur für den schönen Abend gedankt und die Hoffnung ausgesprochen, dass wir alle zur Eröffnung kommen. Dann ist er wieder gegangen. Seine Neigung zu Smalltalk ist nicht sehr ausgeprägt, muss ich sagen.«

Am Nachmittag gab Eveline vor, Blumen für den Abendbrottisch pflücken zu wollen, und stahl sich aus dem Haus. Ihr Skizzenbuch, Stifte und den Gedichtband in einer alten Schultasche, ging sie durch das Törchen in den umfriedeten Rosengarten. Geschickt kletterte sie wieder auf ihren geliebten Baum und setzte sich auf den breiten, geraden Ast, der einen Sitz bildete. Dieses Mal hängte sie ihre Tasche an einen Aststummel. Die jungen Blätter in ihrem grellen frischen Grün schützten sie vor den Blicken möglicher Passanten, die schon sehr genau hätten hinsehen müssen, um sie zu entdecken. Sie selbst hatte eine prächtige Sicht. Am liebsten mochte sie den Blick nach Norden, und so versuchte sie erneut, ihn zu skizzieren. Dieses Mal schien es ihr besser zu gelingen: die Zeder, die ihre dunklen Äste in die Horizontale reckte, die Häuser der kleinen Stadt, der Anblick des Meers. Nur das Licht ließ sich nicht einfangen. Sie spürte ihre ganze Unzulänglichkeit als Künstlerin, als sie beobachtete, wie die Schatten der Wolken changierende Muster ins Wasser zauberten und ihm eine tiefblaue Färbung verliehen. Schließlich beschloss sie, ein wenig zu lesen, den Rücken an den glatten Stamm des gewaltigen Baums gelehnt, schloss dann aber stattdessen die Augen und dachte an die Spaziergänge ihrer Kindheit. Sie sah den Fluss vor sich, der sich ins Meer ergoss, die Oberfläche vom Wind gekräuselt und von den dahinjagenden Wolken grau gefärbt. Am Ostufer zogen sich endlose Felder dahin. Auf den Wiesen drängte sich das Vieh unter den Weiden, während auf den fernen Anhöhen frisch und zart das Getreide spross. Das Westufer, an dem der kleine Uferweg entlanggeführt hatte, war jetzt den Bauarbeiten für die Eisenbahn zum Opfer gefallen. In die anmutig bewaldeten Hügel hatte man eine Schneise geschlagen, sodass sich, so weit das Auge reichte, eine Narbe aus nackter Erde durch die Landschaft zog. Zu beiden Seiten türmten sich Felsbrocken auf, zwischen denen dumpf die Metallschienen glänzten. Die Strecke lag teils auf einem breiten Damm aus Steinen und Erde, neben dem eine Siedlung mit Arbeiterbaracken und Unterständen aus dem Boden geschossen war. Vor dem Städtchen waren Straßen mit Reihenhäusern entstanden, die alle aus diesem neuen nackten Backstein gebaut waren. Ganze Trupps arbeiteten an der Strecke, schwangen Spitzhacken und Schaufeln oder führten Pferdewagen mit weiteren Schienen herbei. Die Fischerhütten am Flussufer waren nun vom Rest der Welt abgeschnitten. Wie gestrandet lagen sie da, die alten Zuwege wegrasiert. Der kleine Holzsteg wirkte winzig und verloren in der Ferne.

Vom Meer kam eine Brise auf. Früher oder später würde die Kälte sie zwingen, an den Abstieg zu denken. Und mit einem Mal hatte sie eine Entscheidung getroffen: Sie würde nicht – konnte nicht – zur Eröffnungsfeier für die Eisenbahn gehen. Mit steifer Kleidung, gestelzten Gesprächen und lächerlich aufgeblasenen Reden würde man dieses Monster feiern, das in ihre friedliche Welt eingedrungen war. Was auch immer ihre Mutter sagen mochte, sie würde nicht daran teilnehmen.

Kapitel 4

Eine Begegnung

Die Fotos waren eingetroffen. Mrs Stanhope, Eveline, Tante George und Miss Angell versammelten sich um den Esstisch, auf dem man die Abzüge vorsichtig ausgebreitet hatte.

»Louisa sieht wunderschön aus«, sagte Miss Angell. »Und die liebe Beatrice auch. Ihr alle. Wundervoll.«

Tante George warf ihr einen zärtlichen Blick zu.

»Du machst Witze, Angell! Louisa schafft es wie immer, perfekt auszusehen, aber Beatrice wirkt vollkommen verängstigt, als hätte sie ein wildes Tier erblickt. Bevis sieht aus, als läge die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern, und auf diesem Foto hier könnte man fast meinen, Arthur sei krank.«

»Und dein Gesicht ist irgendwie verschwommen, Evie«, fügte Mrs Stanhope hinzu.

»Es war furchtbar schwer, die ganze Zeit stillzuhalten«, erklärte Eveline. »Wir haben regelrecht gezittert vor Anstrengung.«

Wieder betrachteten sie die Abzüge.

»Nun, Louisa und Bevis werden ihre Porträts sicher behalten wollen. Und wenn man genau hinschaut, sind Beatrice und Arthur auch nicht so schlecht getroffen. Aber du wirst noch einmal hingehen müssen, Eveline.«

»Nein, Mama, ganz bestimmt nicht! Das war eine Qual. Wirklich. Ist das Foto nicht vollkommen in Ordnung?«

»Eveline, in letzter Zeit höre ich von dir nichts als Widerspruch. Ich hätte gerne von allen meinen Töchtern ein Porträt, und dies hier könnte auch von der Königin von Abessinien sein. Du wirst also noch einmal zum Studio gehen. Das ist auch eine gute Übung für dich. Eine Dame muss lernen, sich elegant zu präsentieren und stillzuhalten.«

Eveline wollte schon protestieren, aber dann fiel ihr ein, dass sie vielleicht mehr über die Kunst der Fotografie erfahren würde, wenn sie dem Professor noch einen Besuch abstattete.

»Gut, Mama«, sagte sie brav. »Dann geh ich am besten gleich heute Nachmittag hin und bringe es hinter mich.«

»Du kannst nicht allein hingehen, Eveline, und ich habe heute keine Zeit. Ich muss noch tausend Dinge erledigen. Morgen können wir zusammen mit der Kutsche hinfahren.«

»Und wenn Jennie mich begleitet?«

»In Ordnung, dann geh heute mit Jennie hin. Aber lauft nicht in der Stadt herum. Ihr geht nur zum Studio, und zwar über die High Street. Haltet euch von den Seitengassen fern.«